Herzneurosen - Mathilda Prall - E-Book

Herzneurosen E-Book

Mathilda Prall

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Beschreibung

Mini ist Anfang zwanzig und driftet durchs Leben. Ihr Körper und ihre Emotionen sind ihr ein Rätsel, die Beziehungen zu Philipp und Elena von Selbstzweifeln. Ständig hadert sie mit ihrer Wirkung auf andere, sucht online nach Diagnosen, die ihr doch keine Sicherheit geben. Minis tragische Familiengeschichte, ihre gescheiterten Beziehungen, ihre gefühlte Unterlegenheit, all das scheint in den Hintergrund zu rücken, als sie nach einem Fotoshooting Aktbilder von sich auf Instagram postet. Sie kommt gut an und wird das Gesicht einer nachhaltig-spirituellen Marke. Endlich hat Mini das Gefühl, ihren Platz gefunden zu haben – da begeht sie einen schwerwiegenden Fehler. In ihrem aufsehenerregenden Debüt verleiht Mathilda Prall einer jungen Frau eine hinreißend selbstironische Stimme und schildert mit viel Mitgefühl, wie anstrengend es sein kann, jung zu sein. Ein zeitgeistiger Roman über eine Protagonistin, die es bei allem Glamour, den sie erreicht, doch nicht schafft, mit sich ins Reine zu kommen.

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Seitenzahl: 404

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Inhalt

[Cover]

Titel

Teil 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Teil 2

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Teil 3

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Teil 4

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

Autor:innenporträt

Kurzbeschreibung

Impressum

Teil 1

1

Minis Körper kommt zur Ruhe. Ihr wird schwer. Ihr ist mehr kalt als warm und morgens wacht sie müder auf, als sie abends schlafen geht. Jeden Tag ein bisschen schlapper. Philipp sagt ihr, das sei normal, es liege daran, dass der ­Arbeitsmodus aus- und der Ruhemodus eingeschaltet werde vom Körper, und alle Ruhe, die in der Arbeitsphase gefehlt habe, werde jetzt nachträglich erlebt.

Aber diese Trägheit ist Mini fremd, sie kennt sich aufge­laden, hibbelig, mit zu viel Energie statt zu wenig. Und die Farben sind so anders geworden. Mini sitzt draußen auf dem Balkon, unter ihr der saubere Freiburger Gehweg, fast sauberer als in Hamburg und der krasseste Gegensatz zu den staubig-schmutzigen Pariser Straßen. Und jetzt die Sonne, stärker als sonst und trotzdem so blass, und würde sie nicht diese Hitze verbreiten, dann wäre sie kalt, ihrer Farbe nach wäre sie kalt. Das kann Mini nicht gut verarbeiten, es flimmert und bereitet Kopfschmerzen, aber wenn sie die Augen schließt, dann tanzen die rötlichen Lichter dahinter weiter.

Ist das normal? Sie fragt nach unten zu den Autos und Fahrrädern. Wie sie alles hinterfragt, was ihr Körper tut, und nie eine Antwort bekommt. Zumindest keine befriedigende, weil ihr Körper keine klaren Antworten gibt. Vielleicht ist sie krank. Oder wirklich krank, zum ersten Mal. Sie könnte jetzt nachschauen auf ihrem Handy, aber das sollte sie sich wohl abgewöhnen.

Sie googelt trotzdem: Kopfschmerzen, Sehstörungen, Hirntumore, Kreislaufprobleme, Migräne, Hirntumore, Hirntumore. Ein Schicksalsschlag, gestorben mit dreiundzwanzig, vielleicht vierundzwanzig, an einem Hirntumor – tragisch, schrecklich und ganz nach Minis Geschmack. Aber trotzdem fühlt sie sich zu jung zum Sterben.

Und als Paul sich mit gezuckertem Kaffee zu ihr setzt, tut sie gut gelaunt. Sie sagt »Morgen« – fröhlich und schläfrig, wie es sich gehört, und nimmt den größeren Kaffee, weil der für sie ist.

Paul sagt das Gleiche und dann sagen sie einen Moment nichts.

»Alles in Ordnung?«, fragt Mini und Paul sagt »na ja«, so als könnte noch etwas kommen. Ein paar Schlucke Kaffee, ein Zug an der Zigarette, ein bisschen Rauch in Minis Gesicht.

»Schon irgendwie. Aber mit Lola ist Schluss. Also richtig.«

Noch mal Kaffee. Noch mal Zigarette.

»Das haben wir jetzt so entschieden. Gestern. Sie kommt nicht drauf klar. Also auf eine Beziehung und so, das ist ihr alles zu viel, sie muss erst mal selbst die Kontrolle haben über sich und ihr Leben, nehm ich an.« Er hat feuchte ­Augen. Wie es halt so ist.

Mini kann mit solchen Situationen nicht umgehen. Selbst wenn sie mit Paul richtig befreundet wäre und nicht nur platonisch zu Besuch in seiner Wohnung, sie wüsste auch dann keine zufriedenstellende Antwort. Also tippt sie mit Zeige- und Mittelfinger an seine Schulter, es kommt nicht so, wie sie wollte – zu halbherzig –, und dann schaut sie ihn an, sagt »mhm …«, nickt wie wissend, obwohl innerlich total verständnislos, und denkt an das, was sie schon an Beziehungen durchlebt hat. Da gibt es eigentlich nichts Nennenswertes. Mini stellt sich vor, wie sie schwanger wird und kurz verzweifelt ist, sich dann aber trotz allem für das Kind entscheidet, weil sie es nicht über sich bringt, abzutreiben.

Paul hat seine Tränen unter Kontrolle. Seine Augen sehen wieder ganz trocken aus und er raucht die zweite Zigarette. »Hast du Pläne für heute?«

Mini überlegt. Sie sagt: »Nein, bis jetzt noch nicht, und du?«

»Oh, das Übliche, mich verlieben in die Frau meines Lebens – die nicht Lola ist –, sie heiraten, Kinder kriegen, ein Haus kaufen und beziehen, glücklich sein bis an mein Lebensende, so was in der Art.« Er lacht lauter als nötig.

Mini lacht auch, solidarisch. »Wir könnten uns auch einfach gegenseitig heiraten und Kinder kriegen, wenn dir das so wichtig ist«, sagt sie und schaut ihn sehr ernst an.

Er schneidet eine merkwürdige Grimasse: große Kuller­augen und geschürzte Lippen, gerunzelte Stirn, schaut wieder normal, sagt: »Ich kann es kaum erwarten, dir auf einem karibischen Strand einen Diamantring an den Finger zu stecken, bevor ich dir genüsslich meine Zunge in den Mund …«, dann fällt er über sie her und sie kugeln durch die Balkontür nach drinnen und wenn es nicht so absurd und spielerisch wäre, wie ein Kinderkampf unter Geschwistern, würde Mini jetzt anfangen, ihn zu küssen, und vielleicht Sex haben ohne Kondom. Und einen Monat später: Nanu, ich bin ja total überfällig und dann wäre sie schwanger. Vielleicht würde sie ihn dann irgendwann heiraten. Daran denkt sie kurz, dann hat sie seinen Fuß im Gesicht und danach seinen Ellenbogen und prustet und spuckt ihm in den Nacken.

Als Philipp ins Wohnzimmer kommt, stürzt er sich dazu und danach sitzen sie in der Sonne auf dem Balkon und trinken noch mehr Kaffee und Mini hat ein lustig-schwächliches Gefühl im Magen, weil sie Kaffee eigentlich gar nicht so gut verträgt.

