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Dietrich Faber

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Beschreibung

Wuthessen gegen Guthessen: Das gibt Tote! Exkommissar Henning Bröhmann ist mit Bekannten im Vogelsberg wandern, da erzählt ihm sein Vermieter Rüdi von seinem Engagement in der neuen Protestpartei «HESSEN ZUERST!». Seit Rüdi arbeitslos wurde, hat er sich große Ziele gesetzt: unter anderem ein Landtagsmandat. Nun macht er Wahlkampf mit Slogans wie «Kartoffelworscht statt Döner» oder «Make Oberhessen great again». Henning wird schnell klar, dass diese neue Protestpartei nicht allein auf Wahlplakate und Sonntagsreden setzt. Die haben irgendwas vor mit dem Flüchtlingsheim im Ort! Und tatsächlich fließt bald Blut. Doch je genauer Henning hinschaut, desto rätselhafter wird das Bild. Kleinkriminelle Asylbewerber hier, eine unappetitliche Bürgerwehr dort, bei der auch ein alter Bekannter mitmischt. Und mittendrin eine unermüdliche Guthessin, die die weltweite Flüchtlingskrise alleine meistern will, und Hennings Mutter, deren Witwensitz in Flammen steht, seitdem bei der Aqua-Gymnastik der Blitz der Liebe eingeschlagen hat. Ein so komischer wie ernstgemeinter Roman von Hessens Krimistar Dietrich Faber

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Dietrich Faber

HESSEN ZUERST!

Kriminalroman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Wuthessen gegen Guthessen: Das gibt Tote!

 

Exkommissar Henning Bröhmann ist mit Bekannten im Vogelsberg wandern, da erzählt ihm sein Vermieter Rüdi von seinem Engagement in der neuen Protestpartei «HESSEN ZUERST!». Seit Rüdi arbeitslos wurde, hat er sich große Ziele gesetzt: unter anderem ein Landtagsmandat. Nun macht er Wahlkampf mit Slogans wie «Kartoffelworscht statt Döner» oder «Make Oberhessen great again».

 

Henning wird schnell klar, dass diese neue Protestpartei nicht allein auf Wahlplakate und Sonntagsreden setzt. Die haben irgendwas vor mit dem Flüchtlingsheim im Ort! Und tatsächlich fließt bald Blut. Doch je genauer Henning hinschaut, desto rätselhafter wird das Bild. Kleinkriminelle Asylbewerber hier, eine unappetitliche Bürgerwehr dort, bei der auch ein alter Bekannter mitmischt. Und mittendrin eine unermüdliche Guthessin, die die weltweite Flüchtlingskrise alleine meistern will, und Hennings Mutter, deren Witwensitz in Flammen steht, seitdem bei der Aqua-Gymnastik der Blitz der Liebe eingeschlagen hat.

 

Ein so komischer wie ernstgemeinter Roman von Hessens Krimistar Dietrich Faber

Über Dietrich Faber

Dietrich Faber wurde 1969 geboren. Bekannt wurde er als ein Teil des mehrfach preisgekrönten Kabarett-Duos FaberhaftGuth.

Bereits sein erster Roman «Toter geht's nicht» schaffte es auf Anhieb auf die Bestsellerliste. Seine Lesungen und Buchshows zu seinen Romanen um den fröhlich weiterermittelnden Exkommissar Bröhmann wurden zu Bühnenereignissen. Der Autor lebt mit seiner Familie in der Mittelhessenmetropole Gießen.

Mein Name ist Henning Bröhmann, und ich war einmal Kriminalhauptkommissar.

Kein wirklich brillanter, noch nicht einmal ein guter, ich war, ach, sagen wir es doch, wie es ist, ich war ein wirklich schlechter Hauptkommissar.

Ich war weder talentiert noch motiviert, habe aber auch nie etwas anderes behauptet.

Als ich plötzlich zu meiner eigenen Überraschung begann, gut zu werden und tatsächlich Fälle zu lösen, als ich damit sogar meinem inzwischen verstorbenen Vater, dem Polizeipräsidenten a.D., Achtung abrang, war es Zeit, zu gehen.

 

Außerdem bin ich Ehemann und Vater von ein bisschen zu vielen Kindern – auch kein wirklich brillanter, aber ich gebe mir Mühe.

Ich lebe mitten in Deutschland, mitten in Hessen, in einem mittelmäßigen Mittelgebirge namens Vogelsberg. Da passe ich hin, und da will ich auch nie wieder weg.

Ich will einfach nur meine Ruhe. Nicht mehr, nicht weniger.

 

Ich will keine Morde in meiner nahen Umgebung, und vor allem will ich bitte selber nicht wieder in Lebensgefahr geraten.

Ich will einfach auf dem Sofa liegen und Serien glotzen.

Ich will nicht von rechtsradikalen Wutbürgern überfallen und auch bitte nicht in Krankenhäuser eingeliefert werden.

Ich will schlicht faul rumsitzen, Kaffee trinken und meinen Kindern dabei zusehen, wie sie groß werden.

Ich will keinen Kleinkrieg mit meinem Nachbarn und Vermieter, ich will Friede, Freude, Eierkuchen.

Und ich will vor allem nicht, dass ein guter alter Bekannter sterben muss.

Nein, das will ich nicht.

Ist das denn zu viel verlangt?

 

Offenbar schon. Denn sonst bräuchte ich die folgende Geschichte nicht zu erzählen.

Kapitel 1

•••

Als vor ein paar Minuten Rüdi und Gisa ihren dickärschigen SUV zu packen begannen, um mit meiner Frau und mir in aller Herrgottsfrühe zum Ausgangspunkt unserer Wanderung nach Herbstein aufzubrechen, war ich mir momentan nicht ganz sicher, ob uns statt einer Zweitagestour durch den Vogelsberg nicht eher eine viermonatige Expedition durch das Himalaya-Gebirge bevorstand. Vierzehn verschiedene Paar Schuhe, von Sandalen über Trekkingschuhe bis zu Hochgebirgsstiefeln, Notzelt – man weiß ja nie –, zwei Gaskocher, Einweg-Grill, Erste-Hilfe-Koffer und die unterschiedlichsten Regenschutzutensilien für Rucksack, Zelt und Mensch wurden gewissenhaft und in aller Ernsthaftigkeit verstaut.

«Rüdi, du hast den Eispickel vergessen», rufe ich ihm zu und stopfe meinen zeitlosen Daypack-Rucksack ins Auto, den es in den neunziger Jahren mal billig bei Aldi gab und der schon zähe Sonntagswanderungen mit meinem Vater durch den Spessart überlebt hat.

«Nee, den brauchen wir heute nicht», entgegnet Rüdi. «Wir haben nur 482 Höhenmeter zu absolvieren, dafür braucht man keinen Eispickel.»

