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In Lins Leben läuft gerade alles schief: Ihre Beziehung ist in die Brüche gegangen, ihre Ausbildungspraxis schließt, und ihr engster Freund Jona ist nach dem Abi weggezogen. Da kommt Jonas Vorschlag, ihn in dem kleinen Bed & Breakfast seiner Mutter in Schweden zu besuchen, gerade richtig. Kurzerhand macht sich Lin auf den Weg und träumt von weißer Weihnacht, schillernden Nordlichtern und gemütlichen Filmabenden zu zweit. Doch die Realität sieht leider anders aus, denn Jona hat Sorgen, die er Lin nicht anvertrauen kann, und ist obendrein mit den Gästen ziemlich eingespannt. Dabei hatte er gehofft, Lin nach all den Jahren endlich zu gestehen, dass er sich in sie verliebt hat ...
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Seitenzahl: 360
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Inhalt
Über das Buch
Titel
Widmung
Jona
Prolog Last Christmas – Technik schlägt Romantik
Lin
1 Wenn die Liebe auf Grinch macht ...
Lin
2 Weihnachten zu Hause
Jona
3 Schöne Bescherung oder wenn der Julbock Jingle Bells singt ...
Lin
4 Kein Prinz für Aschenbrödel, überall nur Frösche
Lin
5 Ein Mistelzweig mit Kussverbotszone
Lin
6 Glückskeksprophezeiungen
Jona
7 Lakritz auf vier Beinen oder: Run, Rudolph, Run
Lin
8 Wenn das Murmeltier zweimal schnarcht
Lin
9 Freund oder Feind, das ist hier die Frage
Lin
10 Lagom – die Suche nach der goldenen Mitte
Lin
11 Frauen, die mit Ziegen turnen
Jona
12 Das Wunder von Stockholm oder: Step into Christmas
Lin
13 Shazam! Ein Schneeflockengewitter
Jona
14 Nightmare before Christmas
Lin
15 Es ist ein Waschbär entsprungen
Lin
16 Schokolade zum Frühstück
Jona
17 Santa Baby
Lin
18 Die Geister, die ich rief
Jona
19 Merry Magic Christmas
Jona
20 Mein Schatz, meine Familie und ich
Lin
21 Battle unterm Tannenbaum
Lin
22 Liebe und andere Katastrophen
Jona
23 Selbst ist der Grinch
Lin
24 Single Bells
Jona
25 Born to Be Wild oder elchmäßig unterwegs
Lin
26 Manche mögen's heiß
Lin
27 Völlig unverfroren oder kein Goldfisch an der Leine
Jona
28 Ist das Leben nicht schön?
Lin
29 One Special Night – Zauber einer Winternacht
Lin
30 White Christmas oder Schneeflockenschmelze
Lin
31 About a Girl – and a Boy oder der Tag des Kuschelwaschbären
Lin
32 Happy New Year
Lin
Epilog Liebe braucht keine Ferien
Extras
Lins Lieblingsfilme für Weihnachten und Silvester
Jonas Lieblingsspots in Stockholm
Lins Lieblingsrezept für Smörgåstårta-Sandwichtorte
Jonas Lieblingsrezept für Chokladbollar
Keks-Pong-Regeln
Danksagung
Weitere Titel der Autorin:
Über Corinna Wieja
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Impressum
Cover
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Inhaltsbeginn
Impressum
In Lins Leben läuft gerade alles schief: Ihre Beziehung ist in die Brüche gegangen, ihre Ausbildungspraxis schließt, und ihr engster Freund Jona ist nach dem Abi weggezogen. Da kommt Jonas Vorschlag, ihn in dem kleinen Bed & Breakfast seiner Mutter in Schweden zu besuchen, gerade richtig. Kurzerhand macht sich Lin auf den Weg und träumt von weißer Weihnacht, schillernden Nordlichtern und gemütlichen Filmabenden zu zweit. Doch die Realität sieht leider anders aus, denn Jona hat Sorgen, die er Lin nicht anvertrauen kann, und ist obendrein mit den Gästen ziemlich eingespannt. Dabei hatte er gehofft, Lin nach all den Jahren endlich zu gestehen, dass er sich in sie verliebt hat ...
Corinna Wieja
Für mein Schwesterherz – du funkelst.
Und für dich – du bist einzigartig.
Vielen Dank fürs Lesen!
Ein Jahr zuvor im Advent, an einem Freitag
Wenn Erinnerungen an Gerüche gekoppelt sind, dann liegt dieses Weihnachten in der Kategorie Z wie Zwiebel. Nicht nur, weil ich einen ganzen Berg davon für den Zwiebelkuchen geschält und gehackt habe, der nun im Ofen backt. Sondern auch, weil ich mir manchmal selbst wie eine Zwiebel vorkomme, die nur ihre äußere Hülle zeigt und den inneren, wenn auch nicht unbedingt tränenreichen Kern versteckt. Oh ja, im Verbergen von Gefühlen bin ich ein wahrer Meister. Und bevor das Ganze in die Sentimentalität abdriftet, nehme ich die Schwimmbrille ab und reibe mir über die brennenden Augen, die vermutlich so rot sind wie die Weihnachtsmannmütze, die auf Lins Kopf thront.
»Gehen wir noch eine Waffel essen?« Ich muss unbedingt den Zwiebelgeruch loswerden, und zwar aus der Nase und von den Fingern.
»Aber unbedingt!«, antwortet sie und hakt sich bei mir unter.
Der Himmel zeigt sich in schmuddeligem Pulvergrau, als wir unsere Schicht auf dem Adventsmarkt des Tierheims beenden. Lin und ich machen dort öfter Gassigänge mit den Hunden, und als sie vorschlug, den Samstag zu opfern und am Zwiebelkuchenstand auszuhelfen, konnte ich ihr den Wunsch mal wieder nicht abschlagen. Schließlich kann Danies Tierheim jeden Cent für wohltätige Zwecke gebrauchen.
Gemeinsam schlendern wir über die Anlage. Mit Lichterketten und Girlanden geschmückte Buden, an denen man Spiele machen oder Leckereien und Tier-Accessoires kaufen kann, laden zum Bummeln ein. An einer geschmückten Tanne hängen Zettel mit Weihnachtswünschen für die Tiere. Menschen spazieren umher oder sitzen an den bereitgestellten Tischen, holen sich einen Snack oder Getränke und lernen die Tiere kennen, die sie mit ein bisschen Glück später vielleicht sogar adoptieren. Der Geruch nach gebrannten Mandeln weht zu uns rüber. Auf der Bühne findet gerade die Bingo-Tombola für die Tiertafel statt. Tierheimleiterin Danie verkündet immer wieder gezogene Zahlen durch ein Mikrofon. Im Hintergrund singt Elvis mit säuselnder Stimme Blue Christmas.
Lins Handy klingelt, sie zieht es heraus und runzelt die Stirn. »Das ist Mama. Entschuldige, da muss ich ran.«
»Alles klar.« Ich lasse sie allein und gehe zur nächsten Bude, um uns etwas zu trinken zu holen.
