Herzgift - Paula Daly - E-Book

Herzgift E-Book

Paula Daly

4,7
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine glückliche Ehe, zwei hinreißende Töchter und ein florierendes kleines Hotel im englischen Lake District: Natty und Sean Wainwright stehen auf der Sonnenseite des Lebens. Das Glück wird getrübt, als die jüngere Tochter auf der Klassenfahrt schwer erkrankt. Natty macht sich sofort auf den Weg nach Frankreich – nur gut, dass ihre beste Freundin Eve gerade zu Besuch ist und Sean in Nattys Abwesenheit unterstützen kann. Doch als Natty nach zwei Wochen zurückkehrt, erwartet sie ein Albtraum: Eve hat ihr den Mann ausgespannt und ihr Zuhause übernommen. Selbst ihre Töchter werden von Eve umgarnt. Natty ist fassungslos. Die einst so enge Frauenfreundschaft wandelt sich in nackten Hass – und ein mörderischer Zweikampf beginnt …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 485

Bewertungen
4,7 (18 Bewertungen)
14
2
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Natty und Sean Wainwright haben ihren Traum verwirklicht: Als Natty gleich zu Beginn des Studiums schwanger wurde, heirateten sie und eröffneten ein Bed and Breakfast. Inzwischen führen sie ein florierendes Hotel im idyllischen Lake Distrikt und haben zwei hinreißende Töchter. Doch ganz ungetrübt ist das Eheglück nicht. Immerzu ist Natty damit beschäftigt, To-do-Listen abzuarbeiten, um allen Anforderungen und den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Dass sie dabei oftmals den Blick für das Wesentliche verliert, wird ihr schmerzlich bewusst, als ein Anruf aus Frankreich kommt: Ihre Tochter Felicity, gerade auf Klassenfahrt, liegt im Krankenhaus. Natty macht sich sofort auf den Weg zu ihrem Kind – ein Glück, dass ihre Freundin Eve gerade zu Besuch ist und Sean in ihrer Abwesenheit unterstützen kann. Doch als Natty nach Hause zurückkehrt, erwartet sie ein Albtraum: Eve hat ihr den Mann ausgespannt und ihr Zuhause übernommen. Selbst ihre Töchter werden von Eve umgarnt. Natty ist fassungslos. Die einst so enge Frauenfreundschaft wandelt sich in nackten Hass – und ein tödlicher Zweikampf beginnt …

Weitere Informationen zu Paula Daly sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Paula Daly

Herzgift

Thriller

Aus dem Englischenvon Eva Bonné

MANHATTAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Keep Your Friends Close« bei Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers, London.
Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Copyright © der Originalausgabe 2014 by Paula Daly Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München Umschlagkonzeption und Gestaltung: Buxdesign/München unter Verwendung eines Motivs von © Paddy Boyle/Arcangel Redaktion: Eva Wagner Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN 978-3-641-15647-3 V002
www.manhattan-verlag.de

Für meine Schwester Debbie

»Ich habe dummerweise geglaubt, Trautes Heim wäre untertitelt mit Glück allein.«

Anna Quindlen

Sieben Monate zuvor

Und, worüber haben Sie sich in dieser Woche Gedanken gemacht?«, fragt sie.

»Abgesehen vom Üblichen?«

Sie legt den Kopf schief, sieht ihn leicht vorwurfsvoll an und wartet auf eine bessere Antwort.

»Den Tod«, sagt er. »Ich habe über den Tod nachgedacht.«

»Über das Sterben?«

»Nein, nicht direkt … aber wäre es nicht fantastisch, wenn man über den genauen Zeitpunkt selbst entscheiden könnte?«

Sie wirkt verwirrt. »Können wir das denn nicht?«

»Ich spreche nicht von Selbstmord.«

»Sie wollen nicht sterben?«

»Natürlich nicht.«

Er liegt auf der Couch ausgestreckt. Von ihrem Platz aus erkennt sie seinen leichten Bauchansatz, und eine Ziehharmonika aus Stofffalten in seinem Schritt. Er dreht den Kopf in ihre Richtung und sieht sie flüchtig an.

»Olivia, meine Jüngste, hat mich gefragt, was ich tun würde, wenn ich drei Wünsche frei hätte«, sagt er, »und das hat mich ins Grübeln gebracht. Das Einzige, was uns wirklich Angst macht und uns alle verbindet, ist die Angst vor dem Tod. Wäre es nicht schön, wenn man die Unbekannte einfach aus der Gleichung herausnehmen könnte? Dann würde man beruhigt durchs Leben gehen und wissen, alles ist in Ordnung … weil man weiß, dass man erst in, sagen wir, dreißig Jahren sterben muss.«

»Würden Sie Ihr Leben ändern?«

»Vielleicht. Wahrscheinlich. Ganz bestimmt. Sie nicht?«

»Wir sind nicht hier, um über mich zu reden«, sagt sie.

Er muss lächeln. Touché.

Sie schlägt ihre Beine übereinander.

Ihr Rock rutscht ein bisschen höher, und für den Bruchteil einer Sekunde meint sie, die Gier in seinem Gesicht zu sehen. Sie tut so, als hätte sie nichts bemerkt.

»Was macht die Arbeit, Cameron?«, fragt sie beiläufig.

»Ich möchte nicht über meine Arbeit sprechen.«

»Aus einem bestimmten Grund?«

»Der Monat ist nicht so gut gelaufen, und ich … verdammt, ich habe einfach keine Lust auf das Thema, nicht heute, wo ich …« Seine Stimme bricht ab.

Sie baut ihm eine Brücke. »Ärger mit den Angestellten?«

Er setzt sich auf, schwingt die Beine über die Kante der Couch, stützt die Ellenbogen auf die Knie und das Kinn auf die geballten Fäuste. Von einer Sekunde auf die andere wirkt er gereizt. Es hat nur einen Herzschlag gedauert, und schon durchbricht die angestaute Energie die Oberfläche. Sie hat einen wunden Punkt berührt, aber er ist schon wieder dabei, sich hinter seiner Rüstung zu verschanzen. Die Rüstung, die ihn schützt und deretwegen er angeblich herkommt; er will sie endlich ablegen und fühlen. Er will richtig lieben.

Wenigstens glaubt er das.

Aber eigentlich passiert etwas ganz anderes.

Sie spielt mit ihm. Der arme Tropf. Sie stellt ihm unerträgliche Fragen. Sie quält ihn, bis er es nicht mehr aushält, und dann tröstet sie ihn. Sie tröstet ihn, wie nur sie es vermag. Später, wenn er sich bedanken will, winkt sie lächelnd ab und sagt, dafür sei sie da. Sie beweist ihm ständig aufs Neue, dass er auf dieser langen, beschwerlichen Reise zu sich selbst auf ihre Hilfe angewiesen ist.

»Erzählen Sie mir mehr von Serena«, sagt sie. Ihr Timing ist wie immer vorbildlich.

»Alles beim Alten.«

»Haben Sie es mit den Techniken probiert, über die wir gesprochen haben? Oder versuchen Sie immer noch, ihre Probleme zu lösen? Haben Sie wirklich gehört, was sie Ihnen mitteilen will?«

»Es ist nicht einfach.«

»Ja, das kann dauern«, pflichtet sie ihm bei.

»Serena ist immer so mit den Kindern beschäftigt, dass sie kaum etwas wahrnimmt. Wenn ich sie berühre, zuckt sie zusammen.«

»Glauben Sie, sie findet Sie abstoßend?«

»Nein«, sagt er bestimmt, als käme das nicht in Frage. »Es ist einfach nur so, dass sie in ihrem Tagesablauf keinen Platz mehr für mich hat. Ich bin nur ein weiteres Problem auf ihrer Liste. Ständig rennt sie den Kindern hinterher. In die Kinder steckt sie all ihre Energie.« Er hält inne, reibt sich über das Gesicht. »Na ja, in die Kinder und ins Haus.« Müde seufzend fügt er hinzu: »Ich weiß einfach nicht, wie ich sie glücklich machen soll.«

»Haben Sie ihr vorgeschlagen, eine Haushaltshilfe einzustellen?«

»Das möchte sie nicht. Sie sagt, niemand könne die Arbeit so gut erledigen wie sie.« Kurz muss er über sein Unglück lachen. »Jedenfalls will sie keine Hilfe. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll.«

Sie lässt den Stift sinken und beugt sich vor. »Aber das bedeutet, dass sie Ihnen nichts mehr zu geben hat.«

Traurig zuckt er mit den Schultern.

»Wie fühlen Sie sich dabei?«, fragt sie.

»Überflüssig«, antwortet er. »Nutzlos.«

Sie spricht mit sanfter, gedämpfter Stimme, die bei Bedarf auch ein wenig gurrend klingen kann. »Sie wissen aber, dass Sie weder das eine noch das andere sind? Ich meine, das ist doch logisch. Ein so erfolgreicher Mann wie Sie kann unmöglich überflüssig oder nutzlos sein. Das ist schlicht unmöglich.«

Er schlägt die Augen nieder. An einem Tag wie heute kann er das Kompliment unmöglich annehmen. »Ich habe versucht, sie zu lieben«, sagt er mit erstickter Stimme.