Manchmal sagt Philipp Sachen über den Himmel und die Wolkenformationen oder über Blätter an Bäumen, durch die Licht hindurchscheint. Das tut Mini meistens als esoterisch und abgeklärt ab, trotzdem: Es gibt bestimmt einen Tag, an dem sie es niedlich fände. Heute wäre dieser Tag. Aber Phi­lipp hält den Mund. Er hat eine Hand auf Minis Oberschenkel, seltsamerweise kommt es ihr besitzergreifend vor und gleichzeitig angenehm und natürlich sagt sie nichts.

2

Mini denkt ein- oder zweimal am Tag an den Tod. Sie fängt an, daran zu denken, dass alle Menschen einmal sterben – auch sie –, und dann bekommt sie Kopfschmerzen. Sie bekommt Migräneanfälle. Es ist wie Hexerei.

Menschen sind jung und hübsch, am Anfang. Sie haben glatte, weiche Pfirsichhaut und machen Sport oder liegen in der Sonne. Sie werden braun auf ihrer noch immer ganz glatten Haut, manchmal bekommen sie Sonnenbrand, dann cremen sie sich gegenseitig die Schultern ein und geben sich Massagen, die wehtun, wegen der verbrannten Haut.

Sie lachen und trinken Bier oder rauchen Zigaretten. Sie haben Sex und Orgasmen und die schönste Zeit ihres Lebens und fangen vielleicht irgendwann an, nostalgisch auf ihre Kindheit zurückzublicken.

Dann werden sie alt und faltig und fett, sie machen keinen Sport mehr, haben ekelerregenden Sex oder überhaupt keinen und bekommen Krankheiten: Lungenkrebs vom Rauchen, gelbe Zähne, Diabetes und Lebertransplantationen. Sie gehen dreimal die Woche zur Dialyse und eines Tages liegen sie tot in ihren Betten oder auf dem Sofa oder im Krankenhaus und dann unter der Erde mit ein paar Blumen drauf. In fünfzig Jahren hinterlassen Nachfahren mit ihren Fett­fingern Abdrücke in Fotoalben und rätseln, wer, wie, wo und wann. Das Datum ist verloren gegangen. Damals, vor fünfzig Jahren, als die Welt noch ganz anders aussah.

Daran kann Mini denken, darüber hämmert es noch nicht in ihrem Kopf, es ist noch ganz ruhig. Schwierig wird es mit ihrem eigenen Tod.

Tod.

Sterben und tot sein.

Tot und begraben?

Und vorher wird sie alt und faltig werden, mit hängenden Brüsten und Krebs irgendwo im Körper.

Da kommen die Kopfschmerzen. Sie hämmern und rauschen und drücken und ziehen und übertönen, was es noch zu übertönen gibt an Gedanken. Es ist ein Gewitter, das über Mini hereinbricht, und ihr ist zum Heulen zumute. Ein- bis zweimal am Tag.

Deswegen hört sie dann auf, darüber nachzudenken, und wundert sich, wie andere Leute es schaffen, mit dem Wissen zu leben, dass sie einmal sterben werden. Das hat die Welt verrückt eingerichtet, es ist der reinste Terror, psychischer Terror und grundlos. Möglich, dass es diese höhere Macht gibt, von der Leute wie Philipp immer reden, eine Macht, die sich heimlich lustig macht über die armen Schlucker, die einmal sterben müssen.

Mini hat Philipp in Paris kennengelernt und dann Elena in Bordeaux und danach ist sie mit ihm und ohne sie weiter nach Freiburg.

Nach Paris ist sie im August gefahren. Von Hamburg nach Paris. Sie musste nur einmal umsteigen. Der Zug ab Mannheim war komplett überfüllt. Es standen so viele Leute in den Gängen, dass es nicht einmal möglich war, sich auf den Boden zu setzen. Mini tat es trotzdem. Sie drückte sich nach unten, Flüche von links und rechts ignorierend, bis sie am Boden angelangt war. Und dann hockte sie mehr, als dass sie saß, und um sie herum ragten Beine empor wie Bäume. Ich bin im Dschungel, sagte sie sich. Feucht-warmes Klima. ­Dicke Luft und eine riesige Geruchsvielfalt.

Neben ihr stand eine Frau um die fünfzig in Gesundheitssandalen und einer rosa-blau karierten Polyesterbluse. Sie hatte ein Buch in der Hand und ungefähr alle fünf Minuten schaute sie hinein, blätterte eine Seite weiter und hörte dann wieder den Gesprächen der anderen zu. Lauter blaue Krampfadern in den Kniekehlen und um die Knöchel. Mini fand, dass es zu den Sandalen passte. Sie dachte das, weil sie seit Neuestem diese Lust verspürte, gemein von anderen Menschen zu denken. Vielleicht hätte sie sich schlecht gefühlt deswegen, aber schlecht hatte sie sich in letzter Zeit sowieso oft gefühlt. Sie dachte, dass sie niemals, egal wie alt, so aus­sehen würde wie diese krampfädrige Frau. Sie dachte, dass sie sich immer unter Kontrolle haben würde, egal wie verrückt sie noch werden könnte.

Mini trug einen sehr kurzen und sehr engen Rock und wahrscheinlich konnten alle ihre Unterhose sehen. Aber das war pure Absicht. Es war Absicht, weil sie Beweise lieferte. Sich selbst und der ganzen Welt zeigte sie, wie egal es ihr war und wie gut ihre Unterhose saß, und vor allem: Sie fühlte sich hübscher als die anderen. Deswegen konnte es ihr egal sein. Gesundheitssandalen tragende alte Frauen sollten lieber keine engen kurzen Röcke tragen, dachte Mini und sie merkte, wie sie anfing, sich richtig zu ekeln vor der Frau. Niemals so werden. Niemals so werden. Nie, nie, nie.

Sie holte den Block mit ihren Notizen aus dem Rucksack und schrieb auf, dass sie niemals eine dicke Frau mit Krampfadern und Gesundheitssandalen werden würde. Nur um es ein für alle Mal festzuhalten. Wo Mini plötzlich ihren Hass auf die Menschheit hernahm, wusste sie nicht. Ein paar Wochen vorher wären ihr in Plastik gehüllte, schwitzige Mit­reisende höchstens unangenehm gewesen, jetzt entwickelte sie Aversionen gegen Menschen, die sie drei Sekunden zu Gesicht bekommen hatte, einfach so. Grundlos. An mittelalte Frauen in Polyesterblusen hätte Ex-Mini keinen zweiten Gedanken verschwendet.

In ihren Notizen hatte sie etwas von einer Findungsphase geschrieben. Sie musste Prioritäten setzen. Sie musste entscheiden, was ihr wichtig war im Leben und was sie als belanglos abtun konnte. Sie hatte sich entschieden, für Schönheit. Schönheit, sagte Mini sich, konnte mit Würde gleichgesetzt werden und Würde, das war ein Menschenrecht, das war essenziell.

Sie schaute wieder nach oben, an den Baumstammbeinen der anderen entlang, stellte sich vor, wie Blätter aus ihren Köpfen wuchsen, Vogelnester in den Haaren und Efeu um die Füße, und das war natürlich völlig absurd, aber Mini überließ sich dieser Vorstellung.

Das war einfach in ihr drin, sie konnte nichts dagegen tun. Diese starren steifen Gesichter mit den mürrischen Mündern, diese schwitzende Masse mit den feuchten Achseln, den haarigen Nasen und den Billigbrillen darauf, die man ­irgendwo im Drogeriemarkt an der Wand neben der Kasse aussuchen konnte, genau die passende Stärke. Eine zum Lesen und eine zum Fernsehen. Und eben deswegen eine unbändige Wut und die wahnsinnige Lust, einfach vor ihnen zu stehen, alle in einer Reihe aufgestellt und dann pamm, pamm, pamm, pamm. Nacheinander: Ohrfeige ins Gesicht, Nächste! Ohrfeige ins Gesicht, Nächster! Ohrfeige, pamm! Nächster! Pamm! Nächste! Pamm!