«War ein Witz, Rüdi.»

Rüdi verzieht keine Miene.

«Beim Wandern versteht der keinen Spaß», flüstert Gisa mir daraufhin zu.

Sie muss es wissen, sie ist seit fünfzehn Jahren mit ihm verheiratet.

«Eigentlich versteht er bei gar nix Spaß», ergänzt sie tonlos.

Auch damit hat sie recht.

Meine Mutter wird übrigens gleich mit von der Wanderpartie sein, was die Sache nicht besser macht, aber auch nicht viel schlechter. Als ich ihr vor drei Wochen von unseren Plänen erzählte, druckste sie herum, wie gut ihr so etwas tun würde, gerade jetzt in dieser Zeit, wo sie sich so, sie mag das Wort depressiv nicht, aber wo sie sich eben so niedergeschlagen fühle, da würde ihr so etwas sehr guttun, doch bei so etwas, lamentierte sie, wolle man ja als Sohn seine Mutter nicht dabeihaben.

Kurzum: Ich habe sie eingeladen mitzuwandern.

 

An und für sich ist die Wanderung ein Geschenk. Ein Geschenk von Rüdi und Gisa an meine Frau, zu ihrem Geburtstag. Eine Zweitageswanderung im Vogelsberg mit freundlicher Übernahme des Abendessens. Wochenlang gaben Franziska und ich uns alle Mühe, leider kein freies Wochenende zu haben, doch irgendwann konnten wir Rüdis Drängen nicht mehr standhalten, und so wurde dann ebendieses Wochenende vereinbart. Um nicht vollends und ganze zwei Tage lang Rüdi und Gisa allein ausgeliefert zu sein, kam Franziska die Idee, weitere interessierte Wandersleute einzuladen. Das würde dann alles etwas auflockern. Hofften wir.

 

Ja, ich hätte es anders haben können, hätte ich doch damals, vor ein paar Monaten, auf meinen Instinkt gehört. Hätte ich ihm doch nur vertraut, diesem berühmten unbestimmten Gefühl. Wäre ich nur nicht darüber hinweggegangen, dann säße ich jetzt nicht hier, in diesem Auto, neben Rüdi, der ja auch andere Seiten hat, natürlich ja, aber die haben ja immer alle, andere Seiten.

Es reicht, dass Rüdi diese eine Seite hier hat, und dass diese Seite seit geraumer Zeit so unangenehm durchbricht, ist alles andere als schön. Denn Rüdi, der selbstverständlich eigentlich Rüdiger heißt, ist nicht einfach irgendein rüder Rüdi, den man nach der Wanderung wieder los wäre, nein, Rüdi ist seit ein paar Monaten unser Vermieter und Nachbar. Gemeinsam mit besagter Gisa, die auf der Rückbank meiner Frau irgendetwas von Blasenpflastern und Thermounterwäsche erzählt und dass sie eigentlich noch nie gerne gewandert sei.

 

Franziska und Gisa kennen sich schon lange, bereits aus der Zeit, als beide in Nidda Lehrerinnen waren. Unsere Kinder sind im gleichen Alter, dann muss das doch funktionieren.

Das Haus ist zudem wunderbar gelegen, nahe dem Obermooser Teich im östlichen Vogelsberg, und die Wohnung ist für uns bezahlbar.

Da versuchte man natürlich darüber hinwegzusehen, dass das erste Gefühl, der erste Eindruck, nicht gleich für Entzücken gesorgt hat.

Wie sagt mein, na ja, nicht unbedingt Freund, aber doch irgendwie Bekannter Manni Kreutzer immer: «Das Leben hat immer zwei Kehrseiten von der ein oder anderen Medaille.»

Manni gehört ebenfalls zu unserer Wandergruppe, gemeinsam mit Jutta «Hessi» Hesswig, seiner Lebensgefährtin und «Managerin». Manni wird mit großer Sicherheit später Gisas Blasenpflaster in Anspruch nehmen. Er hat nämlich angekündigt, wie es sich für einen inzwischen hessenweit bekannten Countrysänger gehört, die Zwanzig-Kilometer-Tagesetappen durchgängig in Cowboystiefeln absolvieren zu wollen.

«Meinste, der Old Surehand ist mit Wanderletten durch die Prärie gestiefelt, wenn der von A nach C musste?», so Manni.

Manni Kreutzer ist eine ehrliche Haut und nicht dumm, aber ich fürchte doch, er hält Old Surehand für eine reale historische Person.

 

Rüdi stellt seinen Wagen an unserem Startpunkt ab, dem Parkplatz des Bergrasthauses auf der Herchenhainer Höhe. Er steigt aus, blickt sich um und murmelt: «Logisch, noch keiner da.»

«Ich hab gleich gesagt, dass 6.30 Uhr zu früh ist», keift Gisa.

Auch ich finde diese Treffpunktszeit recht gewagt, sage aber nichts.

Nun kramt Rüdi sein highendiges GPS-Gerät heraus, von dem er seit Wochen spricht, und lässt sich damit wie von einer Wünschelrute geleitet über den Parkplatz ziehen.

«Was machst du denn da?», fragt Franziska.

«Der Einstieg ist immer das Schwerste», antwortet Rüdi.

Franziska und ich schauen uns fragend an.

Rüdi flucht. Mit irgendetwas scheint er nicht zufrieden sein.

«Wenn du den Einstieg suchst», rufe ich ihm zu, «dann wäre das der hier.»

Ich deute auf ein riesiges Brett mit diversen Wanderschildern direkt neben unserem Auto.

«Nee, kann nicht sein», ruft Rüdi zurück. «Kann nicht sein.»

Er steht am anderen Ende und starrt auf sein GPS-Dings. «Kann nicht sein.»

«Doch, hier ist doch eindeutig das Vulkanring-Zeichen, oder nicht?»

«Kann nicht sein.»

«Ich hab doch gleich gesagt, nimm die Wanderkarte», giftet Gisa.

«Wanderkarte, Wanderkarte», schimpft Rüdi, kehrt zu uns zurück und begutachtet die Wanderschilder. «Kann nicht sein», murmelt er ein weiteres Mal. «Ich hab das Ding doch gestern noch geupdatet. Upgedatet. Geupgedatet.»

 

Nach und nach trudelt der Rest unserer Wandergruppe ein, und es kann losgehen.

