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Flake

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Beschreibung

»Ich trete auf das Rad des Kessels, um mich hineinzuschwingen, stelle aber wieder mal fest, dass dort kaum noch Platz fu¨r mich ist, denn da steht schon die Gasflasche fu¨r die Flammen drin. In den Boden sind Lampen eingebaut, an die ich nicht rankommen darf, weil die viehisch heiß werden. Ich habe mich bei einer Probe mal darauf abgestu¨tzt und mir dabei fu¨rchterlich die Ha¨nde verbrannt, da blieb richtig meine Haut an dem du¨nnen Schutzgitter davor kleben. Es hat ganz eklig nach verbranntem Fleisch gerochen. Warum riecht es dann beim Grillen so lecker? Liegt es an dem Salz oder dem Bier? Oder an der Fleischsorte?« Flake erzählt in seinem zweiten Buch, wie es sein könnte, mit einer Band wie Rammstein einen Tag unterwegs zu sein.

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Seitenzahl: 489

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Flake

Heute hat die Welt Geburtstag

FISCHER E-Books

Inhalt

HinweisMottoVorspannIIIIIIIV

Dieses Buch habe ich auf Tour in den Wartezeiten auf den Bus oder das Konzert geschrieben. Eventuelle Übereinstimmungen mit realen Personen und Vorkommnissen sind meiner fehlenden Phantasie geschuldet und nicht beabsichtigt.

Ich habe endlich keine Träume mehr

Ich habe endlich keine Freunde mehr

Hab endlich keine Emotionen mehr

Ich habe keine Angst vorm Sterben mehr

 

Alles Grau Isolation Berlin

Ich habe kein Gefühl mehr dafür, wie spät es eigentlich ist. Wir sind heute Vormittag irgendwo losgeflogen, und mein Handy stellt selbständig die Uhr um, wenn wir mit dem Flugzeug auch nur in die Nähe einer neuen Zeitzone kommen. Meter für Meter schiebt sich der Bus durch die Innenstadt. Budapest scheint ziemlich groß zu sein. Wir stecken mitten im Berufsverkehr. Da heute Freitag ist, wollen alle ganz schnell aus der Stadt raus. Aber schnell geht hier überhaupt nichts.

Ich schaue aus dem Fenster. Mein Blick endet nach einem halben Meter, neben uns fährt ein großer schmutziger Lkw. Sogar der ist schneller als wir. Unser Fahrer erträgt diese Situation überhaupt nicht, bei der kleinsten Lücke gibt er Vollgas. Dann drückt es mich richtig in die stinkenden Sitze. Sofort muss er wieder bremsen, und ich kippe nach vorne. Als der Lkw uns erneut überholt, gibt er den Blick auf eine graue Mauer frei. So langsam scheinen wir uns doch der Vorstadt zu nähern. Ich hätte lieber vorne gesessen, aber der Fahrer hat seine ganzen Sachen auf dem Sitz neben sich verteilt und komisch gekuckt, als ich die Beifahrertür öffnen wollte. Als hätte ich versucht, in sein Bett zu steigen.

Hinten komme ich mir immer so abgestellt vor, so als wäre ich Gepäck. Als hätte ich kein Mitspracherecht. Außerdem mag ich es, mich mit den Fahrern zu unterhalten, denn sie sind oft der einzige echte Kontakt zu dem Land, in dem wir gerade sind. Ich würde ihn jetzt gerne fragen, von wem die Musik ist, die mich aus den Boxen anschreit.

Ich habe schon einmal in einem Shuttlebus eine neue Band entdeckt. Für mich war die Band zumindest neu. Die Musik, die sie machten, klang sehr drängend und wand sich immer in neuen Schleifen, ein bisschen so, als ob eine Platte springt. Ich war ganz fasziniert davon und fragte den Fahrer, wer diese Band sei. Wir waren gerade in Barcelona, und der Fahrer konnte sich mir nicht richtig verständlich machen. Das war nicht seine Schuld, ich spreche weder Spanisch noch ein akzeptables Englisch. Da zog er kurzerhand die CD aus dem CD-Player und schenkte sie mir. So habe ich es jedenfalls verstanden. Wieder in Berlin angekommen, spielte ich die CD ganz stolz meiner Tochter vor. Ich wollte ihr zeigen, dass ich in meinem Alter noch voll am Puls der Zeit bin. Ich versuchte ihr zu erklären, dass mir diese Musik so gefällt, weil es so klingt, als ob eine springende Platte zufällig die Melodien bestimmt. Meine Tochter brauchte nur einen Blick auf das Display des CD-Players zu werfen, um festzustellen, dass ganz einfach die CD wirklich sprang. Der Blick, mit dem sie mich ansah, ist nicht zu beschreiben.

Ich höre die CD trotzdem noch sehr gerne, sie ist irgendwie so meditativ, und außerdem kann wirklich niemand voraussehen, wann sie wieder springen wird. Es fühlt sich nicht so an, als würde ich eine Musikkonserve hören, sondern als wäre ich aktiver Bestandteil des Musikhörens. So höre ich immer etwas Neues.

Das Lied, das eben lief und mir auch ganz gut gefallen hat, ist mittlerweile vorbei. Jetzt kommen die Nachrichten, natürlich auch auf Ungarisch. Da ist es zu spät, um noch nach dem letzten Lied zu fragen. Ich weiß auch sonst nicht, wie ich ein Gespräch mit dem Fahrer beginnen könnte, zumal er einen sehr wortkargen Eindruck macht. Es gibt gerade auch nichts zu besprechen. Beim Einsteigen wollte er nur von mir wissen, ob noch mehr Leute von uns mitfahren wollen. Falls ich ihn richtig verstanden habe. Und selbst diese einfache Frage konnte ich nicht beantworten, denn seitdem wir in Einzelzimmern schlafen, weiß ich nicht mehr, wo die anderen sind.

Ich hatte gehofft, dass wir alle zusammen zur Halle fahren würden, aber als ich runterkam, war ich der Einzige von uns, der da stand, und so fuhr der Fahrer nur mit mir los. Wahrscheinlich wissen die anderen, wie sinnlos es ist, um diese Uhrzeit loszufahren. Falls es jetzt wirklich so spät ist, wie ich denke.

Es ist auch schon vorgekommen, dass die Uhr sich nicht zurückgestellt hat, wenn wir von einem weit entfernten Konzert wieder zurückgeflogen sind, jedenfalls kann ich mich nicht mehr auf meine Uhr im Handy verlassen. Und selbst dem Fernseher kann man nicht trauen, denn die Sender kommen aus verschiedenen Ländern. Wenn es in England drei ist, kann es hier schon viel später sein.

In Australien gibt es sogar Zeitverschiebungen von einer halben Stunde. Die Zeitgrenze geht manchmal mitten durch eine Stadt. Da kommt man sogar zu spät zum Zahnarzt. Vielleicht war das auch in Amerika. In Hartfort oder so.

Da sind wir als Mutprobe mal über eine Eisenbahnbrücke geklettert. Wenn ich als Kind weniger in der Wohnung gehockt und mehr mit den anderen Kindern gespielt hätte, müsste ich so etwas nicht erst im hohen Alter machen, wo die Angst noch größer ist. Natürlich kam dann auch ein Zug, und zwar genau in dem Moment, als wir die Mitte der Brücke erreicht hatten. Wir mussten uns ganz an den Rand drängen, ein Geländer gab es nicht, und zwischen den Eisenbahnschwellen blickten wir direkt auf das Wasser. Da der Zug schier unendlich lang war und deshalb wohl auch so langsam fuhr, verging nach meinem Gefühl eine Ewigkeit, bis alles überstanden war, zumal ich dabei noch in Ruhe einen überfahrenen Dachshund oder Waschbären betrachten konnte, der wie ein zerschnittener Teddy aussah. Auf dieser Brücke habe ich wieder einmal gespürt, wie sehr sich die Zeit strecken kann. Leider streckt sie sich meistens in unangenehmen Situationen.

