Herzgrube - Anett Steiner - E-Book

Herzgrube E-Book

Anett Steiner

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Beschreibung

Diebstahl, Entführung, Raub und Mord im Erzgebirge? Auch in Annaberg, der einstigen Siedlung am Schreckenberg, tun sich in dunklen Winternächten menschliche Abgründen auf, mancher Bewohner hat etwas zu verbergen. Tief unter den Straßen der einstigen Silberstadt verzweigt sich ein Tunnelsystem aus alten Erzgängen, die anscheinend nicht von allen Annabergern vergessen worden sind. Wer ist der unbekannte Tote, der von einem pensionierten Bergmann in der Nähe des Markus-Röhling-Stollns gefunden wird? Was verbindet ihn mit der Leiche einer Annabergerin, deren Überreste man in Altchemnitz entdeckt? Ein verlassener Lkw, ein vermisstes Findelkind, geraubtes Transportgut einer Geyersdorfer Spedition, bestohlene Juweliere … Hauptkommissar Ralf Lorenz ermittelt und erhält dabei charmante Unterstützung von der Rechtsmedizinerin Roswitha Grimm, kreuzt aber auch den Weg seines Erzfeindes Polizeiobermeister Heinze. Über allem steht die Frage, was das menschliche Herz zur Mordgrube werden lässt …

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Anett Steiner

Herzgrube

Ein Erzgebirgs-Krimi

Bild und Heimat

Von Anett Steiner liegt bei Bild und Heimat außerdem vor:

Dunkelwald. Kriminalgeschichten aus dem Erzgebirge (2018)

ISBN 978-3-95958-775-4

1. Auflage

© 2019 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: © Fotolia / bajo57

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

1

Die hereinbrechende Winternacht füllte Annaberg mit dunklen Schatten. Gefrorenes Gras knirschte unter den Schritten der Frau. Sie fror. Vielleicht würde es der letzte Frost des Winters sein, dachte sie. Der Februar war meist der kälteste Monat des Erzgebirgswinters, gelegentlich fielen die Temperaturen in den zweistelligen Minusbereich. So auch an diesem Abend.

Verborgen in einer Decke trug Rebekka ein Neugeborenes bei sich. Vielleicht würde es die Nacht nicht überleben. Es hatte aufgehört zu schreien, wohl aus Erschöpfung, denn sie hatte es seit der einsamen, schmerzhaften Geburt nicht gestillt. Die letzten Stunden waren eine Ausnahmesituation für die Frau gewesen, sie zitterte noch immer und fühlte sich schwach, dachte an all das Blut, die Heftigkeit der Kräfte der Natur, spürte der Angst nach, die sie empfunden hatte.

Sie hatte nicht denken können, während der Säugling sich den Weg ins Leben gebahnt hatte, doch alles war gutgegangen. Sie hatte das Baby abgewaschen und geküsst und in ein weiches Handtuch gewickelt. Dabei hatte sie gegen das aufkeimende Gefühl von Liebe ankämpfen müssen, gegen den Instinkt, das Kind zu beschützen und fest an sich gedrückt zu halten. Doch nein, dieses Gefühl durfte nicht erwachen, sie war nicht in der Lage, das Kleine aufzuziehen. Weil es draußen so eisig war, hatte sie das Bündel in die rote Frotteedecke eingeschlagen, die immer am Fußende ihres Sofas lag.

Ob sie zuerst die blutigen Lacken und Handtücher in die Waschmaschine stopfen sollte? Sie entschied sich dagegen, das hatte später noch Zeit. Jetzt galt es so schnell wie möglich die Wohnung zu verlassen, bevor jemand aus der Nachbarschaft auf das Baby aufmerksam würde. Also war sie noch einmal in die Umstandsjeans geschlüpft, hatte den alten Skianorak übergestreift und eilig das Haus verlassen. Noch immer ging ihr Atem heftig, der Nachhall des Geburtsschmerzes echote durch ihren Körper, sie war unsicher auf den Beinen, die letzten Stunden hatten Blut und Kraft gekostet.

Dort drüben, gegenüber dem Parkplatz vor den Wohnblocks des Barbara-Uthmann-Rings befand sich das Annaberger Krankenhaus. Dorthin wollte sie das Kleine bringen und in der Nähe des Einganges ablegen, um nicht erkannt zu werden.

Aber als sie sich dem hell beleuchteten Portal mit der Automatiktür näherte, überlegte sie es sich anders. Vielleicht wurde der Bereich mit Kameras überwacht? Heutzutage gab es überall Kameras. Sie wollte nicht entdeckt werden.

Rebekka zog sich wieder zurück, hastete die steile, gewundene Zufahrt hinauf bis zur Fußgängerampel über die B 95. Die Leuchtreklamen eines Supermarktes, des Schnellimbisses und der Tankstelle tanzten vor ihren Augen, ihr war schwindlig geworden. Sie durfte jetzt nicht zusammenbrechen, keine Schwäche zeigen, sie musste die Kontrolle behalten, und vor allem musste sie ihr weiteres Vorgehen durchdenken. Die Gedanken wirbelten wild in ihrem Kopf herum, sie konnte sich nicht konzentrieren und blinzelte die Tränen der Verzweiflung weg. Wieder verfing sich ihr Blick zwischen Tankstelle und Schnellimbiss, sie bekam Seitenstechen und musste keuchend innehalten. Die zärtlichen Gefühle in ihr, die nun doch für das Neugeborene in ihrem Arm erwachten, konnte sie wirklich nicht gebrauchen. Das Bündel wog fast nichts. Und der Säugling war noch immer still, hatte nicht wieder zu schreien begonnen, vielleicht schlief er. Sie hob das kleine Köpfchen an ihr Ohr, konnte nicht sagen, ob noch Atem zwischen den winzigen Lippen hervordrang. Wenn, dann unhörbar.