Immer weiter. Alles, weil Mini so wütend war. In Kaiserslautern begannen Menschen auszusteigen. Mini fand einen Platz am Fenster, der Sitz neben ihr war leer. Sie schickte Nina ein GIF. In irgendeiner amerikanischen Kleinstadt wurde irgendeine amerikanische Frau von einer Flutwelle erwischt und ein Stück die Straße heruntergespült.

Dazu schrieb sie:

Überall Schweiß!

Ich ertrinke

Es ist nicht meiner

Nina ein paar Minuten später:

nice

das ersetzt doch glatt die tägliche Dusche

was geeiioieeeeht

??

Mini:

Nada

Hab jetzt einen Platz immerhin

Nina schickte nur noch einen Daumen nach oben und Mini fühlte sich einsam.

Auf der anderen Seite des Gangs ihr gegenüber saß ein gebräunter, dünner Mann. Mini konnte sein Alter schwer einschätzen, weil alles jenseits der Mittzwanziger ihr alt vorkam. Er war jedenfalls jenseits der Mittzwanziger. Dreißig vielleicht. Oder doch noch Mittzwanziger, aber mit mehr Bart als nötig.

Mini hätte ihn gar nicht weiter beachtet, aber sie hatte das Gefühl, von ihm angestarrt zu werden. Und zwar immer dann, wenn sie wegschaute. Hinterhältig angestarrt werden. Das ginge höchstens von Leuten, die sie attraktiv fand. Er war nicht besonders attraktiv.

Er trug eine kurze dunkelgrüne Sporthose, an den Seiten atmungsaktiver Plastikstoff mit ausgestanzten Löchern. Und darunter ein hellgrüner Streifen. Sein T-Shirt sah waschbedürftig aus.

Sie beschloss, aus dem Fenster zu starren. Mini starrte. Sie beobachtete angestrengt Feld um Feld und Hügel um Hügel und selbst, als der Zug durch mehrere Tunnel raste und es nur so knallte in den Ohren, starrte sie weiter in das schwarze Fenster, in ihr eigenes Gesicht. Irgendwann wagte Mini vorsichtig einen Blick zur Seite. Er schaute auf ihre Oberschenkel.

Als er merkte, dass Mini ihn ansah, schien es ihm kein bisschen unangenehm. Er schaute einfach weiter. Dann nickte er zu Minis Notizen, die neben ihr auf dem Sitz lagen. Er sagte: »Bist du Schriftstellerin.« Aber das sagte er wirklich so, mit Punkt am Ende und ohne Fragezeichen, und seine Stimme war sehr rau.

Mini war perplex. Sie antwortete: »Nein, eigentlich nicht. Ich schreibe einfach oft Sachen auf, die mir so passieren.«

»Also bist du Schriftstellerin.« Er nickte wieder, für ihn war die Sache offensichtlich geklärt. »Hast du schon mal was veröffentlicht?«

»Nein?«

»Darf ich anschauen, was du so schreibst?« Während er das sagte, nahm er ihren Notizblock.

Mini zog scharf die Luft ein. »Sorry?!« Sie streckte abwehrend die Hand aus. »Das kannst du doch nicht einfach so nehmen, das ist echt privat.«

»Ah«, er sah unbeeindruckt aus, »okay.«

Er strich mit seinen dreckigen Fingern über den Block und legte ihn wieder auf den Sitz. Mini nahm ihn und steckte ihn in ihren Rucksack. Sie schaute so in sein Gesicht, dass er merken musste, was sie von ihm hielt. Mitleidig, angeekelt, verzeihend. Leicht gerümpfte Nase, traurige Augen, gerunzelte Stirn. Er schien es gar nicht wahrzunehmen.

Es war nicht mehr weit bis Paris, vielleicht noch zwanzig Minuten oder sogar weniger. Mini wollte die Augen zumachen. Der Typ war ihr unangenehm. Er hörte nicht auf, den Kopf nach ihr zu drehen, und seine eine Hand lag direkt an seinem Hosenstall. Mini wollte nicht genauer hinschauen. Er war zweimal hintereinander zum Klo gegangen und beide Male lange weggeblieben.

Dann hatte Mini selbst gemusst, und als sie wiedergekommen war, hatte er sie gefragt, wann genau sie in Paris ankommen würden. Es stand auf mehreren Bildschirmen im ganzen Zug. Mini hatte ihn einfach ignoriert. Als er sie noch einmal fragte, sagte sie: »Ich weiß es nicht, sorry«, und drehte ihren Kopf so weit zur Seite, dass sie Nackenschmerzen davon bekam.

Am Bahnhof in Paris merkte Mini, dass ihre Notizen weg waren.

Nach drei Versuchen hatte sie die PIN für ihr Handy richtig eingegeben. Sie fühlte den eigenen Puls in ihren Schläfen. Es pochte wie verrückt: erst nur die Schläfen, dann hinten im Nacken, es wanderte ihren Kiefer entlang und über die Arme in ihre Daumen. Dann hatte sie ein Gefühl, als würde ihr ganzer Körper pulsieren, wie bei Wunden, wenn sie ent­zündet sind und Blut hineingepumpt wird. Als wäre ihr ganzer Körper eine große entzündete Wunde, die mit Blut vollgepumpt wird.

Und einen Moment dachte sie scheiße, jetzt sterb ich. Dann fiel ihr ein, dass sie genau das jeden Tag mindestens einmal dachte, und meistens starb sie nicht, deswegen zwang sie sich, auf ihr endlich entsperrtes Handy zu blicken und WhatsApp zu öffnen. Sie schrieb an Nina:

hi

ich bin in paris … so ein verrückter hat meine notizen geklaut

ich dreh durch

fuck

Dann entschied sie sich für ein kotzendes Emoji und schickte es hinterher. Sie wollte noch verfickte scheiße schreiben, aber irgendwie kam sie sich pathetisch vor und löschte es wieder.

Als Mini von ihrem Handy aufblickte – ihre Kopfschmerzen hatten sich verflüchtigt und ihr war nur noch ein bisschen übel –, sah sie hinten vor dem Café de l’Est eine große Menschentraube. Fast bei den Versammelten angelangt, hörte sie einen Mann auf der anderen Straßenseite rufen: Putain! Les hippies sont arrivés! Und eine kleine dicke Frau schaute Mini besorgt an und flüsterte etwas auf Französisch. Dann schaute sie noch einmal sehr traurig, als sei die Welt sowieso nicht mehr zu retten, und ging schnell weiter.

Gerade redete ein kleiner drahtiger Mann vor der ganzen Versammlung. Er hatte fünf Dreads, die ihm bis zum Po reichten. Unten waren sie so dick verfilzt wie Minis Hand­gelenke, oben hatten sie höchstens noch den Umfang ihres Daumens. Möglicherweise um den Haarausfall zu verstecken, war drum herum ein hellblaues Tuch gewickelt, das seine halbe Stirn bedeckte. Er hatte eine Hand auf seine Brust gelegt, in der anderen hielt er die Leine von einem riesigen Irischen Wolfshund. Der Hund hatte ungefähr die gleiche Frisur wie sein Besitzer und lag halb schlafend vor seinen nackten Füßen.

