Herrn Swart brummt der Schädel oder wie das Denken im Kopf die Richtung wechseln kann - Janny van der Molen - E-Book

Herrn Swart brummt der Schädel oder wie das Denken im Kopf die Richtung wechseln kann E-Book

Janny van der Molen

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Beschreibung

Herr Swart, der neue Philosophielehrer, ist etwas speziell. Angefangen bei seinem merkwürdigen braunen Anzug bis hin zu seinen unkonventionellen Methoden. Er klettert mit den Schülern in den Keller, um das Höhlengleichnis von Platon mal so richtig am eigenen Leib zu erfahren, und lässt auch sonst nichts aus, damit aus ihnen echte Philosophen werden, die sich die Köpfe heiß reden, immer tiefer nachdenken und wieder diskutieren. Ausgang ungewiss, auch für Herrn Swart. Ein Roman, der Philosophen anhand von griffigen Gegensätzen vorstellt und zeigt, dass diese Gedanken jede Menge mit uns zu tun haben: Aristoteles, Kant, Aquin, Augustinus, Mill, Kristeva, Locke, Arendt, Descartes, Spinoza, Socrates, Platon, Marx und Nietzsche

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Buchinfo

Herr Swart, der neue Philosophielehrer, ist etwas speziell. Angefangen bei seinem merkwürdigen braunen Anzug bis hin zu seinen unkonventionellen Methoden. Er klettert mit den Schülern in den Keller, um das Höhlengleichnis von Platon mal so richtig am eigenen Leib zu erfahren und lässt auch sonst nichts aus, damit aus ihnen echte Philosophen werden, die sich die Köpfe heiß reden, immer tiefer nachdenken und wieder diskutieren. Ausgang ungewiss, auch für Herrn Swart.

Ein Roman, der Philosophen anhand von griffigen Gegensätzen vorstellt und zeigt, dass diese Gedanken jede Menge mit uns zu tun haben: Aristoteles, Kant, Aquin, Augustinus, Mill, Kristeva, Locke, Arendt, Descartes, Spinoza, Socrates, Platon, Marx und Nietzsche.

Autorenvita

© Frouke Feijen

Janny van der Molen, geboren 1968, ist Journalistin, Theologin und Mutter einer Tochter und eines Sohnes. Sie hat lange im Bereich Kommunikation und Journalismus gearbeitet. Jetzt widmet sie ihre Zeit und Energie vor allem Kinderbüchern. Sie hofft, dass ihre Bücher Kinder dazu ermutigen, sich gesellschaftlich zu beteiligen, und sie anregen, das Beste aus sich und anderen herauszuholen.

Kapitel 1IDEE UND MATERIEIch weiß, dass ich nichts weiß

Anfang September. Ab heute sieht Svens Welt nicht mehr ganz so rosig aus – die Sommerferien sind vorbei.

Abgesehen von einer kurzen Rom-Reise, vom Zeitungsaustragen und dem bisschen Mithelfen zu Hause hat er es all die Wochen über langsam angehen lassen. Im Grunde genommen hat er die meiste Zeit mit Bram abgehangen.

Der perfekte Sommer also.

Doch das war’s dann erst mal mit der Freiheit. Ab jetzt heißt es wieder früh aufstehen, Schule, Hausaufgaben, Fußballtraining. Andererseits ist es auch schön, endlich alle Schulfreunde wieder zu sehen. Wie ihre Ferien wohl waren? Jelle wird wieder sowohl mit seinem Vater, als auch mit der Mutter unterwegs gewesen sein. Loubna hat sicher die ganze Zeit zusammen mit ihrer Familie in Marokko verbracht, und Wouter war sicher wieder mit seiner Mutter zelten an der Nordsee.

Sven schnappt seine Tasche, wirft noch einen prüfenden Blick in den Spiegel und geht nach unten. Zehn vor acht, höchste Zeit, loszuradeln.

„He, Bram!“ Sven pufft ein paar Grundschüler zur Seite und winkt seinem Freund zu.

Der lacht. „Nicht so fies zu den Kleinen, Mann!!“

„Hast du den Stundenplan schon? Wo müssen wir überhaupt hin?“

„Raum 113. Philosophie. Swart heißt der Typ.“

„Ach ja, der Neue“, seufzt Sven. „Ich hab am Wochenende sogar kurz in das Buch reingeschaut. Voll öde. Irgendwie hab ich nichts kapiert.“

„Und genau damit geht’s los in der ersten Woche. Bingo.“

Vor dem Raum 113 herrscht lautes Chaos. Tijman quasselt auf Sanne ein, Loubna kommt dazu, Wouter ebenfalls. Alle reden durcheinander. Nach sieben Wochen Ferien steht einiges an.

Bram knufft Sven in die Seite und zeigt vor zum Ende des Flurs. Ein großer, hagerer Mann kommt in ihre Richtung. Er bewegt sich schlaksig in seinem altmodischen braunen Anzug. Sein Gesicht ist klein, der Hals auffallend lang, schütteres braunes Haar. Der würde ohne weiteres als Comicfigur durchgehen. Als er näher kommt, fallen Sven die stechenden braunen Augen dieses seltsamen Mannes auf. Offensichtlich ist er der Philosophielehrer. Sven sieht, wie auch Loubna und Sanne vielsagende Blicke austauschen. Was für ein schräger Vogel!

„Guten Morgen, Leute“, sagt dieser Herr Swart freundlich. „Genug geschlafen, um ein Stündchen nachzudenken?“

Gemurmel.

„Kommt herein!“

Sie suchen sich einen Platz. Sven setzt sich natürlich neben Bram.

„Mein Name ist Godfried Swart, für euch ‚Herr Swart‘, weil das hier leider die Vorschrift ist. Habt ihr schon einen Blick in euer Philosophiebuch riskiert?“

Hier und da nickt jemand.

„Wie heißt du?“, fragt er Ilse.