Auch jetzt im Bus kommt es mir so vor, als ob wir schon ewig unterwegs wären. Ganz schuldlos bin ich daran nicht, denn ich habe angeregt, unser Hotel mal im Stadtzentrum zu buchen, damit man gleich alle Sehenswürdigkeiten vor der Nase hat. Dabei interessieren mich die Sehenswürdigkeiten eher wenig. Das klingt komisch, aber in Berlin gehe ich auch nicht auf den Fernsehturm oder zum Brandenburger Tor. Die Hallen, in denen wir spielen, liegen wiederum meistens außerhalb der Stadt, schon damit die Fans, egal ob nun unsere oder die einer Fußballmannschaft, nicht das Stadtbild versauen. Das klappt ziemlich gut, und jetzt merke ich, dass wir anscheinend zur Halle kommen, da ich schon ziemlich viele Fans links und rechts der Straße sehen kann. Sie haben ihre Autos am Straßenrand geparkt und ziehen in Grüppchen weiter. Zu Fuß sind sie schneller als ich im Bus.

Früher bin ich auch manchmal zu Fuß zum Konzert gegangen, verlaufen konnte ich mich ja nicht, da ich einfach den Fans hinterhergelaufen bin, aber bei den großen Hallen hatte ich dann manchmal Schwierigkeiten, zur Garderobe zu kommen, denn es kommt vor, dass die Telefone in so einer Halle nicht funktionieren, und die Sicherheitskräfte rechnen nicht damit, dass einer von der Band ratlos vor ihrer Tür steht. In Berlin wollte ich einmal mit dem Taxi zum Konzert fahren, damit ich auch ein Bier trinken kann und das Auto dann nicht stehenlassen muss. An der Halle angekommen, bat ich den Taxifahrer, mich zum Bühneneingang zu bringen. Ich war etwas in Zeitdruck, weil ich am Nachmittag noch so viel hatte erledigen wollen und erst auf den letzten Drücker losgegangen war. Wenn wir dort spielen, wo wir wohnen, haben wir ja praktisch doppelt zu tun. Ich vergesse dann gerne mal, dass abends noch ein Konzert ist. Jedenfalls wollte ich schnell zum Künstlereingang.

»Da hinten ist das Ende, Großer!«, sagte der Fahrer und zeigte auf die Menschenschlange, die sich um die Halle wand. Da blieb mir nur übrig, ihm zu sagen, dass ich zur Band gehöre. »Nee, nee, Kollege!«, lachte er mich aus. »Heute spielt Rammstein hier, da kommst du mit solchen Tricks nicht weiter.« Als ich ihm vorsichtig zu erklären versuchte, dass ich da mitspiele, erwiderte er mit brutaler Logik: »Wenn du«, und da musste er schon wieder lachen, »da mitspielen würdest, säßest du nicht hier bei mir im Taxi.« Mit diesen Worten setzte er mich am Ende der Schlange ab. Deshalb fahre ich jetzt lieber mit dem Bus, den der Veranstalter für uns bereitstellt.

Draußen ist inzwischen ein hässliches Industriegebiet zu sehen. Das bedeutet, dass ich gleich ankommen werde. Ich blicke genauer aus dem schmutzigen Fenster. Da stehen ja auch schon unsere großen Nightliner, die Busse, in denen die Crew schläft. Also jetzt natürlich nicht, aber in der Nacht, wenn sie zum nächsten Konzertort fahren. In einiger Entfernung dahinter kann ich etwas sehen, das wie eine Messehalle oder ein Sportstadion aussieht. Davor dehnt sich ein Parkplatz aus. Alles ist grau. Und das soll jetzt Rock ’n’ Roll sein?

 

Der Rock ’n’ Roll ist längst nicht mehr das, was er mal war, würde ich behaupten. Es ist natürlich fraglich, ob ich ein kompetenter Gesprächspartner zu diesem Thema bin, bloß weil ich Musik mache. So richtig Ahnung habe ich übrigens von überhaupt nichts. Und Rock ’n’ Roll, was ist das überhaupt? War das nicht diese lustige Musik, die unsere Eltern früher gehört haben? Oder waren das unsere Großeltern? Waren die nicht dabei, als dieser Bill Haley kurz nach dem Krieg in der Deutschlandhalle gespielt hat? Oder war es die Waldbühne? Für uns Kinder aus der DDR war das egal, wir konnten mit den beiden Namen nicht viel anfangen, und auch später als Jugendliche kannten wir kaum mehr als den Kulti und das Haus der jungen Talente. Manche der Talente, die dort spielten, waren allerdings schon über siebzig, aber die spielten Blues, da war das in Ordnung.

So unglaublich es auch klingt, in meiner Jugend gab es keine alten Rockmusiker, da der Rock ’n’ Roll an sich noch so jung war. Mick Jagger war damals zwanzig Jahre jünger, als ich jetzt bin. Das muss man sich mal vorstellen. Ich war auch der festen Meinung, dass man gar keine Rockmusik mehr spielen darf, wenn man älter als dreißig ist. Und keinen Jazz, wenn man jünger ist. Bundeskanzler darf man auch erst mit vierzig werden.

Ich sprach von Rockmusik. Das ’n’Roll hat man zu meiner Zeit schon weggelassen. Nicht einmal die Sitzenbleiber sagten das noch. Die sprachen wiederum von Hard Rock, wobei ich natürlich Hart Rock verstand. Wer schreibt denn Hart mit weichem D? Und die Rock ’n’ Roll-Bands, die ich kannte, spielten ihre Lieder auch mehr wie Museumsstücke, sie versuchten förmlich, dieses spezielle Lebensgefühl mit den Klassikern wie Sweet Little Sixteen wieder aufzuwecken. Zu diesem Leben gehörte auch eine Lederjacke oder ein Motorrad. Und Jeans. Als Kind habe ich wirklich mal gehört, wie eine Oma über diese ollen Jenshosen geschimpft hat. Und man muss als Rocker in Grüppchen herumlungern. Selbstverständlich ist das nur etwas für ganz harte Jungs. Sind die Heavy-Metal-Fans Rocker? Bei AC/DC singen sie auch ständig von Rock ’n’ Roll. Und was ist mit den Rockabilly-Fans? Dürfen die sich auch als Rocker bezeichnen? Man konnte so viel falsch machen. Erst recht, als dann noch der Punk ins Spiel kam. Wenn man Pech hatte, durfte man sich gar nicht als Punk bezeichnen, dann wurde man gleich als Plastic abgestempelt.

Darf man als Punk noch bei seinen Eltern wohnen? Meiner Meinung nach ja, schließlich bin ich selbst dort erst ausgezogen, als ich schon 23 Jahre alt war. Es war auch sehr hilfreich, wenn man als Punk über gute Westkontakte oder wenigstens eine Menge Geld verfügte, denn wo sollte man sonst die Springerstiefel herbekommen? Und die Lederjacke? Lederhosen konnte man sich im Osten nicht einfach kaufen, die musste man sich extra nähen lassen. Das dauerte dann etwa ein Jahr, bis man die Hosen hatte, und es war wirklich nicht billig. Viele Punks, die ich kannte, kamen aus einem wohlsituierten Elternhaus und konnten sich das leisten. Sie waren am allgemeinen Geschehen sehr interessiert und konnten ein gutes Abitur vorweisen. Wenn sie nicht in einer Band spielten, malten oder dichteten sie. Manchmal auch alles zusammen. Mit ihren proletarischen Vorbildern aus England verband sie nur die Liebe zur Punkmusik und dass sie es aushielten, auf der Straße beschimpft oder verprügelt zu werden. Die beruflichen Perspektiven waren zwar nicht überwältigend, wenn man wie ein Punk aussah, aber die meisten von uns waren mit ihren Jobs bei der Post, der Volkssolidarität oder auf dem Friedhof sehr zufrieden. Ich habe keinen getroffen, der es wirklich ernst meinte, wenn er No Future auf seine Jacke malte. Einige sahen höchstens keine Zukunft für sich in der DDR, dafür umso mehr im Westen. Manchmal bekamen sie die Ausreise bewilligt, bevor ihre Lederhosen fertig waren, dann konnte ich sie fragen, ob ich die kriegen kann.