»Ich weiß.«

»Ich habe es wirklich versucht«, wiederholt er, und seine Augen füllen sich mit Tränen.

»Ich weiß, Cameron. Aber sie lässt es einfach nicht zu.«

Sie erhebt sich, geht auf ihn zu und nestelt am oberen Knopf ihrer Bluse. Er schließt die Augen, atmet aus. Er atmet aus und versucht, seine Gesichtsmuskeln zu entspannen, seine Schultern, die Fäuste. Als er die Augen wieder öffnet, steht sie direkt vor ihm.

Er sieht ihr ins Gesicht. »Wäre es an der Zeit, sie loszulassen?«, fragt er.

»Du hast alles getan, was du für sie tun konntest.«

Sie ergreift seine Hand und führt sie sanft und bestimmt unter ihren Rock. Schiebt sie an der Innenseite ihrer Schenkel aufwärts.

1

Leben Sie immer in der Gegenwart?

Ich auch nicht.

Ich versuche es. Ehrlich. Im Laufe des Tages halte ich immer wieder inne und sage mir: Das ist es. Dieser Moment ist alles, was du hast. Genieße ihn. Spür ihn. Umarme die Gegenwart.

So kommt es, dass ich jetzt in diesem Augenblick in die Aufgabe vertieft bin, Sprühbräune von den Duschfliesen zu kratzen. Das Badezimmer wurde erst kürzlich saniert – edle Wandfliesen aus Marmor, Doppelwaschbecken aus Acrylstein –, aber offenbar war einer unserer Hotelgäste der Meinung, die Duschkabine würde sich wunderbar für die Aufbringung einer Sprühbräune à la St. Tropez eignen.

Dass die Frau unsere neuen cremeweißen Badetücher von Ralph Lauren benutzt hat, um sich die Haare in einem dunklen Mahagonirot zu färben, beschließe ich zu ignorieren. Meine Aufmerksamkeit ist jetzt auf die Frage gerichtet, wie sie wohl im unbehandelten Naturzustand aussähe und ob das Hühnchen bis zum Abendessen auftauen wird, wenn ich jetzt schnell nach Hause fahre und es aus dem Gefrierschrank nehme.

Ich schiebe die ruinierten Badetücher zu einem Haufen zusammen und gieße Chlorbleiche auf eine Zahnbürste. Es macht große Mühe, den Selbstbräuner aus den Fugen zu entfernen, doch mit Bleiche lässt sich praktisch alles reinigen; so mache ich mich ans Werk, immer bemüht, die Hose meiner Arbeitsuniform nicht zu bekleckern. Gleichzeitig muss ich mich fragen, was ich hier eigentlich tue. Schließlich beschäftigen wir eine ganze Armee von Angestellten.

Doch die legen keinen Wert auf Details. Man kann sich den Mund fusselig reden, sie werden dennoch keinen Handgriff zu viel tun. Ihnen ist es egal, ob es hier besonders schön ist oder nicht.

Und nur deswegen kehren unsere Gäste immer wieder zurück: weil die Lakeshore Lodge tatsächlich etwas ganz Besonderes ist.

Falls Sie schon einmal bei uns zu Gast waren, werden Sie bei Ihrer Ankunft persönlich begrüßt, entweder von mir, meinem Mann Sean oder unserem Geschäftsführer. Wir werden uns nach Ihrer Familie erkundigen, und ob Sie eine gute Reise nach Windermere hatten. Auf Ihrem Zimmer wartet eine kleine Flasche Rosé-Champagner neben einer Schachtel mit sechs handgemachten Pralinen und einem einzeln verpackten Sticky Toffee Pudding, einer Spezialität aus Cartmel. Und eine handgeschriebene Karte: »Wie schön, Sie wieder bei uns begrüßen zu dürfen!«

Wir legen großen Wert auf Kleinigkeiten. Wir geben alles, um unseren Gästen das Gefühl zu vermitteln, wirklich willkommen zu sein. Nur aus diesem Grund sind wir fast immer zu neunzig Prozent ausgebucht, sogar in der Nebensaison. Selbst im November, wenn es dreißig Tage und Nächte am Stück regnet und die schmutzig grauen Wolken so tief hängen, dass man meint, die Hand hineinstecken zu können.

Ein Klopfen an der Badezimmertür. Ich lasse die Zahnbürste sinken und drehe mich um.

»Mrs Wainwright, es tut mir leid, Sie zu stören, aber da gibt es ein Problem in der Junior Suite.«

Libby ist eine unserer Hausdamen. Sie arbeitet seit drei Jahren hier und ist meine beste Reinigungskraft.

»Was denn?«

»Die indische Familie, die gestern Abend angekommen ist … die haben in ihrem Zimmer Curry aufgewärmt.«

Ich verdrehe die Augen. Es ist keine Katastrophe, kommt aber regelmäßig vor. »Reißen Sie einfach die Fenster auf, Libby, und lüften Sie gut durch. Die nächsten Gäste kommen erst heute Abend nach acht Uhr an, bis dahin haben Sie noch jede Menge Zeit, gründlich sauberzumachen.«

Libby blinzelt mich an und runzelt gleichzeitig die Stirn. Das tut sie nur, wenn sie mir etwas sagen muss, über das ich mich furchtbar aufregen werde.

»Was denn?«, frage ich streng. »Hatten sie zusätzliche Übernachtungsgäste dabei?« Nicht, dass ich hier irgendwelche Klischees bedienen möchte, aber nicht gerade selten gibt es plötzlich zusätzliche Kinder, Babys … oder eine Großmutter, die unangemeldet aufs Zimmer geschmuggelt wird.

Libby tritt von einem Fuß auf den anderen. »Sie haben den Wasserkocher benutzt.«

»Um das Curry aufzuwärmen?«

Sie nickt. »Ich fürchte, das Ding ist irgendwie … kaputt.«

»Um Gottes willen.«

Ich lege die Zahnbürste auf den Beckenrand, knete mir den Nacken und schlucke die Tirade hinunter, die schon auf dem Weg ins Freie war. Ich spüre eine Migräne aufziehen. Sie lauert in meinem Hinterkopf; wenn ich jetzt nicht aufpasse und die Fassung verliere, wird sie angreifen und sich als stechender Schmerz hinter den Augen bemerkbar machen, und dann kann ich den Rest des Tages abschreiben.

»Tja, das hatten wir noch nie«, sage ich leise, aber Libby kennt mich. Sie weicht meinem Blick immer noch aus.

Denn in Momenten wie diesen kann ich unberechenbar sein.

Manchmal überbringt Libby mir die schlimmsten Nachrichten – Überschwemmung in der Waschküche, zwei Zimmermädchen krank, eine Ratte –, ohne dass ich eine Miene verziehe. Ich löse das Problem schnell und diskret, und der Tag kann weitergehen. Aber manchmal raste ich aus, nur weil ich Staub auf der Fußbodenleiste oder einen einzelnen Fingerabdruck auf dem Spiegel entdeckt habe.

Ich bin kein einfacher Mensch und leicht reizbar. Ich habe es sogar schon mit Meditation versucht, um meine Launen unter Kontrolle zu halten. Sean behauptet, es sei schon merklich besser geworden, aber ich bin mir, ehrlich gesagt, nicht sicher, ob das Ganze etwas bringt.

»Was soll ich jetzt tun?«, fragt Libby.

»Zeigen Sie Sean den Wasserkocher. Sagen Sie ihm, er soll einen neuen aus dem Lager holen und bei der Gelegenheit gleich mal überprüfen, wie viele wir noch haben. Möglicherweise muss er Nachschub bestellen. Er soll online nachsehen, da ist es vielleicht günstiger. Diese Glasdinger waren absurd teuer, besser, er sieht sich nach Edelstahl um.«

»Okay.«

Sie will gehen, aber ich rufe sie zurück.

»Libby? Ich habe es mir anders überlegt. Wir bleiben bei Glas, das wirkt einfach edler.«

Libby verzieht keine Miene. Sie wartet ab, ob ich meine Meinung ein zweites Mal ändere.

»Sind Sie sicher?«, fragt sie vorsichtig.

»Ja.«

Erst als ich die Zahnbürste abgespült und erneut mit Bleiche übergossen habe, fällt mir ein, dass Sean heute Morgen gar keine Zeit hat. Seine Mutter ist zu Besuch.

Seans Mutter Penny kommt jeden Donnerstagnachmittag vorbei, um ihn für ein paar Stunden zu besuchen. Manchmal führt er sie aus. Dann machen sie einen Ausflug zum Sharrow Bay Hotel in Ullswater, oder sie kehren in der Storrs Hall am Ende der Straße zum Tee ein. Egal wo, Hauptsache nicht in der Lakeshore Lodge, wo Sean ständig gestört werden würde. Und seine Mutter nimmt seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch. Normalerweise kehren sie gegen vier Uhr nachmittags von ihrem Ausflug zurück, pünktlich zum Schulschluss der Mädchen. Jetzt, wo die Abende dank der Sommerzeit länger werden, bleibt Penny oft zum Abendessen. In den Wintermonaten bricht sie früher auf, um vor Einbruch der Dunkelheit wieder in Crook zu sein.