»Hey, Jona«, grüßt mich das Mädchen hinter der Theke.
»Hey, Tabea. Cool, dass du auch hier aushilfst.« Wir kennen uns von dem Aushilfsjob in einem Supermarkt. Bis vor einem Monat habe ich einmal in der Woche mit ihr Getränkekisten gestapelt und Lebensmittel in Regale einsortiert. Ich gebe meine Bestellung auf, und sie schiebt mir zwei Becher hin.
»Wenn du Lust hast, könnten wir nachher noch auf den Weihnachtsmarkt gehen. Ich hab in einer halben Stunde Feierabend.« Sie schenkt mir ein flirtiges Lächeln, und ich spüre, wie ich rot werde.
»Äh, danke. Tut mir leid, aber ich hab schon was vor. Man sieht sich!« Ich nehme die beiden Tassen und gehe. Auf weitere Komplikationen habe ich so kurz vor meiner Abreise in drei Wochen definitiv keine Lust.
»Wunschpunsch?« Ich strecke Lin einen Becher mit heißem rotem Punsch hin, auf dem essbare Blattgoldflocken glitzern. Das Handy hat sie inzwischen wieder eingesteckt.
»Danke!« Sie nimmt den Becher vorsichtig mit behandschuhten Händen entgegen, auf denen Rentiere tanzen. Leicht bläst sie auf die Flüssigkeit. »Wenn sich die Wünsche, die wir dem Punsch zuflüstern, erfüllen würden, dann würdest du also hierbleiben und kein Auslandsjahr machen.«
Ich seufze. »Lin ...« Das Thema hat sie in den letzten Wochen gefühlt hundertmal angesprochen.
»Ja, ich weiß«, antwortet sie. »Es ist wichtig, du willst deiner Mutter helfen, und ich verstehe das auch, aber ich werde dich vermissen.« Meine Mutter hat mich gefragt, ob ich ihr in ihrer Pension aushelfen kann, da sie in letzter Zeit ein paar gesundheitliche Probleme hat. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit, warum ich ihr Angebot annehme.
»Ich dich auch«, sage ich und verschweige, dass auch mein Wunsch sich nicht erfüllen wird. Den kann ich ihr aber unmöglich verraten, obwohl wir uns schon ewig kennen.
Wir trainieren zusammen im Einradhockeyteam, lieben beide Actionfilme und engagieren uns im Verein für Natur- und Tierschutz. Sie ließ mich früher immer in Mathe abschreiben, ich sie in Französisch. Bei der Frage, ob süßes oder salziges Popcorn besser schmeckt, bin ich Team süß und sie Team salzig. Bei den Gummibärchen überlässt sie mir freiwillig die gelben und ich ihr die roten. Und obwohl ich ihre Vorliebe für krümelig trockenen Christstollen absolut nicht nachvollziehen kann, verbindet uns die Liebe zu Weihnachten. Unsere alljährlichen Jolinischen Spiele, bei denen wir uns in der Weihnachtszeit ein Battle der besonderen Art liefern, sind längst Tradition. Jedes Jahr losen wir neue Kategorien aus, in denen wir uns beweisen müssen, wie Keks-Pong-Quiz, Scharade oder Wortspielduelle. Mitsamt Wetteinsatz, wie zum Beispiel einen ganzen Tag mit einem Kaktus herumlaufen, zufälligen Passanten an Weihnachten bunt gefärbte Eier schenken oder das Tragen eines hässlichen Weihnachtspullis. Manchmal ist die Strafe auch eine Kinoeinladung oder dem anderen ein selbst gekochtes Essen zu servieren.
»Warum starrt uns das Mädchen vom Glühweinstand so finster an?«, fragt Lin.
Ich drehe mich um und entdecke Tabea, die uns mit verschränkten Armen beobachtet. Verlegen huste ich. »Vielleicht, weil wir uns kennen und sie herauszufinden versucht, ob du meine Schwester bist oder ... mehr.« Das letzte Wort krächze ich eher und nehme schnell einen Schluck Punsch. Autsch, heiß! Meine Zunge prickelt und wird taub. Lin scheint zum Glück nichts zu bemerken.
»Ah ja. Das erklärt einiges.« Sie lacht. »Apropos Schwester ... Emmi ist auf dem Weg hierher, hat Mama gesagt. Stört dich doch nicht, oder?« Lin nimmt einen Schluck von ihrem Punsch. Auf der Tasse steht: Das Glück liegt in Sichtweite, du musst nur danach greifen. Mir fehlt jedoch der Mut, genau das umzusetzen. Und jetzt, wo ich bald weggehe, würde das die Sache ohnehin nur unnötig verkomplizieren.
»Warum sollte mich das stören?«, frage ich und trinke meinen Punsch. Er schmeckt viel zu süß nach Brause.
»Weil sie eine Nervensäge ist und sich an uns dranhängen wird wie eine Klette«, erklärt Lin.
»Ach, komm schon, wo bleibt dein Weihnachtsspirit? Deine Schwester ist okay.« Ich bleibe an einem Stand stehen, um eine Waffel zu kaufen. Lin pflückt mir mehr als die Hälfte der Waffelherzen aus der Hand. »He, du zerrupfst mein Herz, das ist ziemlich unfair geteilt«, meckere ich lächelnd.
»Na gut«, sagt sie, zupft ein Ministück ab und hält es mir vors Gesicht. Ich schnappe es mir mit dem Mund und streife dabei mit den Lippen leicht über ihre Finger.
»Uh, du bist ja verfressener als Toffee.« Sie lacht, als sie ihre kleine Lieblingsziege erwähnt. »Wusstest du eigentlich, dass in Italien eine Hexe die Geschenke bringt?«, fragt sie nun. »Sie heißt Befana und reist durch Schornsteine wie der Weihnachtsmann, aber erst am sechsten Januar.« Herausfordernd schaut sie mich an.
Ah, ein Battle. Dabei kann ich mithalten.
»Ja, aber wusstest du, dass man in Mexiko zu Weihnachten Radieschen schnitzt, weil das Glück bringen soll?«, kontere ich.
»Das kann ich toppen«, erwidert sie. »In Tschechien sagt ein Apfel die Zukunft voraus. Man schneidet ihn auf und hofft, dass das Kerngehäuse wie ein Stern aussieht. Und in der Slowakei schmeißt man Pudding an die Decke; je mehr kleben bleibt, desto mehr Glück hat man.«
»Ernsthaft?«, frage ich. »Das hast du dir doch ausgedacht!«
»Niemals!«, erwidert sie grinsend. »Können diese Augen lügen?« Sie deutet mit einem Zeigefinger auf ihr Gesicht.
Wir bleiben stehen und schauen uns einen Moment lang an. Das Gewusel um uns herum verblasst, und ich habe das Gefühl, in Lins braunen Augen zu versinken. Insgeheim überkommt mich der Wunsch, mir einen Bratapfel zu holen und nachzusehen, was das Kernorakel für uns bereithält. Abrupt reiße ich mich los und konzentriere mich wieder auf die Gegenwart. Sosehr ich in meinem Gedächtnis krame, mir fällt kein weiterer verrückter Brauch ein. Obwohl ... vielleicht der Baumstamm, der Süßigkeiten ausspuckt, aus Spanien ... Ich will gerade ansetzen, da kommt mir jemand zuvor.