Aber es geht ja eigentlich um Rock ’n’ Roll. Johnny Cash hat mal gesagt, dass er, wenn er aus dem Busfenster schaut, auf fünf Kilometer genau sagen kann, wo er sich gerade befindet. Ich glaube ihm das. Es bedeutet, dass er so oft mit dem Bus durch Amerika gefahren ist, bis er fast jede Stelle des Weges kannte. Er hat einfach unwahrscheinlich viele Konzerte in seinem Leben gegeben. 300 Konzerte im Jahr waren damals nichts Besonderes. Und dass die Bands jahrelang am Stück unterwegs waren, auch nicht. Jetzt lösen sie sich immer gleich bei den ersten Schwierigkeiten auf. Manchmal schon, bevor ich sie wahrgenommen habe. Aber selbst ich, der schon einige Jahre Musik macht, kenne höchstens ein paar Straßen in Ostdeutschland. Das Hermsdorfer Kreuz und so weiter. Oder das Schkeuditzer Kreuz, wo jetzt der Höffner-Klotz steht. Wenn wir mit dem Flugzeug zu unseren Konzerten fliegen, sehe ich allerdings nur ein paar Wolken. Daran kann ich mich schlecht orientieren, denn die sind am nächsten Tag schon wieder verschwunden. Richtiger Rock ’n’ Roll findet eben auf der Straße statt.

Und dann die Frauen. Bei den Stones standen die Frauen vor den Hotelzimmern der Musiker geduldig in einer Schlange an, bis sie drankamen. Das ist nicht zu fassen. In einer Schlange! So etwas ist schon rein technisch nicht mehr möglich. Jetzt muss man im Hotel die Zimmerkarte in einen Schlitz im Fahrstuhl stecken, sonst fährt der erst gar nicht los. Wie sollen die Frauen da hochkommen? Da bin ich froh, wenn ich selbst an meinem Zimmer ankomme.

Wenn man den Erzählungen Glauben schenken darf, hatte man früher als Musiker vor, während und nach dem Konzert Sex. Die Musiker strahlten das auch aus. Jedes Gitarrensolo war schon ein Vorspiel. Die Hemden waren immer bis zum Bauch aufgeknöpft. Heutzutage stehen monogame, politisch engagierte Veganer auf der Bühne, die wie zum Hohn auch noch nüchtern sind. Dafür haben sie sich mit Yoga-Atemübungen gewissenhaft auf das Konzert vorbereitet. Und mit Dehnübungen ihre Muskeln erwärmt.

Wahrscheinlich stimmt das alles nicht, und ich habe nur so eine Sicht auf die Dinge, weil ich so alt geworden bin. Mein eigenes kleines Leben hat sich wohl schon zu weit vom Rock ’n’ Roll entfernt. Falls es überhaupt je dort war. Objektiv gesehen spricht nicht viel dafür. Es hat auch niemand außer mir je wahrgenommen, dass ich mich jahrelang als Punk verstanden habe. Genau! Es liegt nicht an meinem Alter. Ich bin Punk und kein Rock ’n’ Roller. Ich weiß deshalb nicht, was Rock ’n’ Roll ist und was man da machen muss. Ich weiß auch nicht, was man als Punk machen muss, aber ich fühle mich einfach besser, wenn ich mir einrede, dass ich ein Punk bin.

I

Ich zerre mit ganzer Kraft am Reißverschluss meiner Jacke, aber er geht einfach nicht auf. Wahrscheinlich, weil ich auf der Bühne so sehr schwitze, das ganze Zeug ist dann klatschnass und fängt im Schrank zu rosten an. Ich dachte, die Reißverschlüsse sind aus Edelstahl und rosten nicht, aber dieser hier ist ganz hart und geht einfach nicht auf.

»Hast du Gäste?«, gellt mir eine Stimme ins Ohr. Sie klingt ein bisschen so wie von Kermit dem Frosch, nur viel, viel lauter. Ich zucke zusammen und stoße mit dem Ellenbogen an das Tischchen, das neben meinem Sofa steht. Es tut so weh, dass der Schmerz wie ein Blitz durch meinen ganzen Körper flitzt. Ich rutsche vor Schreck vom Sofa.

»Hast du Gäste?« Tom, unser Bandassistent, sieht mich ausdruckslos an. Er ist nicht groß, dafür sehr muskulös, besonders im Gesicht. Davor ist noch eine riesige Hornbrille, hinter der man die Augen nur noch erahnen kann. Tom ist kurzsichtig, und vielleicht kommt er deshalb so nah an seine Gesprächspartner heran. Er arbeitet gerade daran, die Gästeliste zu vervollständigen. Da er keine Lust hat, kurz vor dem Konzert hektisch die Namen, die er ganz spät zugerufen bekommen hat, zum Einlass durchzugeben, fragt er lieber am frühen Nachmittag jeden, den er von der Band erwischen kann, ob er Gäste hat.

»Hast du Gäste?«, schreit er also gleich noch einmal, da ich noch nicht antworten konnte. Eigentlich schreit er gar nicht, er spricht nur laut, das ist sozusagen seine Dienstlautstärke, er ist gerade völlig ruhig und entspannt. Um ihn nicht ein viertes Mal schreien zu lassen, schüttele ich schnell den Kopf und sage zur Sicherheit ganz deutlich: »Nein danke, heute habe ich keine Gäste.«

Tom nickt zufrieden, er hat sowieso mit keiner anderen Antwort gerechnet. Aber sicher ist sicher. Das hat er im jahrelangen Umgang mit Musikern gelernt. Aber wo sollte ich denn hier in Budapest Gäste hernehmen? Manchmal rufen mich zwar Bekannte an, die gerade in der Nähe sind und zum Konzert kommen wollen, aber das ist wirklich die Ausnahme, und selbst, wenn das passieren sollte, sage ich Tom sofort Bescheid. Schon damit ich es nicht vergesse und die Leute am Abend nicht verzweifelt vor der Tür stehen. Ich kenne dieses schlimme Gefühl, wenn man sich freudig auf den Weg zu einem Konzert gemacht hat und dann nicht reinkommt. Die Gäste können mich auch nicht mehr erreichen, da ich so kurz vor dem Konzert mein Telefon nicht hören kann. Dann stehen sie traurig vor der Tür, sehen all die Leute, die in die Halle stürmen, und überlegen, was sie in ihrem Leben falsch gemacht haben. Sich auf mich zu verlassen war schon mal ein Fehler.

Tom stürzt aus der Garderobe, um die anderen aus der Band zu suchen, und ich wende mich wieder meiner Jacke zu. Wenn ich den Reißverschluss nicht aufbekomme, kann ich sie heute nicht anziehen. Die Glitzerjacke, die von mir so genannt wird, weil sie wie eine Discokugel glitzert, wenn das Licht darauf fällt, sitzt nämlich sehr straff an meinem Körper. Sie wurde mir liebevoll aus Paillettenstoff von unseren Schneiderinnen auf den Leib gezimmert, nein, natürlich geschneidert, aber da ich so schwitze, wird sie nach jedem Konzert ein wenig enger. Oder ich werde nach jedem Konzert ein wenig fetter. Man soll nicht immer die Schuld bei den anderen suchen. Natürlich gehört diese Jacke unbedingt mit zur Show, da kann nicht jeder einfach anziehen, wozu er Lust hat, denn es soll zu erkennen sein, dass wir als Band zusammengehören. Außerdem gibt es Kleidung, mit der man in dem Bühnenlicht nicht mehr zu sehen ist. Und ich stehe schon hinten. Ich will nicht wissen, was die Band sagen würde, wenn ich ohne meine Glitzerjacke auf der Bühne auftauchen würde, na ja, vielleicht würden sie sich sogar freuen, denn mit meinem Glitzeranzug falle ich ganz schön auf, und das gefällt nun auch nicht jedem. Wir wollen ja alle gleichberechtigt sein. Es gehört aber sozusagen zu meiner Figur auf der Bühne, dass ich etwas anders aussehe als zum Beispiel die Gitarristen. Man würde es mir auch gar nicht abkaufen, wenn ich so ernst und böse auftreten würde, und darunter würde dann auch die Glaubwürdigkeit der ganzen Band leiden. Also je lustiger ich aussehe, desto böser wirken die anderen. Es ist wie beim Polizeiverhör mit dem netten und dem bösen Polizisten.