Der Mann sagte: »Mes amis. I want to join my before speaker in her words. She is a beautiful person. Vous êtes des beaux peoples! All of you. We go this road together. We are all united. Thank you. And I wish death upon all those who still eat our friends. C’est un très grand malheur.«

Er klopfte anerkennend auf seinen Hund, als wäre der es gewesen, der gerade so eloquent gesprochen hatte, und trat zur Seite. Dann legte er einer Frau neben sich beide Hände auf die Schultern, schaute ihr ungefähr fünf Sekunden lang in die Augen, wobei sie sich kein bisschen bewegte. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr und schob sie nach vorne.

Die Frau räusperte sich und sagte zweimal »yes«. Sie ­redete über Tiere in Afrika, Hähnchen vor allem, und wie das ungenießbare Fleisch aus Europa dorthin verfrachtet wurde und dann da verkauft und es deswegen keine rentable afrikanische Fleischindustrie mehr gab, und sie sagte: »It’s horrible. It’s all because of those flesh-eating people that we must fight against!« Und dabei hatte sie Tränen in den Augen.

Sie tat Mini etwas leid, aber am schlimmsten waren eigentlich die Fotos, die sie danach zeigte. Lauter Ferkel inmitten von Kot, mit blutigen Füßen. Ihr war ja sowieso schon übel. Danach redete die Frau noch ein bisschen von der Macht der Liebe und dabei wurden noch mehr Fotos gezeigt, mit riesigen Hallen voller Hühner ohne Federn und mit wunden Stellen am ganzen aufgedunsenen Körper und Rinder mit blutüberströmter Stirn, einige baumelten in der Luft, aufgehängt an den Hinterbeinen.

Mini merkte, dass ihr ein paar Tränen die Wangen hinunterliefen. Ein Mädchen legte ihr den Arm um die Schultern und sagte: »I know, I know …«

Mini fühlte sich irgendwie schlecht, weil es anscheinend so wirkte, als würde sie zu der Gruppe dazugehören und ein guter Mensch sein: vegan, nicht mal Lederschuhe tragen und so weiter. Unrasierte Beine, kein Deo. Deswegen zwang sie sich, nicht mehr zu weinen, und nahm sich vor, in Zukunft keine Tiere mehr zu essen. Zumindest keine Hähnchen. Oder Schweine. Oder Rinder.

Als die Frau etwas von einer Organic Farm in Portugal erzählte, wo sie mit zehn Leuten in einem Zimmer schlief, spürte Mini eine Hand. Sie drehte sich um und sagte nach ­einer Weile der Schockstarre: »Ey! Fuck! Fass mich nicht an«, weil diese Hand sich irgendwo auf ihrem Rücken platziert hatte, und dann wollte sie ihm ins Gesicht spucken und seine Augen zerkratzen, aber sie bewegte sich nur vorsichtig ein Stückchen von ihm weg.

Er nahm einen Zipfel von seinem T-Shirt und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mini konnte seinen Bauch sehen. Braun, drahtig, dünn, mager.

Er sagte ganz langsam »okay« und schaute Mini an. »Ich weiß, dass du das jetzt gerade nicht hören willst, aber …«

»Was?!«

»Diese negativen Vibes, die du aussendest, ich spür das und ich weiß, dass es dich von innen heraus zerstört, das hab ich schon bei so vielen Menschen gesehen.« Sein Gesicht war unglaublich breit. Die Haut spannte sich über seinen Wangenknochen, alles an ihm stand hervor, Wangen, Kinn, Nase. Er sah traurig aus.

»Alter.« Mini sagte das, weil sie nicht genau wusste, was sie sonst sagen sollte. Dann sagte sie: »Meine Notizen sind weg.«

Er sagte »aha« und schaute sie weiter an. Mini merkte, dass sie Angst vor ihm hatte.

»Ich dachte, du hättest sie vielleicht? Keine Ahnung, du warst der Letzte, mit dem ich zu tun hatte, und ich hab meine Notizen immer … Also ich geb die nie aus der Hand, das ist mein Leben, ohne die bin ich tot, fuck, das ist echt wichtig!«

Er sagte »hhmmm …« und tat so, als würde es ihm die größte Mühe bereiten, den Blick von Mini loszureißen. Dann öffnete er seinen Rucksack.

»Sammelst du Tannenzapfen oder so?« Mini fragte das und machte dabei eine Bewegung mit ihrem Kinn Richtung Rucksack.

»Oh, ja, das ist ein Projekt.« Er wühlte in seinem Rucksack herum. Der Rucksack war komplett voll mit Tannenzapfen. Auf ein paar von ihnen meinte Mini, einen grünlich-pelzigen Schimmer sehen zu können. Der Rucksack stank.

Als er in dem Tannenzapfenfach offenbar nichts finden konnte, sagte er: »Nee. Sieht schlecht aus.« Als hätte Mini nach einem Taschentuch gefragt.

Dann hielt er einen Moment inne und schien angestrengt zu überlegen. »Ähm, ah … Warte kurz?« Er öffnete das Seitenfach seines Rucksacks und holte den Block mit Minis Notizen heraus. »Ja genau. Meinst du das?«

»Fuuuuck. Was geht denn bei dir?! Kann ich die jetzt wiederhaben, bitte?«

Er streckte ihr seine Hand mit dem Block entgegen, aber gerade als sie danach greifen wollte, zog er sie wieder weg und kriegte einen Lachanfall. Zwischendurch rief er »verarscht!« und »reingelegt!« und grunzte vor Lachen. Dann gab er ihr den Block und schaute sie an, mit vor Lachen verheulten Augen. »Okay, Mini. Ich will ehrlich sein. Du bist eine beeindruckende Person. Ich glaube, dich erwartet noch viel Großes in deinem Leben und du hast Zeit dafür – du bist noch sehr jung. Lass dir das von mir gesagt sein. Wollen wir zusammen Paris anschauen? Ich habe Lust, die Stadt durch deine Augen zu sehen. Und durch deine Ohren zu hören. Ich bin ein Romantiker.«

Mini dachte verdammt, o Gott. Sie sagte nichts und wartete, ob noch mehr käme.

»Mini. Ich heiße übrigens …« Er machte eine Pause, als ob er seinen Namen vergessen hätte. Dann rief er, wie erleichtert: »Leo!«

Eine neue Rednerin war gerade fertig geworden und um sie herum applaudierten Leute. Mini sah auf ihre Hände und fing dann auch mit Klatschen an. Leo stand nur da und schaute ihr zu.

Als der Applaus langsam verebbte, sagte Mini: »Kennst du dich denn aus in Paris? Bist du öfters hier?«

»Manchmal. Ich bin Weltenwandler. Aber jedes Mal, wenn ich in Städten unterwegs bin, spüre ich die negative Energie. Das sind Energieräuber, verstehst du? Von Paris sagt man ›Stadt der Liebe‹ und in Wirklichkeit ist es die ›Stadt der ­Autos‹ oder die ›Stadt des Konsums‹, wie alle anderen Städte auch eigentlich. Die sehen ja eh alle gleich aus.«

»Ja, schon«, sagte Mini.

Dann griff sie nach ihrem Gepäck und Leo setzte seinen stinkenden Rucksack auf.

3

Im Bett nimmt Mini ihr Handy. Sie öffnet WhatsApp, hat keine Nachricht, schaut durch ihren Instagram-Feed, schaut lange, lange die schönsten Gesichter an, wunderbare Haut, straffe Haut über knochigen Schultern, gebräunte Schultern, nackte Bäuche, liest empowernde captions von Frauen, die sich jetzt endlich lieben gelernt haben, und legt es wieder weg. Sie liegt auf dem Rücken und starrt an die Decke. Sie sagt Namen in ihrem Kopf. Sie sagt Philipp und versucht, Gefühle zu haben, aber es kommt nicht viel.