»He, wisst ihr, dass ihr unterm Mistelzweig steht?«, ruft Lins jüngere Schwester Emmi, die plötzlich wie aus dem Nichts auftaucht und ihre Arme über unsere Schultern legt. »Jetzt müsst ihr euch auch küssen. Das ist übrigens ein englischer Brauch.« Ihr Blick schweift zwischen dem grünen Ästchen über dem Torbogen, Lin und mir hin und her. Erwartungsvoll schaut sie uns an.
Ich werde rot bis zu den Haarspitzen. Wer zum Geier hängt hier Misteln auf?
Verstohlen blicke ich zu meiner besten Freundin. Der Torbogen, an dem dieser verdammte Zweig hängt, ist der Eingang zur Freilaufwiese. In einem abgetrennten Bereich dahinter wuseln Ziegen und Hasen umher, von den Käfigen dringt Hundegebell zu uns herüber.
Lin rückt die Weihnachtsmannmütze auf ihren braunen Locken zurecht und runzelt die Stirn über Emmis Vorschlag. Sie wirft mir einen Blick zu, den ich nur als verzweifelt deuten kann. Kein Wunder, immerhin sind wir »nur« Freunde. Romantik ist zwischen uns strikt tabu, deshalb spüre auch ich bei Emmis Vorschlag ein ziemlich mulmiges Gefühl im Magen.
Ich beobachte, wie Lins Nasenspitze sich von Grün zu Rot färbt. Womöglich liegt das aber auch nur an den Lichterketten, die überall blinken.
»Weihnachtsmänner und Rentiere küssen sich normalerweise nicht«, wiegele ich rasch ab und spiele dabei auf die Mützen an, die wir beide tragen. Meine ziert ein Geweih. Ich will Lin nicht in Verlegenheit bringen, denn ich sehe ihr an, wie unangenehm ihr Emmis Vorschlag ist.
»Womöglich ist das auch gar keine Mistel«, sagt Lin sofort. »Das ist bestimmt nur ein grüner Zweig. Stechpalme oder so.« Sie legt den Kopf schief. »Es könnte auch ein Weihnachtsstern sein. Wusstet ihr, dass die ursprünglich aus Mexiko stammen und Wärme bevorzugen? Die roten Blüten sind eigentlich Blätter, die sich verfärben. Die Blüte ist winzig und gelbgrün. Schräg, oder?«
Ja, schräg, denke ich und muss unwillkürlich lächeln. Immer wenn Lin nervös wird, plappert sie los und erzählt irgendwelche Fun Facts. Der Zweig ist allerdings definitiv eine Mistel. Die Beeren sind weiß, nicht rot.
»Natürlich ist das eine Mistel«, beharrt Emmi, »und ihr müsst euch jetzt küssen, sonst bringt das Unglück.« Sie ist fünfzehn, drei Jahre jünger als Lin und daran gewöhnt, dass alle nach ihrer Pfeife tanzen.
»Also gut, bringen wir es hinter uns, sonst stehen wir morgen Früh noch hier«, sagt Lin zu meiner Überraschung. Es klingt so unromantisch, wie es unsere Freundschaft verlangt.
»Oh-kay.« Ich schaue ihr in die karamellbraunen Augen, als sie näher kommt, und beobachte, wie ihr eine braune Locke in die Stirn fällt.
Unwillkürlich halte ich den Atem an und merke, wie mein Herz einen Gang zulegt. Es rast, als wolle es einen Marathon gewinnen.
Lin beugt sich vor, und ich schiebe mich ihr entgegen. Der vertraute Kokosduft ihres Duschgels steigt mir in die Nase und mischt sich mit dem süßsäuerlichen Punschgeruch. Erwartungsvoll und wie in Zeitlupe rücke ich noch näher, als ich plötzlich einen heftigen Schlag von hinten erhalte und einknicke. Autsch! Meine Lippen rutschen ab und berühren Lins Wange, nur leicht, wie ein Windhauch. Der Kuss ist so schnell vorbei, dass ich ihn mir eingebildet haben könnte, wären da nicht mein galoppierendes Herz und die kleine braune Ziege, die sich wie ein Keil zwischen uns drängt.
»Toffee!«, ruft Lin und lacht. »Bist du wieder ausgebüxt oder hat dich jemand rausgelassen?« Die Ziege drückt sich gegen sie und zupft an ihrer Jacke herum. »Tut mir leid, ich hab nichts zu fressen.«
Lin tritt zurück, und ich spüre eine plötzliche Leere. Verwirrt streiche ich mir mit der Zunge über die Lippen. Emmi gibt ein genervtes Schnauben von sich, als Lin mir ihre Tasse in die Hand drückt, dann die Ziege packt und zu ihrem Gehege zurückbringt.
»So«, sagt sie, als sie zurückkommt. Mir entgeht nicht, dass sie ganz bewusst einen Riesenbogen um den Mistelzweig macht. Ihre Wangen röten sich verräterisch. »Wusstet ihr, dass Weihnachten von 1647 bis 1660 in England verboten war?« Sie zupft sich ihre rote Mütze zurecht.
»Ganz schön krass«, antworte ich. »Stell dir vor, wir müssten auf all das hier verzichten.« Ich mache eine ausholende Handbewegung.
»Das wäre echt schade!«, erwidert sie. »Sollen wir uns Tombolalose holen, Jojo? Wenn ich mich nicht irre, habe ich das Traditionenaufzähl-Battle gewonnen.«
»Äh, ja klar«, stammele ich. Toll, eine deutlichere Abfuhr kann es wohl kaum geben. Auch Emmi scheint irritiert zu sein. Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, entscheidet sich dann aber anders. Sicher weiß sie, dass man zufällig unterm Mistelzweig stehen muss. Absicht zählt nicht. Ihr aufmerksamer Blick verursacht bei mir ein ungutes Gefühl. Ich komme mir vor, als ob sie in mir läse wie in einem offenen Buch. Also reiße ich mich zusammen und tue so, als wäre nichts passiert. Auf dem Weg zur Tombolabühne gebe ich die beiden Wunschpunschtassen zurück und beschließe, das Pfand gleich für die Lose zu nutzen.
»Bin gespannt, was wir gewinnen werden. Ich glaube, die Einhornbaumspitze könntest du gut gebrauchen«, scherze ich. »Oder soll ich für dich lieber die Rentier-Socken ergattern?«
»Mhm, die Socken«, sagt Lin und grinst. »Die darfst du dann gern mit ordentlich Schokolade füllen.«
»Frech!«, erwidere ich und zwinkere ihr zu. Wie versprochen kaufe ich uns ein Los, und wir gewinnen – ein Lebkuchenherz.