Ich suche mir aus der blauen Plastewanne, die unter dem Tisch steht, eine Cola heraus. Als Werkzeugmacher haben wir festgerostete Schrauben mit Cola wieder gängig gekriegt. Ich muss dafür tief in dem Eis wühlen. Ich finde nur Diät-Cola, aber was soll’s. Ich schütte sie auf den Reißverschluss. Das meiste geht dabei direkt auf das weiße Tischtuch. Tom achtet aus einem unerfindlichen Grund streng darauf, dass auf den Tischen weiße Tischtücher liegen, auch wenn diese meistens nicht mal den Anfang des Konzertes erleben. Wozu brauchen wir weiße Tischtücher, denke ich und ziehe es vom Tisch. Dabei rutscht auch die Schale mit Nüssen herunter. Auf Nüsse reagiere ich allergisch. Da sie aber meistens, wahrscheinlich aus denselben Gründen wie die weißen Tischtücher, auf dem Tisch stehen, stecke ich mir gedankenverloren doch immer wieder ganz viele davon in den Mund. Wenn es im Hals zu kratzen anfängt und ich keine Luft mehr bekomme, fällt mir wieder auf, dass ich wirklich allergisch bin. Ich sollte darum bitten, keine Nüsse in die Garderobe zu stellen, aber etwas abzusagen ist schwieriger, als etwas zu bestellen, eine Hochzeit geht auch viel schneller als eine Scheidung. Und generell sind Nüsse sehr gesund, wenn man von der Blausäure absieht. Damit sie nicht auf dem Boden liegen, sammele ich die Nüsse auf und stecke sie mir doch wieder in den Mund, weil ich nicht an die Schüssel herankomme. Wie eklig alte Nüsse schmecken, habe ich ganz vergessen. Ich muss an Tran denken, obwohl ich nie Tran gekostet habe. Um diesen Geschmack aus dem Mund zu bekommen, suche ich mir eine Flasche Wasser. Wieder muss ich mich durch das Eis wühlen. Dabei kann ich mir gleich die Hände waschen, denn auch wenn es Diät-Cola sein soll, klebt sie doch gewaltig an den Fingern. Mann, ist das Wasser kalt. Da sterben mir die Finger ab. Viel lieber hätte ich ja eine Wasserflasche, die nicht stundenlang im Eis gelegen hat. Aber hier gibt es kein warmes Wasser, also jedenfalls nicht in der Flasche, also stelle ich mir wenigstens für nachher ein paar Flaschen auf den Tisch, damit sie auftauen können. Sind das jetzt schon diese berüchtigten Starallüren?

Ein Luxusproblem ist das mit dem warmen Wasser auf jeden Fall, aber wenn ich so erhitzt von der Bühne komme und dann eiskaltes Wasser trinke, bekomme ich Magenkrämpfe, oder ich erkälte mich praktisch von innen und bin dann tagelang krank. Krankheit während einer Tour ist ein Extrakapitel. Irgendein Ehrenkodex besagt, dass nur der Tod ein ausgefallenes Konzert rechtfertigt. Jedenfalls erzählten mir das alle gestandenen Musiker, wenn das Gespräch auf Krankheiten kam. Also stehe ich immer wieder mal mit hohem Fieber auf der Bühne und fiebere dem Ende des Konzertes entgegen. Das Feuer erhitzt mich dann noch ein bisschen mehr. Es ist schon fast wie eine Behandlung. Ein Treatment, wie sie beim Ayurveda sagen. Nur den Rauch sollte ich lieber nicht einatmen, denn diese diversen Gifte haben im menschlichen Körper nichts zu suchen, egal, ob man jetzt gerade krank ist oder nicht. Nach dem Konzert geht es mir dann meistens sogar ein bisschen besser. Durch die Aufregung blende ich die Schmerzen und das Unwohlsein aus, so richtig schlecht geht es mir erst wieder am nächsten Tag. Da stehe ich dann mit Schüttelfrost am Flughafen und quäle mich während der langen Fahrten im sogenannten Shuttle zum Hotel oder zum Veranstaltungsort. Ich sehne mich dann ganz doll nach einem Bett, in dem ich einfach liegen bleiben kann. Das sind trübe Stunden. Wer will es mir da verübeln, dass ich rechtzeitig auf meine Gesundheit achte und lieber kein eiskaltes Wasser trinken will.

Ich betrachte also mit stumpfem Blick die Wasserflaschen auf dem Tisch. Langsam beschlagen sie von außen, und die ersten Tropfen laufen vorsichtig herab. Ich warte darauf, dass endlich die Cola wirkt. Und als ich an die Cola denke, fällt mir ein, dass ich auch einen Kaffee trinken könnte, davon soll man ja auch wach werden. Wann war ich das letzte Mal richtig wach? Ich schlafe sogar problemlos nach Kaffee ein, aber da ich immer und überall sofort einschlafen kann, messe ich dem nicht so viel Bedeutung bei. Die Fähigkeit, schnell einschlafen zu können, ist wichtig, wenn man Musiker werden will, denn wer oft spät ins Bett kommt, sollte den Schlaf am Tag nachholen können, bevor er wieder auf die Bühne klettert.

Ich kenne einen Gitarristen, der sofort einschläft, sobald er im Bandauto sitzt. Er hat mir mal von seinen Schwierigkeiten erzählt, aus dem Bett zu steigen. Wenn er schnell aufstand, machte sein Kreislauf nicht mit, und ihm wurde schwarz vor Augen, so dass er wieder aufs Bett fiel, und wenn er sich langsam im Bett aufsetzte, roch er seine Füße, und ihm wurde auch wieder so schlecht, dass er sich hinlegen musste. Dagegen geht’s mir doch noch relativ gut. Ich bin einfach nur müde. Und jetzt habe ich eben Lust auf Kaffee und gehe in den Nachbarraum, weil ich annehme, dass dort Kaffee zu finden ist. Paul, einer unserer Gitarristen, der da jetzt sozusagen wohnt, trinkt nämlich gerne einen frisch gebrühten Kaffee vor dem Konzert. Paul macht sich das Leben mit der Band richtig schön. Er besitzt die Gabe, die ganzen Umstände, die mit unserem Erfolg verbunden sind, in vollen Zügen zu genießen. Es macht ihm einen Riesenspaß, mit den anderen Bands, die wir früher nur aus dem Radio kannten, zu fachsimpeln. Er freut sich, wenn er auf den Festivals erkannt und gegrüßt wird. Er geht gerne abends in gepflegter Atmosphäre essen und trinkt einen guten Wein dazu. Er hat sich sogar mal ein fabrikneues Auto gekauft! Ich finde das beneidenswert, bekomme es aber selbst nicht so richtig hin. Und gerade Paul kann das, der Paul, der jahrelang nicht mal einen Gitarrenkoffer hatte, sondern seine Gitarre in eine Plastiktüte gewickelt hat und sie so mit sich herumtrug. Der Paul, der sich in seiner Jugend scheinbar ausschließlich von Knäckebrot ernährte. Der in Schuhen herumlief, die er im Müllcontainer gefunden und sofort angezogen hatte. Und der schon zu Feeling-B-Zeiten sofort nach dem Konzert von der Bühne ins Publikum gesprungen ist, um zusammen mit dem Publikum den ganzen Abend weiter zu tanzen. Und jetzt ist er in einem gemütlichen Zimmerchen, das so aussieht, als wäre es aus einem Katalog für gemütliches Wohnen ausgeschnitten worden.