Sie überquerte die Fußgängerampel ins Wohngebiet bei Rot, der Verkehr hatte nachgelassen, die Stadt begann einzufrieren. Vor dem Parkplatz gab es eine kleine Grünfläche mit einem Gedenkstein, vom dem sie keine Ahnung hatte, wofür. In der Nähe stand eine Bank. Das wäre der rechte Ort.

Sicher gab es schlaflose Menschen im nahe gelegenen Wohngebiet, die auch spät noch unterwegs waren und das Kind finden könnten. Menschen, die mit ihren Hunden vor die Tür gingen, verliebte Paare, Rastlose und Einsame wie sie.

Sie positionierte das Bündel so, dass es nicht durch die Spalte zwischen Sitzfläche und Rückenlehne der Bank hindurchrutschen konnte.

Oder sollte sie es vielleicht doch behalten?

Dieses unerwünschte, warme Gefühl regte sich nun übermächtig in ihr, der Impuls, das Baby fest an sich zu drücken und wieder mit nach Hause zu nehmen – aber nein. Sie hatte oft darüber nachgedacht und lange genug Zeit gehabt für die Entscheidung. Wer der Vater war, wusste sie nicht. Bei der einzigen Ü-40-Party ihres Lebens musste man ihr Drogen ins Getränk gemischt haben. Sie hätte besser aufpassen sollen, Anna­berg stand neben all der schönen Traditionen leider in dem Ruf, zur Drogenhochburg geworden zu sein, die Grenze zu Tschechien lag nahe, in der Region boomte der Handel mit verbotenen Rauschmitteln, das las man immer wieder in der Presse. Rebekka fehlte jegliche Erinnerung an jene Nacht, entsetzt hatte sie die Schwangerschaft realisiert, als es für eine Abtreibung längst zu spät gewesen war.

Kaum hatte sie die zitternden Hände von ihrem Baby zurückgezogen, drangen Geräusche an ihr Ohr. Ausgerechnet jetzt kam jemand über die Grünfläche an der B 95 vom Parkplatz herüber. Sie konnte eine dunkle Gestalt erahnen, die sich vor dem steingrauen Himmel abhob und deren Atem im Schein der Straßenlaterne in der eiskalten Luft kondensierte. Es schien eine Frau zu sein, auch wenn ihr Schritt derb war, den Schal hatte sie wohl zum Schutz vor der Kälte über den Mund bis kapp unter die Nase gewickelt, das Gesicht war nicht zu erkennen. Die Fremde steuerte auf den Parkplatz zu, vielleicht stand dort ihr Wagen.

Rebekka duckte sich in ein kahles Gebüsch zwischen der Stellfläche für die Autos und dem Schnellimbiss. Irgendetwas roch nach Kamillenblüten, irreal im Februar. Von ihrem Versteck aus konnte sie sehen, wie die andere Frau sich dem Bündel näherte, stehen blieb, sich umschaute. Ausgerechnet in diesem Moment drang ein silbern klingender, winziger Laut aus der Kehle des Babys in die Welt.

*

Den ganzen Tag war sie durch die Geschäfte der Adam-Ries-Passage gestreift und hatte nach Opfern Ausschau gehalten. Ihr war kalt vom Herumlungern in den zugigen Durchgängen. Sie hatte auf unaufmerksame alte Damen gewartet, die im Einkaufsstress ihre Handtaschen aus den Augen ließen, und nach jungen Leuten, denen das Smartphone achtlos aus der Gesäßtasche ragte. Martina Sänger hielt sich selbst für eine ganz brauchbare Diebin, auch wenn sie im Moment mit einer Pechsträhne kämpfte. Aktion bedingt Reaktion, dachte sie, wohl deshalb war in den Annaberger Juweliergeschäften sicherheitstechnisch aufgerüstet worden. Im Augenblick gab es dort für Martina nichts mehr zu holen. In dem großen Elektronikfachmarkt an der B 101 wäre sie vor ein paar Tagen beinahe dem Ladendetektiv ins Netz gegangen, dort konnte sie sich auch eine Weile nicht mehr sehen lassen. Der Einsatz von Überwachungskameras und Alarmanlagen nahm zu ihrem Leidwesen immer mehr zu. Die Versicherungen verlangten das von den Ladenbesitzern, sobald Martina oder andere Mitglieder ihrer Zunft dort einmal zugeschlagen hatten. Ein zweiter Einbruch am selben Ort war dann meist nicht mehr so leicht wie die stets überraschende Premiere. Zudem beschlich sie das Gefühl, dass sogar die alten Mütterchen gelernt hatten, auf ihre Handtaschen aufzupassen, jedenfalls die, die bei diesen Temperaturen überhaupt das Haus verließen. Mehr als dreihundert Euro hatte sie heute noch nicht erbeutet. Das war gar nichts im Vergleich zu den Beutezügen im Dezember auf den Weihnachtsmärkten. In Schwarzenberg war ihr während des Bergmannsaufzugs eine rekordverdächtige Diebstahlserie gelungen. Der Februar hingegen war ein mieser Monat. Der Winter hatte sie ausgelaugt, das ewige Grau drückte sogar einem selbsternannt gefühlskalten Wesen wie ihr aufs Gemüt und sorgte für dauerhaft schlechte Laune. Martina fühlte sich wie ein wechselwarmes Tier, das nur noch im Energiesparmodus dahinvegetierte. Sehnsüchtig erwartete sie die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings, und das nicht etwa, weil sie wetterfühlig war, sondern nur aus einem Grund: Leicht bekleidete Menschen ließen sich besser beklauen. Trotz allem war der harte Winter das einzig Unangenehme, was das Erzgebirge bisher für sie bereitgehalten hatte, abgesehen von den anfänglichen Verständigungsschwierigkeiten. Jedenfalls war Sachsen besser als sein Ruf, fand sie.