»Pech im Spiel, Glück in der Liebe«, meint Emmi verschmitzt und klopft mir auf die Schulter. Das ist der Spruch, der darauf steht.
»Oh wunderbarste beste Freundin und Kokosflocke, würdest du einstweilen mein Herz nehmen, bis ich die wärmende Fußklamotte für dich errungen habe?«, sage ich schmalzig und werde sofort rot, als mir aufgeht, wie zweideutig das klingt. »Also mein Schokoherz«, ergänze ich. »Äh, ich meine natürlich aus Lebkuchen.« So peinlich, jetzt stammele ich auch noch!
Lin lacht. »Aber natürlich, wunderbarster bester Freund und Krümelmonster. Ich werde dein Herz bewahren und es ganz bestimmt nicht zerkrümeln.« Sie hängt es sich um. Ein Glückskribbeln erfasst mich, als ich merke, dass sie ebenso doppeldeutig geantwortet hat.
»Also ich finde die Dinger ja immer ein bisschen altbacken und steinhart«, mischt sich Oma Pelzig ein. Unsere Nachbarin spaziert mit ihrem Riesenkönigspudel neben uns. Purzel, so heißt das Kalb von einem Hund, lässt sich genüsslich von Lin hinter den Ohren kraulen.
»Oh, aber doch nicht Jonas Herz«, erwidert Emmi. »Ich bin sicher, es ist schokoweich und süß – wie er.« Sie zwinkert mir zu.
»Okay, versuchen wir es noch mal«, lenke ich schnell ab. Der Ehrgeiz hat mich gepackt. Ich will unbedingt für Lin die Socken gewinnen.
Lins Handy klingelt erneut, und sie schaut aufs Display. Gleich darauf beißt sie sich auf die Lippe. »Oh, verflixt!« Entschuldigend sieht sie mich an. »Das war mein Terminwecker. Freddy will sich in einer Viertelstunde mit mir auf dem Weihnachtsmarkt treffen. Ich hab völlig verschwitzt, dass es schon so spät ist.«
Freddy. Verdammt! Für einen Moment habe ich glatt verdrängt, dass sie ihn seit Kurzem datet, so viele Frage- und Ausrufezeichen tummeln sich in meinem Kopf. Offenbar spiegelt sich mein Gedankenkarussell in meinem Gesicht, denn Lin wirkt plötzlich besorgt.
»Alles okay?«, fragt sie.
»Ja klar. Ich dachte nur, wir machen heute unseren Filmmarathon.«
»Tut mir leid!«, sagt sie zerknirscht. »Ich hab irgendwie das Datum versemmelt. Keine Ahnung, warum. Das passiert mir sonst nie. Können wir unseren Filmabend noch mal verschieben? Freddy kann nur heute. Er fährt morgen in Urlaub.«
»Sicher.« Ich tue so, als ob sie nicht gerade mein Inneres einmal durch den Fleischwolf gedreht hätte. »Wir sehen uns ja ohnehin am zweiten Feiertag zu den Jolinischen Spielen, oder?«
Lin lächelt mich dankbar an. »Klar, danke! Vielleicht kannst du ja was mit dem Punschmädchen unternehmen?«, schlägt sie vor.
»Ja, mal sehen«, antworte ich unverbindlich. Ich hab ganz bestimmt keine Lust, Lin mit ihrem Lover auf dem Weihnachtsmarkt über den Weg zu laufen.
»Kommst du, Emmi?« Lin schaut nervös auf ihre Uhr. »Oh, so ein Mist, das schaffe ich niemals rechtzeitig.«
»Und was ist mit der Tombola?«, meckert ihre Schwester. »Du wolltest Socken. Und ich bin gerade erst gekommen und konnte mich noch gar nicht richtig umschauen. Außerdem kann der Angeber mich nicht leiden. Was übrigens auf Gegenseitigkeit beruht.«
»Emmi! Du kennst ihn doch gar nicht richtig. Wir sind ja erst seit vier Monaten zusammen.«
»Du willst Emmi zu deinem Date mitnehmen?«, frage ich verwundert.
»Nein, aber der Hof liegt so weit außerhalb. Am Wochenende fährt hier nur alle zwei Stunden ein Bus, und Mama und Paps sind unterwegs. Ich muss sie erst zu Hause abliefern.«
»Ich bin kein Kleinkind mehr«, mosert Emmi prompt.
»Ja, aber Mama hat drauf bestanden. Du weißt doch, wie sie ist. Sie will nicht, dass du allein im Dunkeln über die Landstraße tigerst, weil du keine Lust hast, auf den Bus zu warten. Und wenn du dich nicht beeilst, bin ich echt geliefert. Freddy wird so sauer sein. Er hasst Unpünktlichkeit.«
»Hey, wenn du willst, bring ich Emmi nach Hause«, höre ich mich sagen. Boah, ich bin so erbärmlich. Für Lin würde ich fast alles tun.
»Ehrlich? Das wäre großartig. Du bist der Beste!« Sie streckt mir die Faust hin, und ich stoße dagegen. Das Gefühl, dass ich einen Fehler begehe und mich grad grandios zum Affen mache, nagt jedoch an mir wie eine Maus an einem Käse. Nichts gegen Emmi, ich mag sie sehr, aber damit schaufele ich Freddy natürlich auch den Weg frei und katapultiere mich selbst zielsicher ins Abseits.
»Ich bin kein Paket«, mault Emmi. »Und übrigens stehe ich direkt neben euch. Ihr könntet mich ruhig auch fragen, was ich will.«
»Oh, liebreizende Emmi. Würdest du mir die große Ehre erweisen, dich von mir nach Hause geleiten zu lassen?« Ich falle theatralisch auf die Knie, und Emmi kichert. »Meine motorisierte Kutsche ist zwar klapprig und orange wie ein Kürbis, aber sie tuckert gar zuverlässig ihres Weges.«
»Vielen Dank. Es wäre mir ein Vergnügen«, sagt Emmi hochgestochen und knickst. »Tschüss und viel Spaß mit dem fiesen Freddy!«, zwitschert sie Lin zu und haucht ihr eine Kusshand entgegen.
»Ach, kannst du das nehmen und gut drauf aufpassen?« Lin macht noch mal auf dem Absatz kehrt und hängt mir das gewonnene Herz um den Hals. Dabei stecke ich ihr unauffällig das Minigeschenk in die Jackentasche, das ich ihr eigentlich später geben wollte. »Ich hol's mir morgen wieder.« Sie wirbelt lächelnd davon wie eine Schneeflocke.
Unschlüssig schaue ich Lin hinterher. Soll ich ihr sagen, was ich von Freddy halte? Soll ich ihr sagen, was ich fühle?
Aber das wäre unfair, denn schließlich bin ich bald weg und sie bleibt hier. Ich will nicht, dass sie sich einsam fühlt. Außerdem könnte die Wahrheit unsere Freundschaft zerstören, und allein der Gedanken daran, sie zu verlieren, bricht mir das Herz. Und damit meine ich nicht das aus süßem Teig, das um meinen Hals baumelt. Zum ersten Mal habe ich keinerlei Zweifel daran, dass meine Entscheidung, nach Schweden zu gehen, richtig ist. Ich will nicht länger das fünfte Rad am Wagen sein, der Zuschauer in der ersten Reihe. Ich brauche dringend Abstand, um mir klar zu werden, was ich will.