Sofort umfängt mich eine anheimelnde Atmosphäre. Verdunkelte Stehlampen spenden ein warmes Licht, und ich höre leise Musik. Oliver, der Bassist, liegt in Sportzeug auf dem Sofa und versucht wieder einzuschlafen, denn Tom hat auch ihn gerade nach seinen Gästen gefragt. Ich glaube nicht, dass Olli hier Gäste hat. Aber ich weiß es natürlich nicht. Ich weiß leider so gut wie gar nichts über ihn. Zumindest habe ich keine Ahnung, was er denkt oder was er von dem ganzen Zirkus hält. Angeblich ist das ein Markenzeichen von Bassisten, dass sie einfach da sind und ihre Sachen spielen, ohne viel zu sagen, aber das muss auch nicht auf ihn zutreffen, denn ich habe gehört, dass er eigentlich Gitarrist werden wollte und nur, weil es schon einen Gitarristen in der damaligen Band gab, einen Bass in die Hand gedrückt bekam. Bassisten spielen ja bekanntlich gerne stundenlang stoisch ein Thema, aber Olli ist dafür viel zu ungeduldig. Ich finde das gut, denn dadurch hat er immer wieder neue Ideen, auf die kein Mensch von uns kommen würde. Ob diese Ideen dann verwirklicht werden, ist eine andere Geschichte. Ich schaufele mir zwei Löffel Kaffee in eine Tasse und will den Wasserkocher anmachen, aber das Wasser ist noch heiß. Es ist mir unangenehm, dass ich dabei etwas Kaffee verschüttet habe, denn die Garderobe sieht noch so schön aufgeräumt aus. Jetzt auch noch die Milch, denn ich bekomme diese Tetra Paks so schlecht auf. Eine Schere müsste man haben.

Leise gehe ich wieder in meine Garderobe. Damit ich mich nicht verlaufe, hat der Assistent des Bandassistenten einen eingeschweißten Zettel mit meinem und Tills Namen an die Tür geklebt. Im Flur kleben auch noch die anderen Schilder, auf denen steht, wo es zur Bühne, zum Essen und zum Produktionsbüro geht. Die werden jeden Abend nach dem Konzert wieder abgemacht und eingepackt. Ins Produktionsbüro gehe ich eigentlich nie, höchstens wenn ich Gäste habe und vergesse, Tom davon zu informieren. Und das kann eigentlich nicht passieren. Alle Schilder sind auf Englisch, und wir mussten am Anfang die ganzen Begriffe lernen.

Als ich zum ersten Mal einen Wegweiser zur Wardrobe gesehen habe, bin ich davon ausgegangen, dass der Verfasser des Schildes ein Witzbold war, der ein Wortspiel mit Krieg machen wollte, weil wir uns manchmal nach einem schlechten Konzert in der Garderobe ein bisschen anschreien und dann vielleicht auch mal etwas runterfällt. Aber bei anderen Bands steht auch Wardrobe, sogar bei Coldplay, und das sind ja nun wirklich die leisesten und rücksichtsvollsten Musiker, die man sich vorstellen kann. Ich suche jedenfalls die Wardrobe, die mir zugedacht ist, und gehe hinein. So schwer zu finden war das jetzt nicht, ich kam ja aus dem Nachbarzimmer. Jetzt sitze ich wieder auf dem Sofa und rüttele am Reißverschluss. Er geht immer noch nicht auf. Hat die Cola noch nicht lange genug eingewirkt?

Mein Blick wandert zur Uhr. In jeder Garderobe hängt eine Uhr aus dem Ein-Euro-Laden oder von Mäc-Geiz an der Wand. Die packen wir immer nach dem Konzert mit ein, und Tom hängt sie am nächsten Tag wieder gut sichtbar auf. Einmal ist unsere Uhr stehengeblieben, weil die Batterie leer war. Da kann man mal sehen, wie lange wir schon unterwegs sind. Oder jemand hat die Batterie geklaut. Hat sie für ein Videospiel gebraucht oder so. An diesem Tag haben wir es fast nicht geschafft, pünktlich auf die Bühne zu kommen. Na ja, das habe ich jetzt etwas dramatisiert, meistens schaffen wir es dann doch, pünktlich anzufangen, in dieser Beziehung sind wir keine Punks, sondern so ordentlich wie deutsche Beamte, falls die überhaupt so ordentlich sind, wie ich denke.

*

Schon wieder gab es eine neue Band. Ich kam gar nicht mehr hinterher. Fast alle Musiker, die ich kannte, spielten gleichzeitig in mehreren Bands und bewegten sich mit den jeweiligen Musikern in völlig unterschiedlichen Musikrichtungen.

Ich blieb selber nicht davon verschont, ich versuchte in wirklich jeder Band mitzuspielen, die sich irgendwo gründete. So kam es manchmal dazu, dass wir an einem Abend bei ein und demselben Konzert in mehreren Bands spielten. Die zuletzt gegründete Band war immer die spannendste. Wenn meine Bandkollegen wieder mit neuen Leuten etwas ausheckten, freute ich mich natürlich auf die neue Band, war aber gleichzeitig auch etwas eifersüchtig. Warum hatten sie mich nicht gefragt, ob ich mitspielen will?

Als Paul bei der Firma einstieg, also bei der Band, die die Firma hieß, gefiel mir die Musik so gut, dass ich, so oft es ging, mit der Band zu ihren Konzerten fuhr, obwohl ich dort gar nicht mitspielte. Ich hörte ihnen einfach gerne zu. Ich war ein männliches Groupie. Das geht auch ohne Sex. Hauptsache, im Bus war noch ein Platz frei. Oder in irgendeinem anderen Auto. Die ganze Herangehensweise an die Musik war in dieser Band eine andere. Was uns sonst wichtig war, interessierte jetzt niemanden mehr. Mein lustiges Geplimper wollte keiner hören. Wenn ich dabei sein wollte, sollte ich richtig gruftig spielen oder mit Gefühl, was mir noch schwerer fiel. Umgekehrt war es genauso. Als ich mit zwei anderen Leuten eine neue Band gründete, kam Paul als Gast zu einigen Konzerten mit. Er spielte später noch in der Band, als ich wieder ausgestiegen war.

Und jetzt gab es schon wieder eine neue Band, und Paul hatte mir nichts davon gesagt. Ich merkte es nur, weil ein Zettel an der Tür hing. Da stand etwas von einer Probe, und darunter war mit dem Kugelschreiber ein abstürzendes Flugzeug gezeichnet worden. Ich machte den Zettel ab und las ihn mir gründlich durch. Dann legte ich ihn auf den Küchentisch, denn ich wohnte mit Paul in einer Wohnung. Ich musste jetzt noch herausbekommen, mit wem Paul da zusammenspielte. Vielleicht wurde er ja abgeholt. Aha, mit Schneider. Das war ja auch unser Trommler bei Feeling B. Den hatte ich schon eine Zeitlang nicht mehr gesehen.

Wenn ich ehrlich zu mir gewesen wäre, hätte ich mir eingestehen müssen, dass es Feeling B eigentlich gar nicht mehr so richtig gab. Wir hatten schon lange keine neuen Lieder gemacht und spielten nur noch manchmal vor unseren alten Fans, wenn wir Geld brauchten. So etwas wollte ich natürlich nicht wahrhaben und betrachtete mit leichter Sorge, dass zwei Mann von uns sich um eine neue Band kümmern wollten.