Ihre Gedanken schweiften ab. Sie mahnte sich, sich wieder aufs Wesentliche zu konzentrieren. Fünfhundert Euro waren ihr selbstgestecktes Minimum an Tagesbeute, eher gönnte sie sich keinen Feierabend. Sie würde ihren Wagen holen müssen, den sie auf dem Parkplatz am Barbara-Uthmann-Ring abgestellt hatte. Sie wollte heute noch zum Gewerbering hinaus ans Stadtende Richtung Wiesenbad fahren, um sich am Großparkplatz des dortigen Einkaufscenters auf die Lauer zu legen. Vielleicht konnte sie ein paar Autos knacken und Navis klauen. Noch herrschte grundsätzlich keine Not, ihr persönliches Diebeslager war gutgefüllt. Die Hehler, die ihr die Sachen abkauften und weiterverscherbelten, bekamen von ihr regelmäßig Fotos und Beschreibungen von der aktuell verfügbaren Ware und riefen dann ab, was sie brauchten. Ihre Hauptabnehmer saßen in einem der Asia-Märkte in Oberwiesenthal, nahe dem Grenzübergang nach Tschechien. Martina konnte sich wirklich nicht beklagen, seit zwei Jahren war sie hier in der Gegend im Geschäft und saß inzwischen fest im Sattel.

Noch nie hatte sie das Gefühl gehabt, das ihr jemand das Handwerk legen könnte. Seit geraumer Zeit machte sie zudem gemeinsame Sache mit einem selbständigen Lkw-Fahrer, der ihr geschäftlich auf die Beine geholfen hatte. Dafür gewährte sie ihm gelegentlich Unterschlupf. Eine Liebelei war ihre Beziehung nicht, jedenfalls noch nicht. Es war ein alter Hut, dass man Privates und Geschäftliches besser trennte. Aber der Typ sah gut aus, es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie Lust darauf bekam, ihn in ihr Bett zu zerren. Irgendwie war das auch eine Frage von Macht und Kontrolle. Und den Mann auf lange Sicht kontrollieren zu wollen lag in ihrem Naturell. In ihrer derzeitigen Ganovenpartnerschaft war sie die Frau fürs Feine, sie erledigte die Diebstähle, Betrügereien und kleinere Einbrüche. Conrad räumte regelmäßig die Auflieger irgendwelcher Lkws leer. Damit kannte er sich von Berufs wegen aus, so ergänzten sie sich gewinnbringend. Dass er keinen festen Wohnsitz zu haben schien und hin und wieder bei ihr übernachtete, störte Martina nicht. Die alte Bude in der Farbegasse, die sie überraschend von einer Tante geerbt hatte, war groß genug. Dieses Erbe hatte sie überhaupt erst nach Annaberg verschlagen. Und dass das Geschäft hier im Erzgebirge so gut laufen würde, war ein zusätzlicher Glücksfall. Sie war aus Bayern nach Sachsen gekommen, um die Tante zu Grabe zu tragen, und in der Silberstadt geblieben. Es gefiel ihr hier. Die Ahnung eines Schatzes, der vermeintliche Geruch des Edelmetalls im Boden unter ihren Füßen hatte sie überzeugt, das geerbte Haus nicht zu verkaufen, sondern selbst einzuziehen. Sie bereute es nicht.

Ihr Atem zerfiel in eisige Kristalle, der grobgestrickte Schal kratzte über ihre Wangen, bei dieser Kälte wollte sie ihren Streifzug nicht länger ausdehnen als unbedingt nötig. Aber an ihrem täglichen Beuteminimum war nichts zu rütteln. Sie nahm den kürzesten Weg zu ihrem Wagen und ging dabei schnell. Von der Adam-Ries-Passage gelangte sie direkt zur Feldschlösschenkreuzung, dort folgte sie dem Fußweg nach links in Richtung Krankenhaus. Mit mürrisch eingezogenem Kopf eilte sie an der Tankstelle, dem Einkaufsmarkt und dem Fastfood-Imbiss vorbei, überlegte kurz, ob sie sich eine Portion Pommes frites leisten sollte, Figur hatte sie noch nie interessiert. Dennoch entschied sie sich dagegen, das würde nur Zeit kosten. Sie hatte den Wagen beim Wohngebiet abgestellt und kürzte über den Grünstreifen ab. Dort auf der Bank hatte jemand seine Tasche liegen lassen. Manche Leute waren echt ziemlich durch den Wind, wie konnte man ein so großes Ding vergessen? Dann erkannte sie, dass es etwas ganz anderes war. Für einen Moment vergaß sie die Kälte, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Laut rauschte das Blut in ihren Ohren, während sie sich verstohlen umschaute. Niemand schien in der Nähe zu sein, niemand sah sie, als ein silbern klingender, winziger Laut an ihr Ohr drang. Ihre Seele erreichte er nicht, sie hatte keine, und wenn, dann eine schwarze. Es war, als böte ihr die Silberstadt Annaberg an diesem Abend das Geschäft ihres Lebens an. Sie musste nicht lange darüber nachdenken, ob sie es annehmen wollte.