Ein Jahr später, zweiter Samstag im Advent, the most wonderful time of the year – eigentlich, Gefühlsbarometer: alles auf Eis
Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass Weihnachten das Fest der Liebe ist. Die Liebe macht jedoch schon seit einer Weile einen großen Bogen um mich, als wäre ich der Grinch mit Mundgeruch. Der starrt mich gerade ziemlich finster an. Also nicht der echte Grinch, sondern die Dekofigur, die im Tierheim zu Weihnachten aufgebaut wurde. Danie, die Leiterin, tobt aber eher wie Rumpelstilzchen.
»Irgendeine Pappnase hielt es für eine gute Idee, die arme Toffee bei unserem Adventsmarkt mit Schokoherzen zu füttern!«, schimpft sie. Wütend zieht sie einen Keks aus einer zerrissenen Verpackung und hält ihn uns entgegen. Das bröckelige Herz erscheint mir wie ein spöttisches Symbol für das bevorstehende Fest und eine fiese Anspielung auf mein nicht vorhandenes Liebesleben. Gebrochenes Herz, haha. Aber gegen Liebeskummer hilft Schokolade nur kurzzeitig. Das weiß ich aus Erfahrung, weshalb mein Bauch mindestens so sehr grummelt wie der von Toffee, der kleinen Ziege.
Wie im letzten Jahr ist der Hof festlich geschmückt. Über die Futterkrippe zieht sich eine Lichtergirlande, in deren Mitte ein roter Stern blinkt. Es ist hier draußen so kalt, dass unsere Nasen schon so rot leuchten wie die von Rudi Rentier. Immerhin hat der Regen nachgelassen. Danie klappt ihren durchsichtigen Schirm, auf dem mehrere Porträts von ihrem Lieblingssänger Elvis prangen, energisch zu.
»Vielleicht hat sie die Tüte auch aus einem Rucksack geklaut«, mutmaßt mein Chef Dr. Mertens. Behutsam tastet er Toffees Bauch ab.
Die kleine Ziege meckert kläglich. Das unerlaubte Adventsleckerli ist ihr nicht gut bekommen, und das kann ganz schnell lebensbedrohlich werden, wie ich inzwischen weiß. Tröstend kraule ich der Ziege die Ohren. Ihr Fell fühlt sich rau an.
»Achtung!«, ruft Danie noch. Ich reagiere jedoch zu spät.
Toffee hebt den Schwanz, es platscht, und ich blicke betreten auf meine Schuhe, die sie gerade zielsicher getroffen hat. Na wunderbar. Wenn etwas schiefgeht, dann aber mit Anlauf.
»Warum wollte ich gleich noch mal eine Ausbildung zur TFA machen?«, brummele ich, während ich ein Tuch aus der Tasche friemele und mir den Schmodder vom Schuh wische.
Mein Chef verkneift sich ein Grinsen. »Wir geben ihr erst mal Aktivkohle und eine Infusion, dann sollte es Toffee bald besser gehen«, sagt er zu Danie. »Lin, halt mal bitte mit fest.«
Ich nicke, lege das Tuch auf den Boden und fasse die Ziege um den Hals, während Dr. Mertens die Infusion fertig macht und sie Toffee verabreicht. Die kleine Ziege meckert empört und strampelt in meinen Armen. Ihr behornter Kopf trifft mich am Kinn, als sie heftig nach mir stößt, sodass ich vor Schreck im nassen Gras lande. Dr. Mertens erwischt sie gerade noch rechtzeitig, bevor sie uns ausbüxen kann, doch sie trampelt ihm dabei über die Füße.
»Autsch!« Wie wild reibe ich mir über die schmerzende Stelle. In der Theorie hat alles so paradiesisch geklungen. Ich liebe Tiere, helfe in meiner Freizeit bei der Tiertafel und im Tierheim, aber ich habe kein Abitur, daher fiel das Tiermedizinstudium flach. Mein pragmatisches Ich entschied sich also für die nächstbeste Lösung, um meinen Traum zu leben: eine Ausbildung zur tiermedizinischen Fachangestellten oder wie es früher hieß: Tierarzthelferin. In der Praxis ist dieser Traum jedoch etwas unromantischer, denn natürlich werde ich schon mal von Katzen gekratzt oder von Hunden gezwickt. Ich habe Flohbisse auf den Armen, die sich wie eine Perlenkette aneinanderreihen, bin auf einem Bauernhof von einem Lama angespuckt worden und gestern erst Oma Pelzigs Königspudel hinterhergesprintet, der rein gar nichts von der fälligen Routineuntersuchung hielt. Und einmal habe ich auch schon eine Katze über die Sternenbrücke begleiten müssen. Das ist echt heftig gewesen, obwohl Dr. Mertens natürlich sehr sanft vorgegangen ist. Im Großen und Ganzen mag ich meinen Job, auch wenn er nicht nur schöne Seiten hat. Aber mal ehrlich, wo gibt es das schon?
»So, geschafft!« Dr. Mertens packt wenig später seine Sachen zusammen.
»Du solltest ein bisschen Eis draufmachen«, sagt Danie zu mir, während sie zuschaut, wie ich mir über das schmerzende Kinn reibe.
»Geht schon«, erwidere ich tapfer. »Inzwischen trage ich die blauen Flecken wie Trophäen.«
Dr. Mertens hat seine Tasche schon in der Hand. »Ich komme morgen noch mal vorbei und sehe nach ihr. Gib ihr heute reichlich Flüssigkeit und nur Heu und ein bisschen Joghurt. Wenn es schlimmer wird, ruf mich an.«
»In Ordnung! Danke, Alex.« Danie nickt. »Wartet, ich hab noch was für euch.« Sie läuft ins Haupthaus und kommt mit einer Tüte Vanillekipferl für jeden zurück. »Schöne Weihnachten!« Sie wendet sich mir zu. »Und Grüße an Jona. Schade, dass er in diesem Jahr beim Adventsfest nicht dabei war. Siehst du ihn mal?«
»Ja, an Weihnachten kommt er nach Hause«, erwidere ich. »Vielleicht besuchen wir dich dann.« Wehmütig denke ich an meine Schulzeit, die Abschlussparty und meine Freunde zurück, während ich das verschmutzte Tuch aufhebe. Seit die Ausbildung und damit »der Ernst des Lebens«, wie es meine Mutter ausdrückt, begonnen hat, sehen wir uns viel zu selten. Meist nur am Wochenende und auch da nicht immer. Wie Jona sind viele fürs Studium oder ihre Ausbildung weggezogen oder machen ein Auslandsjahr in Australien, Kanada oder Schweden. Ich komme mir richtig langweilig vor, weil ich mir das nicht vorstellen konnte. Meine Schwester Emmi behauptet, ich hätte Angst vor Veränderungen und der weiten Welt, aber warum soll ich weg, wenn ich hier alles habe, was mir wichtig ist? Na ja, bis auf meinen besten Freund. Ein Seufzen entweicht mir. Ich vermisse Jojo. Vor allem jetzt. In der Weihnachtszeit.