Dann machten angeblich noch zwei Leute aus Schwerin mit. Und sie wollten neue, ganz harte Musik machen. Bei den Autofahrten hörten wir zu dieser Zeit viel Pantera und Ministry. Das lag daran, dass wir zu unseren Konzerten bei Schneider im Auto mitfuhren und er als Fahrer natürlich die Musik bestimmen durfte. Das war eine Art von Musik, mit der ich erst mal nicht so viel anfangen konnte. Aber die immer wiederkehrenden Klangfetzen, die man auch als Samples bezeichnet, gefielen mir. Ich hatte mir schon für Feeling B irgendwann einen Sampler gekauft, um bei solch moderner Musik mitspielen zu können, denn mit meinem Spielzeugcasio aus den achtziger Jahren hätte ich da eigentlich nicht aufzutauchen brauchen. Bin ich natürlich trotzdem. Aber ein Sampler war meiner Meinung nach damals ein recht modernes Gerät. So etwas benutzten die richtig angesagten Bands.

Irgendwann kam dann der Tag, an dem ich mich doch zu einer Probe eingeladen fühlte. Ich war völlig eingeschüchtert. Da standen fünf böse Männer im Halbdunkeln. Ich erkannte den Gitarristen neben mir. Das war Richard, ein toller Typ aus Schwerin, der mir schon bei mehreren Bands aufgefallen war. Erstens sah er gut aus, und zweitens hatte er einen wahnsinnig guten Gitarrensound. Er hatte mit Schneider und Olli diese neue Band gegründet. Dann haben sie Paul mit dazu genommen. Selbst der war ganz verändert. So eine ernste und konzentrierte Probe hatte ich seit Jahren nicht erlebt. Genau genommen noch nie. Zu meiner Überraschung sollte Till der Sänger der Band sein, ein alter Freund aus der Nähe von Schwerin, den wir immer gerne besucht hatten. Eigentlich war er der Trommler in einer lustigen Band. Selbst da hatte Paul schon mitgespielt. Als Trommler hatte Till mir unheimlich gut gefallen, obwohl oder gerade weil er nicht wie ein richtiger Trommler wirkte. Ich glaube, es ging ihm ein wenig so wie mir, er hat die vielen Bands aus dem Boden schießen sehen und erkannt, wie beliebt Musiker bei den Frauen sind, und wollte einfach dabei sein. Damit hat er die Idee der Punkmusik voll verkörpert.

Er hat für sich das Schlagzeug gewählt, weil es ihm wohl am meisten entspricht. Er spielte nicht mit raffinierter Technik, dafür mit Begeisterung und unwahrscheinlicher Kraft. Es war eine Augenweide. Wenn diese Band im Konzert ihre Zugabe spielte, stand Till auf und fing an zu singen. Dieses Lied hatte dadurch einen besonderen Reiz, und man konnte hören, was Till für eine tolle Stimme hat. Eigentlich war es das schönste Lied der Band.

Und jetzt wollten die Jungs eine Band mit ihm als Sänger gründen. Was heißt, sie wollten, sie hatten es schon längst getan, nur ich hatte davon nichts mitbekommen. Ich konnte den Gedanken, dass sie mir mit Absicht nicht Bescheid gesagt hatten, nie ganz unterdrücken. Da war auch etwas Wahres dran. Aber jetzt stand ich mit im Keller und versuchte, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Meine Meinung zu den Liedern war erst einmal nicht gefragt. Aber wenn man mich gefragt hätte, wäre meine Antwort sofort gewesen, dass ich völlig überwältigt war. Die Lieder waren einfach perfekt. Ich hatte noch nie solche Gitarrenriffs gehört, geschweige, dass mir in dieser Richtung etwas eingefallen wäre, aber sie trafen genau ins Ziel. Selbst ich, der schon etwas älter war als das Publikum, das sich später so davon angesprochen fühlen sollte, war hin und weg. Und Tills Stimme berührte mein Herz, da war es erst mal völlig egal, was er sang. Die ersten Lieder waren zum Teil noch auf Englisch, ohne dass mir das auffiel.

Wenn Jugendliche erwachsen werden, entscheidet oft ein kleiner Zufall, welche Musik sie während dieser Zeit hören und welche Richtung daraufhin ihr Leben nimmt. Und diese Musik war wie dafür geschaffen, aufzuspringen und sich durchs Leben tragen zu lassen. Für mich war das wie eine zweite ganz große Liebe.

Denn als ich in meiner Jugend bei meinem eigenen Erwachsenwerden bei Feeling B spielte, war ich auch schon unendlich glücklich und erfüllt. Ich rannte jeden Tag begeistert zur Probe, egal, was wir dann machten. Meistens saßen wir nur herum und betranken uns. Ich musste allen von meiner Band erzählen, und mir war damals schon klar, dass ich nichts anderes im Leben mehr machen wollte. Also vom musikalischen und menschlichen Standpunkt aus gesehen. Ich genoss jeden Meter auf den langen, schlechten Straßen, die uns zu den Konzerten führten, und sog tief und glücklich die biergeschwängerte Luft des Dorfsaals ein, wenn wir am Nachmittag in einem verlassenen Ort im Niemandsland ankamen. Ich brauchte keine anderen Menschen mehr um mich. Nur die Band musste in der Nähe sein. Ich musste kein einziges Mal darüber nachdenken, ob ich das Richtige mache oder ob ich glücklich bin. Und dann, Jahre später, als ich gar nicht mehr damit rechnete, war es wieder so. Ich fand einfach alles gut, was mit mir geschah.

Das Verrückte war, dass dieses Gefühl jetzt noch viel stärker war, als in den anderen Bands. Die Musik gefiel mir so gut, dass ich sie immer wieder hören wollte. Bei einem Lied, wir nannten es den Matrosen, ganz so, als wäre es ein lebendiges Wesen, fiel mir nicht auf, dass ich da gar nicht mitspielte, denn ich hörte beim Proben jeden Ton so intensiv, als ob ich all die Töne selber spielen würde. Ich verstand nicht mal, warum die Gitarristen an den Liedern noch so herumfeilen und alles verbessern wollten, für mich gab es nichts zu verbessern, in den Liedern war alles drin, was sie brauchten. Ob ein Ton so oder so gespielt wurde oder ob das Lied schneller oder langsamer war, veränderte in meinen Augen, oder vielmehr Ohren, das Ergebnis kein bisschen. Die Lieder waren einfach gut, und sie spielten sich auch ganz anders als die, bei denen lange nachgedacht wurde. Sie waren wie junge Hunde, die einfach losrannten. Ich kam da kaum hinterher, da ich die Musik nicht durchschaute oder nicht richtig verstand, aber das war nicht unbedingt ein Nachteil. Ich war zwar von der Musik überfordert, aber so war ich gezwungen, mir selbst etwas dazu auszudenken. Das war dann oft völlig artfremd, denn ich konnte nicht spielen, was andere an dieser Stelle getan hätten, weil ich es eben nicht kannte. Diese Art von Musik mit solchen Gitarren und einem Keyboard war ja zu dieser Zeit nicht so populär. Ich spielte einfach das, was mir als Erstes in den Sinn kam. Ich dachte nicht groß darüber nach, sondern versuchte so laut zu spielen, dass ich überhaupt zu hören war. Das war nicht so einfach, also wartete ich, bis in einem Lied mal eine kurze Pause entstand, und füllte sie schnell mit ein paar Tönen. Dann blickten mich alle strafend an. Da hatte ich wieder mal genau das Falsche gemacht.

Diese Band sollte sich von den anderen, bei denen ich davor mitgespielt hatte, zusätzlich durch ihre Disziplin unterscheiden. Ursprünglich auch dadurch, dass niemand versuchte, sich in den Vordergrund zu drängen. Eine Vorgabe, die man als Musiker eigentlich nicht erfüllen kann. Also spielte ich nicht mehr in den Pausen, aber an den Stellen, bei denen nicht alle mit ganzer Kraft loshämmerten. Den Gesang sollte man ja verstehen. Dann fand ich noch einen Sound, der sehr laut und verzerrt und gar nicht mehr als Keyboardklang erkennbar war. Es klang eher wie ein sterbender Saurier. Diesen Saurier spielte ich in jedem Lied, weil er noch im größten Krach zu hören war. Wenn es auch nicht ganz das war, was die Band von mir erwartete, war es doch besser als nichts, und zum Glück kannten sie in dieser Zeit keinen anderen Menschen, der Keyboard spielte und der sowohl Zeit als auch Lust hatte mitzuspielen.