*

Seine Eltern hatten Conrad Cornelsen schon als Zwölfjährigen aus Nordrhein-Westfalen ins damalige Karl-Marx-Stadt verschleppt. Er erinnerte sich noch gut daran, wie unglücklich er als Kind über diesen Umzug gewesen war. Die Großeltern warenim Westen zurückgeblieben und hatten stets dafür gesorgt, dass die Flamme des Heimwehs in dem Jungen genug Nahrung erhielt, um beharrlich weiterzubrennen. Inzwischen waren die beiden so vergreist, dass sie in einem Pflegeheim lebten und sich wahrscheinlich gar nicht mehr daran erinnerten, überhaupt einen Enkelsohn zu haben. Mit den Jahren hatte Conrad sich jedoch damit arrangiert und war, den Umständen entsprechend, heimisch geworden.

Eine Weile lang hatte der inzwischen 37-jährige Lkw-Fahrer mit dem Gedanken gespielt, die alte Fabrik auf der Zschopauer Straße in Chemnitz zu kaufen und dort eine große Spedition aufzubauen. Doch sowohl bei der Fördermittelbeschaffung als auch beim Behördenmarathon hatte es ihm letztlich an Motivation gefehlt. Also verdingte er sich als selbständiger Fahrer. Er konnte sich vor Anfragen kaum retten und hatte ein gutes Auskommen damit. Es herrschte Fahrermangel im gewerblichen Güterverkehr.

Zudem hatte Conrad eine Möglichkeit gefunden, sein Einkommen nicht unwesentlich aufzubessern. Diese Möglichkeit war zwar nicht legal, aber das scherte ihn nur am Rande. Seit er bei seiner langjährigen Freundin rausgeflogen war und keine Wohnung mehr besaß, hatte er auch nichts mehr zu verlieren. Wenn er nicht im Lkw übernachtete, suchte er neuerdings gelegentlich Unterschlupf bei seiner Geschäftspartnerin. Tolles Wort, fand er, das viel anständiger klang, als Martina Sänger es in Wirklichkeit war.

Er hatte sie kennengelernt, als sie vor ungefähr zwei Jahren erste Schritte in ihrem gemeinsamen Nebengewerbe unternommen hatte. Aus einem Impuls heraus hatte er sie unterstützt, weil sie Dinge beschaffen konnte, an die er nur schwer herankam. Er hatte ihr ein paar Kontakte nach Tschechien hergestellt, und mit der Zeit war ein ganz brauchbares Team aus ihnen geworden. Die Hehler an der Grenze griffen gern auf sie zurück, es gab kaum etwas, was Martina und Conrad nicht preisgünstig auftreiben konnten. Doch während in Conrad noch so etwas wie Ehre schlummerte und er sich zum Beispiel niemals auf ein Drogengeschäft einlassen würde, machte Martina vor gar nichts halt. Sie war ziemlich abgebrüht und skrupellos. Abgesehen von Martinas Äußerem, war auch das ein Grund, warum er nichts für sie empfand. Sie war im schlichtweg zu kalt und glatt wie eine Schlange. Wahrscheinlich ging sie ins Fitnessstudio und stemmte dort Hanteln, jedenfalls war sie ein ziemlich burschikoser Typ von Frau. Am Ende könnte sie sogar einen Lkw-Reifen wechseln, mutmaßte er. Natürlich spürte er, dass Martina einer kleinen Liebelei nicht abgeneigt wäre, obwohl er nicht sicher war, ob es dabei nicht nur um Macht und Kontrolle ging. Solange sie ihn jedoch kostenfrei bei sich wohnen, duschen und essen ließ, ging er gelegentlich auf ihre Flirtversuche ein.

Aus der langjährigen Bleibe in Chemnitz hatte er ausziehen müssen, als seine Exfreundin festgestellt hatte, dass sie lieber mit einer Frau zusammenleben wollte. Shit happens.

Conrad verließ mit seinem Lkw die B 95 und bog in Anna­berg Richtung Geyersdorf ab. Dort gab es einen Supermarkt, den er im Rahmen seines Jobs gelegentlich mit Waren belieferte. Auf dem Parkplatz der Großbäckerei hielt er an und versorgte sich im Laden für den Tag mit Brötchen. Als er in seinen Kaffee blies, fragte er sich, wann er der benachbarten Spedition den nächsten Besuch abstatten sollte. Auch dort waren inzwischen Kameras installiert worden, das sah er sofort, doch die schreckten ihn nicht.