Heute ist der erste Mittwoch im Mai, eigentlich nicht Pennys Besuchstag, aber ab morgen wird sie zusammen mit ihrem Fotoclub für ein paar Tage nach Nizza verreisen.

Um kurz vor fünf stürze ich zur Haustür herein, beladen mit Hähnchenbrust, einer Tüte Morcheln (die ich unserem Koch abgeschwatzt habe), einer Flasche Marsala und zwei Mappen mit Teppichmustern, in die ich noch vor sechs Uhr einen Blick werfen muss, weil dann der Bodenleger anruft, um meine Entscheidung zu hören. Der Teppichboden im Wintergarten des Hotels ist stark abgenutzt, besonders im Eingangsbereich. Eigentlich hätte ich mich schon letzte Woche für ein Muster entscheiden sollen, aber dann rauschten die Tage nur so vorbei.

»Natty!«, ruft Penny und erhebt sich aus dem Ohrensessel, als ich ins Wohnzimmer trete. »Du siehst ja völlig fertig aus! Sean, mach deiner armen Frau einen Tee, bevor sie vor lauter Erschöpfung zusammenbricht!«

Ich küsse Penny auf die Wange. »Die Reise ist dir wohl gut bekommen«, sage ich und gebe Sean zu verstehen, dass ich keinen Tee brauche.

Penny ist gerade erst von einem Besuch bei Seans Schwester in Fremantle zurück. Ihre Haut ist ledrig und tiefbraun. Zeit ihres Lebens war Penny zu viel in der Sonne, und dazu ist sie klapperdürr. Kennen Sie diese TV-Sketche, wenn einem Skelett eine Perücke aufgesetzt wird und es irgendwie lustig aussieht? Das ist Seans Mutter.

»Geht es Lucys Kindern gut?«, frage ich und streife meine Schuhe ab. Das Telefon im Flur fängt zu klingeln an. Sean verlässt das Wohnzimmer.

»Ganz wunderbar«, antwortet Penny. »Es ist eine Freude, sie mit den Kleinen zu erleben. Weißt du, Natty, sie nimmt sich eben die Zeit dafür. Das ändert natürlich alles. Da hat man ein ganz anderes Leben. Sie überlegen, ein drittes zu bekommen, jetzt, da Robert befördert wurde.«

»Noch ein Baby«, sage ich, »das wäre ja wundervoll. Hoffen sie diesmal auf ein Mädchen?«

Penny winkt ab. »Ach, das ist ihr doch egal. Sie liebt es, Mutter zu sein. Ich habe mich allerdings gefragt, ob sie für ein Baby nicht doch ein bisschen zu alt ist. Aber sie hat mir versichert, vierzig sei heutzutage kein Alter mehr.«

»Immer mehr Frauen bekommen mit vierzig ein Kind«, sage ich.

»Sie hat nicht erlaubt, dass ich im Haushalt auch nur einen Finger krumm mache, Natty. Ich frage mich wirklich, woher diese Frau ihre Energie nimmt. Alfie hält sie immer noch die halbe Nacht hindurch wach.«

»Wie schön, dass du dich ausruhen und die Kinder genießen konntest.«

»Alfie wird selbstverständlich noch gestillt, da kann ich ihr kaum Arbeit abnehmen, und Will ist so ein lieber Junge. Ich kann nicht glauben, dass er schon fünf ist. Wo sind nur all die Jahre hin? Ich weiß es nicht.«

Diese Unterhaltung hat einen Subtext. Genau genommen hat jede Unterhaltung mit Penny einen Subtext, aber an dieser Stelle möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen.

Ich wurde versehentlich schwanger. Ich war achtzehn Jahre alt und hatte gerade angefangen zu studieren. Oder besser gesagt, hatte Sean gerade angefangen zu studieren. Wir brachen beide unsere Ausbildung ab und kehrten gemeinsam in unsere Heimatstadt Windermere zurück. Sean wollte eigentlich Rechtsanwalt werden und ich Röntgenassistentin.

Das war eine schwierige Zeit damals. In Pennys Augen hatte ich die Zukunft ihres Sohnes ruiniert. »Neunzehn ist viel zu jung, um ein Kind zu bekommen. Was werdet ihr als Eltern zu bieten haben, wenn ihr selbst fast noch Kinder seid?«

So drückte sie es aus, und schon damals schwang ein Subtext mit: Da hatte sie Gott weiß wie viel für Seans Ausbildung an der Sedbergh School ausgegeben, und nun warf er alles hin, für ein dummes Mädchen, mit dem er schon vor Jahren hätte Schluss machen sollen.

Fairerweise muss ich sagen, dass sich Pennys harte Haltung änderte, sobald Alice auf der Welt war. Sie entpuppte sich als liebevolle Großmutter, auch wenn sie nie aufhörte, uns unseren Leichtsinn vorzuwerfen. Doch ich gewöhnte mich daran, aus einem ganz einfachen Grund: Ich hatte keine Mutter mehr, die mich unterstützt hätte. Ich war auf Penny angewiesen.

»Lucy will jetzt zufüttern«, erklärt sie. »Du solltest mal sehen, wie viel Mühe sie sich gibt, Natty. Sie hat sich ein wunderbares Gerät angeschafft, einen Dampfgarer. So bleiben alle Vitamine im Gemüse erhalten. Das Essen wird püriert oder durch ein Sieb gestrichen und portionsweise eingefroren, in einer Eiswürfelform … unglaublich, wie viel Arbeit das macht. Aber wie ich schon sagte, sie nimmt sich die Zeit dafür. Sie kann es sich leisten, alles richtig zu machen.«

Ich lächle müde, denn die Wahrheit ist: Als Alice auf die Welt kam, habe ich dasselbe Theater veranstaltet. Ich wollte unbedingt allen beweisen, dass es kein Fehler war, so früh ein Kind zu bekommen, und so setzte ich alles daran, eine perfekte Mutter zu sein. Auch ich habe gedünstet und püriert. Auch ich habe länger gestillt, als ich eigentlich wollte, und auch ich habe mein Baby den ganzen Tag herumgetragen, weil ich vom Continuum Concept überzeugt war.

Penny weiß das nicht mehr, weil es schon sechzehn Jahre her ist. Ich werde sie aber nicht daran erinnern, denn aus dem Wettbewerb um den Preis für die beste Mutter bin ich ausgestiegen, als das erste Kind meiner Schwägerin den Windeln entwuchs. Egal, was ich sage, in Pennys Augen ist Lucy ohnehin die Gewinnerin, weil sie ihr Leben emotional und finanziell geordnet hat, bevor sie Mutter wurde. So machen es verantwortungsbewusste Menschen.

In den letzten Jahren musste ich mich manchmal selbst daran erinnern, dass Lucy eigentlich eine nette Person ist. Eine Person, mit der Sean und ich gut auskommen. Wie kann es sein, dass Eltern ihre Kinder durch diese ewige Vergleicherei dazu bringen, einander zu hassen? Warum erinnern sie ihr eines Kind immer wieder daran, dass ihr anderes es angeblich so viel besser macht?

Sean kommt ins Wohnzimmer zurück. »Das war Eve«, sagt er. Seine Augen blitzen schelmisch, was bedeutet, dass auch er sich die Geschichten über Lucys Pürierkünste anhören musste. Wahrscheinlich hat Penny mir nur die Kurzversion berichtet. »Sie möchte wissen, ob es okay ist, wenn sie morgen Abend vorbeikommt. Sie hat ein paar Vorträge in Schottland gehalten und ist jetzt auf der Rückreise.«

»Ist das deine amerikanische Freundin?«, geht Penny dazwischen. Sie reckt das Kinn vor. »Diese intelligente junge Frau mit dem anspruchsvollen Job?«

»Ja. Du meine Güte, ich habe sie seit über zwei Jahren nicht gesehen. Hat sie gesagt, seit wann sie im Land ist?«

Sean schüttelt den Kopf.

»Hast du ihr gesagt, dass sie gern vorbeikommen kann?«

»Ich habe ihr gesagt, dass du sie sofort zurückrufst, falls es dir nicht recht ist.«

2

Der Frühling im Lake District unterscheidet sich, was das Wetter betrifft, kaum von den anderen Jahreszeiten. Er ist sehr wechselhaft. An diesem Morgen fällt ein feiner Nieselregen, der die Hügel rund um den Lake Windermere in Dunst hüllt. Ich stehe mit meinem Kaffeebecher am Fenster und schaue hinaus.

Stellen Sie sich vor, Sie müssten alle nur vorstellbaren Grüntöne in einem einzigen, mittelgroßen Rahmen unterbringen. Khaki, Flaschengrün, Salbeigrün, Olivgrün, Limettengrün, Pistaziengrün, blasses Moosgrün. So ähnlich sieht der Blick aus dem Fenster heute aus.