»Wo kann ich das loswerden?«, frage ich und wedele mit dem Schmoddertuch.
»Warte, ich nehm dir das ab«, sagt Danie und steuert auf die Mülltonnen zu. Sie sind mit dem Konterfei von einem tanzenden Elvis verziert, und ich muss unwillkürlich grinsen.
»Was ist denn da passiert?«, will Dr. Mertens wissen. Er deutet zu den Tonnen, die mit dicken Steinen gesichert sind. »Wieder die Waschbären?«
»Ja«, sagt Danie. »In letzter Zeit tauchen sie öfter auf und werden scheinbar immer mehr. Die finden nichts zu fressen. Wir haben schon alles abgesichert, aber trotzdem brechen sie in den Schuppen ein. Unsere Hunde drehen deswegen regelmäßig am Rad.« Sie verzieht das Gesicht. »Wenn ich sie mit den zusätzlichen Sicherungen auch nicht vergrämen kann, muss ich wohl den Schädlingsbekämpfer holen oder den Jäger benachrichtigen.«
»Versuch es mal mit Chili«, sagt er. »Oder mit Mottenkugeln. Den Geruch können sie nicht ausstehen.«
»Gute Idee«, sagt Danie, während ich mir kichernd vorstelle, wie sie einen Bannkreis aus Chilipulver ums Haus zieht wie bei den Spiderwicks.
Fröhlich winkend verabschieden wir uns.
Auf dem Weg nach Hause herrscht im Tierarztmobil Schweigen. Ich wende den Blick aus dem Fenster. Kahle Bäume ziehen auf der Landstraße an uns vorbei. Ein feiner Nieselregen hängt in der Luft. Immer noch kein Schnee, denke ich sehnsüchtig. Seit Jahren hat es hier nicht mehr zu Weihnachten geschneit. Das vermisse ich. Schnee hat etwas Reinigendes, Beruhigendes.
»Ich muss mit dir reden, Elinor.« Dr. Mertens dreht den Kopf zu mir, seine Miene ist ernst.
Ich wende mich ihm zu. »Wegen vorhin, wegen Toffee? Entschuldigung, das tut mir leid. Ich hatte sie nicht so fest im Griff wie gedacht. Das kommt nicht mehr vor.«
»Nein, das ist es nicht. Du machst das alles gut, und Toffee wird schon wieder.« Er lächelt leicht. »Es ist nur so, dass ich die Praxis im neuen Jahr abgeben werde.«
»Was? Aber wieso ... Und was wird dann aus mir? Wie soll ich denn meine Ausbildung weitermachen?« Panik erfasst mich. Reiß dich zusammen, Lin, sei professionell!
»Ja, das kam für mich ebenso überraschend wie für dich jetzt.« Dr. Mertens lächelt mitfühlend. »Meine Frau ist als Gastdozentin nach London berufen worden, und natürlich werde ich sie begleiten. Ich habe bereits einen Nachfolger für die Übergangszeit gefunden, und ich kläre noch mit ihm, ob er dich übernehmen kann.«
»Oh, okay. Danke!«
»Allerdings hat er bereits eine Praxis mit eigenem Team und auch einen Azubi. Deshalb wird er meine Praxis nur an einzelnen Tagen betreiben. Ich hoffe, er kann dich übernehmen, wenn du das möchtest, aber ich kann dir nicht versprechen, ob das klappt.«
»Und was, wenn nicht?!«, entweicht es mir. »Die Zwischenprüfung ist doch schon bald.«
»Ich bin im Gespräch mit der IHK, wir finden schon eine Lösung.« Dr. Mertens biegt auf den Parkplatz der Praxis. »Im schlimmsten Fall müsstest du die Zwischenprüfung verschieben, bis wir eine andere Praxis für dich gefunden haben, in der du deine Ausbildung fortsetzen darfst. Dazu braucht es allerdings einen Aufhebungsvertrag, damit du den Arbeitgeber wechseln kannst.«
»Das heißt, Sie kündigen mich?« Verzweiflung schießt in mir hoch, ich habe einen dicken Kloß im Hals.
»Ja, genau genommen schon. Zu Ende Februar, also in der gesetzlichen Frist. Du kannst dir natürlich auch selbst eine neue Stelle suchen, und ich setze mich auf jeden Fall dafür ein, dass deine bisherige Ausbildungszeit angerechnet wird.«
»Aber garantieren können Sie mir das nicht, oder?«
»Nein, aber das regelt sich schon irgendwie, sodass du keine Zeit verlierst, keine Sorge.« Er schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. »Immer schön positiv denken.«
Keine Sorge! Positiv denken. Er hat gut reden. Ich weiß nicht, was ich von dieser Nachricht halten soll. Ich hasse Überraschungen. Und es fühlt sich echt mies an, gekündigt zu werden, vor allem, wenn man nichts dafür kann. Hätte ich ein Gap Year gemacht, wie meine Freunde, hätte ich dieses Problem jetzt nicht. Es hätte ja nicht gleich ein anderer Kontinent sein müssen.
Und wieder einmal wünsche ich mir, dass Jona hier wäre. Dann könnte ich diese Sorgen ausführlich mit ihm besprechen. Er hätte mich sicher im Handumdrehen beruhigt. Ich greife in meine Jeans und taste nach dem Zettelchen mit dem Schoki-Spruch, den ich immer bei mir trage. Er stammt von unserem Abschied am Flughafen Anfang des Jahres. Jona hat mir das Minigeschenk mal wieder heimlich in die Tasche gesteckt, um mir den Abschied zu versüßen, wie er später zugab. Er hat jedoch keinen Schimmer, dass ich die ganzen Zettelchen aufbewahrt habe.
Ich streiche über die Kanten und atme tief durch. Ich weiß auswendig, was darauf steht: Manchmal muss man einen Umweg gehen, um ans Ziel zu gelangen.
Ich hoffe nur, dass ich mich auf diesem Umweg nicht verlaufe.
Immer noch der zweite Samstag im Advent, abends, auf der Suche nach der Weihnachtsmagie, Gefühlsbarometer: Tauwetter
Der restliche Tag zieht mit Routine-Untersuchungen dahin, drei Hasen, ein Hamster, fünf Hunde und zwei Katzen. Zum Glück keine ernsten Fälle. Um sechs Uhr schlüpfe ich endlich aus meinem Praxiskittel und greife nach meiner Jacke.