Er würde nur ein wenig Zeit darauf verwenden müssen, die Lücken in der Überwachung ausfindig zu machen. Er hasste es, kontrolliert zu werden. Selbst in seinem Beruf gab es fast schon zu viel davon: Alles wurde auf der Fahrerkarte aufgezeichnet. Wie schnell er fuhr, wann er anhielt und wie lange. Und von Abfahrtkontrolle hielt er genauso wenig wie von allen anderen Arten der Aufsicht.

*

Es klingelte. Martina erwartete niemanden, sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, soziale Kontakte aufzubauen oder unsinnige Freundschaften zu schließen. Wer sie geschäftlich nicht weiterbrachte war uninteressant. Für den Briefträger war es zu spät, möglicherweise war es Conrad. Aber üblicherweise rief der an und fragte höflich, wenn er sich bei ihr einquartieren wollte. Alternativ blieb ihm immer noch das gegenüberliegende Hotel Alt-Annaberg, auch dort war er schon untergekommen. Würde Conrad klingeln? Er hatte einen Schlüssel.

Es war nicht das erste Mal, dass Martina einen Türspion nützlich gefunden hätte. Bisher konnte sie ihre Hehler immer zufriedenstellen, es war noch nie zu Unstimmigkeiten gekommen. Aber sollte das eines Tages der Fall sein, so war mit der Schwarzmarktmafia, wie sie sie selbst nannte, sicher nicht zu spaßen. Dann konnte es überlebenswichtig sein, zu wissen, wer vor der Tür stand und klingelte.

Martina warf einen Blick aus dem Küchenfenster. Von dort aus war der Bereich vor dem Eingang leidlich einzusehen. Vor der Haustür stand eine Frau, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die Unbekannte war blass, sie sah fast schon krank aus, blutarm irgendwie. Das Haar schien sie nur hektisch zu einer Frisur zusammengerafft zu haben.

Die fremde Frau klingelte noch einmal.

Martina hatte nicht vor zu öffnen. Sie hatte alle Hände voll zu tun und keinesfalls Ambitionen, für irgendeinen gemeinnützigen Zweck zu spenden oder ein anderes Haustürgeschäft zu tätigen.

Schließlich verharrte der Finger der Frau dauerhaft auf dem Klingelknopf, und das schrille beständige Läuten verursachte unbeherrschte Zornesfalten auf Martinas Gesicht. Sie war schon immer jähzornig gewesen. Sie wollte andere im Griff haben und hatte sich doch selbst nicht unter Kontrolle. Nobody is perfect, dachte sie.

Jetzt fing die Frau zu allem Überfluss an, mit der flachen Hand gegen Martinas Tür zu schlagen und nach einer Weile mit den Fäusten dagegen zu hämmern. Die Sache wurde langsam unangenehm. Auch wenn sie sich nichts aus dem Gerede anderer machte, war es unklug, die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf sich zu ziehen. Und das konnte gut und gern passieren, wenn die Unbekannte ihr am Ende noch die Tür eintrat. Hier musste man mit den Anwohnern gut auskommen, dies war keine anonyme Großstadt.

»Ich weiß, dass Sie zu Hause sind!«

Das Haus hatte noch unsanierte einfachverglaste Holzfenster, Geräusche von außerhalb waren gut zu hören.

»Machen Sie die Tür auf!«

Martina dachte gar nicht daran.

»Ich will nur mit Ihnen reden! Sicher können wir uns einigen.«

Durch das Küchenfenster beobachtete sie die Frau über eine halbe Stunde lang und atmete auf, als diese endlich verschwand. Nicht mehr lange, und es wäre ihr nichts anderes übrig geblieben als einzugreifen.

Martina hielt sich die Ohren zu. Nein, diesmal war es nicht das Dauerläuten an der Haustür. Das Baby schrie. Es brüllte ganz erbärmlich und wollte nicht aufhören. Martina hatte es fallen lassen. Beim Windelnwechseln hatte sie nicht aufgepasst, der kleine Wurm war ihr durch die Finger gerutscht und abgestürzt. Jetzt lag es auf dem kalten Fliesenboden und schrie.

Martina tat nichts, sie glotzte es nur an. Sosehr sie auch versuchte, sich zu bewegen, sich zu bücken und es wieder aufzuheben, es gelang ihr nicht. Wie gelähmt stand sie da. Ob der Sturz glimpflich abgegangen war? Wenn das Kleine Verletzungen davongetragen hatte, minderte das sicher den Preis oder machte es wertlos. Die winzige Zunge vibrierte in dem zahnlosen Mündchen des Kindes. Was, wenn es sich bei dem Sturz tatsächlich verletzt hatte? Sie konnte es wohl kaum in ein Krankenhaus bringen. Verdammt!

Wütend fuhr sie aus dem Schlaf auf. Nach einigen Augenblicken der Verwirrung stellte sie fest, dass sie geträumt hatte. Das Weinen des Babys, das völlig unversehrt in seine Decke gewickelt dalag, hatte sich in ihren Traum geschlichen.

Natürlich hatte sie es nicht fallen lassen, dafür war das Balg viel zu wertvoll. Da fasste sie es lieber ein bisschen fester an und nahm ein paar blaue Flecken an den Ärmchen in Kauf.

Ihr Blick suchte die Uhr. Das Licht der Straßenlaterne vor dem Haus erhellte den Raum. Es war viertel nach drei in der Nacht, kein Wunder dass das kleine Mädchen heulte, es hatte Hunger, alle vier Stunden erwachte es und musste sein Fläschchen Milch bekommen. Das nervte kolossal. Es wurde Zeit, dass die Sache ein Ende nahm.