Gestern nach dem Aufstehen war der Himmel klar und blau, nur in den Tälern stand dichter Nebel, der sich südwärts auf den See zuschob wie ein riesiger Gletscher und alles verschlang, was in seinem Weg lag. Morgen werde ich davon nichts mehr sehen, wenn die vorhergesagten schweren Regenfälle eintreffen.

Bowness-on-Windermere ist die lebhafteste Stadt im Lake District. Sie liegt am Ostufer des Sees, und hier befinden sich unser Haus und unser Hotel, die beide jeweils einen guten Kilometer vom Stadtzentrum entfernt liegen. Nah genug für die Hotelgäste, die in den Ort schlendern wollen, und weit genug weg für Sean und mich. Im Sommer kann es hier ganz schön voll werden, denn dann sind die Touristen überall.

Hier bin ich aufgewachsen. Anders als die meisten meiner Altersgenossen, die es gar nicht erwarten konnten, erwachsen zu werden und fortzuziehen, wollte ich immer bleiben. Lustigerweise sind die meisten, die damals in die große Stadt gegangen sind, wieder zurückgekehrt, sobald sie selbst Eltern wurden. Bowness fühlt sich an wie ein Dorf – jeder kennt jeden, die Kriminalitätsrate ist niedrig, und die Leute lassen einander nicht im Stich –, hat aber so viel zu bieten wie eine kleine Stadt. Normalerweise könnten sich in einem Ort in England von wenigen Tausend Einwohnern kein Kino, kein Sternerestaurant und kein Supermarkt halten, aber die Touristen sorgen dafür, dass wir recht kosmopolitisch leben können, mitten in der Natur und in einer Landschaft von außergewöhnlicher Schönheit.

Ich bin immer noch im Pyjama, spüle den Kaffeebecher von Hand, trage den Müll vors Haus. Die geteerte Einfahrt glänzt feucht, alles riecht frisch und sauber. Ich werfe den schwarzen Müllsack in die Tonne und fahre mit dem Lappen, den ich extra für diesen Zweck mitgebracht habe, über den Tonnendeckel.

Auf dem Rückweg ins Haus bemerke ich, dass der nächtliche Regen Schlamm an die untere Hälfte der Haustür gespritzt hat, also hole ich den Mopp und wische kurz darüber. Und weil ich schon einmal dabei bin, putze ich die Außenleuchte gleich mit und nutze die Gelegenheit, um ein paar Spinnweben aus dem Türrahmen zu entfernen.

Als ich in die Küche zurückkomme, schaut Alice von ihrem Kakao auf. »Wird bei uns jetzt sogar schon die Einfahrt gewischt?«, fragt sie mit leicht sarkastischem Unterton.

Ich beschließe, die Stichelei zu ignorieren.

Im Haus ist es stiller als sonst. Unsere Jüngste, Felicity, ist auf Klassenreise in Frankreich. Zusammen mit dreißig anderen Schulkindern ist sie am Sonntagabend in den Bus gestiegen, um siebenundzwanzig Stunden später in der südlichen Normandie anzukommen. Sie wird erst am Samstag zurück sein.

Ich weiß noch nicht genau, ob Alice in Felicitys Abwesenheit schwieriger ist oder nicht. Sie sind nur zwei Jahre auseinander – Alice ist sechzehn und Felicity vierzehn –, aber die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein. Wobei viele Eltern diese Beobachtung machen.

Was mir bewusst ist, ich aber nie ausspreche: Alice kommt ganz nach mir. Auch sie ist beinahe krankhaft ehrgeizig. Wir treiben uns zu Höchstleistungen an – wenn es sein muss, bis zum Zusammenbruch. Wir sind wie Kleinkinder, die zu schnell laufen wollen, sich gegen jede Einmischung wehren und am Schluss vor Erschöpfung schluchzend zusammenbrechen, sodass die Erwachsenen lächelnd sagen: »O je, es ist wohl Zeit für einen Mittagsschlaf.«

Ich werfe einen Blick auf den Wandkalender und entdecke unten rechts im Feld für den Samstag ein kleines Sternchen. Ich hole die Vitamin-B-Tabletten aus der Schublade und schiebe Alice eine hinüber.

Alice trägt einen neuen Overall mit Leopardenmuster. Wenn ich sie darin durchs Haus schleichen sehe, muss ich jedes Mal das Lied vom magischen Mr Mistoffelees summen.

»Was ist das?«, fragt sie und starrt die Tablette an.

»Vitamine. Hilft angeblich gegen PMS.«

Sie funkelt mich böse an. »Ich habe keine schlechte Laune«, sagt sie und zieht sich ins Obergeschoss zurück. Wie so oft lässt sie mich sitzen, allein und mit einem vagen Schuldgefühl.

Ich bereite ihr Mittagessen vor. Von gestern Abend ist noch genug Hühnchenbrust für einen schönen Caesar Salad übrig. Ich wasche ein paar Salatblätter und tupfe sie vorsichtig ab, damit sie nicht so schnell in sich zusammenfallen. In Gedanken gehe ich alle Mahlzeiten der Woche durch, bevor ich das Menü für den Abend mit Eve plane.

Rotes Fleisch gab es diese Woche schon zweimal, das fällt also aus. Kohlenhydrate haben wir ebenfalls genug gegessen – Kartoffeln, Reis, knuspriges Baguette. Was bedeutet, dass es heute Pasta geben wird. Andererseits kann ich Eve nach so langer Zeit auf keinen Fall einen Teller Nudeln vorsetzen. Ich möchte etwas Besonderes für sie kochen.

Schließlich lege ich mich auf Lachs in Champagner-Sahne-Sauce fest und breche meine selbst auferlegte Kartoffeln-nur-einmal-pro-Woche-Regel, weil ich den Fisch mit neuen Kartoffeln und grünem Spargel servieren werde. Für Spargel ist es eigentlich noch ein bisschen zu früh. Normalerweise versuche ich, mich auf saisonale Produkte aus der Region zu beschränken, aber neulich habe ich gehört, dass inzwischen selbst die Italiener im Winter Tomaten essen. Ich weiß! Ich konnte es auch kaum glauben.

Ich packe Alices Tanzklamotten zusammen, verstaue ihren Lunch in der geblümten Schultasche, überzeuge mich davon, dass ihr Handy voll aufgeladen ist, und dann wische ich noch schnell die Küche, bevor ich duschen gehe.

Sean sitzt im Bett, den Laptop auf den Beinen. »Du bist immer noch nicht aufgestanden?«, frage ich vorwurfsvoll.

»Ich sehe mir Telefone an.«

»Du hast dir gerade erst ein neues Handy gekauft, wozu brauchst du ein zweites?«

»Ich brauche es nicht. Ich schaue nur. Außerdem war ich gestern erst nach elf zu Hause. Ich musste Kontakte pflegen.«

Ich verdrehe die Augen. »Du meinst wohl, dich vor der Arbeit drücken.« Daraufhin muss er lächeln. Ich ziehe mich aus und verschwinde im Bad. Er ruft mir nach.

»Natty?«

»Was denn?«

Ich gehe ins Schlafzimmer zurück. Er lächelt mich immer noch an. Er ist immer noch attraktiv, auf eine jungenhafte Art, und beim Anblick seiner muskulösen, sonnengebräunten Brust geht mein Puls schneller.

Ich weiß, was er denkt. Ich kenne diesen Blick.

Aber ich ignoriere das Ziehen in meinem Unterleib, weil wir spät dran sind. Er klopft neben sich auf die Matratze und sagt: »Komm, Nat, ruh dich kurz aus«, doch ich höre nicht auf ihn. Denn obwohl er es nett meint und ziemlich sexy rüberkommt, ärgere ich mich über ihn. Ich versuche zu lächeln. Ständig geht das so. Ich bemühe mich, mir meine Verärgerung nicht anmerken zu lassen.

Ständig renne ich durchs Haus, als bekäme ich Kilometergeld dafür, während er mit der Fernbedienung in der Hand im Bett oder auf dem Sofa liegt. »Mach mal Pause, Nat, du musst nicht alles auf einmal erledigen … mach mal halblang«, sagt er dann zu mir. Am liebsten würde ich ihm das Staubsaugerrohr vor die Schienbeine knallen, denn wenn ich nicht dafür sorge, dass immer alles sauber und ordentlich ist und wir pünktlich und am richtigen Ort sind, mit den richtigen Mitbringseln … ja, wer dann, zum Teufel?

Vor dem Abendessen ziehe ich mir etwas Hübsches an. Es ist nun einmal so: Mit manchen Freundinnen muss man sich mehr Mühe geben als mit anderen, und Eve – tja, Eve ist so eine Freundin.

Ich erinnere mich noch gut an die Zeit nach Felicitys Geburt, wir hatten gerade unser zweites B&B eröffnet und steckten mitten im Umzug. Wir hatten uns von drei auf fünf Gästezimmer vergrößert, und meine Standarduniform in jenen Tagen bestand eigentlich aus Jeans, weißen Turnschuhen und weißem Poloshirt; aber weil ich gerade ein Kind zur Welt gebracht hatte, trug ich Leggings. Mein Schwabbelbauch quoll über die Unterhose, meine Brüste sahen aus wie zwei Spiegeleier.