»Tschüss!«, rufe ich Dr. Mertens und der zweiten Helferin Pia zu. Ich bin froh, dass ich endlich Feierabend habe, denn in meinem Kopf kreiseln die Gedanken. Wo soll ich denn jetzt auf die Schnelle eine neue Ausbildungspraxis herbekommen? Die Bewerbung im vergangenen Jahr war schon schwierig gewesen, weil es in unserer Kleinstadt nur wenige Ausbildungsplätze in diesem Beruf gibt. Ich hätte gern einen Plan B, doch mir fällt nichts ein. Dr. Mertens hat bereits andere Tierarztpraxen angerufen, aber es ist schier unmöglich, so kurzfristig zu wechseln. Natürlich haben alle im näheren Umkreis ihre Auszubildenden bereits eingestellt und frühestens im September wieder neue Plätze frei, und die IHK sperrt sich, wenn mich der neue Tierarzt nur zwei Tage in der Woche beschäftigen kann. Das hat der Telefonmarathon am Nachmittag ergeben.
Ich brauche dringend Ablenkung und möglichst einen Zuckerschub, um aus dieser Gedankenspirale wieder rauszukommen und die lauernde Verzweiflung im Zaum zu halten.
Auf dem Heimweg laufe ich über den Weihnachtsmarkt, um auf andere Gedanken zu kommen. Ich liebe die Atmosphäre hier. Genussvoll atme ich den Duft nach gebrannten Mandeln ein. Last Christmas dudelt über den Platz, und ich summe leise mit. Der Spaziergang zwischen den festlich geschmückten Buden hebt sofort meine Laune und verdrängt die Sorgen um meine berufliche Zukunft.
Mein Handy vibriert, eine Nachricht von meiner Freundin Fee; ihr Profilfoto zeigt sie lächelnd mit ihrem Freund Eric am Strand. Die beiden sind gerade für ein Work-and-Travel-Jahr in Australien. Sie haben mich gefragt, ob ich mitkommen will, aber ich habe dankend abgelehnt. Ich wollte bestimmt nicht das fünfte Rad am Wagen sein, und außerdem hatte ich zu dem Zeitpunkt schon die Zusage für meine Ausbildung. Und natürlich war auch Freddy ein Grund, warum ich hierbleiben wollte. Tja, kurz darauf ging auch Jona weg oder besser nach Hause, nach Schweden, ins Land der Trolle und Feen. Und Freddy ... Nein, nicht dran denken ...
Fee: Schau mal, hier trägt der Weihnachtsmann Badehose.
Ich muss schmunzeln, als ich das Video abspiele. Ein Weihnachtsmann mit Mütze und weißem Bart liefert seine Geschenke auf einem Surfboard aus. Sein rotes Hawaiihemd steht offen und gibt den Blick auf ein perfektes Sixpack frei. Dressierte Delfine schwimmen um ihn herum. Elegant landet er am Strand an und wird sofort von mehreren Kindern umringt.
Lin: Nice! Und gar nicht kitschig! Hoffentlich hat er euch auch was mitgebracht.
Fee: Ich hab mein Geschenk doch schon.
Lin: Muss Liebe schön sein. Habt 'ne tolle Zeit!
Sie schickt mir noch einen Kuss-Smiley, und ich laufe weiter, völlig in Gedanken versunken. Die beiden sind total verliebt, und ich frage mich wieder mal, wie man sich so sicher sein kann, dass man zusammengehört. Wie man Liebe von Verliebtsein unterscheidet. Wie man es anstellt, dass sie andauert. Und vor allem, woran man erkennt, wer der oder die Richtige für einen ist? Inmitten all der Menschen überfällt mich plötzlich ein seltsames Gefühl der Einsamkeit. Rasch schüttele ich es ab.
Vor einem großen, geschmückten Nadelbaum parkt ein Schlitten. Eine lange Schlange von Familien mit kleineren Kindern hat sich gebildet, denn dort nimmt der Weihnachtsmann mit dem Christkind Wünsche entgegen. Die Erinnerung an meinen und Jonas Weihnachtsmann-und-Rentier-Einsatz im Tierheim schwappt in mir hoch. Nachdenklich schlendere ich an dem Baum vorbei. Keine Ahnung, ob es eine Tanne, Fichte, Kiefer oder Pinie ist, die da in der Mitte aufragt. Jona hätte die Antwort gewusst und etwas von nach oben oder nach unten wachsenden Zapfen erzählt.
Ich kenne Jona, seit ich denken kann. Wir haben uns schon von der besten und peinlichsten Seite erlebt. Ich habe ihm nach einer wilden Achterbahnfahrt auf die Schuhe gekotzt, und er hat sich von mir trösten lassen, wenn es Stress mit seiner Freundin oder seinen Eltern gab. Wir sind wie Ladybug und Cat Noir oder Schokoeis mit Vanillesoße – eine unschlagbare Kombi.
Mein Handy meldet sich erneut, und ich schaue aufs Display, wo das Bild einer K-Pop-Band aufleuchtet. Emma, meine kleine Schwester. Und ja, unsere Namen sind kein Zufall. Meine Mutter steht auf Romanzen à la Jane Austen, und wir dürfen es ausbaden. Rasch nehme ich den Anruf an. »Wenn man an den Grinch denkt«, sage ich grinsend.
»Haha, sehr witzig. Wo steckst du? Mama ist kurz davor, einen Suchtrupp loszuschicken.«
»Bin schon auf dem Nachhauseweg«, sage ich verwirrt. »Wie immer nach der Arbeit.«
»Na supi, du hast's vergessen!«, zischt sie. »Das gibt Ärger.«
»Was, wies... oh nein!« Ich schlage mir an die Stirn und mache kehrt, um in die andere Richtung zu laufen. »Die Silberhochzeit.«
»Du hast es erfasst. Beweg deinen Hintern zügig zum Restaurant.«
Entsetzt blicke ich an mir herunter. Toffees Spuren hab ich weggewischt, doch die Grasflecken gingen nicht ganz raus, und bestimmt sehe ich so zerstört aus, wie ich mich fühle. Ich streiche mir eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich muss mich erst noch duschen und umziehen. Ich müffele wie ein Tiger.«
»Denk besser nicht mal dran«, flüstert meine Schwester. »Nimm ein Deo oder behäng dich mit Duftbäumen. Mama hat schon die merkwürdigsten Szenarien durch, was dir alles zugestoßen sein könnte, denn niemals nie würde die herzallerliebste Tochter den drittwichtigsten Tag in Mamas Leben – nach der Geburt ihrer beiden Engel – vergessen. Erst hat sie befürchtet, dass du im Aufzug feststeckst. Jetzt glaubt sie, dass du wohl in der Dusche ausgerutscht bist und verletzt im Bad liegst, weil du nicht aufstehen und anrufen kannst, dass du dich verspätest.«
»Oh weia!« Ich stöhne. Unsere Mutter neigt schnell zu Übertreibungen. »Okay. Bin schon unterwegs, aber ich hab kein Geschenk.«
»Egal, Hauptsache, du kommst schnell. Wir verhungern sonst noch alle wegen dir, weil Paps darauf besteht, dass wir auf dich warten.«
»Sag Mama, mir geht's gut, ich bin nur ...«
»Jep, hab ich schon. Ich hab ihr erzählt, du bist zu spät dran, weil du Oma Pelzigs Pudel aus 'ner Lichterkette befreien musst.«
»Wie kommst du denn auf so was?«, frage ich lachend.