Sie sagt Franzi. Sie sagt Elena und überlegt. Dann nimmt sie wieder ihr Handy und schaut nach der Uhrzeit: 23:47 Uhr. Sie dreht sich auf die Seite und will nachdenken. Will wichtige Dinge in ihrem Kopf hin- und herbewegen, aber dann kommt ihr die Energie dazwischen und sie fühlt sich aufgeladen wie schon lange nicht mehr, sie könnte aufstehen und einen Marathon laufen, sofort: barfuß und in Unterhose.

Minis Gedanken fahren Kettenkarussell.

Mini hat Lust, jemanden anzurufen, jemandem zu schreiben, eine Stimme zu hören oder zu fühlen, nicht mehr allein im Bett zu liegen.

Sie hätte auch mit Nina über alles geredet, aber Nina ist wohl irgendwo in den Alpen. Sie ist wandern in den Alpen mit ihrem Karl oder Nico oder Aron, und die einzige Person, die sich jetzt für Mini interessiert, ist sie selbst. Deswegen spürt Mini auch alle zehn Minuten, wie eine heißkalte Welle des Selbstmitleids sie überrollt, und dann wird sie ganz panisch und greift nach ihrem Handy und schaut durch ihre öden-alten-bösen Chatverläufe, die sie da hat, und dann legt sie das Handy wieder weg. Und ist nicht gerade weniger verzweifelt, aber gesättigt von irgendetwas, das nur Chat­verläufe und ihr Handy ihr geben können.

Sie hat sich jetzt viel in ihrem Kopf ausgemalt, aber nichts fühlt sich richtig an.

Kinder mit Philipp, sagt Mini zu ihren Gedanken. Sie sagt: für immer und ewig mit Philipp leben, aber hat keine genaue Vorstellung davon. Also starrt sie weiter an die Decke.

Sie hört, wie jemand duscht. Muss Paul sein, Philipp ist ja auf irgendeiner Party.

Mini steht auf und geht zum Spiegel. Dann traut sie sich nicht, hineinzuschauen, weil sie weiß, dass es ihr danach schlechter gehen wird, denn es geht ihr immer schlecht, wenn sie in den Spiegel geschaut hat. Also geht sie zurück zum Bett.

Sie öffnet auf gut Glück einen Chat, tippt Hey und löscht es wieder. Sie tippt Hey :), macht einen Absatz und tippt alles klar bei dir?, an irgendwen schreibt sie und hätte fast die Sendetaste gedrückt, aber dann macht sie das Handy wieder aus, ohne vorher die Nachricht zu löschen.

Irgendwann gegen halb sechs am Morgen wacht sie auf und ist für einen Augenblick ganz orientierungslos, weil sie Ohropax trägt, gegen den Straßenlärm. Selbst ihre Augen scheinen nur noch gedämpft zu sehen und sie ist sich nicht sicher, ob sie geweckt worden ist oder von allein aufgewacht. Plötzlich fährt sie hoch und sitzt kerzengerade im Bett. ­Neben ihr kniet Philipp und schaut sie an.

Sie sagt: »Goooott«, und weil sie noch so schlaftrunken ist, sagt sie es so leise, dass es überhaupt nicht zu ihrem Schreck passt.

Philipp sagt: »Hier bist du«, und in seinem Atem kann Mini den Alkohol riechen und den Rauch und hätte der Rest seines Konsums einen Geruch, dann würde auch der ihr bitter in die Nase schießen.

»Wo sollte ich denn sonst sein?«, flüstert Mini und fasst sich an die Stirn, wie um zu zeigen, dass er sie geweckt hat und sie noch halb im Schlaf feststeckt.

»Ist jetzt irgendwie später geworden, aber ich wollte trotzdem hier schlafen.«

»Ähm. Cool.«

»Sorry, ich wollte dich nicht wecken, tut mir leid.«

»Ja, schon okay.« Mini steckt ihre Ohropax zurück in die Ohren und dreht sich demonstrativ auf die Seite, mit dem Rücken zu Philipp.

Der legt sich neben sie und eine Weile liegt er auch wirklich nur so da und atmet in ihren Nacken und hat einen Arm über ihren Bauch gelegt. Dann fängt er an, seine Unterhose auszuziehen. Mini nimmt einen Ohrstöpsel raus und sagt, so müde und deutlich wie möglich: »Du, ich will aber wirklich nur schlafen, ich bin voll müde.«

Ihre Augen brennen vom plötzlichen Aufmachen und es tut irgendwie weh, sie wieder zu schließen, aber Offenhalten ist viel zu anstrengend. Philipp sagt okay und hört auf, seine Unterhose auszuziehen. Er liegt noch ein bisschen still. Nach ein paar Minuten ist er nackt. Mini seufzt und zieht beide Ohrstöpsel aus den Ohren. Sie legt sich auf den Rücken und lässt ihn machen. Später wird sie wacher und fängt an, Spaß zu haben. Sie denkt noch einmal, etwas in die Richtung: Eigentlich war das nicht in Ordnung von ihm, und vergisst es wieder.

Philipp ist sehr dünn. Es kommt Mini komisch vor, fast so, als wäre sie schwerer als er, was eigentlich nicht einmal stimmt. Sie denkt daran, dass sie sich jetzt unwohl fühlen könnte. Und weil sie das gedacht hat, beginnt sie, sich unwohl zu fühlen. Philipp bemerkt nichts. Nach zwanzig Minuten sagt er: »Ich kann nicht mehr«, und hat einen Orgasmus und neben der Matratze liegt Klopapier. Damit wischt er auf und dreht sich von Mini weg, zum Schlafen. Die Si­tuation kommt Mini traurig vor, aber auch typisch. Ihr ist immer noch so vage unwohl, woran genau es liegt, kann sie nicht sagen, und außerdem, denkt sie sich, könnte sie ja in Zukunft zum Beispiel besser aufpassen, wer zwanzig Minuten lang seinen Penis in sie hineinsteckt, um so etwas gleich im Voraus zu verhindern.

Meistens fällt es ihr erst viel zu spät auf, dass sie eigentlich kein Interesse hat an den Menschen, mit denen sie schläft. Sie haben auch nicht ordentlich verhütet. Aber wahrscheinlich egal, seit Paris hatte sie keine Periode mehr.

Sie schaut auf Philipps Haare. Und sie beobachtet, wie er daliegt und atmet, leises Rasseln zwischendurch und kleine Schnaufer. In dem Moment kommt Mini sich mütterlich vor und verabscheut sich für dieses Gefühl. Es ist grenzenlos unsexy.

Sie ist müde, aber wach und kann nicht mehr schlafen. Also geht sie in die Küche und setzt sich an den Tisch. Mini hat zu viel überlegt in letzter Zeit und das weiß sie auch, aber es lässt sich schwer abstellen, deswegen raucht sie langsam eine Zigarette und atmet ein und pustet Rauch aus und fühlt sich wieder nächtlich dämmerig im Kopf, obwohl es schon ganz hell ist.

Was mache ich hier? Fragt sie, weil sie das jeden Morgen fragt, und sie weiß es genauso wenig wie sonst auch, aber Philipp ist ihr suspekt, ist er ihr schon von Anfang an gewesen und jetzt ist sie so weit weg von allen und allem und weiß eigentlich weder besser noch schlechter, wohin mit sich. Aber an Elena und Franzi hat sie gestern gedacht. Und an andere könnte sie denken. So kommt sie nicht voran, aber vorankommen tut sie ja auch sonst nicht.