Die ersten zwei Stunden im Wald verlaufen harmonisch und friedlich, ganz im Einklang mit der Natur. Ich laufe eine geraume Weile im schnellen Tempo der Gruppe voraus und genieße die Ruhe, doch irgendwann taucht plötzlich Rüdi neben mir auf und orientiert mich über seine politische Meinung. Sehr ausführlich. Seine persönliche Meinung, wie er stets betont. Welche auch sonst?, frage ich mich. Seine unpersönliche? Und dass er dies ja wohl mal sagen dürfe, dass dies ja wohl noch erlaubt sei, schließlich hätten wir ja Meinungsfreiheit. Richtig, und ich hätte eigentlich die Freiheit, mir den Quark nicht anhören zu müssen. Eigentlich. Doch ich fühle mich auf diesem schmalen Wanderweg alles andere als frei. Ich komme hier so schlecht weg. So sage ich ihm zwischendurch immer wieder, dass ich sie so gar nicht teile, seine Meinung. Ich hätte eine ganz andere, und zwar ebenfalls eine persönliche. Und, vielmehr noch, ich fände seine Meinung richtig beschissen. Und das werde man ja wohl auch dürfen, sage ich, die beschissene Meinung des anderen persönlich beschissen zu finden. Dies gehöre auch zur Meinungsfreiheit. Rüdi lächelt überlegen.

Ich blicke nach hinten, keine Rettung in Form von anderen Mitwandernden. Zu weit sind sie weg, zu schnell sind wir im Eifer des Meinungsgefechts nach vorne geprescht.

«Ich war immer eher ein Sozi, Henning, bin es eigentlich noch immer, der kleine Mann liegt mir am Herzen, aber alles hat eben seine Grenzen. Und diese ollen Altparteien-Fuzzies, die richten inzwischen doch alles zugrunde», mosert Rüdi weiter ungebremst herum. Die Idee des Liberalismus sei schlicht und ergreifend gescheitert und «Mutti Merkel» drauf und dran, Deutschland zu zerstören.

«Mensch, Rüdi, schalt doch mal ’nen Gang runter.»

«Nein, isso, isso. Henning, man kann die Augen nicht mehr vor der Realität verschließen. Isso. Hab ich auch viel zu lange gemacht. Weil man halt sofort in ’ne bestimmte Ecke gedrängt wird, wenn man mal den Finger in die Wunde legt. Man muss einfach endlich die Wahrheit sagen dürfen. Die Leute lassen sich nicht länger mehr verarschen. Es muss sich dringend was ändern.» Pause. «Und zwar grundlegend.»

Rüdiger Buttig ist fünf Jahre älter als ich, 51, und man sieht ihm das wirklich nicht an. 50 ist das neue 28, wie er immer zu scherzen pflegt. Rüdi ist groß gewachsen, sportliche Figur mit nur leichtem Bauchansatz und vollem, dezent angegrautem Haar.

Bis vor sechs Wochen hat Rüdi noch als Redakteur bei einer Frankfurter Tageszeitung gearbeitet. Dann kündigte er und betätigt sich nun als «Freelancer» im «Homeoffice», wie er sagt – in seinem Fall allerdings aus meiner Sicht deutlich mehr «Home» als «Office».

Was er da genau macht, weiß ich nicht. Aber man soll nicht mit Glas ins Steinhaus werfen, wie wiederum Manni Kreutzer sagen würde. Ich bin ja seit meiner Kündigung als Hauptkommissar vor viereinhalb Jahren ebenfalls recht häufig zu Hause. Eigentlich fast immer.

Rüdi ist inzwischen beim Thema Islam angelangt. Hat erstaunlich lange gedauert. «Wollen wir nicht mal auf die anderen warten?», frage ich mitten in seinen Monolog und verlangsame deutlich das Gehtempo. Doch Rudi ignoriert meine Frage.

«Ich jedenfalls kann verstehen, dass viele Leute hier bei uns im Land die Schnauze gehörig voll haben.»

«Rüdi, sorry, aber ich habe einfach jetzt keine Lust mehr, weiter darüber … guck doch mal, wie schön da die Natur ist, die Bäume und äh …»

Nun bleibt Rüdi stehen und greift nach meinem Arm. «Klar, Henning, hast recht, ich hab ja nicht diese tolle Wanderung für uns alle geplant, um die ganze Zeit über Politik zu reden, was?»

«Genau», murmle ich, stelle meinen Rucksack zu meinen Füßen und greife nach meiner Wasserflasche.

«Ist toll die Route, ne?», fragt Rüdi.

Ich nicke und trinke, was ich besser nacheinander getan hätte, und wische mir anschließend das Wasser vom Kinn.

«Toll, oder?», fragt er dann wieder. Selbst, wenn er so etwas Harmloses sagt, schwingt in seiner Stimme ein Hauch von nervöser Angespanntheit und Aggression mit.

«Ja, ist wirklich schön.»

«Danke, aber ich mach das auch gern für euch.»

Rettung naht, Franziska taucht mit Gisa im Blickfeld auf.

«Und, Franzi», brüllt ihr Rüdi zu, «hab ich zu viel versprochen?»

Franziska ruft irgendwas Unverständliches zurück.

«Ich wusste, dass es dir gefällt, das wusste ich einfach. Kenne doch meine Franzi.»

Nun stoßen auch Manni Kreutzer und Jutta «Hessi» Hesswig zu uns. Hessi trägt den Rucksack für beide, da Manni seine Wandermandoline auf den Rücken schnallen musste. Sie schwitzt dementsprechend rotgesichtig.

«So ’ne Natur, also, muss ich sagen», ruft uns Manni zu, «die hat wirklich was an und für sich, die hat so was … Natürliches …»

«Gell?», sagt der Rüdi, «das ist schon ’ne tolle Tour, oder?»

Dann beißt ein paar Meter weiter südlich ein Mann meiner Mutter in den Hals. Es ist Johann. Johann, von dem ich bis gestern nichts wusste. Und an dessen Existenz als Mama-Lover ich mich auch erst noch gewöhnen muss.

«Ach, Johännchen», piepst meine Mutter giggelnd wie eine Fünfzehnjährige und pikst ihm neckisch in die Seite. «Du alter Wüstling.»

Hessi lässt sich ächzend auf einen umgekippten Baumstamm plumpsen, kramt wütend in ihrem Rucksack und zischt: «Mann, Manni, du hast ja die ganzen Pfefferbeißer gegessen, ach, Mann!»

«Ei, stimmt doch gar net», protestiert Manni. «Ich hatt’ nur zwo, die annern beiden hab ich den Hunden gegebbe, die wo uns entgegengekomme sind. Immer diese Anverschuldigunge, die so mir nichts, dir nichts aus der Luft gegriffe wer’n.»

Die Stimmung zwischen den beiden war auch schon mal besser.

Inzwischen hat sich jeder ein Plätzchen erobert und lässt sich von Mutter Natur den Popo anfeuchten.

«Wo ist denn Heinz?», fragt Gisa. Eine Frage, die schon häufiger in den letzten Stunden gestellt wurde.