Der Einstieg in eine Band war in unseren Kreisen an keinerlei Bedingungen geknüpft, und oft wurde nicht einmal ausgesprochen, ob jemand Mitglied ist oder nicht. Wer regelmäßig zur Probe kam, war einfach dabei, wenn er nicht explizit gebeten wurde, nicht mehr zu kommen. Das kam aber eigentlich nie vor, denn man merkt normalerweise selber, ob man willkommen ist oder nicht. So viel Gespür sollte man als Musiker schon mitbringen.

Ich jedenfalls kam nach der ersten Probe immer wieder in den Keller und musste so nicht darüber nachdenken, ob ich jetzt Bandmitglied war oder nicht. Außerdem war noch nicht klar, ob es diese Band wirklich geben würde und ob sie in dieser Besetzung überhaupt bestehen könnte, es hatte bis zu dem Zeitpunkt noch kein einziges Konzert mit uns stattgefunden. Ein Konzert vor fremden Menschen ist für mich so etwas wie der Startpunkt einer Band. So konnte ich vorher die mir noch etwas fremden Bandmitglieder kennenlernen.

Endlich gab es ein paar neue Menschen, mit denen ich Musik machen konnte, wenn ich auch etwas Angst vor ihnen hatte, denn das waren solche Leute, die echten Einsatz von mir erwarteten und für die es nicht reichte, dass ich der lustige, unbeholfene Flake war, dem man alles großmütig nachsieht. Schnell wurden mir meine musikalischen Grenzen aufgezeigt, und ich musste langsam aufwachen, wenn ich weiter mitspielen und nicht in meinen muffigen Osterinnerungen hängenbleiben wollte.

Es gab ja wirklich mal Zeiten, in denen es ausreichte, wenn ich mich mit meinem Casio bei einer anderen Band, wie zum Beispiel bei die anderen, die später Namensgeber für die sogenannten anderen Bands werden sollten, auf die Bühne stellte, um das Gefühl zu bekommen, etwas ganz Tolles zu machen und ein ganz toller Hirsch zu sein. In dieser Beziehung wurde jetzt nichts mehr verschenkt. Dafür durfte ich an diesen herrlich lauten und kraftvollen Proben teilnehmen und bekam schnell das Gefühl, ein Teil einer großen Sache zu werden, ohne im Geringsten zu ahnen, was jetzt alles auf uns zukommen würde. Es war wie bei einer Verschwörung, wer einmal dabei war, für den gab es kein Zurück mehr.

 

Ziemlich schnell mussten wir unseren ersten Proberaum verlassen und zogen in den Keller der Kulturbrauerei. Da hieß die aber noch nicht so, es war einfach eine alte leerstehende Brauerei in der Knaackstraße. Hier gewöhnten wir uns an, jeden Tag zu proben. Außer mir hatten sich gerade alle von ihren Freundinnen getrennt und demzufolge keine Lust, alleine zu Hause zu sitzen. Außerdem erkannten wir, welchen Spaß es bringt, intensiv Musik zusammen zu machen. Wir hatten wie gesagt noch kein einziges Konzert gegeben und waren uns noch nicht sicher, wohin die Reise gehen würde, aber wir spürten, dass wir eine Tür zu einer uns unbekannten Welt aufgestoßen hatten, die sehr verlockend aussah.

Ich war zu dieser Zeit schon stolz auf unsere Band. Wir wirkten wirklich böse, da niemand von uns ein Interesse daran hatte, irgendjemandem zu gefallen. Wir wollten nicht so sein wie die anderen Bands. Nicht so aussehen und vor allem nicht nach den üblichen Regeln spielen. Die dachten alle so kleinkariert. Waren wir jetzt nicht im Westen angekommen, wo angeblich alles möglich war, ohne dass man sich verbiegen oder lügen musste? Wir wollten es alleine schaffen, wir brauchten keine Hilfe, nicht mal einen Gefallen. Mit sechs Mitgliedern waren wir uns selbst genug.

Ich erzählte meiner Familie stolz von meiner neuen Band, und mein Bruder wurde ganz neugierig auf uns. Er sang zu dieser Zeit in einer Band, die internationale Hits mit phonetisch verwandten Texten nachspielte. Like a Virgin von Madonna hieß dann Wie ein Würstchen. Bei Heroes von David Bowie sang er: Hallo, ist hier ein Stuhl frei? Nein, da sitzt Bärbel Bohley, na, dann nehm ich ein Rührei usw. Also eher komödiantisch, aber sehr unterhaltsam. Er hatte mit seiner Band jedenfalls einen Auftritt in Leipzig und lud uns ein, bei ihm als Vorband zu spielen. Da niemand wusste, dass wir mitkommen würden, mein Bruder dort aber schon mal gespielt hatte, waren dann im Club Nato in Leipzig auch hauptsächslich, ich meine natürlich hauptsächlich, gut aufgelegte Studenten und Intellektuelle, die sich einfach vergnügen wollten. Und plötzlich standen wir da auf der Bühne.

Dieses Konzert hätte ich gerne als Zuschauer gesehen. Wir wirkten ganz ernst und fingen an zu spielen, ohne vorher ein Wort zu sagen. Immer dasselbe langsame Riff. Es muss richtig bedrohlich gewesen sein, da wir keinerlei Show machten, sondern einfach ganz ruhig unsere Titel spielten, ohne die geringste Notiz vom Publikum zu nehmen. Nach den einzelnen Liedern klatschte niemand, denn das wäre irgendwie unpassend gewesen. Die Leute standen einfach da und starrten uns an. Wahrscheinlich fragten sie sich, was unser Problem war. Till machte nicht die geringsten Anstalten, zwischen den Liedern etwas zu sagen oder sonst wie die Stimmung aufzulockern. Natürlich waren wir auch aufgeregt und hätten gar nicht gewusst, wie wir diese Spannung lösen könnten. Richard vergaß sogar manchmal beim Spielen zu atmen.

Nach dem Konzert klatschten dann zögerlich doch ein paar Leute, besonders als sie feststellten, dass die Band, wegen der sie ja eigentlich gekommen waren, jetzt noch spielen würde. Der Abend wurde dann auch noch ganz lustig. Ein Gast kam auf mich zu und erklärte mir, dass er unsere Band ganz toll finde, und am allerbesten gefalle ihm, dass einer unserer Gitarristen wie Karl-Heinz Rummenigge aussehe. Ein anderer meinte, wir sollten uns AIDS nennen, das würde besser zu uns passen.

Da wir in meinem schönen Kombi nach Leipzig gefahren waren, durfte ich nach dem Konzert die Band auch wieder nach Berlin fahren. Alle stiegen euphorisiert und mit gewaltigen Alkoholvorräten ins Auto, aber eine Viertelstunde später war ich als Einziger noch wach. Ich hatte große Schwierigkeiten, das Auto auf der Straße zu halten, da das Lenkgetriebe kaputt und die Spur falsch eingestellt war. Für solche Reparaturen hatte ich kein Geld übrig. Trotzdem verspürte ich dieses große Glücksgefühl. Es hatte Spaß gemacht, die Leute zu überraschen.

Mit Feeling B hatten wir in der letzten Phase überwiegend vor Leuten gespielt, die uns kannten. Die waren dann zwar unsere Fans, die sich gefreut haben und richtig gute Stimmung verbreiteten, aber es war ein ganz besonderes Gefühl, vor Leuten zu spielen, die uns noch nie gesehen hatten. Das ist durch nichts zu ersetzen.