4

Es war einmal, da verliebte Mini sich in Linda. Das war Schönheit. Und Eleganz. Anmut.

Wenn Linda den Mund aufmachte! Wenn sie Lippen öffnete und Töne herauskommen ließ! Keine Töne – Musik. Und dabei dachte Mini noch nicht einmal besonders sexuell an Linda. Eher sinnlich. Oder sinnlich-sexuell. Manchmal auch sexuell-sinnlich.

Zu der Zeit hatte es meistens Partys bei Lenn gegeben. Lenns Wohnung war die reinste Müllhalde. Sie waren einmal von ­einem Club zu ihm gegangen, das erste Mal, dass Mini dort ­gewesen war. Die Wohnung befand sich in einem Altbau, aber keinem sanierten, schicken Altbau mit knarzende-Dielen-Charme, das war ein richtiger Altbau. Ein alter Altbau. Und als sie die Treppe hochliefen, meinte Nina noch zu Mini: »Ach so, ja. Nicht wundern, wir sind ein bisschen messiehaft veranlagt.«

Das hatte sie gesagt und Mini erinnert sich noch ganz genau daran, weil sie »wir« gesagt hatte. Und das »wir« bedeutete so viel wie: »ich, Lenn, Lenns Mitbewohner«, oder auch, etwas klarer ausgedrückt: »Na ja, eigentlich wohne ich ja ­sozusagen bei Lenn, so sehr sind wir schon zusammen in ­unserer offenen, polyamoren, eigentlich ziemlich pathologischen Beziehung.« Messiehaft.

Ein Glück, dass die Wohnung Platz bot, um messiehafte Züge voll auszukosten. Das Bad war groß und hatte sowohl Badewanne als auch Dusche. Deswegen konnte in der Badewanne Flaschenpfand gesammelt werden. Und Müll. Und ein bisschen schmutzige Wäsche, die vom Haufen gefallen war. Der Wäschehaufen befand sich neben der Badewanne. Deswegen fiel Wäsche, die vom Haufen fiel, direkt in die Badewanne.

Dass sie in eine klebrige Bier-, Mate-, Wein-Mischung fiel, war nicht weiter schlimm, denn sie musste ja sowieso gewaschen werden. Irgendwann. Im Bad stand auch schmutziges Geschirr. Und ein Waffeleisen. »Das hat sich verirrt«, sagte Nina dazu und lachte laut.

An dem Abend nach der Party hatten sie in der Küche gesessen und geraucht und weil nichts Aschenbecherartiges im Umkreis von einem Meter zu finden war, klopften sie die Asche von den Zigaretten einfach auf den Küchentisch, neben die Packung Toastbrot, und was dann mit der Asche geschah, das wusste Mini nicht so genau, aber wahrscheinlich hatte sie sich verflüchtigt. Die Halbwertszeit von Asche auf Küchentischen ist ja generell nicht groß.

Es war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick. Lenns Wohnung, Pfand in der Badewanne, Asche auf dem Küchentisch, Linda. Linda, Linda. Es hatte direkt gefunkt zwischen Mini und Linda. Auf Minis Seite hatte es direkt gefunkt.

Ob es bei Linda direkt gefunkt hatte, war schwer zu sagen, weil Linda ein Modelgesicht und Modelattitüden hatte. Das bedeutet, dass sie ein Pokerface und Pokerattitüden hatte. Sie war unlesbar. Sie lächelte selten und war immer genau gleich atemberaubend. Und außerdem konnte sie es sich erlauben, durchgehend mürrisch zu sein. Nicht wirklich zickig, aber auf keinen Fall lächelnd und süß.

Mini war ja auch nicht gerade leicht zu durchschauen. Sie hatte gewisse Eigenarten und es kamen noch andere Geschichten hinzu. Angesichts der anderen Geschichten war es so gut wie unmöglich, Minis Verliebtheit zu erkennen.

Die anderen Geschichten handelten zum Beispiel von Marko und Dennis oder auch von Kalle. Mini mochte Kalle kein bisschen. Er war genau die Art Mensch, die sie langweilte. Und eigentlich hatte sie es eher als ein Experiment betrachtet, bei dem es vor allem darum ging, zu sehen, wie viele Menschen trotz ihrer offensichtlich mangelhaften Erscheinung mit ihr schlafen würden. Kalle war der Erste. Er hatte blonde Haare. Locken. Einen Bart. Er war wahrscheinlich Mitte zwanzig. Und er war Künstler.

Kunst machten überhaupt viele von Lenns Bekannten. Sie machten die verschiedensten unkonventionellen Dinge, mit denen sie Grenzen sprengten. Gesellschaftliche, moralische, kognitive – alle Arten von Grenzen sprengten sie.

Einmal hatte sich einer dazu entschieden, eine Performance in der Küche zu liefern. Er erklärte alles erst später im Krankenhaus, aber es ging um ein bestimmtes Konzept. Und außerdem war er drauf.

Die Performance begann mit einem Striptease zu deutscher Volksmusik. Ungefähr in der Mitte der zweiten Strophe von »Hoch auf dem gelben Wagen« war er nackt.

Dann nahm er sich dunkelroten Lippenstift und malte seinen Penis an. Bis er ganz dunkelrot war. Er drehte mit seinem dunkelroten Penis ein paar Runden durch die Küche und setzte sich schließlich auf die heiße Herdplatte. Stufe fünf von neun. Das war die Performance. Wahrscheinlich wäre er sitzen geblieben, aber ein paar der Nicht-Künstler-Freunde hatten ihn runtergezerrt und ins Krankenhaus gebracht.

Und dort gab er dann das Statement zu seiner Performance ab. Er sagte ungefähr hundertmal »Konzept«: »In dem Konzept geht es darum, dass die spießige, nazideutsche Volksmusik, vereint mit dem Patriarchat und der chauvinistischen Einstellung vieler Männer … Männer wie du und ich: unreflektierte Möchtegern-Macker, die doch eigentlich viel lieber Lippenstift tragen und tanzen würden … Dass wir trotzdem Teil dieses nazideutschen Patriarchats sind und uns prostituieren für Nazideutschland und unsere Nazigroß­eltern, deswegen das Konzept der Volksmusik. Und was auch wichtig ist, konzeptuell am wichtigsten eigentlich, ist das Ende: Wir prostituieren uns und sind ein Teil von allem, aber am Ende … Am Ende verbrennen wir uns den eigenen Arsch, weil wir immer so gemütlich-ungemütlich sitzen bleiben. Es ist schwer zu erklären. Echt, wenn ich’s erklären könnte, hätte ich ja auch ein Buch darüber geschrieben und mich nicht mit meinem weißen Hühnerarsch auf ne heiße Herdplatte gesetzt. Aber ich habe wirklich viel darüber nachgedacht in letzter Zeit. Und gerade heutzutage geht es ja darum, grenzüberschreitende Konzepte in die Tat umzusetzen.«

Das Video war danach auf seinem YouTube-Kanal zu sehen. Es hatte sogar relativ viele Klicks.

Kalle jedenfalls war Maler. Er malte vor allem sehr große Bilder, in den Farben Blau, Lila, Rot, Grau und Weiß. Mit diesen Farben malte er verschieden große Vierecke. Mal ­waren es Quadrate oder Rechtecke, Trapeze oder Parallelogramme. An dem einen Abend, kurz bevor Mini mit ihm schlief, ­redete er noch über seine Arbeit. Davon redete er sehr viel und Mini gab sich meistens Mühe, ihm zufriedenstellende Antworten zu liefern.