Ab morgen war Martinas tschechische Haushaltshilfe wieder da, die sich wie gewohnt um alles kümmern würde. Wegen einer Virusgrippe war sie ein paar Tage verhindert gewesen. Die Hölle für Martina, allein mit dem Balg zu sein, aber zum Glück die Ausnahme. Die fünfzigjährige Lena Petrowna machte sich sonst sehr verlässlich jeden Tag von Ostrov nach Annaberg auf den Weg. Sie war eine unbezahlbare Unterstützung, und vor allem stellte sie keine Fragen, sondern erledigte für vier Euro die Stunde, was man ihr auftrug.

Martina hob versuchsweise das Kind hoch und wiegte es ungeschickt und lieblos im Arm, damit es aufhören sollte herumzuheulen, was es nicht tat. Das Baby war hübsch, es interessierte sie nicht. Sie trug es in die Küche, wo sie das vorbereitete Fläschchen aus dem Kühlschrank nahm und in die Mikrowelle stellte. Mit der Pflege des Säuglings war sie völlig überfordert und hatte von der Tschechin lernen müssen.

»Ruhig jetzt, du Schreihals, gleich bekommst du deine Milch. Herrgott noch mal!«

Sie fühlte sich genervt. Dennoch testete sie die Temperatur der Flüssigkeit in der Flasche, indem sie ein Tröpfchen davon durch den Sauger drückte und auf die Haut an der Innenseite ihres Handgelenks fallen ließ. Diesen Tipp hatte sie ebenfalls von Lena bekommen. Aber ob es nun zu heiß war oder nicht, wusste sie trotzdem nicht. Diese Babyscheiße war unerträglich, also auch die in der Windel. Mehr als zweimal am Tag zu wechseln konnte keiner von ihr verlangen. Außerdem kostete das alles auch noch Geld. Na ja, vorübergehend.

Sobald der Silikonsauger die winzigen Lippen des Kindes berührte, fing es augenblicklich gierig an zu nuckeln. Die Tränen versiegten sofort und jeder Kummer schien vergessen. Die kleinen Ohren bewegten sich beim Trinken, so sehr strengte die Kleine ihre Kiefermuskeln an. Sie trank mit geschlossenen Augen und schlief nach einer Weile ein, Martina bemerkte es an dem regelmäßig ruhigen Atem des Babys und dem kleinen Rest Milch, der ihm aus dem Mundwinkelchen floss, weil es vor dem letzten Schluck eingeschlafen war.

Jetzt hätte sie das Kind an ihrer Schulter wiegen, ihm sanft auf den Rücken klopfen müssen, damit die überschüssige Luft aus dem Bäuchlein entwich. Auch das hatte Lena ihr beigebracht, aber die Geduld dafür brachte Martina nicht auf. Außerdem war es ihr schlichtweg egal, ob das Balg Bauchschmerzen bekam. Zum Glück war sie diese Aufgaben bald wieder los und ihre finanzielle Lage würde sich in Kürze deutlich besser darstellen.

In vier Stunden begann dieses dämliche Fütterungsritual von neuem. Sie stellte den Wecker auf sieben Uhr und hoffte, für den Rest der Nacht von weiteren Alpträumen verschont zu bleiben.

*

Conrad Cornelsen war zufrieden mit seinem Fang, obwohl er gar nicht auf Beutezug gewesen war. Die Gelegenheit hatte sich geboten, er konnte sie nicht verstreichen lassen. Manchmal musste man einfach zupacken, wenn etwas auf dem Silbertablett serviert wurde.

Mehrere Stunden lang saß er in einem Stau auf der Autobahn fest. Viel zu spät war er am Abladeort angekommen, die Werks­tore der kleinen Lampenfirma im thüringischen Leuna waren längst geschlossen gewesen. Einen Pförtner schien es nicht zu geben, und für Nachtschichten war die Bude zu klein, vermutete er. Er hatte versucht, seine Verspätung telefonisch anzukündigen, und die vage Auskunft erhalten:

»Die Jungs im Lager machen so lang, bis die fertig sind.«

Nun, augenscheinlich waren sie vor seiner Ankunft um kurz nach achtzehn Uhr fertig gewesen, denn das Firmenglände wirkte verwaist. Die wenigen Strahler der Nachtbeleuchtung warfen einsame Schatten.

»Dann morgen früh. Shit happens«, brummte er und zündete sich eine Zigarette an. Egal was er jetzt anstellte, es würde nichts bringen, also konnte er genauso gut entspannen.

Genüsslich rauchend sondierte er die Umgebung. Keine Überwachungskameras, stellte er fest. Ein Glücksfall.

Dann stieg er wieder in seinen Lkw und stattete dem nahe gelegenen Autohof einen Besuch ab, um dort zu duschen und zu essen.

Gegen Mitternacht kehrte er zurück und nahm sich das Büro der Lampenbude vor. Er erinnerte sich wieder an die schnippische Ansage einer der Bräute hier am Telefon:

»Die Jungs im Lager machen so lang, bis die fertig sind.«

Morgen werdet ihr Bürotussen wohl ein bisschen länger machen, dachte er. Ihr werdet alles schön von Hand schreiben müssen, denn die Laptops nehme ich jetzt mit.Die Telefone auch, und selbstredend die Kaffeekasse.