«Der hat ’ne spannende Pflanze gefunden und fotografiert die jetzt», antwortet Johann, während er allen Ernstes meine Mutter auf seinem Schoß Platz nehmen lässt. Mein Vater ist vor drei Jahren gestorben; er hätte sicher meiner Mutter noch ein neues kleines Liebesglück gegönnt, doch bei diesem Anblick würde er sich vielleicht noch nicht komplett im Grabe umdrehen, aber unruhig die Seite wechseln, das würde er wohl schon.

«Der geht mir uff die Bannatzel mit seinem ewigen Rumfotografiern», brummt Manni. «Als und als muss man uff den warte. Und wenn er gleich ankommt, dann muss man sich die blöden Blumme auch noch uff seiner Kamera angugge.»

Heinz ist Biologielehrer aus Leidenschaft, erfreut sich immer wieder neu an dem Erblühen der Natur, hält dies gerne in aller Ausführlichkeit digital fest und lässt nun, da am Wochenende nun mal keine Schüler greifbar sind, vertretungsweise uns an seinem reichhaltigen Wissen teilhaben. Er ist der Einzige aus dieser Runde, den ich vorher noch nicht kannte. Gisa hat ihn eingeladen. Ein Lehrerkollege.

«Guck mal», haut mich nun Rüdi von der Seite an und hält mir sein GPS-Gerät vor die Nase, «4,3 km von hier gibt es ’ne Aral-Tankstelle.»

«Aha», mache ich. «Willst du da hin?»

«Nein.»

«Ich geh mal nach Heinz gucken», kündige ich daraufhin an. Ich ernte keine Reaktion, laufe zügig in die Richtung, aus der wir gekommen sind, und genieße für ein paar Minuten die Stille. Erschreckend spät und fast einen Kilometer entfernt finde ich Heinz ehrfurchtsvoll in einem dichten Gebüsch sitzen.

«Psssst», macht er, als würde diese Blume da vor seiner Kameralinse scheu zur Seite springen, wenn ich zu sprechen anfinge.

«Heinz», flüstere ich, «die anderen warten auf dich.»

«Das ist eine Kugelranunkel. Die findet man selten in unseren Gefilden.»

«Hmm», mache ich und gucke so interessiert wie möglich.

«Hast du vorhin die Draht-Segge gesehen?», fragt er dann.

«Ja, klar», lüge ich und erinnere mich daran, wie ich für den Biologieunterricht einmal die «Gemeine Schafgarbe» aus der Erde reißen, eine Woche im Brockhaus meines Vaters pressen, dann auf ein Blatt Papier kleben und anschließend «bestimmen» und beschreiben musste. Es gab nicht allzu viel anderes, das mich zu Schulzeiten noch weniger interessiert hat als plattgepresste Gemeine Schafgarben. Immerhin aber habe ich mir den Namen bis heute gemerkt und kann somit mit meinem Achtelwissen auftrumpfen. «Schau mal, Sohn», könnte ich Laurin einmal zurufen, «schau mal, wie schön, eine Gemeine Schafgarbe.»

«Papa, was du alles weißt», würde er dann bewundernd antworten.

Johann fixiert noch immer das selten vorkommende, in unseren Gefilden blühende Dings. «Ihr rennt da doch immer einfach vorbei. Habt kein Auge dafür.»

Warum nur fühle ich mich in Anwesenheit von Lehrern so häufig wie ein Achtklässler?

«Heinz, wir müssten dann mal. Wie gesagt, die anderen warten schon …», versuche ich es ein weiteres Mal.

«Pssst», unterbricht er mich. «Gleich ist das Licht so schön, dann wirkt die Kugelige Teufelskralle ganz anders.»

Irgendwann hat er aber doch alle nötigen Fotos gemacht und klettert mit mir gemeinsam aus dem Gebüsch. «Wo sind denn die anderen?», fragt er. «Sind die vor oder hinter uns?»

Oberstudiendirektor Heinz, der noch zwei Jahre bis zur Pensionierung zu absolvieren hat, trägt ein kariertes Funktions-Wanderhemd und dazu Cordhose. Viel fehlt da nicht mehr zur guten alten Kniebundhose. Sein Rucksack ist aus Leder, ein Erbstück seines Vaters, wie er mir bewegt erzählt hat.

«Und Sie … äh, Herr Bröhm… Henning», mit dem Duzen tut er sich spürbar schwer, «du hast tatsächlich freiwillig auf deinen Beamtenstatus verzichtet?»

Ich nicke.

«Soso …», folgt darauf und dann eine Weile erst mal nichts. Schließlich sagt er: «Du wirst vermutlich deine Gründe gehabt haben, nicht wahr?»

Ich erzähle, dass ich diesen Schritt nie bereut hätte, also fast nie, manchmal schon so ein ganz klein wenig, dass ich aber eben das Gefühl hätte, noch mal etwas anderes mit meinem Leben anfangen zu wollen. Dass dies dann die Kinder drei und vier in Form von Zwillingen sein würden, hätte ich allerdings nicht en détail vorhergeplant. Seitdem stünde meine berufliche Entwicklung etwas hinter den familiären Verpflichtungen zurück.

«Soso», meint Heinz dazu und ist kurz danach im nächsten Gebüsch verschwunden. Ich springe ihm nach, um ihn ein weiteres Mal höflich zu drängen, doch bitte mit mir gemeinsam zur Gruppe zurückzustoßen. Aber Heinz will nicht und fragt patzig: «Darf ich bitte alleine austreten?»

 

Irgendwann und irgendwie schaffen wir es doch, wieder zur mehr oder weniger duldsam wartenden Gruppe zurückzukehren. Auf dem Weg dorthin doziert Heinz, dass der Vogelsberg auf Bundesebene als eines der besten Brutgebiete für Vogelarten der bewaldeten Mittelgebirge gilt. «Denk nur an den Schwarzstorch, den Grauspecht, den Schwarzspecht, den Rotmilan und vor allem den Wespenbussard, lateinisch pernis apivorus.»

«Hmm.» Mein Interesse an Flora und Fauna erlischt ganz, als ich von weitem erkenne, wie Johann meiner Mutter am Ohrläppchen knabbert.

 

Nein, einladend ist sie nicht, diese in die Jahrzehnte gekommene Behausung in einem Ortsteil von Herbstein, die wir am späten Nachmittag nach über zwanzig Kilometern Fußmarsch müde und erschöpft erreichen.

«Gasthof Grollbrecher», steht bröckelnd und traurig verblassend an der bräunlichen Fassade zu lesen, ehe wir alle die Gaststube betreten und ächzend die Rucksäcke abstellen.