Er sagte ihr, ein wenig ängstlich: »Du, ich habe viel nachgedacht in letzter Zeit. Ich glaube – vielleicht bin ich jetzt an so einem Punkt in meinem Leben angelangt … Es hat sich ja viel verändert in letzter Zeit, ich kiffe weniger und arbeite sehr viel, so viel wie noch nie in meinem Leben eigentlich. Ich hab da eine Skizze gemacht gestern Abend …«

Er kramte in seinem Rucksack herum und holte ein zerfleddertes A5-Skizzenbuch heraus, in dem sich, das wusste Mini, hauptsächlich Vierecke und viele Notizen befanden. »Hier«, er zeigte auf eine Seite. Es war so dunkel, dass man höchstens ein paar verwischte Bleistiftflecken erkennen konnte. Kalle schrieb winzig klein in seinem Skizzenbuch. In Druckbuchstaben, nur große Buchstaben, keine kleinen, das war authentischer.

Mini nickte.

Kalle schaute sie lange an und er erwartete wahrscheinlich irgendeine Reaktion. »Und?«, fragte er. »Ich dachte, du würdest überraschter sein.«

Mini wusste nicht, was die zufriedenstellendste Antwort auf diese Äußerung wäre. Sie sagte also: »Magst du es erklären?«

Kalle beugte sich über sein Buch. Mini sah nur noch seinen Rücken. Durch das T-Shirt konnte sie die Bewegungen seiner Schulterblätter verfolgen, während er mit den Fingern irgendwelche in der Dunkelheit verschwindenden Linien entlangfuhr. Diese Schultern, breite muskulöse Männerschul­tern, und der Rücken darunter und die Arme, in die sie mündeten – alles das Gegenteil von Lindas Nacken, von ihren kurzen dunklen Haaren. Kalles Männlichkeit, sein Kreuz, sein Bart, seine Größe, seine Blondheit, all das kam Mini so auf- und eindringlich vor, so unpassend, dass sie regelrecht ein Ekel überkam.

»Hier, es wird ein sehr kleines Bild. Klein, weil die Größe im Kontrast zum Inhalt stehen soll. Es ist bestimmt das bedeutendste Bild, welches ich je gemalt habe«, er sagte »welches« und sagte es allen Ernstes und wahrscheinlich schrieb er es auch in Telegram-Nachrichten.

»Ich meine, ein ziemlich großer Schritt, wirklich ein Riesenschritt. Ich glaube, ich hätte nichts Krasseres machen können, um die anderen zu schocken. Ich mache es so vierzig mal vierzig Zentimeter. Aber schon auf Leinwand, denke ich. Hier, hast du gesehen, ich hab die Farben, die ich wahrscheinlich benutzen werde, schon an die Seite geschrieben. Da Rot, die eine Hälfte, dann ein leichter Übergang über Lila ins Blaue und hier: der größte, krasseste visuelle Knall schlechthin. Wie ein Faustschlag ins Gesicht! So doll. So doll. Ich werde so hart aufgeregt, wenn ich drüber nachdenke. Ein winzig kleines gelbes Dreieck. Gleichschenklig, zitronengelb. Perfektion! Mini, mein erstes Dreieck!« Er schüttelte sie an den Schultern und Mini, die nicht vorbereitet war auf ­diesen Ausbruch, zuckte zusammen. Kalle deutete das ­wahrscheinlich als empathische Aufregung. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich schon bereit bin für diesen Schritt. Aber, wie gesagt, ich hab jetzt länger darüber nachgedacht …«

Dann fing er an, Mini zu küssen. Vielleicht aus der Freude heraus. Und weil Mini den ganzen Abend nur mit Kalle ge­redet hatte – aber nicht freiwillig und eigentlich auch nicht sie mit ihm, sondern er mit ihr –, weil sie aber keine Lust mehr hatte, ihm weiter zuzuhören, war sie kurz auch ein bisschen froh. Wer küsste, konnte ja nicht mehr reden und Kalle küsste auch nicht direkt schlecht. Aber er hatte seine Zähne nicht ganz unter Kontrolle und nach einer Weile tat es weh.

Also initiierte Mini etwas anderes. Sie hatte eigentlich ­irgendwas mit den Händen geplant, weil sie nicht wirklich Lust hatte auf eindringlicheren Sex mit Kalle, aber Kalle schien schon Lust zu haben.

Als er sie halb ausgezogen hatte, übrigens auf Marks Bett (aber die Tür war zu), sagte er: »Gott, du bist so schön«, und zog sie ganz aus. Mini sagte noch »du auch«, weil sie es nicht besonders nett gefunden hätte, auf diesen bedeutungsvollen Satz nichts zu antworten, und »du auch« schien ihr eine ­vergleichsweise zufriedenstellende Antwort. Es war ja auch nicht total aus der Luft gegriffen, denn besonders schlecht sah Kalle nicht aus.

Er wusste auch sehr gut, was er tat, und deshalb war Mini schnell nackt und er auch und dann hatten sie schlechten Sex. Es tat nicht sehr doll weh, aber schon etwas, und zwar vor ­allem, weil der Sex genauso schnell ablief wie das Ausziehen und weil Kalle Mini so schön zu finden schien, dass er gar nicht an sich halten konnte. Er wirkte danach sehr zufrieden, und obwohl Mini sich irgendwie vor ihm ekelte und gerne geflohen wäre, legte sie sich neben ihn und er nahm sie in den Arm und dann lagen sie ein bisschen so in Marks Bett und irgendwann baute Kalle noch einen Joint und dann, als Mini sachte Rauch durch ihren halb geöffneten Mund gleiten ließ und ihr Kopf begann, sich aufzublasen und mit Watte zu füllen, war es auch schon wieder in Ordnung, irgendwie.

Mini hat sich schon oft gedacht: Ich will nie wieder Sex ­haben. Ich schlafe nie wieder mit Männern. Kein tierisches Gerammel mehr. Kein Herumgeschubse, kein Herumgestoße in meinen Innereien. Ungefähr so etwas hatte sie sehr oft gedacht. Und danach hatte sie sich manchmal im Spiegel betrachtet, das war ihre Angewohnheit, und sie hatte jede Pore einzeln angeschaut, ein paar aufgekratzt, dass sie bluteten, ihre Haut beschimpft – in Gedanken – und ihre Augenringe, hatte herumgezogen an ihren Oberschenkeln, vor dem Spiegel, einmal hatte sie sehr fest auf ihren linken Oberschenkel geschlagen, sodass es einen blauen Fleck gab und das beste Gefühl seit Langem.

Sie fragte Nina, wie der Sex mit Lenn sei.

Nina sagte: »Gut! Also, ich finde, man braucht oft so eine kleine Eingewöhnungsphase, dass man miteinander klarkommt, aber Lenn ist echt toll. Er achtet mega drauf, dass ich auch auf meine Kosten komme, und echt, ich glaube, es ist auf jeden Fall mittlerweile mit Abstand der beste Sex, den ich so hatte. Also, verglichen mit allem vorher.«

»Hm …«, sagte Mini. Und dachte nach. »Ich finde, mir macht Sex wenig Spaß. Ich mache es eigentlich vor allem, um zu merken, dass Typen trotzdem Lust haben, mit mir zu schlafen.«

»Aber das ist scheiße, Mini. Das kann doch echt traumatisch enden.« Nina nahm Minis Hand. Das machte sie bei ­allen Menschen, denen sie etwas Wichtiges zu sagen hatte. Nina hatte so gut wie keine körperlichen Hemmungen. Ihre Eltern waren so was wie Hippies. Sehr körperlich. Sie nahm also Minis Hand und schaute dann ganz ernst. »Du musst echt sicher sein, dass du Lust hast auf den Typen, mit dem du schläfst. Ehrlich. Okay? Und das soll auch Spaß machen und es ist meeega wichtig, gerade weil wir Frauen sind, dass wir auch Spaß am Sex haben. Weil Männer oft richtig egoistisch sind dabei. Und das müssen wir bekämpfen, indem wir richtig kommunikativ sind, weißt du?«

Mini sagte »okay« und glaubte nicht wirklich daran.