Später suchte er sich einen Parkplatz für den Lkw im nahe gelegenen Industriegebiet, zog die Gardinen des Fahrerhauses zu und legte sich schlafen. Er war zufrieden und schlief entspannt.

Amüsiert beobachtete er beim Abladen am nächsten Morgen, wie die Angestellten der Lampenfirma wie Ameisen durcheinanderwuselten.

Niemand kontrollierte seine Ladepapiere. Er erhielt den Stempel für die ordnungsgemäße Zustellung und hatte doch einen Teil seiner Ladung an Bord behalten. Zusammen mit der Kommunikationsausrüstung würde das einen netten Erlös bei seinen asiatischen Freunden auf dem grenznahen Markt bei Oberwiesenthal bringen.

Er wählte Martinas Nummer, um ihr mitzuteilen, dass er irgendwann in der Nacht aufkreuzen würde. Besser, er kündigte sich an, sonst würde sie ihm eines Tages eine Bratpfanne über den Schädel ziehen in der Annahme, er wäre ein Einbrecher. Genau genommen war er ja einer, aber eben nicht bei Martina. Die Frau war jedenfalls alles andere als zimperlich, sie würde sich ihrer Haut mit allen Mitteln zu wehren wissen, wenn es darauf ankäme. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich ans Telefon ging.

»Was willst du?«, blaffte sie. Augenscheinlich war sie nicht sonderlich entspannt.

»Vorbeikommen. Was fürs Lager bringen. Dich wiedersehen«, säuselte er. Das würde sie runterholen.

»Nett. Dann komm. Wann?«

»Irgendwann heute Nacht. Hab noch eine Rückladung, dann mach ich ein oder zwei Tage frei.«

»Gut.« Mehr sagte sie nicht. Eine Plaudertasche war sie noch nie gewesen, aber so kurz angebunden kannte er sie auch nicht. Da hörte er im Hintergrund etwas, was wie das Weinen eines Babys klang.

»Was ist denn das?«, fragte er.

Keine Antwort.

»Hast du Besuch?«

Ebenfalls keine Antwort. Stattdessen hörte er ein Klacken in der Verbindung. Martina hatte das Gespräch beendet und einfach ohne Abschiedswort aufgelegt.

Conrad erreichte Annaberg kurz vor Mitternacht.

In dem engen Sträßchen vor Martinas Haus in der Farbegasse konnte er den Lkw nicht abstellen. Er parkte auf dem Kätplatz, wie das Gelände an der Ernst-Roch-Straße von den Einheimischen genannt wurde, dort, wo jedes Jahr das größte Volksfest im ganzen Erzgebirge stattfand. Er mochte es ganz gern, sich dort an einer Schießbude oder in der Gespensterbahn zu amüsieren. Martina nervte es, sie hielt nicht viel von Vergnügungen, schon gar nicht, wenn sie Geld kosteten. Als er den Lkw abgestellt und seine Tasche geschultert hatte, machte er sich zu Fuß auf den Weg in die Innenstadt. Er peilte grob die Annenkirche an, von dort aus war es nicht weit in die Farbegasse. Morgen früh würde er sich Martinas »Hundefänger« leihen, einen alten, verbeulten Opel Combo, um einen Teil seiner Beute vom Auflieger zu holen und im »Lager« zu verstauen.

Der Diebesbunker war ein Glücksgriff gewesen, sie hatten den höhlenartigen Raum zufällig entdeckt, als sie Martinas Keller entrümpelten. Hinter einem Regal mit alten Einkochgläsern voller Kirschen und Himbeermarmelade, die noch von Martinas verstorbener Tante stammten, fanden sie eine vergammelte und von Spinnweben umhüllte Holztür, hinter der sich ein unterirdischer Gang verbarg. Er erinnerte sich noch an ihrer beider Verblüffung. Zögerlich waren sie ein paar Meter in den Tunnel vorgedrungen, dann wurde er so flach, dass sie hätten auf allen vieren weiterkriechen müssen. Conrad lehnte das ab, er litt von Kindesbeinen an unter Platzangst. Schon ein Zelt war ihm zu eng, ein Wunder eigentlich, dass er im Fahrerhaus des Lkw schlafen konnte. Da machte wohl die erhabene Höhe die Enge wieder wett. Martina hingegen steckte sich die Taschenlampe in den Ausschnitt und krabbelte weiter.

Als sie zurückkam, mit Schmutz beschmiert und von Spinnweben behängt, ließ ihr Grinsen weiße Zähne hervorleuchten.

»Der Wahnsinn«, behauptete sie, »ich musste gar nicht weit kriechen, gerade mal zwei oder drei Meter, da wird der Gang wieder höher und führt in einen größeren Raum, also eher eine Höhle. Krass, so groß wie mein Wohnzimmer, mindestens! Und von dort aus zweigen drei weitere Gänge ab. Wer weiß, wohin die führen!«

»Ein Tunnelsystem unter Annaberg?« Conrad wurde neugierig. Mehrfach war er schon im Gößner, einem Erzgebirgsmuseum mit Silberbergwerk auf der Großen Kirchgasse, gewesen. Das hatte die Begeisterung eines kleinen Jungen in ihm geweckt, am liebsten wäre er selbst auf Schatzsuche gegangen. »Hat sicher mit dem Silberbergbau zu tun«, mutmaßte er. »Ob noch jemand davon weiß?«

»Das müssen wir beobachten. Aber ein besseres Versteck für unsere Hehlerware kann ich mir nicht vorstellen!«, erwiderte Martina überschwänglich, und Conrad teilte ihre Begeisterung.