Eve kam überraschend aus den USA zu Besuch und stand unangekündigt vor der Tür: schwarzes Etuikleid, zum Chignon zurückfrisierte Haare. Als ich sie sah, wäre ich beinahe in Tränen ausgebrochen. Sie hat es nicht verstanden, würde es immer noch nicht verstehen. Eve hat noch keine eigenen Kinder und weiß nicht, wie verletzlich eine junge Mutter sich fühlen kann. Ich werfe ihr das gar nicht vor – was man nicht weiß, weiß man eben nicht –, aber seither lege ich, wenn ich eine frischgebackene Mutter besuche, größten Wert darauf, einfach unmöglich auszusehen. Denn es sind kleine Gesten wie diese, die einer Frau durch den Tag helfen.

Als ich in mein schwarzes Kleid geschlüpft und mehr oder weniger fertig bin, rufe ich noch schnell meinen Dad an, um nachzufragen, ob die Frau vom Pflegedienst ihm beim Duschen geholfen hat. Er hat zwei künstliche Kniegelenke bekommen und ist auf Hilfe angewiesen. Nach fünfunddreißig Jahren als selbstständiger Schreiner waren seine Knie kaputt, und er hat beide Seiten gleichzeitig operieren lassen, um schneller wieder auf den Beinen zu sein. Inzwischen frage ich mich jedoch, ob das eine gute Idee war. Seine Genesung zieht sich länger hin als gedacht, und er ist nicht gerade ein pflegeleichter Patient. Anfangs hat er noch über den von mir bestellten Pflegedienst geschimpft, aber mittlerweile habe ich den Eindruck, dass er sich recht bequem eingerichtet hat. Die gut gelaunten Damen kommen regelmäßig vorbei und helfen ihm beim Aufstehen und im Bad, und abends bringen sie ihn sogar ins Bett. Er lässt sich nicht in die Karten schauen, aber ich habe den leisen Verdacht, dass sich zwischen ihm und einer der Damen eine Liebelei anbahnt.

Ich kann nicht länger als eine Minute telefonieren, denn auf einmal klingelt es an der Tür. Im Obergeschoss rührt sich nichts, also bleibt es an mir hängen, hinzugehen und die Tür aufzumachen. Mein Dad sagt, ihm gehe es prima, er habe sich für heute Abend sogar Besuch eingeladen. Mehr will er nicht verraten, und ich frage nicht nach.

Ich eile die Treppe hinunter, werfe einen letzten Kontrollblick in den Spiegel im Flur und öffne die Tür. Als ich Eve sehe, fange ich zu quieken an.

Ich umarme sie stürmisch und rufe: »Mein Gott, ich habe dich so vermisst!«, und ich meine es ehrlich.

Von all meinen Freundinnen, zu denen ich noch Kontakt habe, kenne ich Eve am längsten. Mein Freundeskreis ist nicht gerade groß; im Laufe der Jahre haben wir uns verändert und auseinandergelebt, und ich habe nie versucht, die Lücken zu stopfen, denn im Hotel bin ich öfter unter Menschen, als mir lieb ist.

Aber Eve sehe ich nur halb so oft, wie ich gern würde, und sobald sie vor mir steht, ist meine innere Uhr wie zurückgestellt, und ich fühle mich seltsam jung.

Es passiert jedes Mal, wenn ich sie sehe, und ich glaube, es liegt an unserer gemeinsamen Vergangenheit. Wir haben zusammen studiert, und in jenem Jahr an der Uni ist viel passiert; es hat uns alle verändert und geprägt und zu den Menschen gemacht, die wir heute sind. Ich habe später auch noch andere Frauen kennengelernt, aber mit keiner war ich so eng befreundet wie mit Eve. An sie wende ich mich, wenn ich wirklich einmal ein Problem habe, und das aus einem ganz bestimmten Grund: Sie verurteilt mich nie. Bei ihr kann ich Dampf ablassen und über Sean schimpfen, wenn er gedankenlos, faul und schwach ist. Eve hört sich das alles an, und wir lachen zusammen über die blöden Männer, ohne dass sie Sean jemals wirklich kritisieren würde. Anders als meine anderen Freundinnen würde sie mir nie einreden, mit meiner Ehe könnte grundsätzlich etwas nicht in Ordnung sein. Sie weiß, dass ich letztlich über Banalitäten schimpfe. Sie weiß, dass ich Sean über alles liebe.

Sie schiebt mich von sich und mustert mein Gesicht. »Mein Gott, es ist ja so schön, dich zu sehen!«, sagt sie und zieht mich wieder an sich. Wir bleiben eine Weile so stehen. Wie lange dauert die optimale Umarmung? Vier Sekunden? Fünf? Egal, wir ziehen es in die Länge, und sie flüstert mir ins Ohr: »Du bist schon wieder so dünn, Natty, arbeitest du zu viel?«

»Lass uns bloß nicht davon anfangen«, antworte ich lachend, »du bist gerade erst angekommen!«

Doch sie hat recht. Gestern, als ich die Badezimmerkacheln schrubben musste, habe ich mein Gesicht im Spiegel gesehen und war für eine Sekunde ganz erschrocken. Ich würde mich nicht unbedingt als mager bezeichnen, aber so langsam wirke ich tatsächlich zu abgehärmt und zu sehnig. Selbst an meinem Dekolleté treten die Rippen deutlich hervor. Mein Lieblingsfach in der Schule war Geologie; gestern musste ich beim Blick in den Spiegel feststellen, dass mein Brustkorb an den Thorax eines fossilen Trilobiten erinnert. Kein schöner Anblick.

»Du hast noch den ganzen Abend Zeit, mich zu analysieren und mir den Kopf geradezurücken«, sage ich und schließe die Tür hinter ihr. »Was möchtest du trinken? Rot oder weiß?«

»Ehrlich gesagt könnte ich etwas Koffein vertragen«, sagt sie, und dann fügt sie lächelnd hinzu: »Ist das da draußen in der Einfahrt etwa Seans Maserati?«

Ich nicke und seufze in gespielter Verzweiflung, während sie mir in die Küche folgt. Ich nehme ihr den Mantel ab, stelle mich an den Tresen und löffele Lavazza in den Espressokocher. »Wie geht es Brett?«, frage ich, ohne mich umzudrehen, aber sie gibt keine Antwort. Nach ein paar Sekunden drehe ich mich um. »Eve? Alles okay?«

Sie hält die Augen geschlossen. Sie kämpft zwar nicht gerade mit den Tränen, doch anscheinend macht sie sich bereit, mir etwas Wichtiges zu sagen.

Dann schüttelt sie kurz und energisch den Kopf und sagt: »Es ist aus.«

»Was?«, japse ich. »Aus? Seit wann? Bist du sicher?«

»Ganz sicher«, antwortet sie, und ich bin platt. Zwar habe ich Brett nie kennengelernt, aber Eve wirkte immer so zufrieden. Ich vergesse kurzzeitig, dass ich Kaffee kochen wollte, gehe auf sie zu und lege ihr einen Arm um die Schultern. »Darf ich fragen, warum?«, sage ich, doch Eve zuckt zusammen. »Sorry«, murmele ich, »sorry, wie dumm von mir. Das … das hat mich jetzt einfach nur sehr überrascht. Damit hätte ich niemals gerechnet.« Ich verschweige ihr, dass ich mich, ehrlich gesagt, schon darauf eingestellt hatte zu erfahren, dass sie endlich schwanger ist.

Sie lächelt mich müde an. »Ist schon okay. Ich hätte es dir früher erzählen sollen. Aber ich wollte nicht, dass unser Wiedersehen weinerlich ausfällt, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ja, klar. Natürlich«, stammele ich. »Ich kann dich verstehen. Letzte Woche habe ich ein paarmal versucht, dich anzurufen, aber ich bin nicht durchgekommen. War das wegen …«

»Nein«, unterbricht sie mich mitten im Satz. »Ich hatte ein Problem mit meinem Handy. Ich habe jetzt ein iPhone – würdest du mich bitte daran erinnern, dir meine neue Nummer zu geben?«

Beschämt blicke ich zu Boden. Ich hätte sie natürlich im Büro anrufen müssen. Weil sie so oft auf Vortragsreise geht oder sich um ihre Patienten kümmern muss, hat es sich in den vergangenen Jahren so eingespielt, dass ich ihr auf Band spreche und sie mich zurückruft, sobald sie kann. Jetzt wünsche ich mir, ich wäre hartnäckiger gewesen.

Und weil ich nicht genau weiß, was ich sagen soll, frage ich: »Hättest du gern einen Schluck Whisky in den Kaffee?«

Sie lächelt mich an. »Liebend gern.«

Sean kommt herein. Sein Timing ist wie immer grottenschlecht. Er ist barfuß, hat nasse Haare vom Duschen und hält ein Paar frischer Socken in der Hand. Dort, wo die feuchten Haare den Stoff berühren, ist sein Hemd dunkel. »Hallo, fremde Frau«, sagt er und gibt Eve einen Kuss auf die Wange. »Gute Reise gehabt?«

»Ja, danke«, sagt sie und setzt sofort eine fröhliche Maske auf, wie um ihn nicht mit ihrem Kummer zu behelligen. »Isst du heute Abend mit uns, Sean? Oder musst du ins Hotel?«

Eve kennt unseren Alltag. Sie weiß, wenn nicht mindestens einer von uns vor Ort ist, bricht dort das Chaos aus.