Sie hebt verlegen den Kopf. „Ilse, Herr Swart.“

„Und? Was sagst du dazu?“

„Äh, also ... tja, ähm, vielleicht ganz interessant.“

„Also ich halte gar nichts davon. Packt es doch direkt wieder ein.“

Sven schaut Bram verwundert an. Aber als er sieht, dass tatsächlich einer nach dem anderen das Buch verschwinden lässt, folgt er ihrem Beispiel.

Herr Swart sitzt inzwischen auf einem der leeren Tische.

„Und du, wie heißt du?“, fragt er das einzige Mädchen mit Kopftuch.

„Loubna.“

„Pack auch deine Schreibsachen weg, Loubna. Ihr braucht das vorläufig alles nicht. Ihr braucht hier nur eins: euren Kopf. Was ich für dieses Schuljahr vorhabe, ist, zusammen mit euch nachzudenken. Ich will euch von Menschen erzählen, die nachgedacht haben. Ich will euch berichten, was sie dachten. Und ich freue mich darauf zu erfahren, was ihr darüber denkt. Mehr nicht. Irgendwann werde ich euch Noten geben müssen. Aber das ist jetzt noch kein Thema.“

„Kann ja lustig werden“, flüstert Bram grinsend zu Sven. Der nickt.

„Was ist Philosophie?“, fragt Herr Swart.

„Das sagten Sie doch schon“, sagt Sanne vorlaut. „Nachdenken.“

„Stimmt. Aber es ist mehr. Die Bedeutung des ursprünglich griechischen Wortes ist so ungefähr ‚die Wahrheit lieben‘. Das Nachdenken hat also immer ein Ziel: die Wahrheit zu finden. Die ‚Wahrheit‘ ganz groß geschrieben.“

„Bleibt die Frage, ob es die überhaupt gibt“, sagt Jelle nachdenklich.

„Genau. Darum geht’s. Philosophie heißt nachdenken, suchen, fragen. Immerfort fragen. Und weiterfragen. Die Sache nochmal von einer anderen Seite betrachten. Und nochmal und nochmal.“

„Alles Gelaber!“ Das kam von Sanne.

„Wieso Gelaber?“, fragt Herr Swart.

„Weil man nach Antworten sucht, die es vielleicht gar nicht gibt.“

„Das heißt?“

„Na, schade um die Zeit!“

„Ich will euch die Geschichte von einem Mann erzählen, der nicht einfach nur nachdenken wollte, sondern er wollte es gemeinsam und laut tun. Er stellte Fragen und hakte so lange nach, bis es unangenehm wurde. In seiner Zeit war das sehr ungewöhnlich. Die Machthaber empfanden das als so bedrohlich, dass es ihn schließlich das Leben kostete.“

Swart geht zu seinem Tisch, klappt sein Laptop auf, tippt etwas und auf der digitalen Tafel erscheint ein fleischiges Gesicht – stattliche Nase, hohe Stirn, lockiger Bart.

„Wir reisen nach Griechenland. Und nach draußen. Nehmt eure Jacken. Und Ruhe auf dem Flur! In drei Minuten sehen wir uns auf dem Schulhof.“

„Hä?“ Sven versteht gar nichts. Den anderen geht’s offensichtlich ebenso. Aber Herr Swart hat bereits seine Jacke übergezogen und geht aus der Klasse.

„Und unsere Sachen?“, ruft Jelle ihm hinterher. Aber er hört es schon nicht mehr.

„Was soll denn das jetzt?“, meckert Sanne, während sie mit Loubna die breiten Treppen hinuntergeht.

„Ich finde ihn ganz witzig“, sagt Loubna.

Auf dem Schulhof sehen sie ihn sitzen – im Schneidersitz.

„Der spinnt“, sagt Bram zu Sven.

„Kommt“, Herr Swart winkt sie her. „Kommt und setzt euch zu mir.“

Zögernd nehmen sie Platz. Ilse stößt Bram in die Seite, weil der einfach nicht aufhören kann zu kichern. „Ist doch voll bescheuert“, sagt er noch. Jelle setzt sich auf seine Jacke, weil er keine Flecken auf seiner neuen Hose haben will.

„Wir sind in Athen“, sagt Herr Swart. „Es ist um 400 vor Christus. Wir alle haben eine schwierige Zeit hinter uns, ein Krieg folgt auf den anderen. Vielleicht haben wir kämpfen müssen. Vielleicht einen geliebten Menschen verloren. Aber jetzt herrscht Friede, und wir befinden uns auf der Agora, im Zentrum der Stadt, wo alles Wichtige passiert.“

„Da war ich schon!“, ruft Tijmen begeistert. „Ist nur nicht mehr viel davon übrig. Na ja, halt ein paar Haufen Steine.“

„Das stimmt. Aber wir stellen uns vor, dass um uns herum große Gebäude stehen. Lange Säulengalerien und Tempel. Hier wird Recht gesprochen; Menschen kommen hierher, um die Götter zu ehren; Oberhäupter und Volksvertreter besprechen hier die Angelegenheiten der Stadt. Leute kommen hierher zum Einkaufen, denn hier ist auch täglich Markt. Und mitten in diesem ganzen Gewimmel hört ihr mir zu. Ich bin Sokrates, der große Philosoph, der weise Mann.“

„Der bald sterben wird ...“, witzelt Wouter.

„Stimmt. Aber so bald noch nicht. Erst hängt ihr alle an meinen Lippen. Was um euch herum passiert, nehmt ihr gar nicht wahr. Ihr lauscht nur mir, Sokrates. Ich bin nicht mehr der Jüngste, ich habe einen Bart und trage ein Kleid. Ihr übrigens auch! Meinetwegen dürft ihr euch alle zu mir gesellen; Frauen werden das aber eher nicht tun.“

„Gut, ich geh dann mal“, sagt Sanne. „Zum Markt, ein Huhn holen und rupfen oder so.“ Alle lachen.