Vor gut zwanzig Jahren wurde dieser Gasthof einem ausliegenden Faltblatt zufolge in vierter Generation an diesen vor uns stehenden grummeligen Grollbrecher-Sohn samt Ehefrau weitervererbt und verfällt seitdem still und frustriert vor sich hin. Was will man auch machen, wenn so ein Ding nun mal da ist und dann auch noch die Eltern sterben? Die Erbschaft nicht annehmen? Wäre auch keine Lösung, man kann und kennt ja nichts anderes. So wird das Haus also ebenso pflichtbewusst wie schlecht gelaunt weitergeführt. Und wenn es ganz blöd läuft, kommen auch noch Gäste und wollen übernachten. Oder noch schlimmer, es kommt gleich eine ganze Gruppe Gäste und will übernachten. Entsprechend hochgestimmt wirft uns Herr Grollbrecher angewidert die ungefähr drei Kilogramm schweren Zimmerschlüssel zu. Meine Frage, ob es WLAN gäbe, beantwortet mir die Miene des Wirts, noch bevor ich die Frage zu Ende formuliert habe.

Mit dem Geruch von schlechtem Fett aus der Nachkriegszeit in der Nase knarzen Franziska und ich über die braunen Stufen des Treppenhauses zu unserem Zimmer mit der Nummer 4. Im Zimmer riecht es so, als habe jemand vor zehn Minuten eine komplette Dose Deospray entleert, um die Gerüche des ganzen schlimmen letzten Jahrhunderts zu kaschieren. Es duftet mit anderen Worten wie eine Popper-Disco aus den Achtzigern. Eine Mischung aus Parfüm, Rauch und Schweiß. Franziska kichert. Sie nimmt so was locker. Ich nicht. Ich meckere.

Ich lege mich aber doch, was vor allem der körperlichen Wandermüdigkeit geschuldet ist, auf das Bett, das mit heftig nach Disconter-Weichspülern duftender Frottébettwäsche gedeckt und mit einem sehr lilafarbenen Laken bezogen ist.

Ich sinke. Im ersten Moment denke ich, gleich stoße ich mit dem Hintern auf Grund. Und dann hänge ich da wie Kurt, der Maikäfer, und weiß nicht, ob ich hier je wieder heraus- beziehungsweise hochkomme. Ich blicke auf ein Ölgemälde an der raufaserigen Wand, es zeigt eine vergilbte, halbnackte Dame mit ausgeprägter Dauerwelle, die verwegen und nach lokalen Maßstäben geradezu lasziv mit einem blumigen Seidentuch ihre üppigen Brüste verhüllt. Das Bild ist im Grundton Rosa gehalten und weichgezeichnet wie Softpornofilme der späten siebziger Jahre. Nicht dass ich mich damals schon dafür interessiert hätte, nein, nein, aber irgendwie bekam man das trotzdem mit.

Aus dem Nachbarzimmer höre ich Manni zur Mandoline singen. Seinen Song «Kosmoprolet» trällert er mit voller Inbrunst ohne Rücksicht auf Verluste. «Ich war im Westen, im Osten, im Norden, ganz unne war ich auch.» So wie ich gerade, nämlich drei Zentimeter mit dem Hintern über dem Boden.

Hessi schmettert eine zweite Stimme dazu, und wäre diese nicht so schief und laut, dann würde mir fast das Herz aufgehen.

«Von Dorf zu Dorf, da schwätzt man ein anderes Platt,

da wird einem klargemacht, dass man als Fremder

das Maul zu halte hat.»

Ich möchte aufstehen, mich aus dieser Hängematratze nach oben hieven, um mich frischzumachen, wie es so schön heißt, doch ich scheitere erwartungsgemäß. Franziska bemerkt es und reicht mir eine helfende Hand. Damit hat die Demütigung ihren vorübergehenden Höhepunkt erreicht.

«Ich zog vom Edersee in den Vogelsberg ohne Grund und hab in meinem Dorf noch immer Migrationshintergrund», kommt es durch die hellhörigen Wände hindurchgeträllert.

«Wusstest du, dass Rüdi politisch so merkwürdig rechts dreht?», frage ich Franziska. «Was ist denn nur los mit dem? Der redet ein dummes Zeug, das kannste kaum ertragen.»

«Na ja, dummes Zeug hat er ja eigentlich schon immer geredet», gibt Franziska zu bedenken. «Aber nicht so rechtes dummes Zeug. Das ist tatsächlich neu.»

Wir belassen es dabei und freuen uns auf das vermutlich nur semi-gut-bürgerliche Abendessen, das unten in der Wirtsstube gleich auf uns und unsere lustige Wandertruppe wartet. Und Freuen ist vielleicht auch etwas übertrieben – aber Hunger haben wir schon.

 

In Wirt Grollbrechers Augen sehe ich den blanken Hass lodern. Ich fürchte, der verschwindet gleich im Gartenschuppen, holt dort eine riesige Axt und enthauptet vor unser aller Augen Heinz, den Biologielehrer.

Der nämlich lässt nicht locker: «Haben Sie tatsächlich keine laktose-, histamin-, gluten- und fruktosearmen Gerichte auf Ihrer Karte?»

Grollbrecher atmet tief durch. «Ich kann Ihne so ’n vegetarische Salat mit Käs und Schinge mache, das ist alles.»

Heinz ist damit freilich nicht zufriedenzustellen. Er legt seine Stirn in Falten, setzt die Lesebrille ein weiteres Mal auf und studiert die seit 24 Jahren gültige Speisekarte.

«Dann nehme ich die Rinderbrühe.»

«Mmh», grummelt der Wirt.

Wir anderen haben ihm schon lange unsere diversen Schnitzel in den unterschiedlichsten Varianten in den Block diktiert.

«Aber bitte ohne Sellerie», schiebt Heinz hinterher. Grollbrecher starrt wort- und regungslos auf seinen Notizblock.

«Tut mir leid», sagt Heinz und hebt entschuldigend die Hände, «aber ich leide nun mal unter Zöliakie, Glutensensitivität und Weizenallergie. Glaube ich zumindest, ganz sicher bin ich mir nicht. Jedenfalls hatte ich in den letzten Wochen immer mal wieder Reizdarm.»

Wir alle anderen am Tisch schweigen. Nicht einmal Manni Kreutzer fällt etwas ein zum Thema Reizdarm. Und das will was heißen.

«Aaaannnnäääädddde», brüllt Wirt Grollbrecher nun in Richtung Küche, worauf eben diese Annette in Küchenschürze in den Gastraum gewalzt kommt.

Franziska und ich sehen uns an, und uns beiden ist sofort klar: Zieht man die Küchenschürze und fünfundzwanzig Jahre ab, dann hängt Annette Grollbrecher weichgezeichnet halb nackt im Bilderrahmen in unserem Zimmer an der Wand.

«Is in unserer Rindersupp Sellerie drin?», fragt sie ihr Mann.

«Sellerie?»

«Ja, Sellerie!»

«Warum?» Annette Grollbrecher blickt irritiert in unsere Runde.