»Ich bleibe zum Essen«, sagt er, »aber später bin ich in der Hotelbar verabredet, und danach muss ich noch ein paar Dinge für Samstag vorbereiten. Die Pride of Cumbria Awards werden bei uns vergeben.«

»Ooooh«, macht Eve, als wäre sie schwer beeindruckt.

»Aber es wird nicht lange dauern«, sagt er und nimmt sich ein Glas. »Ich bin mir sicher, dass ihr zwei noch nicht mit dem Lästern fertig seid, wenn ich zurückkomme.«

»Dein neues Auto ist der Wahnsinn, Sean«, sagt Eve lächelnd, und für eine Sekunde wirkt er verlegen.

Sean kann sich immer noch nicht an den Gedanken gewöhnen, ein so protziges Auto zu fahren … aber verdammt noch mal, wir haben hart gearbeitet und ein wenig Luxus wahrlich verdient.

Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus zu sehen, wie er bei eBay um die gebrauchten Maseratis herumschlich (kaum zu glauben, aber die Verkäufer stellen inzwischen sogar Motorengeräusche ein!), und ich sagte ihm, er solle sich etwas gönnen. Ich sagte ihm, er solle sich sein Traumauto kaufen, bevor er zu alt sei, um gut darin auszusehen. Wie sich herausstellte, musste er nicht groß überzeugt werden.

Sean schenkt sich ein Glas Sauvignon blanc ein und bleibt auf dem Weg ins Wohnzimmer kurz neben mir stehen, um mich auf den Nacken zu küssen und mit den Fingerspitzen über meinen Hals zu streichen. »Wunderschön siehst du aus«, flüstert er, und obwohl ich mich über diese Liebeserklärung freuen sollte, runzle ich kaum merklich die Stirn.

Sean und ich hatten keinen Sex mehr seit – nun, es ist schon eine ganze Weile her. Es liegt nicht an ihm. Es ist meine Schuld. Inzwischen hat er es aufgegeben, sich im Bett von hinten an mich heranzuschieben und mich in der Hoffnung auf spontanen Sex auf seine Erektion aufmerksam zu machen. Dabei macht er alles richtig: Schon früh am Tag fängt er mit der Bestechung (ähem, dem Vorspiel) an, indem er zärtlich ist und mir Komplimente macht, mich sehnsüchtig ansieht und unerwartet küsst. Aber ich will ehrlich sein: Obwohl wir früher guten, oft sogar richtig tollen Sex hatten, ist das Ganze für mich im Moment nur noch eine Pflichtübung.

Ich lächle Sean an, um ihm zu bedeuten, dass es wohl auch heute Abend nichts wird mit uns. Er erwidert meinen Blick, und auf einmal verfinstert sich sein Gesicht. Wann denn, Natty? So kann es nicht ewig weitergehen.

Neulich hat er mich gefragt, wozu ich ihn eigentlich noch brauche, und als ich alles aufzählte, was mir einfiel, meinte er, dafür könnten wir ebensogut einen Hausmeister einstellen.

»Das eine, was ich dir geben kann und niemand sonst, ist ausgerechnet das, was du nicht willst«, hatte er resigniert festgestellt.

Alice kommt zum Essen herunter. Es ist, als wäre sie als mürrisches Schulkind die Treppe hinaufgestiegen und nun, da Eve da ist, als ein ganz anderer Mensch wieder heruntergekommen. Nach der wundersamen Verwandlung ist Alice freundlich und charmant, und sie interessiert sich für alles, was am Tisch zur Sprache kommt. Mit anderen Worten, sie ist einfach entzückend.

Sie hat sich die roten Haare zu einem lockeren Zopf geflochten, der ihr über die linke Schulter hängt, und sie trägt ein cremefarbenes Spitzenkleid und an den Füßen Pailletten-Flip-Flops. Es ist Anfang Mai, draußen ist es kaum wärmer als zwölf Grad, aber Alice sieht perfekt aus. Sie hat das Talent, eigentlich unpassende Teile zu einem Outfit zu kombinieren, das an jedem anderen Menschen lächerlich und gewollt aussehen würde. Aber an ihren langen, schlanken Gliedern und der biegsamen Gestalt wirkt alles elegant und zugleich irgendwie cool. Sie ist der einzige Mensch, der selbst in Bikerboots, Mini-Stufenrock und graumeliertem, ausgebeultem Sweatshirt spektakulär aussieht.

»Und, schreibst du bald deine Abschlussarbeiten?«, fragt Eve.

»Ja«, antwortet Alice tonlos. »Bin jetzt schon supergespannt.«

Eve schenkt sich Wein nach. »Du schaffst das schon … du hast die Intelligenz deines Vaters geerbt.« Ganz kurz ärgere ich mich über diese Bemerkung. Eve zeigt mit dem Flaschenhals in Alices Richtung: »Möchtest du auch?«

Alice wirft schnaubend den Kopf in den Nacken. »Mum lässt mich nicht einmal daran riechen. Obwohl es doch wissenschaftlich erwiesen ist, dass französische Teenager, die kleine Mengen Wein trinken dürfen, ein geringeres Risiko haben, sich später ins Koma zu saufen oder Alkoholiker zu werden.« Sie wirft mir einen kunstvoll trotzigen Blick zu.

»In Frankreich gibt es jede Menge Alkoholiker«, kontere ich.

»Aber ein Schlückchen darf sie doch trinken, oder?«, hakt Eve nach.

Ich schüttle den Kopf.

»Mum hat Angst, das könnte mein Ende sein«, erklärt Alice. »Ein kleiner Schluck, und schon mache ich alle Fehler, die sie gemacht hat.«

Nun klingt es, als würde ich mich jeden Tag über mein Leben beschweren. Was nicht der Fall ist.

»Mum denkt, dass ich, wenn ich anfange, Alkohol zu trinken, meine Zukunft wegschmeiße … und mit sechzehn schwanger werde.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Eve grinst mich an.

»Ich weiß wirklich nicht, warum du so pingelig bist, Mum«, fährt Alice unbeirrt fort. »Ist ja nicht so, als hättest du es nicht hingekriegt, oder? Dad und du, ihr seid der Beweis dafür, dass die erste große Liebe sehr wohl ein Leben lang halten kann.«

»Kein Wein für dich, Alice«, sage ich mit fester Stimme. »Das ist mein letztes Wort.«

Eine halbe Stunde später, gegen acht Uhr, als Sean zum Hotel gefahren ist und Alice in ihrem Zimmer die restlichen Physik-Hausarbeiten erledigt, lümmeln Eve und ich uns aufs Sofa. Ich spüre, dass die einwöchige Vortragsreise ihr stärker zugesetzt hat, als sie zugeben will. Ihr sonst so strahlender Teint wirkt fahl, und ihre Augen sind glasig, so als hätte sie schon länger nicht mehr gut geschlafen. Ich entdecke die ersten vertikalen Fältchen an ihrer Oberlippe, sie werden sichtbar, wann immer Eve an ihrem Weinglas nippt. Ich bin fünfunddreißig, Eve ein wenig älter, doch ich habe diese Falten nicht; vermutlich hat sie wieder mit dem Rauchen angefangen.

»Was ist los, Eve?«, frage ich, nachdem wir eine Weile geschwiegen haben. »Was ist mit dir und Brett passiert?«

Sie trinkt einen großen Schluck Wein und stößt ein bitteres Lachen aus. »Er hat sich überlegt, dass er nun doch keine Kinder möchte.«

»Oh!«, mache ich und schlage mir eine Hand vor den Mund.

»Ich weiß«, sagt sie. »Was für ein Arschloch, richtig? Ich spiele mit dem Gedanken, nicht mehr zurückzufliegen.«

»In die Staaten?« Ich bin überrascht. »Aber was wird dann aus deiner Praxis?«

»Ich könnte hier arbeiten. Ich könnte noch mal von vorn anfangen. Niemand kann mir das verbieten. Vielleicht ist ein Neustart genau das, was ich jetzt brauche. Ich kann mir nicht vorstellen, da drüben ganz allein zu sein …«

»Aber läufst du so nicht vor dem Problem davon?«

Sie wirft mir einen kühlen Blick zu. »Ja. Genau.«

Anders als Eve bin ich keine gute Zuhörerin. In dieser Hinsicht ist unser Verhältnis sehr unausgewogen. Wenn Eve meine Hilfe einmal braucht, nehme ich die ihre zehnmal in Anspruch. Sie hat eine ganz bestimmte Eigenschaft, wie ich sie noch an keinem anderen Menschen erlebt habe. Es ist fast wie ein sechster Sinn, der ihr verrät, was ihr Gegenüber gerade braucht. Wenn ich weine, in Panik ausbreche oder sogar aggressiv reagiere (für gewöhnlich, wenn ich mich dafür schäme, die Gefühle eines anderen verletzt zu haben), lotst Eve mich sanft bis an einen Punkt, an dem ich Verantwortung für mein Handeln übernehmen kann. Dann bin ich offen für ihren Rat und muss mich nicht mehr so elend fühlen.