Herr Swart überhört sie. „Von den Verwaltungsgebäuden aus werde ich beobachtet. Man will wissen, was ich da mit euch bespreche. Man hat Geschichten über mich gehört. Ich würde euch mit fixen Ideen anstecken und vergiften. Hätte keinen Respekt vor den Göttern. Aber die Gruppe derer, die vor mir sitzt und mir zuhört, wird von Tag zu Tag größer. Die Beobachter wollen wissen, was ich euch alles weismache. Aber ich mache euch nichts weis. Ich lege euch nichts in den Mund. Wie heißt du?“

„Sven.“

„Sokrates. Also, Svenos, erzähl mal: Strebst du danach, Gutes zu tun?“

„Äh ...“

„Und was bedeutet es, nach etwas zu streben, und, noch wichtiger, was ist das Gute?“

„Du lieber Himmel!“, seufzt Sven.

„Mann, das ist doch klar“, sagt Jelle angenervt. Er hat jetzt für seine Verhältnisse lange den Mund gehalten, aber jetzt muss er doch mal was sagen.

„Aha. Wenn du einverstanden bist, Svenos, lege ich die Frage nach dem Guten rasch unserem Jellos vor.“

Der zuckt nicht mit der Wimper, als er seinen neuen Namen hört, sondern legt sofort los.

„Bei ‚dem Guten‘ sollte es um Respekt und Aufmerksamkeit anderen und der Natur gegenüber gehen. Das heißt, gut umgehen mit dem Leben und mit allem, was lebt.“

Sanne kann ein heftiges Gähnen nicht unterdrücken, als sie Jelles selbstzufriedene Miene sieht. Sokrates bemerkt es auch. „Findest du, dass Jellos ‚das Gute‘ gut beschrieben hat?“, fragt er sie.

Sanne hat jetzt offenbar genug. „Können Sie uns nicht einfach sagen, was es ist? Dann hätten wir das schon mal hinter uns!“

Herr Swart steht auf. „Schaut!“, sagt er und streckt einen Finger in die Höhe. „Das ist genau das, worum es bei Sokrates ging. Er wollte seinen Leuten nicht vorkauen, was sie zu denken hatten. Er wollte, dass sie selbst nachdachten. Er wollte, dass die Leute alle die Themen, über die sie einfach so drauflos redeten, kritisch unter die Lupe nahmen. Dass sie weiterfragten. Und zwar so lange, bis sie zum Kern kamen.

Was ist gut?

Was ist echt?

Wann ist man gerecht?

Und Schönheit, was ist das eigentlich?

Die Leute sagen, sie sprechen die Wahrheit oder wüssten, was wahr ist. Aber wie sicher können sie sich sein?“

„Jetzt mal langsam.“ Jelle hakt nach. „Dann kann man doch überhaupt nichts mehr sagen oder tun!“

„Weil?“

„Letztendlich können wir uns doch bei nichts hundertprozentig sicher sein.“

„Ha!“ Herr Swart strahlt. Er steht so glücklich da, als hätte er im Lotto gewonnen. „Genau. Genau so ist es, Jelle! Und genau aus diesem Grund wurde Sokrates mit einem einzigen Satz berühmt: Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

„Na also“, sagt Bram. „Dann kann man das Nachdenken ja gleich bleiben lassen.“

Sanne rutscht schon auf dem Hintern hin und her. Die Steinfliesen hier draußen sind kalt und hart.

„Aber genau das war es, worauf Sokrates hinauswollte. Wie eine Hebamme einer Frau hilft, ihr Kind auf die Welt zu bringen, so wollte er den Menschen bei der Geburt ihrer eigenen Wahrheit helfen. Sokrates ermunterte die Leute, sich selbst möglichst gut kennenzulernen. Denn seiner Meinung nach bekommt man erst dann wirklich eine eigene Vorstellung, zum Beispiel von ‚dem Guten‘. Und er ging auch davon aus, dass man das Gute dann auch tut. Sich selbst kennenzulernen und Einsicht zu gewinnen, führt demnach zu einem guten Leben.“

„Ich kapier gar nichts mehr“, mault Sanne. „Man weiß doch anscheinend eh nichts.“

„Letztendlich weiß man nichts, Sanne. Die eine richtige Antwort auf die Frage, was gut ist, gibt es nicht. Für dich steht vielleicht fest, dass jemanden zu töten nicht gut ist. Aber was, wenn du angegriffen wirst, weil in deinem Land Krieg herrscht? Denkst du dann immer noch so? Was ‚gut‘ bedeutet, hat sehr viel damit zu tun, wer du bist und in welchen Umständen und mit welchen Erfahrungen du lebst. Deshalb will Sokrates, dass wir bescheiden sind und nicht anderen das aufzwingen, was wir für gut halten. Das meint er mit ‚Ich weiß, dass ich nichts weiß.‘“

„Okay ..., schön und gut“, sagt Sanne. „Aber wie geht’s weiter? Sie haben vorhin im Klassenzimmer doch erwähnt, dass jemand mit dem Leben bezahlen musste.“

„Tja. Sokrates ermunterte die Menschen, selbst nachzudenken. Immerfort. Und gründlich. Den Oberhäuptern gefiel das ganz und gar nicht. Was, wenn die Leute aufmüpfig würden? Sich nicht mehr demütig unterordneten? Sie fanden, dass dieser Sokrates ihnen ziemlich gefährlich wurde.“

„Und dann wurde er einfach ermordet?“, fragt Sanne neugierig.

„Dann wurde er einfach ermordet“, wiederholt Herr Swart. „Er bekam einen Becher mit Gift, den musste er leeren. Und so starb Sokrates im Alter von ungefähr siebzig Jahren.“

Kapitel 3KÖRPER UND SEELEIch denke, also bin ich

„Was“, fragt Herr Swart laut, um das Stimmengewirr im Raum zu übertönen, „was in eurem Leben ist absolut sicher?“

Stille.

„Wouter?“

Wouter schweigt.

„Komm, denk nach: Was ist so sicher, dass nichts dagegen ankommt?“

„Dass meine Mutter mich morgens aufweckt?“

Alle lachen, auch Herr Swart. „Offenbar bist du noch nicht fit genug fürs Nachdenken.“

„Sie verlangen aber auch ganz schön viel, Herr Swart.“ Das kam von Loubna.

„Aah, du bist also schon wach. Guten Morgen! Schön. Kannst du mir vielleicht sagen, was für dich so sicher ist, dass du niemals daran zweifelst?“

„Dass sie das schönste Mädchen der Klasse ist“, ruft Tijmen spontan und wird auf der Stelle knallrot.