«Herr Heinz hat Reizdarm», schaltet sich nun meine Mutter ein.

«Ganz schlimm bei Sellerie», pflichtet ihr Heinz sofort bei. «Und ich fürchte, dass es an diversen Unverträglichkeiten im Lebensmittelbereich liegt. Äpfel, Nüsse, Kuhmilch, Sellerie und so weiter und sofort … und das geht dann ja alles noch weiter mit Katzenhaaren, Hausstaub …»

«Also Hausstaub ist auf jeden Fall net bei uns in der Supp!», unterbricht ihn Annette und stapft in die Küche zurück. Katzen hoffentlich auch nicht, denke ich, behalte es aber für mich.

«Noch Fragen?», fragt darauf Grollbrecher, und sein Gesichtsausdruck macht selbst Heinz deutlich, dass die Frage ganz sicher keine Frage ist.

 

In den nächsten Stunden bin ich sehr schweigsam und beobachte diese Runde, die da um mich herum sitzt, speist, trinkt und redet. Sind das hier wirklich die Menschen, mit denen ich meine Freizeit verbringen möchte?

Mit Franziska selbstverständlich schon. Wäre auch traurig, wenn nicht, schließlich ist sie ja meine freiwillig erwählte Ehefrau. Wir hatten allerdings auch schlechtere Zeiten miteinander, und dass wir heute noch zusammen sind, ist beileibe keine Selbstverständlichkeit. Vier Kinder haben wir. Melina, inzwischen erwachsen, einundzwanzig Jahre, Laurin, zwölf, und dann noch die beiden Zwillinge Frida und Nick, die vor knapp drei Jahren äußerst überraschend als Nachhut noch geboren werden wollten.

Dann sitzt da meine Mutter, inzwischen Mitte siebzig, verwitwet und ganz frisch umturtelt von diesem Johann, von dem ich noch nichts weiß, und ich bin mir auch nicht sicher, ob sich das noch ändern soll. Dann Manni Kreutzer, das Vogelsberger Urgestein, ebenso anstrengend wie liebenswert. Und einen immer wieder überrascht. Obwohl er beileibe nicht die allerhellste Kerze auf der Torte ist, hat er doch inzwischen als Countrymusiker mit oberhessischen Texten eine erstaunliche Karriere hingelegt. Selbst der Hessische Rundfunk ist auf ihn aufmerksam geworden. Behauptet er jedenfalls. Mich mag er sehr, der Manni, schon lange. Vielleicht, weil ich ihm oft geduldig zuhöre, unabhängig davon, welch abstruse Dinge er gerade von sich gibt.

Jutta «Hessi» Hesswig war zur Stelle, als es darauf ankam. Nachdem nämlich Mannis Mama ihn nach über fünfzig Jahren aus dem Haus geworfen hatte, «als sei nichts gewesen», wie Manni es ausdrückt, um mit sechsundachtzig Jahren mal ein wenig Zeit für sich selbst zu haben. Da war Hessi für ihn da.

«Was da in so ’nem kleinen Bub an und für sich geht, das kann sich ein Normalsterblicher net vervollständige», muss Manni selbst rückblickend oft klagen.

Hessi ist patent und resolut, scheitert jedoch allzu häufig an ihren etwas zu hohen Ansprüchen. An dem Projekt etwa, den Grebenhainer Partyservice «Lecker Feiern & More» zum Global Player auszubauen, an ihrem Versuch, die Miss-Mittelhessen-Ü-50-Plus-Wahl für sich zu entscheiden oder als Managerin Manni Kreutzer auf das Titelblatt des Zeit-Magazins zu bringen, zuletzt an dem Plan, unter dem Namen Jazzy-Hessi eine eigene Gesangskarriere zu starten.

Aktuell hat sie sich vorgenommen, die weltweite Flüchtlingskrise zu meistern. Ehrenamtlich und voller Verve hilft sie in der Bretzenhainer Flüchtlingsunterkunft und übernimmt dabei nicht immer zur Freude aller die Führungsrolle. Sie hat sich dafür, inspiriert durch die Bundeskanzlerin, eigens ein T-Shirt drucken lassen, Aufschrift: «Ich schaffe das!»

Dann sitzt da ebendieser darmgereizte Heinz, der gerade der einnickenden Gisa die Blumenfotos der letzten Stunden auf seiner Digitalkamera zeigt. Und eben Rüdi, über den ich mir seit Tagen den Kopf zermartere. Ob er schon immer in allem so verbissen war, und ich habe es einfach nicht bemerkt? Oder hat er sich tatsächlich einfach verändert wie so viele in diesem Land?

Und schlussendlich sitze ich an diesem Tisch. Ich, Henning Bröhmann, Kriminalhauptkommissar a.D., ein notorisch leicht erschöpfter und zu oft mit dem Leben hadernder Mittvierziger. Selten ist es so, wie es sein soll. Eigentlich will ich immer nur meine Ruhe, doch habe ich die, soll diese Ruhe nicht so, sondern anders sein.

Das Hessenschnitzel, das ich gerade gegessen habe, war erstaunlich gut. Auch wenn ich so einen dumpfen Druckschmerz in der rechten Bauchhälfte verspüre. Aber wenn man ein paniertes Schnitzel noch zusätzlich mit der gesamten Käsetheke des lokalen Supermarkts überbäckt, braucht einen das nicht wirklich zu wundern. An den Mythos, dass ein Schnaps dann guttäte, habe ich noch nie geglaubt. Ich trinke ihn trotzdem.

«Junge, du siehst so blass aus», höre ich kurz darauf meine Mutter sagen. «Geht’s dir nicht gut?»

«Doch», lüge ich, denn zu den Bauchschmerzen gesellt sich nun noch eine immer stärker werdende Übelkeit. «Habe vielleicht einfach nur zu viel gegessen.»

«Der guhde Henning tut einfach nix vertraache», schaltet sich Manni Kreutzer konstruktiv ein und kippt seinerseits den dritten Schnaps weg. «Das wisse mer doch schon lange. Der ist einfach kein Schnitzeltyp.»

«Du siehst echt nicht gut aus», bestätigt nun auch Franziska, und ich beginne das zu glauben.

Heinz ergreift mit sorgenvoller Miene das Wort. «Das sieht mir sehr stark nach Laktoseintoleranz aus. So hat es bei mir auch angefangen, genau so.»

Ich glaube, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, mich von der Runde zu verabschieden und mich in mein Hängebett zu begeben.

«Ich komme auch gleich», ruft mir Franziska noch nach.

 

Das Liegen auf dem Rücken tut gut, die Übelkeit verfliegt, und auch der Druckschmerz lässt spürbar nach. Erleichtert nicke ich ein, während Franziska sich im Bad noch elektrisch die Zähne putzt. Habe ich übrigens immer abgelehnt. Mit elektrischen Zahnbürsten und Zahnseide möchte ich nichts zu tun haben.