An Linda hat Mini lange nicht mehr gedacht und sie bekommt Lust, an Nina von früher zu denken und an Mini von früher, die ihr manchmal älter vorkommt als Mini von heute, weil sie so verschwommen vor ihren Augen steht. Sehr weit weg – kilometerdickes Glas – und vielleicht ein bisschen beschlagen auf der anderen Seite, sodass sie es nicht abwischen kann.

5

Mini sollte gar nicht in Freiburg sein. Sie fühlt sich merkwürdig. Die Leute reden komisch, die Wohnung ist zu schön, Philipp gibt ihr ein Gefühl, als würde sie sich permanent auf die Zunge beißen und jedes Mal schwören, in Zukunft besser aufzupassen, obwohl sie wie abgestumpft ist seit Paris. Wenn sie merkt, dass ihr nichts gelingt, und sie wegwill aus der Wohnung und von Philipp und Paul, geht sie in die Stadt­bibliothek und beobachtet die Leute.

Als sie jetzt in der Bücherei ankommt, fühlt sie sich fast wach. Sie setzt sich vor einen der Computer, den sie ausgeschaltet lässt, und legt ein Heft und einen Stift vor sich, aber sie schreibt nichts, höchstens einige belanglose Notizen, weil sie beschäftigt aussehen möchte. Schräg gegenüber sitzt eine alte Frau. Sie hat zwei große blaue Müllsäcke, aus denen Kissen und Decken herausquellen, unter ihren Tisch gestellt und trägt eine weiße Mütze mit braunen Flecken. Sie hat die Mütze so tief in die Stirn gezogen, dass sie fast ihre Augen bedeckt. Und dann eine dicke schwarze Hornbrille, übergroß, ihr Gesicht sieht dahinter klein und ein­gefallen aus. Ihre Hände hämmern wie wild geworden in die Computertastatur, es ist sehr laut, aber gleichzeitig fili­gran.

Seltsam, wie Mini Andacht überkommt. Sie stützt ihre ­Ellenbogen auf den Tisch vor sich, dreht in der rechten Hand ihren Stift, schaut herum.

Die alte Frau hämmert weiter und murmelt zwischendurch leise in sich hinein, aber was sie sagt, ist völlig unverständlich.

Ein mittelalter Mann in einer grauen Wolljacke setzt sich an den Computer neben Mini und als er den Bildschirm einschaltet, regt er sich über irgendetwas auf. Er sagt sehr laut »so ein Mist«, und weil niemand reagiert, noch mal: »Scheiße! Das kann doch nicht wahr sein«, und schaut sich um und drückt noch ein paarmal den Knopf unten am Bildschirm. Daneben liest ein Mann, der höchstens fünfundzwanzig ist, die FAZ.

Mini überlegt, ob sie dem Mann in der Wolljacke ihren Computerplatz anbieten soll, weil sie ihn ja sowieso nicht wirklich nutzt, aber dann findet sie ihn unsympathisch und entscheidet sich dagegen. Nach vier oder fünf Minuten stößt er einen lauten Seufzer aus: Ja, ich habe verstanden, dass sich an meinem Schicksal nichts ändern lässt, aber in Ordnung ist das alles trotzdem nicht und warum eigentlich immer ich und so weiter – und steht auf. Dann geht er auf die alte Frau zu, die immer noch tippt. Er schaut ihr direkt über die Schulter und sagt laut, aber mit einer Haltung, als würde er ihr ins Ohr flüstern: »Sie müssen mal einen Absatz machen.«

Die Frau hört auf zu tippen und schaut nicht von der Tastatur auf. Sie macht ein komisches Geräusch und tut Mini leid.

»Ich höre Sie die ganze Zeit tippen«, sagt der Mann, »Sie müssen doch auch mal einen Absatz machen.«

Die Frau sagt sehr leise etwas wie ah, jaja.

Der Mann: »Ich weiß ja nicht, was Sie schreiben, aber Sie können das wirklich schnell.«

Mini überlegt, ob er jetzt schon bereut, die Frau angesprochen zu haben. Und sie hofft, dass er sich schlecht fühlt.

»Waren Sie einmal Sekretärin? Das wirkt so professionell!«

Sie murmelt noch mal ihr ah, jaja und sitzt die ganze Zeit vornübergebeugt vor ihrem Computer. Finger und Augen auf der Tastatur.

Es ist alles sehr unangenehm.

Dann verabschiedet sich der Mann, räuspert sich, will schnell weggehen, sagt noch einmal, mit versöhnlich witzelndem Unterton: »Und nicht die Absätze vergessen!«

Er verzieht sich und es ist stiller als vorher. Die Frau fängt wieder an zu tippen.

Mini sucht sich einen Bildband über einen Freiburger Künstler, dessen Namen sie noch am gleichen Tag vergisst. Gegenüber scheint Sonne durch ein Fenster und direkt neben ihr auf den Tisch. Kleine Staubpartikel schweben in der Luft. Was für ein Arschloch. Es wäre natürlich möglich, noch mal hinterherzugehen, ihm irgendwas zu sagen, dass es nicht so cool war, wie er sich der Frau gegenüber verhalten hat. Aber wahrscheinlich hat er es auch selbst schon gemerkt und dann wäre es schon eher sinnvoll, noch etwas Nettes zu der alten Frau zu sagen. Die tippt schon wieder so panisch, als würde sie gerade an einem Schnelltippwettbewerb teilnehmen. Mini kann sich nicht konzentrieren, ihre Gedanken kommen und gehen, wie sie wollen, ohne dass sie einen Einfluss darauf hat.

Sie versucht jetzt nicht mehr, sich zusammenzureißen und an bestimmte Dinge zu denken. Sie lässt ihren Kopf machen. Irgendwer hat Mini mal etwas erzählt, wahrscheinlich Nina oder vielleicht Franzi, und zwar, dass es so ist wie eine Auszeit, also eine Regeneration, da macht der Kopf, was er will, und wenn man ihn nicht lässt, dann wird er immer müder und irgendwann klappt dann gar nichts mehr, so burnout-artig. Deswegen lieber machen lassen und akzeptieren, dass gerade kein Platz für Konzentration ist. War bestimmt Franzi mit ihrer ach so simplen Art. So unkompliziert, wie Mini auch erzogen wurde, wenn es überhaupt Erziehung ­genannt werden kann.

Einmal hat Mini in der S-Bahn mit dem Rücken zu zwei Jugendlichen gestanden. Der eine erklärte dem anderen, dass er kurzsichtig und ohne Brille fast blind sei. Um es zu beweisen, sagte er: »Warte …«, nahm seine Brille ab und sagte: »Von, äh …«, ging zwei Schritte zurück, »… hier sehe ich dich nur noch ganz verschwommen.« Dann setzte er die Brille zufrieden wieder auf, ging zurück an seinen alten Platz und schaute den anderen herausfordernd an. Das war in Hamburg gewesen und ist schon Jahre her mittlerweile.

Eine Station später stieg eine Frau ein und rief: »Oh, HEY