Gelächter.

„Gut“, sagt Herr Swart. „Wir machen es anders. Wer von euch hat schon mal einen Traum gehabt, der so seltsam war, dass er ihm oder ihr noch lange im Kopf herumgespukt ist?“

Ilse hebt zögernd die Hand. „Ich hab mal geträumt, dass meine kleine Schwester sehr krank ist. Als ich aufwachte, wusste ich, dass es nicht so war, aber ich musste trotzdem sehr weinen.“

Für einen Moment ist es ganz still in der Klasse. Herr Swart nickt. „Das ist in der Tat kein schöner Traum. Hattest du den öfter?“

Ilse schüttelt den Kopf.

„Ich will euch heute die Geschichte von einem Mann erzählen, der sehr viel über die Frage nachdachte, was in seinem Leben für ihn absolut gewiss sein konnte. Dann hatte er einen Traum. Das ist fast vierhundert Jahre her.“

Wouter faltet seinen Schal vor sich auf dem Tisch zu einem Kissen zusammen und legt seinen Kopf drauf.

„Es ist der 10. November 1619“, beginnt Herr Swart. „Wir sind in Deutschland, und zwar in einem Soldatenlager in Neuberg an der Donau. Wir sehen einen jungen Mann: René Descartes.

Er hat langes, dunkles Haar, dicke Augenbrauen und eine kräftige Nase.

René Descartes kommt aus Frankreich und ist Soldat. Besser gesagt: eine Art Soldat. Er hat sich zwar dem Heer angeschlossen, aber ob er auch wirklich kämpfen will? Das muss sich noch zeigen.“

„Geht doch nicht“, sagt Bram. „Wenn man keine Lust hat zu kämpfen, geht man doch nicht zur Armee?“

„Du musst es in der damaligen Zeit sehen, Bram. Reisen war nicht so einfach und erst recht nicht so sicher wie heute. Mit einer Armee umherzuziehen, war sicherer, als allein auf Achse zu sein.“

„Hm.“

„Descartes jedenfalls hofft, dass seine Reise ihn zum Ort des Geschehens führt: Er will aus der Nähe sehen, wie es ist, für große Ideale zu kämpfen. Er will Neues sehen und interessanten Menschen begegnen. Er will lernen, lernen und nochmals lernen. Und sonst eigentlich nichts. Oder doch: eigene Gedanken entwickeln. Als Ergebnis des Lernens. Ja, das ist es, was er will. Aber jetzt herrscht Winter, und das Heer hat sein Lager aufgeschlagen, und nichts passiert. Descartes langweilt sich, denn mit den meisten Soldaten kommt er nicht ins Gespräch.“

Herr Swart geht zwischen den Reihen durch. „Langweilst du dich auch, Wouter?“, sagt er ihm laut ins Ohr.

Wouter fährt hoch, setzt sich aufrecht hin und brummt irgendwas. Herr Swart macht ein strenges Gesicht, erzählt dann aber weiter.

„Eines Tages ist Descartes in Neuberg in einem Raum, wo ein wunderbar warmes Fußstövchen für ihn bereitsteht. Er genießt die Wärme, die Entspannung. Und denkt nach. Er lehnt sich zurück, schließt die Augen. Und er denkt nicht an schöne Frauen oder an gutes Essen. Nein, Descartes denkt an bedeutende Philosophen und Wissenschaftler und an deren Theorien. Lange hat er ihre Ideen studiert und im Gedächtnis bewahrt. Von Zeit zu Zeit erinnert er sich an eine dieser Lehren und denkt ausgiebig darüber nach, betrachtet sie von allen Seiten. Nie kritiklos glauben, was sie sagen, die großen Wissenschaftler – sondern selbst nachdenken! Und am liebsten dort weiterdenken, wo sie aufgehört haben. Im Grunde genommen träumt René Descartes genau davon. Von einer neuen brillanten Erkenntnis. Die ihn zu einem mindestens ebenso großen oder – besser – zu einem noch größeren Denker macht.“

Herr Swart schließt kurz ebenfalls die Augen und lehnt den Kopf ein wenig zurück. „Das Dumme an der Wissenschaft ist natürlich, dass es so viele Sichtweisen aus so vielen unterschiedlichen Richtungen gibt“, fährt er fort. „Wer hat Recht? Alle ein wenig? Der eine mehr als der andere? Descartes jedenfalls kommt zu dem Schluss, dass man sämtliche Sichtweisen anzweifeln kann. Alle reagieren sie schließlich aufeinander, und ‚die‘ Wahrheit besitzt niemand.“

Wouter wird das Ganze zu viel. Er steht auf: „Ich muss mal.“ ‚Wenn er sich etwas Zeit lässt, sind schon wieder zehn Minuten überstanden.‘

„Wie schlimm ist das denn!?“, hört Wouter im Rausgehen Jelle sagen. ‚Der Streber.‘

„Wieso?“, fragt Bram.

„Philsophieren heißt wie gesagt Fragen stellen. Und Jelles Frage ist eine sehr wesentliche. Soll man nach ‚der‘ Wahrheit streben? Was ist ‚Wahrheit‘ eigentlich? Und wie weit ist man bereit zu gehen, um diese Wahrheit zu finden? Oder akzeptiert man gleich, dass es sie nicht gibt?“

„Es kann auch schön sein, viele verschiedene Sichtweisen zu haben. Dann findet jeder das, was zu ihm passt“, sagt Jelle.

„Sicher. Aber Descartes sieht darin doch eher ein Problem. Denn was soll er denn glauben, wenn jeder etwas anderes sagt? Wissenschaftler studieren ihre jeweiligen Theorien und fügen anschließend etwas Eigenes dazu. Oder sagen, dass es nicht stimmt. So verschwindet die ursprüngliche Idee allmählich von der Bildfläche.“

„Und was war jetzt mit diesem Traum?“ Sanne ist ungeduldig.