 

«Roaaaöääähhhrrrrmaaahhhuuuuuuhhh!!!!!»

Ein furchtbares Geräusch lässt mich eine Stunde später aufschrecken. Wäre ich nicht so tief in der Matratze versunken, würde ich aufrecht im Bett sitzen. Was war das? Ein Hirsch? Manni beim Gurgeln? Heinz und sein Reizdarm?

«Was war das?», fragt dann auch Franziska.

«Mööööääähhhhhhhrrrroooooohhhmmm!!!», macht es nun wieder.

«Das klingt ja furchtbar», sagt Franziska. Wir stellen fest, dass das Geräusch aus der oberen Etage kommt.

«Es klingt, als schreie jemand vor Schmerzen», sage ich. «Ich geh mal nachgucken.»

Beim dritten Versuch schaffe ich es tatsächlich, meinen Hintern aus dem Bett zu wuchten. Franziska kichert, ich nicht. Ich schlüpfe in meine Adiletten, die immer dabei sind, wenn ich woanders übernachten muss.

«Das sieht so hässlich aus», ruft mir Franziska noch nach.

«Was? Ich?»

«Nein, du nicht. Du bist ja auch kein das für mich.» Wenigstens etwas. «Nein, diese schlimmen Adiletten da.»

«Wieso? Adiletten sind nun mal Adiletten», verteidige ich mein praktikables Schuhwerk.

«Kauf dir doch mal nette Männerschläppchen.»

Ich gehe aus dem Zimmer. Nette Männerschläppchen? Da muss mir Franziska unbedingt mal erklären, was das sein soll.

«Krääähhhhüüüüöööhhhmmmuuuuaaahhhh.»

Da war es wieder. Ich steige die fast schon klischeehaft knarzende Treppe hinauf und versuche, das Geräusch genauer zu lokalisieren.

Ich folge dem irgendwie nach Wehklagen klingenden, an- und abschwellenden Ton und stehe schließlich vor dem Zimmer meiner Mutter. Zu meiner nicht unbeträchtlichen Erleichterung hat sie nämlich für sich und diesen Johann jeweils ein Einzelzimmer gebucht. So, wie sich das gehört.

Es ist ein Uhr nachts. Besorgt klopfe ich an die Tür. Das jammernde Geräusch scheint wieder lauter zu werden.

«Grüüüüöööööhhhh», röhrt es dann erneut, die Tür öffnet sich, und meine Mutter steht mit einem Laken um ihren Körper gewickelt vor mir.

«Oh», mache ich. Mehr fällt mir nicht ein.

«Was ist denn, Henning? Geht’s dir immer noch nicht gut und wolltest mal zu deiner Mama?» Ich fürchte, dass diese Frage nicht scherzhaft gemeint war.

«Ich frage eher dich, ob bei dir alles in Ordnung ist?», entgegne ich.

«Ja, natürlich. Wieso denn auch nicht?»

«Na, wegen dieser, dieser Geräusche, die da aus deinem Zimmer kommen.»

Meine Mutter lacht fröhlich auf, gibt ein «Ach soooo» von sich und winkt gelassen mit der rechten Hand ab, sodass das Laken abrutscht und der Mutterbusen kurz in voller Pracht vor mir hängt.

«Ups», kommentiert sie das Missgeschick und kichert wieder. «Hier ist alles in Ordnung. Johann drückt halt auf diese Weise seine Lust aus. Ich war auch erst etwas irritiert, aber man gewöhnt sich dran.»

Verstört wie ein Vorpubertierender, der zum falschesten Zeitpunkt die Tür des Schlafzimmers der Eltern geöffnet hat, suche ich schnell und mit glühenden Ohren das Weite und versuche die letzte Minute meines Lebens aus dem Kurzzeitgedächtnis zu verbannen. Es ist ja toll, dass meine Mutter seit dem Tod meines Vaters so aufblüht, doch muss ich dabei bitte nicht im selben Gebäude sein.

Ich nehme mir vor, aus Angst vor dem nächsten Brunftlustschrei des Lovers meiner Mutter mein Gehör per Willensentscheidung abzuschalten, doch das scheint mir nicht zu gelingen. Denn aus dem Zimmer direkt gegenüber höre ich jetzt eine Männerstimme mit dramatischen Timbre sprechen. Es ist eine Art lautes, nachdrückliches Flüstern, das meine Neugier weckt. Vielleicht ist es der Restbulle in mir, vielleicht aber auch der gezischelte Halbsatz «Nicht am Telefon», der mich mein Ohr an die furnierverkleidete Holztür drücken lässt.

Doch auch so verstehe ich nur Bruchstücke: «Ja … ja, wir haben doch alles besprochen, nein … nur Drohnen», so viel verstehe ich.

Drohnen? Nur Drohnen? Möglicherweise stehe ich nach der Begegnung mit meiner Mutter noch unter Schock. Vielleicht hieß es aber auch «nur drohen». Wäre auch nicht besser.

«Ich muss jetzt Schluss machen», tönt es undeutlich durch die Tür und «Wir besprechen das, wenn ich wieder da bin». Und zum Abschluss: «Kein Wort zu niemandem, verstanden?» Es wird still.

«Suchst du irgendwas?», ertönt hinter meinem Rücken eine helle Frauenstimme. Es ist Gisa.

«Ich? Äh, nein, ich war nur bei meiner Mutter und …»

Gisa lächelt schief. «Du wolltest jetzt aber nicht bei uns durchs Schlüsselloch gucken, oder?»

«Was??? Nein!!!», entgegne ich etwas zu laut.

«Mensch, Henning, war doch nur ein Scherz.»

«Ach so, ja, klar, haha, logisch …»

Leider fürchte ich trotzdem, dass sie gesehen hat, wie ich mein Ohr gegen die Zimmertür presste.

«Gut, ich muss dann mal wieder …», stammle ich, als feierlich ein weiteres «Grüüüööööhhhmmoooo» aus dem Zimmer meiner Mutter dröhnt. Gisa blickt mich verdutzt an. Ich zucke mit den Schultern und mache mich unverzüglich auf den Weg zurück in mein Zimmer.

Franziska schläft tief, ich wecke sie nicht und lass mich leise in das Hängebett sacken.