»Na ja, irgendwas ist doch immer«, gibt meine Schwester fröhlich zurück.
Ich stoppe noch kurz bei einer Bude, wo ich eine Schneekugel mit einem turtelnden Taubenpaar ergattere. Die passt perfekt zu meinen Eltern.
Im Einkaufszentrum am Marktplatz verziehe ich mich auf die Kundentoilette, um mich wenigstens ein bisschen aufzuhübschen. Wenn auch im Turbotempo. Ich binde mir die Haare vom Pferdeschwanz zum Dutt, kaschiere den blauen Fleck am Kinn mit Concealer, trage etwas Lipgloss auf und stecke mir die Glitzerspange ins Haar, die ich in meinem Rucksack finde. Jona und Emmi ziehen mich gern damit auf und behaupten, ich sei eine Mischung aus MacGyver und Mary Poppins, aber jetzt sieht man mal, wie nützlich das ist, wenn man für alle Fälle gerüstet ist.
Das Handy klingelt schon wieder, und ich gehe genervt ran. »Was denn noch, ich hab doch gesagt, dass ich gleich da bin. Du hältst mich bloß auf.«
»Ho, Brauner«, säuselt eine sanfte Stimme in mein Ohr. »Welcher Frosch ist dir denn in den Schokopudding gehüpft, Kokosflöckchen? Ich vermisse den liebevollen Ton in deinen Worten. Wo bleibt mein ›Hallo, ich hab dich vermisst, es ist so schön, deine honigsüße Stimme zu hören, Jojo. Als Dank für deinen Anruf schenke ich dir all meine Dominosteine und Marzipankartoffeln.‹?«
Unwillkürlich muss ich lachen. »Netter Versuch, Jojo! Aber meine Marzipankartoffeln bekommst du nur, wenn es rosa Flocken schneit. Entschuldige, dass ich so schroff war. Ich bin voll im Stress. Meine Eltern haben Silberhochzeitstag, und ich hab das total verschwitzt. Emmi meint, wegen mir verhungern alle.«
»Das können wir natürlich nicht riskieren.« Er lacht leise. »Sieht dir gar nicht ähnlich. Stand das nicht in deinem ›Ich plane jeden Tag bis in die letzte Sekunde‹-Kalender?«
»Klar, aber den hat der Hund gefressen«, weiche ich aus. »Oma Pelzigs Purzel liebt Papier.« Keine Ahnung, warum ich Jona nicht einfach erzähle, was los ist. Dass der Job-Ärger dafür gesorgt hat, dass ich völlig durch den Wind bin. Irgendwie fühlt es sich falsch an, die kostbare Zeit, die wir miteinander chatten oder online zocken, mit Problemen zu verderben.
»Du hast echt noch einen Papierkalender?«, zieht er mich auf. »Wow, ich dachte, die gibt es nur noch in Museen.«
»Haha!« Ich packe meine Sachen zusammen und verlasse die Toilette. Mit schnellen Schritten laufe ich über den Markt in Richtung unseres Lieblingsrestaurants. Den Besitzer kennen wir schon ewig, sein Sohn Tian ist mit mir und Jona zur Schule gegangen. »Okay, was erweist mir die Ehre deines Anrufs? Es muss ja was ungeheuer Wichtiges sein, wenn du dich persönlich meldest, statt zu schreiben. Soll ich dich vom Flughafen abholen?«, frage ich.
»Genau deswegen rufe ich an«, sagt Jona sanft. »Ich kann hier nicht weg. Wir haben Gäste, und Mor braucht Hilfe ...«
»Oh.« Enttäuschung bohrt sich mir ins Herz. Ich schlucke schwer. »Das heißt, wir sehen uns doch nicht an Weihnachten und die Jolinischen Spiele fallen aus?« Die Absage schmerzt mich mehr als gedacht. »Aber im neuen Jahr kommst du dann doch wieder nach Deutschland?« Jona möchte nach seinem Gap Year eine Ausbildung zum Tischler anfangen.
»Ich hab noch eine viel bessere Idee ...« Er macht eine dramatische Pause.
»Komm zum Punkt, mein vielschwafeliger Freund. Hier schmilzt die Zeit wie eine Schneeflocke in der Sonne.« Ich gebe mich betont fröhlich.
»Du hast überhaupt keinen Sinn für die Dramaturgie einer Überraschung«, mosert er. »Also schön. Wie wär's, wenn wir die Spiele an den Hotspot für Weihnachten verlegen? Die Adresse, an die alle Kinder ihre Wünschelisten schicken und wo sich die rotnasigen Rentiere gute Nacht sagen?«
»Wir sollen am Nordpol auf Lebkuchenjagd gehen?«, frage ich begriffsstutzig. »Ist das ein Code für ein Onlinemeeting, oder meinst du ein Game?«
»Quatsch!« Jona lacht. »Das war eine Einladung. Ich hab dir grad vorgeschlagen, dass wir uns hier bei mir in den Schären treffen. Live, in Farbe und höchstpersönlich. Hier liegt sogar Schnee«, lockt er.
»Ernsthaft?« Ich bleibe verblüfft stehen. Das ist in der Tat eine Überraschung, die mir sogar mal gefällt. Ich hatte schon befürchtet, dass wir uns in diesem Jahr nur per Facetime sehen würden. Oder Wettquizzen per Discord oder so.
»Ja, ernsthaft. Hier liegt Schnee. Und wir haben auch Tiere«, säuselt er. »Mor hält Hühner, aber vor allem die Ziegen fressen uns die Haare vom Kopf. Und auf einer Wanderung könntest du vielleicht Rentiere und Elche sehen.«
»Ziegen!«, rufe ich begeistert. Jona weiß, dass das meine Lieblingstiere sind. Dann werde ich misstrauisch. »Aber ich weiß absolut nichts über Schweden, außer, dass es im Winter dort stockdunkel ist, saukalt und dass viele Bands, die meine Eltern gern hören, von dort stammen. ABBA, Ace of Base, a-ha und vielleicht noch ein paar andere mit A.«
»So viele Vorurteile auf einem Haufen.« Jonas leises Lachen kitzelt mein Ohr. »So dunkel ist es hier gar nicht. Wir haben Polarlichter. Und abgesehen davon: a-ha ist aus Norwegen.«
»Aber bei saukalt hast du nicht widersprochen«, wende ich trotzig ein.
»Boah, du bist echt unglaublich. Die richtige Antwort lautet: ›Danke, allerliebster Jona, für die Einladung. Ich freue mich wahnsinnig drüber und setze mich gleich in den nächsten Flieger, weil ich es nicht abwarten kann, dich wiederzusehen.‹«
»Du meinst das wirklich ernst, oder?«
»Natürlich.« Jona räuspert sich. »Meine Mutter hat noch ein Gästezimmer in der Villa Solvinkel frei, und ich dachte, du hättest vielleicht Interesse, dich auch in diesem Jahr von mir beim Keks-Pong abziehen zu lassen.«