„Ja, ja, gleich“, sagt Herr Swart lachend. „Descartes träumt von einer neuen Philosophie. Einer Philosophie, die gewissermaßen den Boden unter allen Gedanken, unter allen Wissenschaften abgibt. Oder den Himmel darüber. Jedenfalls etwas, das sämtliche Ideen der vorangegangenen Jahrhunderte, die er allesamt studiert hat, zusammenbringt. Eine Philosophie, die so wahr ist, dass niemand sie mehr anzweifeln muss.

Gerade habe ich euch ja erzählt, dass sich das alles in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts abspielte. Wenn es um den Anfang und das Ende von allem geht, woran denken die Menschen in jener Zeit dann automatisch?“

„An Gott natürlich“, sagt Sven.

„So ist es. Sie denken an Gott. Und an ihn denkt René Descartes natürlich auch. Schon seit Jahrhunderten sagen Wissenschaftler, Gott stehe am Anfang und am Ende von allem. Gott sei die einzige Wahrheit.

‚Aber stimmt das denn?‘, fragt sich Descartes. Dieser Gedanke erschreckt sogar ihn selbst. Denn er ist ein frommer Mensch. Descartes zweifelt nicht an Gott. Aber er fragt sich, ob er nicht eine ganz neue Philosophie entwickeln kann, ohne damit Gott als Schöpfer von Himmel und Erde in Frage zu stellen. Descartes merkt, dass ihn seine Gedanken in Unruhe versetzen. Dann stockt ihm der Atem. Er sieht etwas. Seine Augen sind zwar nach wie vor geschlossen, aber trotzdem – er sieht etwas. Descartes schüttelt den Kopf hin und her, als wolle er sich davon überzeugen, dass er wach ist. Er öffnet die Augen, schließt sie wieder, aber es ist immer noch da. Es sieht aus wie eine große Zeichnung, ein Schema voller Zahlen und Linien.

Descartes kann keine Worte dafür finden. Er kann es einfach nicht beschreiben. Aber er weiß, was es bedeutet. Schlagartig weiß er das: Es gibt tatsächlich eine neu zu entwickelnde Philosophie, die alle anderen Philosophien miteinander verbindet. Die über allen steht und ihnen gleichzeitig zugrunde liegt. Eine Wahrheit. Eine echte Wahrheit und doch anders als Gott. Descartes hat eine Skizze davon gesehen. Eine Skizze in seinem Kopf.“

„Also ein Traum?“, fragt Sanne.

„Ja, ein Traum am helllichten Tag. Ein Tagtraum.“

„Gibt es ein Bild von dem, was er gesehen hat?“

„Nein Sanne, das gibt es leider nicht. Aber später wird es ihm gelingen, alles aufzuschreiben. Geduld.“

„Na ja, ziemlich vage, das Ganze“, sagt Sanne.

„Man könnte das, was Descartes gesehen hat, als Vision bezeichnen“, fährt Herr Swart fort. „Aber er hat noch mehr Träume. Und er macht sich augenblicklich an die Arbeit. Er gibt sich große Mühe, die außergewöhnliche Einsicht aufzuschreiben, die er durch die inneren Bilder gewonnen hat. Aber viel mehr als einige Ausrufe und noch mehr Durchgestrichenes bringt er nicht zustande. Unruhig geht er zu Bett. Und in dieser Nacht schreckt er ganze drei Mal aus verwirrenden und beängstigenden Träumen hoch.

Aber als der Morgen anbricht, ist es, als hätten diese drei Träume ihm eine Botschaft überbracht. Wie er am Tag davor schlagartig ‚gesehen‘ hatte, dass eine alles umfassende neue Philosophie tatsächlich existiert, so weiß er jetzt sicher, dass er derjenige sein wird, der sie formuliert. Er, René Descartes. Es ist der 11. November 1619, und er weiß, dass sein Leben sich für immer verändert hat. René Descartes hat von jetzt an eine Lebensaufgabe.“

Herr Swart hält kurz inne, um das Erzählte wirken zu lassen.

„In den darauffolgenden Tagen, Wochen und Monaten versucht Descartes aufzuschreiben, was er gesehen hat – aber ohne Erfolg. Es ist zum Verrücktwerden! Er weiß, dass es da ist, und dass er es aufschreiben muss. Er muss, er muss! Er hat einen Auftrag. Aber er schafft es nicht. Jahre vergehen!

René Descartes reist von Land zu Land. Er ist ruhelos. Trifft interessante Menschen, die mit ihm zusammen nachdenken und ihn zum Weitermachen ermuntern. Aber ‚das‘ Buch mit ‚der‘ Philosophie kommt und kommt nicht.

Letztendlich dauert es achtzehn Jahre, bis René Descartes seine Philosophie aufgeschrieben hat.“

„Du meine Güte!“, sagt Loubna. „Ist das lange! Musste er denn nicht arbeiten?“

„Nein. Zum Glück hatte seine Familie Geld. Descartes hatte alle Zeit. Das Buch wäre sonst wahrscheinlich nie zustande gekommen, er hätte sonst nicht so lange und so tief nachdenken können.“

„Manche Menschen haben einfach alles“, seufzt Loubna. „Sie sind schlau, haben Geld, sind berühmt.“ Darüber muss die ganze Klasse lachen.

„Ob Descartes glücklich war, weiß ich nicht, Loubna“, sagt Herr Swart. „Aber zufrieden ist er sicher, wenn ich euch jetzt in den Sommer 1637 mitnehme. René Descartes ist unterwegs von Alkmaar nach Leiden.“

„Alkmaar?“, ruft Sven. „Was hat so ein berühmter Philosoph denn in Alkmaar verloren?“

„Descartes hat in verschiedenen europäischen Ländern gelebt, am längsten in den Niederlanden. Beispielsweise in Amsterdam und in Leiden und Franeker. Aber auch in Alkmaar und Egmond-aan-Zee. Er hatte hier einige gute Freunde und liebte die offene Atmosphäre im Land: Hier brauchte man unter Gelehrten nicht zu befürchten, jemanden mit seinen Gedanken zu schockieren. Außerdem hatte er hier eine Tochter bekommen, in die er ganz vernarrt war.