Als Kommissar in Alsfeld neigte ich dazu, eher auch mal wegzuhören oder zu -sehen und – mehr aus Faulheit als aus Menschenfreundlichkeit – nicht immer gleich das Schlimmste bei jedem und allem zu vermuten. Dafür wurde ich oft und zu Recht von meinen Vorgesetzten kritisiert. Seit ich keinen Polizeiausweis mehr bei mir trage, hat sich das seltsamerweise fast ins Gegenteil verkehrt. Ich ertappe mich immer häufiger dabei, hinter jedem Misthaufen im Vogelsberg eine Straftat zu vermuten. Ein bisschen peinlich ist mir das schon, denn wenn das so weitergeht, lasse ich mich mit siebzig als Freiwilliger Polizeihelfer einteilen und ergötze mich dabei, gehetzte alleinerziehende Mütter auf ihr Falschparken hinzuweisen. Ich glaube, ich brauche demnächst tatsächlich wieder eine berufliche Herausforderung, Kinder hin oder her.

Als Polizist früher wäre ich nie im Leben in meiner Freizeit auf die Idee gekommen, mein Ohr an irgendeine Zimmertür zu pressen und in wirres Geschwafel meines Vermieters dramatische Dinge hineinzudeuten. Trotzdem war das gerade merkwürdig. Es sind nicht nur die Satzbrocken, die ich verstehen konnte, es ist vor allem der Tonfall in Rüdis Stimme eben, der mich stutzig macht.

Wie dem auch sei, jetzt erst mal schlafen, dann morgen früh irgendwie aus diesem Bett herauskommen, einen letzten Blick auf den gemalten brachialen Wirtinnenbusen werfen, frühstücken, dann sind die nächsten zwanzig Kilometer Vogelsberg dran.

 

Franziska und ich sind fast die Letzten unserer Gruppe, die den tags wie nachts zuverlässig dunklen Wirtssaal zum Frühstück betreten. Nur Hessi fehlt noch.

«Morje», schmettert uns Manni Kreutzer mit kernigem Bariton entgegen. Er ist das wahre Gegenteil eines Morgenmuffels. Gerne nutzt er gerade in den Morgenstunden die bedingte Abwehrbereitschaft müder Menschen aus, um sich wirkungsvoll in Szene zu setzen.

«Und gut geschlafe, ihr Leut? Was ein schöne Tach, oder?»

«Keine Ahnung», gähne ich zurück. «Man sieht ja nichts durch diese … weiß nicht, ob man diese braunen Kacheln da Fenster nennen kann.»

«Nee, super Wetter ist drauße. Ich war schon ’ne Stund mit der Anneddde mit den Fahrrad-Bikes rumcruise. Weißte, mit so moderne Dinger, alles im E-Bereich. Ich bin jetzt fit wie ein Hausschuh!»

«Annette?», fragt Franziska.

«Ei ja, die Wirtin. Hab gestern Nacht mit ihr noch ein paar Obstler gezwitschert, da habbe mer uns, na, wie soll ich sage, ein bissi anverfreundet.

«Aha», murmle ich und munitioniere mich am Buffet mit abgepackter Aprikosenkonfitüre und Paprikaschmelzkäse.

Ich setze mich neben meine Mutter an den Tisch und schütte Kaffeesahne in den frischen Instantkaffee.

«Wo bleibt denn eigentlich Hessi?», fragt meine Mutter Manni.

«Ach soo, äh, ja, die Hessi, das hätt ich ja jetzt fast vergesse zu erwähne. Die ist, äh, schon heim.»

Verwundert blicken ihn alle an.

«Na ja, wie soll ich sage, sie hat halt gemerkt, dass sie heut ebe noch andere Pläne zu plane hat, wenn ihr wisst, wo ich mein.»

Ich vermute mal, dass keiner von uns weiß, was er meint.

Manni fuchtelt unsicher nach Worten ringend mit den Händen in der Luft herum. «Sie is doch da in dem Dings, da in dem Flüchtlingsheim da am Mache und Tun. Da wollte sie halt hin, gleich heute morje. Bei so ’ner weltweiten Flüchtlingskrise muss mer halt mal Prioritäte setze.»

Alle wissen, dass es für ihre überstürzte Abreise andere Gründe geben muss. Und Manni bemerkt diese Skepsis. «Na ja, und so ein bissi ein kleine große Zoff hatte mer dann auch noch. Ich weiß net, warum man immer gleich eifersüchtig sein muss, wenn mer mal mit ner anneren Frau ein paar Obstler wegzischt.» Er nimmt nachdenklich einen Schluck Orangennektar. «Na ja, wobei, so richtig sauer wurd’se ja erst, als ich sie in der Nacht geweckt hab und ihr erzählt hab, dass ich heute mit der Anneddde ’ne Radtour mit Foddo-Shuhding mach.»

«Foto-Shooting?», fragt Gisa nach, während Franziska kichernd in ihr Aufbackbrötchen beißt.

«Ja, unne am See», antwortet er. «Die Anneddde lässt sich halt gern fotografiere, hat se mir verzählt. Und da hab ich gesagt, ei, warum dann net von mir? Un das hat die Hessi irgendwie in de falsche Hals bekomme. So richtich hat die das ebe immer noch net verstanne, dass ich ein Künstler bin.»

«Aber du bist doch Musiker und Sänger und kein Fotograf», wende ich ein.

«Is doch worscht. Künstler ist Künstler. Also, ich versteh die Uffreechung net, die Annedde war noch net einmal ganz nackt.»

Alle lachen los. Manni weiß nicht, warum, lacht aber zur Sicherheit mal mit.

«Also, ihr Leut», erhebt er noch einmal seine Stimme, «wenn ihr mal annerre Foddos sehe wollt wie die langweilige Blumme vom Heinz, dann sprecht mich einfach an. Die Bilder sind alle hier uffm Telefon.»

Ich schaue zu Rüdi, der mir schräg gegenübersitzt und auffällig schweigsam vor sich hin frühstückt. Mir kommt wieder sein nächtliches Telefongeflüster in den Sinn, dem ich ja eigentlich nicht so viel Bedeutung beimessen wollte. Rüdi trägt heute ein Funktionsshirt in verschiedenen Neonfarben. Auch in Sachen Kleidung ist er überlebensfähig, komme, was wolle. Mit diesen Farben würde er immer gefunden werden, selbst wenn bei unserer heutigen Vulkanring-Wanderung von Herbstein nach Ulrichstein der Vulkan im Vogelsberg zum ersten Mal seit sieben Millionen Jahren ausbrechen sollte.

«Habt ihr eigentlich heute Nacht auch diese Brunftschreie der Wildschweine gehört?», fragt nun Heinz unvermittelt in die Runde. «Hochinteressante Geräusche waren das, die man selten zur hören bekommt.»

Alle schütteln ihre Köpfe.

«Echt nicht? Das war doch so laut. Wartet, es war so eindrücklich, ich hab das für den Unterricht aufgenommen.»

Er legt ein Diktiergerät auf den Tisch und drückt die Starttaste. «Gnüüüööööhhhmörrrr», ertönt es, und ich vermeide, in Richtung meiner Mutter zu schauen.