Ich betrachte ihr trauriges, verkniffenes Gesicht, und ich wünschte, ich könnte ihr nur einen Bruchteil des Trostes zurückgeben, den sie mir im Laufe der Jahre gespendet hat. Doch da zucken wir beide zusammen. Das Telefon hat uns aufgeschreckt. Es liegt neben mir auf dem Sofa, ich werfe einen Blick auf das Display und sehe eine ausländische Vorwahl.

Ich entschuldige mich bei Eve. »Tut mir leid, aber das muss ich wirklich … Hallo?«

»Mrs Wainwright?«, höre ich eine Frauenstimme sagen.

»Ja?«

»Hier spricht Jenny Cruickshank … Felicitys Französischlehrerin.«

»Was ist passiert? Ist alles in Ordnung?«

Und dann ist es, als wäre die Leitung plötzlich tot.

Bleierne Stille.

Ich will die Frage wiederholen, bemühe mich, mit ruhiger Stimme zu sprechen, doch gerade, als ich den Mund aufmachen will, höre ich ein leises Schniefen. Es ist kaum zu hören. Und dann begreife ich plötzlich, dass die Lehrerin am anderen Ende der Leitung weint, und mir wird schlecht.

»Bitte sagen Sie es mir«, flüstere ich heiser, »was ist passiert?« Ich meine, mich im freien Fall zu befinden. »Was ist mit meiner Tochter?«

»Es tut mir leid«, schluchzt sie. »Verzeihen Sie mir – Felicity ist im Krankenhaus, es geht ihr sehr schlecht. Sie müssen sofort herkommen.«

3

War es zu viel?, frage ich mich sofort. Habe ich zu viel Wein getrunken, um noch Auto fahren zu können?

»Natty, wer war das?«, fragt Eve.

»Felicity liegt im Krankenhaus. Sie wird gerade operiert.«

Meine Worte scheinen aus einem anderen Winkel des Zimmers zu kommen. Ich zittere am ganzen Leib. Nein, ich zittere nicht bloß, ich stehe unter Schock. Wo ist mein Blut hin?

»Sie hatten keine Ahnung«, sage ich tonlos. »Die Lehrerinnen haben nicht geahnt, dass sie so krank ist.«

»Was hat sie denn?«, fragt Eve. »Was hat die Lehrerin gesagt?«

»Sie wissen nicht, was los ist. Sie ist zusammengebrochen. Sie können nicht sagen, ob sie es schaffen wird.«

Eve springt auf und legt los.

Sie versucht nicht einmal, mich zu trösten, sie sagt mir nicht, dass ich mir keine Sorgen machen soll und Felicity ganz bestimmt wieder gesund wird. Sie greift einfach zum Telefon, drückt auf die Kurzwahltaste und erklärt Sean in aller Seelenruhe, dass es einen Unfall gegeben habe und er sofort nach Hause kommen müsse.

»Warum habe ich ihr erlaubt, nach Frankreich zu fahren?«, flüstere ich. »Sie ist erst vierzehn, viel zu jung, um allein zu reisen. Warum habe ich sie gehen lassen? Was habe ich mir nur dabei gedacht?«

Eve sieht mir direkt in die Augen. »Sie wird operiert, Natty. Dass sie jetzt in Frankreich ist, ist unwichtig. Die retten ihr Leben! Du musst so schnell wie möglich hin. Ich werde dir einen Flug heraussuchen.«

»Glaubst du, dass sie sterben wird?«

»Geh und pack deine Tasche.«

Das Zittern wird immer heftiger.

Eve spricht langsam und deutlich: »Natty, geh und such deinen Reisepass heraus und pack deine Tasche.«

Meine Gedärme fühlen sich an wie ein Eimer Aale. Ich glaube nicht, dass ich aufrecht stehen, geschweige denn in ein Flugzeug einsteigen kann. Ich bleibe wie angeklebt auf dem Sofa sitzen. Wenn ich nur lange genug sitzen bleibe, geht alles vorbei. Ich lege meine Hände zwischen die Oberschenkel und drücke zu, nur um das Zittern zu stoppen.

»Natty! Beweg dich!«

»Ich kann nicht«, sage ich.

»Du musst.«

Wie in Trance schiebe ich mich durchs Schlafzimmer, sammle Unterwäsche und T-Shirts zusammen, und auf einmal steht Sean in der Tür. Er sagt kein Wort. Wir sehen einander einfach nur lange an.

War es das jetzt?, denken wir beide.

War das unser Leben? Lassen wir jetzt den Standard hinter uns, das Leben als normale vierköpfige Familie mit banalen Sorgen und nichtigen Problemen? Müssen wir jetzt in das andere Reich umziehen? Gehören wir bald zu den Unglücklichen, die ein Kind verloren haben?

Als die Lehrerin mir die Nachricht von Felicitys Zustand überbrachte, habe ich geflüstert: »Nicht sie. O Gott, nicht dieses Kind.« Und dann hatte ich sofort ein schlechtes Gewissen: Wünsche ich mir tatsächlich, dass er mir stattdessen mein anderes Kind nimmt?

Seit zehn Minuten verhandele ich nun mit Gott. Obwohl ich eigentlich nicht mehr gläubig bin, seit – nun ja, seit er mich verlassen hat, als ich achtzehn war. Bitte, rette sie, flehe ich wieder und wieder. Bitte. Ich werde alles tun. Nimm uns alles, stell unser Leben auf den Kopf, aber lass mein Kind nicht sterben.

Sean kommt mit großen Schritten auf mich zu. Er nimmt mich in den Arm, ich weine stumm. In mir ist eine solche Todesangst, dass ich keinen Laut herausbringe. Auf einmal wird mir klar, was Leute durchmachen, die überfallen werden. Oft habe ich gelesen, dass Frauen und Mädchen hinterher aussagen, ihre Stimme hätte einfach versagt. Der ganze Körper ist in Aufruhr, aber nichts dringt heraus, denn die Stimmbänder sind wie gelähmt vor Angst.

»Es gibt noch einen freien Platz«, sagt Sean ernst, »von Manchester nach Rennes. Der Flug geht in zwei Stunden. Lass mich fliegen, Natty, du bleibst hier. Du bist nicht in der Verfassung zu reisen. Du kannst morgen früh nachkommen.«

»Was ist, wenn wir sie verlieren, Sean?«

Er schüttelt den Kopf, als weigere er sich, eine Antwort zu geben. »Wir müssen uns jetzt entscheiden. Einer von uns muss sich jetzt sofort ins Auto setzen, sonst ist es zu spät.«

»Ich fliege.«

»Ich weiß nicht … Sieh dich doch an«, sagt er, nimmt meine zitternden Hände in seine, hält sie mir vors Gesicht, wie um es zu beweisen.

»Aber wenn sie jetzt stirbt und ich nicht bei ihr bin, wie soll ich dann jemals …« Meine Stimme erstirbt in meinem Hals.

»Du kommst morgen mit dem Flug um elf nach, spätestens. Bleib hier, Natty, lass mich alles regeln.«

Ich ziehe meine Hände weg. »Nein. Ich muss das tun.«

Ich spüre, wie er nachgibt.

Er überlegt und sagt schließlich: »Okay. Okay, los geht’s. Wir müssen uns beeilen.«

Er zieht eine Reisetasche aus dem obersten Fach des Kleiderschranks, öffnet den Reißverschluss und macht sich daran, meine T-Shirts, Jeans und Unterwäsche darin zu verstauen.

Ich schaue zu und weiß, ich sollte jetzt aufstehen und meine Sachen zusammensuchen, aber der Gedanke, dass Felicity jetzt in diesem Moment unter Narkose in einem OP liegt, ganz allein, ohne mich, lässt mich wie gelähmt sitzen bleiben.

Sean hebt den Kopf. »Natty?«, fragt er, und Angst huscht über sein Gesicht. »Natty«, wiederholt er sanft, »welche Schuhe möchtest du mitnehmen?«

»Was?«

»Schuhe? Welche?«

»Ach so. Weiß nicht. Warte«, sage ich, stelle mich vor den Schrank und starre geistesabwesend hinein. Dann drehe ich mich zu ihm um. »Was ist mit Alice?«, frage ich stirnrunzelnd. »Wer wird sich um Alice kümmern, wenn du morgen nach Frankreich nachkommst? Wir können sie nicht allein lassen. Verdammt, Sean, du kennst sie doch, sie schafft es nicht mal, eine Dose Bohnen zu öffnen. Und deine Mutter ist im Urlaub und mein Vater ans Haus gefesselt und …«

»Ist schon gut«, sagt er und packt meine elektrische Zahnbürste ein. »Eve hat angeboten, eine Weile zu bleiben.«

Nun ist es so weit. Ich lebe im Moment. Alles, was ich habe, ist das Hier und Jetzt.