Er ist also gerade unterwegs von Alkmaar zu seinem Verleger in Leiden. Descartes ist kurz davor, der Welt endlich sein Buch mit seiner neuen Philosophie zu präsentieren. Er will einen ordentlichen Stapel vom Verlag mitnehmen, um allen für ihn wichtigen Menschen ein Exemplar zu schicken. Er ist 41 Jahre alt und freut sich wie ein Kind. Er kann es kaum erwarten, sein Buch in den Händen zu halten. Und das hier ist es!“

Herr Swart nimmt ein Buch von seinem Pult, hält es hoch. „‚Discours de la méthode‘“, liest er vor. „Wer übersetzt mir das?“

„Etwas mit einer Methode.“

„Ja, man könnte es übersetzen mit ‚Abhandlung über die Methode‘, aber oft sagen wir einfach ‚Über die Methode.‘“

„Was für ein langweiliger Titel!“, kommentiert Sanne. „Ist doch wahr“, sagt sie, als alle anfangen zu lachen. „Da arbeitet einer achtzehn Jahre an einem einzigen Buch, und dann nennt er es ‚Über die Methode‘. Super!“

„‘Methode‘ könnte man in diesem Fall auch mit ‚der Weg‘ übersetzen. Descartes will uns einen Weg zeigen, wie wir zu Wissen gelangen. Und das ist überhaupt nicht langweilig“, sagt Herr Swart. Er nimmt einen Stapel Papiere von seinem Tisch und lässt sie durch die Reihen gehen. „Ich habe euch ein Stück von seinem Text kopiert und möchte gerne, dass ihr ihn bis nächsten Mittwoch lest.“

„Schreiben wir dann eine Arbeit darüber?“, fragt Wouter nervös.

Herr Swart schüttelt den Kopf. „Ich will euch nur nicht die ganze Zeit erzählen von Descartes. Ihr finde, ihr solltet ihn lesen. Wenigstens ein Stückchen. Einfach lesen und seinen Stil und die Sichtweisen entdecken.“

Loubna packt den Text seufzend in ihre Tasche. „Zuhören finde ich ja noch ganz schön, aber selbst lesen ...“

„Leute“, sagt Herr Swart, „die Stunde ist noch längst nicht vorbei. Legt den Auszug jetzt noch beiseite, dann erzähle ich weiter. Descartes ist also froh und aufgeregt, aber er macht sich auch Sorgen. Nicht umsonst steht sein Name nicht auf dem Einband. Er weiß, dass in seinem Buch Dinge stehen, mit denen er sich Feinde machen wird, vielleicht sogar sehr mächtige Feinde. Was glaubt ihr, wen meint er wohl?“

„Sie sagten doch irgendwas von Gott ...“, sagt Ilse vorsichtig.

„Sehr gut. Aber wer ist dann dieser mächtige Feind?“

„Die Kirche?“

„Genau!“, sagt Herr Swart. „Nun müsst ihr wissen, dass ein Kollege, Galileo Galilei, vom Papst zu lebenslänglichem Hausarrest verurteilt worden war, weil er gesagt hatte, die Erde drehe sich um die Sonne. Lebenslänglich! Und das, obwohl Galileo Galilei gute wissenschaftliche Argumente für seine These hatte.

Aber der Kirche war diese Vorstellung ein Gräuel. Für die Kirche ist die Erde der Mittelpunkt der Schöpfung, um sie dreht sich alles. Die Erde, die Menschen – sie bilden den Höhepunkt der Schöpfung Gottes. Und jetzt kommt Galilei und sagt, die Erde dreht sich um die Sonne und nicht umgekehrt. Allein der Gedanke ist unerhört! Descartes will nicht wie Galilei die Wut der Kirche auf sich ziehen. Er will weder Streit noch Ärger. Außerdem ist er ein großer Anhänger der Kirche, er liebt sie regelrecht. Trotzdem. In der nächsten Stunde erzähle ich euch, dass seine Sorgen nicht unbegründet waren ...“

„Aber gerade wird’s doch spannend“, sagt Jelle enttäuscht.

„Ja, schade. Aber dafür treffen wir uns zur ersten Stunde nicht hier in der Schule, sondern um Viertel nach acht vor dem Dom. Dort geht unsere Geschichte weiter. Und was den kopierten Text angeht: Bitte versucht herauszufinden, was der Kern von Descartes‘ Philosophie ist.“

Es klingelt.

[...]

Mittwoch früh um Viertel vor acht stehen alle vor dem Dom.

„Wer hat den Text von Descartes gelesen?“ Die meisten Hände gehen hoch. „Brav, Leute, brav“, sagt Herr Swart grinsend. „Und: Worum geht es ihm? Jemand eine Idee?“

„Na, um Wissen“, sagt Jelle.

„Wouter?“ Herr Swart versucht es, aber Wouter zuckt nur die Schultern.

„Um gesunden Menschenverstand“, ergänzt Sven.

„Was meinst du dazu, Loubna?“

„Ich finde es ziemlich verrückt“, sagt sie vorsichtig.

„Warum?“

„Als er so alt war wie wir, hat er immer nur nachgedacht.“

„Und?“

„Es gibt doch noch ganz andere Dinge, mit denen man sich in unserem Alter beschäftigt. Freundschaft. Ausgehen. Das Aussehen.“

Herr Swart nickt. „Er war kein Durchschnittsjugendlicher, das stimmt. Gut, dass ihr den gesunden Menschenverstand und das Wissen herausgelesen habt. Genau darum dreht sich nämlich wirklich alles. Kommt, gehen wir hinein, dann erzähle ich euch, warum wir hier sind.“

Sie trotten hinter ihm her in den Dom.

„Hier war ich noch nie“, sagt Tijmen, der sich an Loubnas Seite geheftet hat.

„Ich auch nicht“, antwortet sie leise. Ihre Eltern gehen nicht regelmäßig in die Moschee, und in eine Kirche kommt sie schon gleich gar nicht.

Herr Swart lotst sie in eines der Seitenschiffe des Doms.