Von da an schleppten sie alles, was sie geklaut hatten, hinunter in die Höhle und holten es wieder herauf, wenn die Partner auf dem Asia-Markt an der Grenze Interesse bekundeten. Das war zwar umständlich, aber bombensicher. In den vergangenen zwei Jahren war ihnen nichts aufgefallen, was darauf hingedeutet hätte, dass sich noch andere Leute in den Tunneln herumtrieben. Die alten Gänge schienen vergessen worden zu sein, seit keiner mehr nach Silber suchte in der Stadt am Schreckenberg. Vielleicht waren es auch Geheimgänge zur Flucht gewesen? Anfangs erklärte Martina, das ganze System erkunden und kartografieren zu wollen, gab den Gedanken nach kurzer Zeit jedoch auf. Zu weitverzweigt waren die Verbindungen, teilweise aber auch verschüttet und unpassierbar.

»Ich will ja nicht lebendig begraben werden, wenn ich da unten wie ein Maulwurf rumkrieche«, meinte sie abschließend. »Es reicht ja, wenn wir unsere Höhle haben. Mehr muss nicht.«

Während er sich daran erinnerte, war er schnellen Schrittes durch die schlafende Stadt geeilt. Gern hätte er sich Zeit gelassen, die Straßen waren menschenleer, das liebte er. Aber zum Flanieren war es viel zu kalt im Annaberger Februar bei Nacht. Vom abgestellten Lkw aus war er über die Lindenstraße am Schutzteich vorbeigehetzt, ein Stück die Mariengasse entlang und dann in die Große Sommerleite. Atemlos erreichte er die Farbegasse.

Zu seiner Überraschung waren auch jetzt, nach Mitternacht, einige Fenster im Haus erleuchtet. Martina schlief gern und viel, das wusste er inzwischen. Meist ging sie schon gegen zweiundzwanzig Uhr ins Bett und wachte morgens nicht vor neun auf. Ob sie extra wegen ihm wach geblieben war? Undenkbar. Vielleicht hatte sie sogar etwas gekocht? Noch viel unwahrscheinlicher, aber man durfte die Hoffnung schließlich nicht aufgeben.

Als er das Haus betrat, war das Erste, was er hörte, Babygeschrei. Sofort erinnerte er sich an das unvermittelt unterbrochene Telefonat. Wenn er vieles auch nicht wusste, aber schwanger gewesen war Martina ganz sicher nicht!

In der Küche fand er seine sichtlich ermüdete Diebespartnerin damit beschäftigt, einem Säugling die Flasche zu verabreichen. Ihm war nicht klar, wie er reagieren sollte. Martina kam ihm zuvor, indem sie blaffte:

»Halt bloß die Klappe. Und keine Fragen.«

»Aber …«

»Schnauze!«

Unwillkürlich zog er den Kopf ein und fügte sich. Er stellte seine Tasche auf die Eckbank, die wie alle Möbel im Haus von der dahingeschiedenen Tante übernommen worden waren – Eiche rustikal und bunte Blümchen auf dem Bezug –, schob sich einen Stuhl in die Ecke und nahm Platz. Dann verhielt er sich absolut still und sog das seltsame Bild in sich auf: die gefühlskalte Martina und der Säugling. Sein Blick und auch sein Kopf waren voller Fragezeichen. Aber er würde sich hüten, irgendetwas zu sagen. Martina würde schon mit der Sprache herausrücken, wenn sie es für richtig hielt.

Er sah dabei zu, wie das Kleine das Fläschchen bis auf einen kleinen Rest leer trank und dabei augenscheinlich einschlief. Martina hielt es mit einem Mindestmaß an Zärtlichkeit im Arm und trug es dann aus dem Raum, wohl um es schlafen zu legen.

Als sie zurückkam, sah sie noch müder aus.

»Ich mach das nicht mehr lange«, beschwerte sie sich. »Lena kümmert sich hoffentlich bald wieder drum.«

Conrad kannte die tschechische Haushaltshilfe von gelegentlichen Begegnungen.

»Aber …«, setzte er ein zweites Mal an und fand nicht die richtigen Worte. »Ist das …« Weiter kam er nicht.

»Ein Balg. Frag jetzt, was du wissen willst, aber schnell. In zwei Minuten habe ich mit Sicherheit keine Lust mehr zu antworten.«

»Ist es deins?«

»Natürlich nicht!«, zischte sie. »Oder sah ich vielleicht schwanger aus?« Sie zog die Stirn in Falten.

Conrad wähnte sich auf gefährlichem Terrain. Besonders schlank war Martina jedenfalls nicht.

»Wem gehört es dann? Lena?«

»Quatsch. Weißt du, wie alt die ist? Die kann keine Kinder mehr kriegen.«

»Wem dann?«

»Irgendwie doch mir. Ich hab es gefunden.«

»Gefunden?« Conrad fragte sich, ob die Nacht schon so weit fortgeschritten war, dass er vielleicht träumte oder halluzinierte.

»Ja, gefunden. Lag auf einer Parkbank. Wäre erfroren, wenn ich es nicht mitgenommen hätte.«

»Du meinst, es ist ein Findelkind?«

»Genau.«