Ich schlurfe voran, drücke mir Bordkarte und Reisepass an die Brust und denke: Ich habe eine Katastrophe gebraucht, um in der Gegenwart anzukommen. Meine Gedanken rasen nicht mehr. Alle Pläne für nächste Woche, nächsten Monat, nächstes Jahr sind verpufft. Meine Zweifel, das leise Bedauern von gestern Abend, von vor fünfzehn Jahren – alles weg.

Ich ziehe Gürtel und Schuhe aus.

Ich stehe hinter einem alten Mann, der seine Habseligkeiten in die Wanne auf das Fließband legt. Er sagt zu seiner Frau, sie solle es machen wie er und auch die Armbanduhr dürfe sie nicht vergessen, aber sie weigert sich. Sie behält die Uhr, bis eine Frau vom Sicherheitsdienst sie auffordert, sie abzulegen. Der Mann wird nervös, er wirft seiner Frau böse Blicke zu nach dem Motto: Musste das sein, musste das jetzt wirklich sein?

Mein Blick ruht auf der Frau. Sie hat drei transparente Plastikbeutel dabei, alle bis zum Bersten gefüllt mit Kosmetika, und da fällt mir ein, dass ich nichts dergleichen eingepackt habe. Keinen Lippenstift, keinen Eyeliner. In meiner Eile habe ich alles vergessen, was ich sonst brauche, um der Welt unter die Augen zu treten.

Aber dies ist keine gewöhnliche Reise. Es reicht, wenn ich mit nichts als meiner Kreditkarte, meinem Handy, meinem Führerschein und meinem Pass nach Frankreich einreise.

Ich schließe die Augen, schlucke, sammle mich. Ich stelle meine Tasche in die graue Wanne. Ich ziehe meinen Mantel aus und lege ihn daneben, schäme mich ganz kurz, als ich merke, dass ich immer noch das kurze schwarze Kleid trage, das ich heute Abend extra für Eve angezogen habe.

Sekunden später trete ich durch den Metalldetektor, kurz darauf eile ich zum Gate. Mein starrer Blick und mein entschlossener Schritt strafen die Todesangst, die in mir wütet, Lügen.

Dreieinhalb Stunden später. Obwohl es, genau genommen, das Navi in meinem Handy war, das mir und meinem Mietwagen den Weg zum Krankenhaus in Mayenne im Süden der Normandie gewiesen hat, empfinde ich so etwas wie Stolz. Vielleicht bin ich auch nur erleichtert. Ich bin erst einmal in meinem Leben im Rechtsverkehr gefahren, und wenn wir ins Ausland verreist sind, hat stets Sean die Rolle des Fahrers übernommen. Und immer hatte ich diese nörgelige Stimme im Ohr: Du solltest es wirklich können, vielleicht gibt es eines Tages einen Notfall, und Sean ist nicht in der Nähe …

Tja, nun ist der Notfall eingetreten.

Ich halte auf dem Krankenhausparkplatz. Frankreich ist Großbritannien eine Stunde voraus, und ich bin mir nicht sicher, ob man mir überhaupt Zutritt zu diesem kleinen, eingeschossigen Provinzkrankenhaus gewähren wird, das zu dieser späten Stunde mehr wie eine Ambulanz aussieht. Ich weiß nicht, was ich tun soll, falls ich nicht hineindarf. Mich auf die Stufen setzen und weinen – das klingt doch nach einem guten Plan.

Ich bücke mich nach meiner Handtasche, und dann ist es so weit: Zum ersten Mal an diesem Tag erlaube ich mir zu weinen. Während der letzten Stunden hatte ich zu viel Adrenalin im Blut. Ich habe mit niemandem geredet, niemand hat mich angesprochen. Meine Aura war die eines verwundeten Tiers. Wenn sich mir jemand genähert hätte, ich hätte ihn weggebissen. Vielleicht hätte ich ihm sogar ein paar Knochen gebrochen, so wie wütende Schwäne es können. Ich hatte nur ein Ziel: So schnell wie möglich hier zu sein, bei Felicity.

Im leichten Nieselregen überquere ich den Parkplatz und nähere mich dem Haupteingang. Der Regen scheint mit dem feuchten Nebel verwandt zu sein, den ich aus England kenne, aber die Luft ist weniger klamm, weniger schwer. Niemand ist zu sehen, ich bin mutterseelenallein. Nur einmal meine ich, schalen Zigarettenqualm zu riechen. Ich nähere mich der Treppe, und der Geruch wird stärker; ich rieche schweren, satten, dunklen Tabak, Gauloises oder Gitanes. Es verrät mir, dass hier eben noch Leute gestanden haben.

Die Türen öffnen sich automatisch, aber der Empfangstresen ist unbemannt.

Habe ich erwähnt, dass ich kein Wort Französisch spreche?

Nein, ich glaube nicht.

An der Wand entdecke ich eine Sprechanlage. Ich drücke auf einen Knopf und hoffe, dass wenigstens eine Nachtschwester im Dienst ist. Nach einer Weile meldet sich eine grummelige Männerstimme.

»Oui?«

Ich bringe nicht mehr heraus als: »Felicity Wainwright … Maman.«

Und dann warte ich.

4

Joanne Aspinall hat den Klarlack von ihren Fingernägeln entfernt, die Ohrringe abgelegt und seit acht Uhr gestern Abend nichts mehr gegessen oder getrunken.

Sie hat so großen Hunger, dass sie am liebsten die Kissen ihres Krankenhausbetts anknabbern würde.

Sie teilt sich ein Zimmer mit drei weiteren Frauen. Zwei warten auf eine Brustverkleinerung, so wie Joanne, die dritte auf eine Rekonstruktion nach beidseitiger Brustamputation. »Die nehmen dazu das Fett aus meinem Po«, hat sie Joanne erzählt. Joanne hat nur die Augenbrauen hochgezogen. Die Wunder der modernen Medizin!

Ganz kurz hatte Joanne ein schlechtes Gewissen, denn sie belegt ein Krankenhausbett, das andere Frauen viel dringender benötigt hätten. Die Vorstellung, dass sie aus reiner Eitelkeit hier ist, macht ihr zu schaffen. Wenn sie stärker wäre, selbstbewusster, oder wenn sie eine Beziehung hätte, würde ihr das Problem vielleicht gar nicht mehr so groß erscheinen. Dann wäre die Operation vielleicht gar nicht nötig.

Aber jetzt, da sie auf der mit Plastik überzogenen Matratze liegt und ihr der Schweiß über die Haut fließt und sich in der Rinne zwischen Brüsten und Oberarmen sammelt, muss sie einsehen, dass es so nicht weitergehen kann. Absurderweise hat sie seit Weihnachten sogar noch eine Körbchengröße zugelegt – dabei hat sie kaum etwas gegessen. Sie hat sogar die Pille abgesetzt in der Hoffnung, eine Besserung zu erzielen. Vergeblich.

So wie Schwangere sich auf die Figur nach der Entbindung freuen, hat Joanne sich für die Zeit nach der OP ein paar neue Klamotten gegönnt. Angeblich wird sie, sobald die Schwellung abgeklungen ist, eine 80 C oder D haben. Sie hat die Körbchengröße gegoogelt, sie entspricht Kleidergröße 40 bei Blusen und Oberteilen. Endlich wird sie woanders einkaufen können als immer nur bei Evans, dem Laden für Übergrößen.

Sie hat sich einen schwarzen Feinstrickpullover mit Rollkragen gekauft. Da passen Sie niemals rein, wollte der Blick der Verkäuferin ihr sagen. Es war lächerlich, aber Joanne murmelte etwas von einem wunderhübschen Geschenk für ihre Tante Jackie.

Sie hat sich auch ein Kleid gekauft. Ein richtiges Kleid.

Joanne hat kein Kleid mehr getragen seit – na ja, noch nie. Seit der Pubertät war Joannes Oberkörper ihrem Unterleib immer um vier Kleidergrößen voraus. Was Kleider kategorisch ausschloss. Zwanzig Jahre lang hat sie nichts getragen als schwarze Stoffhosen und langweilige Tunikablusen.

Der Narkosearzt macht die Runde. Nein, Joanne hat keine Allergien. Ja, sie wurde schon einmal operiert (als sie sieben war, wurden ihr die Mandeln entfernt). Nein, sie hat weder Atem- noch Herzprobleme.

Er fragt, ob Joanne wisse, warum sie hier sei? Joanne sieht ihn misstrauisch an. »Ja …?« Sie runzelt die Stirn.

»Sie müssen mir laut sagen, welcher Eingriff bei Ihnen durchgeführt wird«, sagt er entschuldigend, und da versteht Joanne, dass er sie nicht auf den Arm nehmen, sondern ein Missverständnis ausschließen will. Sonst wacht sie womöglich aus der Narkose auf und stellt fest, dass ihr ein Daumenglied fehlt oder dass sie sterilisiert wurde oder dass ihre Ohren jetzt flach am Kopf anliegen.

Die vier Frauen wissen noch nicht, in welcher Reihenfolge sie in den OP