„Ich habe euch ja erzählt, dass Descartes nach achtzehn Jahren sein Buch endlich in den Händen hielt. Und dass er sich freute, sich aber auch Sorgen machte. Wir gehen jetzt zwei Jahre weiter in der Zeit. Es ist das Jahr 1639, und hier vorne in der Kirche sitzt eine Reihe von Professoren der Utrechter Universität. Die gibt es erst seit wenigen Jahren.“

„War Descartes einer von ihnen?“, fragt Jelle.

„Nein“, antwortet Herr Swart. „Der war zu Hause, irgendwo auf dem Land. Hier geht es gerade um jemand ganz anderen. Um Henricus Reneri. Professor der Philosophie und mit 46 Jahren gestorben. Seine Kollegen sind jetzt hier, um seiner zu gedenken und ihn zu beerdigen. Einer der Anwesenden ist Gisbertus Voetius. Er ist Professor der Theologie und ein wichtiger Mann an der Universität. Stellt euch mal vor, wie Voetius in den Dom kommt: in langer, schwarzer Robe, und er trägt einen kleinen, flachsfarbenen Bart. Voetius sucht sich einen Platz zwischen seinen Kollegen, nickt einigen bekannten Gesichtern im Kirchenraum zu. Er kennt zwar nicht alle hier, aber ihr könnt euch drauf verlassen, alle kennen ihn!

Es wird still. Antonius Aemilius, Professor für Geschichte und Staatskunde, fängt an zu sprechen. Seine Worte hallen durch diesen Dom. Voetius hört Aemilius zu. Und er bekommt natürlich all die Dinge zu hören, die man über einen Verstorbenen sagt. Dass er einen wichtigen Beitrag geleistet habe und eine große Lücke hinterlasse. Vielleicht denkt er auch heimlich schon an die viele Arbeit, die noch auf ihn wartet. Aber er schreckt aus seinen Gedanken, als die Männer um ihn herum anfangen zu murmeln. Aemilius spricht gerade vom ‚Archimedes dieser Zeit, Renatus Cartesius‘.“

„Das ist Descartes!“, sagt Jelle.

„In der Tat. Renatus Cartesius ist René Descartes, denn in wissenschaftlichen Kreisen werden damals lateinische Namen verwendet. Aber was meint Aemilius wohl, wenn er Descartes als den ‚Archimedes dieser Zeit‘ bezeichnet?“

Keine Reaktion.

„Archimedes? Noch nie gehört?“

Allgemeines Kopfschütteln.

„Archimedes war ein brillanter Mathematiker, ein berühmter Wissenschaftler. Und jetzt vergleicht man Descartes mit ihm. Gut möglich, dass Voetius seinen Nachbarn fragt: ‚Wer ist das?‘ Und der würde vielleicht antworten: ‚Ein Philosoph und Freund Reneris.‘

Aemilius‘ Rede wurde später veröffentlicht, Leute, deshalb lese ich euch jetzt ein paar Zeilen daraus vor: ‚Cartesius, du mächtiger Atlas, der du ganz allein den weiten Himmel trägst. Nicht auf den Schultern, sondern mit der Kraft deiner Vernunft und deines göttlichen Verstandes.‘

Für Voetius wird die Sache immer verrückter. Hier sitzen sie, alle Männer von Rang und Namen, um Reneri zu ehren. Und worum dreht sich Aemilius‘ Rede? Um den Freund Reneris, um diesen Descartes! Er konnte nur den Kopf schütteln. Und er ärgerte sich ungeheuerlich über den angeblich göttlichen Verstand dieses Mannes. Schließlich besaß nur einer den göttlichen Verstand – und zwar Gott selbst! Für ihn war es eine Schande, so über einen Menschen zu sprechen.

Aber als die Trauerfeier zu Ende ist, merkt Voetius, dass längst nicht alle seine Kollegen so denken. Manche sind mehr als neugierig auf diesen ‚Archimedes unserer Zeit‘. Andere wissen zu berichten, dass an der Universität bereits längst nach den Erkenntnissen Descartes‘ gelehrt wird. Und dass die Studenten das äußerst interessant finden.

Voetius begreift gar nichts mehr. Das alles an seiner Universität – und er weiß nichts davon?!

Er beschließt, augenblicklich mehr zu erfahren.“ Herr Swart macht das Buch zu und steckt es zurück in seine Tasche.

„Und jetzt?“

„Jetzt gehen wir nach draußen und dann zum Voetius Haus, gleich hier um die Ecke. Dort erzähle ich euch, wie’s weitergeht.“

„Ganz schön hier, nicht?“, sagt Sanne im Hinausgehen zu Loubna. „Witzig, die Vorstellung, dass hier vor vierhundert Jahren lauter bärtige Männer in langen Gewändern saßen.“

Sie gehen zur Rückseite des Doms und bleiben vor einem großen, majestätischen Haus stehen. „Nicht umsonst heißt diese Straße hier Voetiusstraat“, sagt Herr Swart. „Hinter einem dieser Fenster nahm Voetius Platz. Nur damit ihr eine Vorstellung habt, denn das tatsächliche Haus von Voetius steht leider nicht mehr.“ Er muss ziemlich laut sprechen, um die vorbeifahrenden Autos zu übertönen. „Er hat sich also direkt nach der Trauerfeier für Reneri dieses Buch von Descartes besorgen lassen, schlägt es auf und liest und liest und liest.

Als Erstes fällt ihm auf, dass das Buch auf Französisch geschrieben ist. Gelehrte verfassen ihre Bücher durchweg auf Latein. Als Zweites fällt ihm auf, dass kein Name darin steht.

Und wie leicht es sich lesen lässt! Keine schwierigen Sätze, keine komplizierten Begriffe. Es ist, als hätte dieser Descartes einfach nur laut auf dem Papier nachgedacht. ‚Jeder Mensch meint, er besäße einen gesunden Menschenverstand.‘ Das ist schön. Aber wichtiger sei, was der Mensch mit diesem gesunden Menschenverstand tue. Er habe Glück gehabt, denn er habe schon in jungen Jahren eine außergewöhnliche Einsicht gewonnen. Die Methode, die er hier beschreiben werde, sei daraus hervorgegangen. Und bereits jetzt habe er viel Gutes erfahren, indem er die Methode entwickelt habe. Seine Absicht sei nicht, anderen diese Methode aufzuerlegen, sondern er wolle nur, dass auch sie einen Nutzen davon hätten.

‚Ja, ja‘, denkt Voetius. ‚Aber was ist denn diese Methode?‘ Er ist mittlerweile ja schon sehr neugierig.“

„Wir auch, Herr Swart!“, ruft Jelle, und wird dafür sofort mit missbilligenden Blicken der anderen gestraft.

„Passt auf: Letztendlich geht es in diesem Buch um fünf Worte, die das Denken komplett verändern. Alles andere ist interessant, aber diese fünf Worte, sie machen den Unterschied.

Voetius liest also weiter in Descartes‘ Einleitung. Er sei ein lernbegieriges Kind gewesen, schreibt Descartes. Er habe den tiefen, tiefen Wunsch gehabt, herauszufinden, was die Wahrheit sei. Aber, so seine Entdeckung, es gebe nicht den Wissenschaftler, mit dem alle ohne jeden Zweifel einer Meinung wären. Dabei habe er als junger Mann doch eine klare, deutliche Botschaft hören wollen: Das hier ist die Wahrheit.

Damit ist Voetius schnell fertig. ‚Gott‘, brummt er. ‚Es gibt nur eine Wahrheit, und das ist die Wahrheit Gottes. Was du suchst, Descartes, wirst du als Mensch nicht finden.‘ Hört ihr es ihn sagen in diesem würdevollen Haus, eingehüllt in seine schwarze Robe?

Jetzt ist Descartes bei seiner Vision, die er vor Jahren in jenem warmen Zimmer gehabt hat. Und bei einer der wichtigen Einsichten, die er erlangt habe: Viele wissenschaftliche Theorien führten eigentlich nur andere Theorien fort. Der Wissenschaftler sei nicht selbst darauf gekommen, sondern habe nur etwas bereits Bestehendes in ein neues Licht gerückt oder weiterentwickelt. Man müsse sich fragen, ob das die Theorie verbessere. Sei es nicht häufig so, dass etwas von einem einzigen Menschen Geschaffenes viele Male konsequenter, solider und besser durchdacht ist als etwas, woran viele Menschen herumgebastelt haben? Also, schreibt Descartes, sollten wir eigentlich alles, was wir gelesen oder gehört haben, ganz und gar vergessen. Wir sollten versuchen, vollkommen frei von all diesen Sichtweisen unseren eigenen gesunden Menschenverstand zu gebrauchen. Vielleicht kämen wir damit der Wahrheit nahe. Alle Gedanken, Theorien, wissenschaftlichen Vorstellungen, die ihn zweifeln ließen, schob er als ‚unwahr‘ beiseite. Aber auch alles, was er sah, was er fühlte, roch und berührte, kurz: Alles, was seine Sinnesorgane ihm als wahr vorgaukelten, erwies sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit als wahr. Denn was heute herrlich roch, konnte morgen stinken. Und einen Stein, den er als schwer bezeichnete, konnte ein anderer für leicht befinden. Wie wenig da übrigblieb, das über jeden Zweifel erhaben war! Aber kann er daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass überhaupt nichts wahr ist?, fragt sich Descartes. Nein! ‚Ich denke dies alles. Und das ist doch mit Sicherheit wahr. Dagegen lässt sich überhaupt nichts einwenden. Ich denke, also bin ich!‘“

Stille.

„‘Ich denke, also bin ich.‘ Diese fünf Worte regen Voetius dermaßen auf, dass er ganz rot wird. ‚Ich, ich, ich!‘ ‚Ich denke, also bin ich‘ Dieser Descartes macht sich selbst zum Mittelpunkt der Welt, zum Zentrum, um das sich anscheinend alles dreht. Eine Schande ist das! Du lieber Himmel, begreift dieser Kerl nicht, wie gefährlich das ist, wenn Hinz und Kunz anfangen, über Fragen nachzudenken, auf die die Kirche und ihre Gelehrten schon längst Antworten formuliert haben? Ganz zu schweigen von der Bibel! Sollen die Menschen etwa auch das Wort Gottes anzweifeln?! Voetius ist empört und fassungslos. Er schwört sich und Gott, alles zu tun, was in seiner Macht steht, um dafür zu sorgen, dass diese Gedanken sich nicht weiter ausbreiten. Weder hier an der Universität, noch irgendwo sonst!

Descartes hatte einen scharfen Gegner mehr. Einen sehr leidenschaftlichen Mann, der wenig später als Rektor eine sehr wichtige Stellung innerhalb der Universität bekleiden und alles dransetzen sollte, Descartes‘ Ideen mit Stumpf und Stiel auszurotten.“

Van der Molen, Janny:

Herrn Swart brummt der Schädel oder wie das Denken im Kopf die Richtung wechseln kann (Leseprobe)

ISBN 978 3 522 68022 6

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Grote Gedachten – verhalen over filosofie

bei Uitgeverij Ploegsma Amsterdam

Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf

Grote Gedachten – verhalen over filosofie, Uitgeverij Ploegsma 2014

© Text: Janny van der Molen 2014

Layout und Innenillustrationen: steef liefting

Einbandgestaltung und -typografie: Formlabor, Hamburg, unter Verwendung von Illustrationen von Hanna Hildenbrand

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

© 2015 by Gabriel in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH, Stuttgart

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Christian Nürnberger

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Christian Nürnberger erzählt von Frauen und Männern, die Mut zeigen: Mut, die Dinge anders zu sehen, Mut, etwas Neues zu wagen, Mut, mit der bisherigen Tradition zu brechen oder einer Übermacht die Stirn zu bieten: Ayaan Hirsi Ali, Peter Benenson, Bärbel Bohley, Bartolomé de Las Casas, Mahatma Gandhi, Martin Luther, Wangari Maathai, Nelson Mandela, Rosa Parks, Anna Politkowskaja, Alice Schwarzer und Bertha von Suttner.

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