*

Ich könnte jetzt eine Zigarette rauchen. Eigentlich will ich ja aufhören. Oder nur noch ganz gemütlich zum Sonnenuntergang mit meinen Freunden eine einzelne Zigarette so richtig genießen. Das ist für mich natürlich völlig illusorisch. Entweder ich bin Raucher oder nicht. Hier drin ist das Rauchen sowieso verboten. Die Rauchverbotsschilder sind überall zu sehen, da ist es sogar egal, in welchem Land ich gerade bin, denn das Piktogramm mit der durchgestrichenen Zigarette versteht man auf der ganzen Welt.

In Amerika war ich sogar einmal in einem Café, wo mit Blindenschrift an der Wand Rauchen verboten stand. Also ich denke mal, dass es Rauchen verboten hieß, weil oben drüber das dazugehörige Zeichen war, aber das muss ja nichts bedeuten. Bloß wie sollen die Blinden die Stelle finden, wo das steht? Dazu müssten sie die ganzen Wände abtasten. Das ist doch unhygienisch. Zumindest wurden sie da nicht diskriminiert. Wenn man von einem Verbot ausgenommen wird, ist das ja ebenfalls Diskriminierung.

Wir waren auch mal in Austin, Texas, in einer Westernkneipe. Es sah alles fast genauso aus wie im Film, mit den alten Holzmöbeln und richtigem Pferdezubehör vor der Tür, und alles war schön abgewetzt. Die Gäste tranken das Bier direkt aus der Flasche, und es liefen die Lieder von Johnny Cash. Aber etwas fehlte. Man musste zum Rauchen nach draußen gehen. Das störte selbst mich, obwohl ich in dieser Zeit nicht rauchte. Ein Cowboy, der zum Rauchen nach draußen geht, hat auch Angst vor Indianern. Und hier im Backstage-Bereich patrouillieren ständig Sicherheitsbeamte durch die Gänge. Man sagt, die schmeißen uns sofort raus, wenn sie uns beim Rauchen erwischen, selbst wenn das Konzert dann ausfällt. Wir glauben das zwar eigentlich nicht, aber so richtig darauf ankommen lassen will es auch keiner.

Mein Blick wandert ganz langsam wieder zur Uhr. Sie geht wieder. Oder immer noch. Es bleiben noch mehr als drei Stunden bis zum Konzert. So viel Zeit! Eigentlich ist die Zeit ja das Wertvollste, was ein Mensch hat. Das ganze Leben besteht nur aus Zeit. Davon bekommen auch alle gleich viel, denn solange man lebt, ist der Tag für jeden gleich lang. Und wenn man tot ist, ist man ja nicht mehr da, um die Zeit zu nutzen, also braucht man die Zeit nicht mehr. Bei manchen Menschen wird es natürlich abends früher dunkel, aber die Zeit an sich ist dieselbe, man kann ja das Licht anschalten. Zeit kann man sich auch nicht kaufen. Höchstens, dass man in einer bestimmten Zeit nicht arbeiten muss, sondern etwas anderes machen kann. Mir hat mal eine Frau erzählt, dass sie arbeiten gegangen ist, um Geld für den Babysitter zu verdienen, der dann auf ihr Kind aufgepasst hat, damit sie arbeiten konnte. Genial. Die Zeit ist dieselbe, aber die Frau war wieder sozial eingebunden, und das ist für ein menschliches Leben auch ganz wichtig.

Ich sollte mich mit meiner vielen freien Zeit sehr reich fühlen, aber so richtig frei ist die Zeit nicht, wenn ich weiß, dass ich nachher noch spielen muss. Als ich noch arbeiten war, kam mir die Freizeit viel freier vor. Da habe ich mich über jede halbe Stunde gefreut, die ich nichts machen musste. Das ist aber schon lange her, und es waren auch nur insgesamt drei Jahre in meinem Leben. Und richtige Arbeit war es natürlich auch nicht, sondern nur meine Lehrlingszeit.

Ich kann ja mal kucken, ob mit meinem Reißverschluss etwas passiert ist. Er geht immer noch nicht auf. Komisch, früher hat das geklappt. Ob es an der Cola liegt?

Im Osten hatten wir ja die Club Cola, die war wahrscheinlich etwas härter. Ein Mitlehrling hat mal eine Bockwurst aus der Kantine in ein Glas gelegt und Club Cola draufgekippt. Am nächsten Tag war die Wurst so gut wie aufgelöst. »So sieht dann auch die Magenwand aus«, sagte der Lehrmeister. Also sollte die Cola spielend mit meinem Reißverschluss fertig werden.

Ich schaue auf die Uhr. Immerhin schon wieder vier Minuten geschafft. Mann, ist das kalt hier! Jetzt gehe ich wirklich raus und rauche eine Zigarette. Ich brauche nur noch meinen Tourpass, damit ich später wieder hierher zurückkomme. Die Crew hängt sich ihre Pässe um den Hals oder mit dem Bändchen an die Hose, aber ich will meinen Pass nicht so sichtbar tragen, denn ich befürchte, sonst in der Stadt oder so mit der Band in Verbindung gebracht zu werden. Die Leute könnten denken, ich will angeben und mich wichtigmachen, indem ich allen zeige, dass ich zur Rammstein-Crew gehöre, damit ich bessere Chancen bei den Frauen habe. Man glaubt gar nicht, auf welche Ideen manche Leute kommen.

Ich durchwühle meinen Beutel. Ich habe immer so einen praktischen Stoffbeutel mit meinen persönlichen Sachen bei mir. Im Osten gab es diese geilen Einkaufsnetze. Da konnte man auf einen Blick sehen, was man alles eingekauft hatte. Die kleinen Dinge fielen durch die Maschen, die musste man sich dann in die Hosentaschen stecken. Aber diese Netze haben nur noch sehr alte Männer. Und ich habe eben einen grauen Beutel von der Thalia-Buchhandlung. Da scheint sich jemand ein Buch gekauft zu haben. Ach, da ist auch noch ein belegtes Brötchen von gestern. Das habe ich mir nach dem Konzert mitgenommen, um es abends im Hotelzimmer in Ruhe zu essen, und dann vergessen. Also das Vergessen war nicht meine Absicht. Dieses Brötchen ist jetzt über tausend Kilometer mit mir gereist und sieht dementsprechend aus. Es wegzuwerfen tut mir aber auch leid, und ich lege es zurück in den Beutel. Und hier ist mein Tourbuch. Es heißt Itinerary, ich kann das aber nicht aussprechen und sage immer Eternity dazu. Das heißt wohl Ewigkeit, und so kommt mir die Tour auch manchmal vor.

Auf den ersten Seiten stehen alle Firmen, die mit uns auf der Tour zusammenarbeiten, richtig mit Adresse und Telefonnummer. Also auch das Reisebüro, das Management, die Sicherheitsfirma, die Versicherungsgesellschaft und natürlich die Firmen für das Licht und den Ton. Da kann ich ja mal anrufen und fragen, wie viele Boxen wir mithaben. Dazu hätte ich jetzt wirklich Lust, denn ich habe als Kind nie Telefonstreiche gemacht, ganz einfach, weil wir kein Telefon hatten, und an den Telefonzellen war mir mein Geld dafür zu schade. Da war ich schon froh, wenn ich die Leute erreichte, die ich sprechen wollte. Meistens ging es darum, wann die nächste Probe oder wo die nächste Party war.

Auf der nächsten Seite kommen die Bandmitglieder. Ich suche meinen Namen. Aha, dahinter steht Keyboard bei mir, das ist alles soweit richtig. Und ich stehe an zweiter Stelle. Das ist richtig gut. Bei einem Voting im Internet, bei dem nach dem beliebtesten Rammstein-Mitglied gesucht wurde, kam ich erst an sechster Stelle. Das ist bei sechs Leuten nicht so gut, aber einer muss ja der Letzte sein. Und da ist es schon besser, wenn ich das bin, denn ich tue so, als wäre es mir egal.

Ich blättere noch eine Seite weiter. Da sind alle Crewmitglieder aufgeführt, sortiert nach ihren Aufgaben. Wahnsinn, was es alles gibt. Ich lese mir ihre Namen durch und versuche, mir die Gesichter dazu vorzustellen. Einige von ihnen kenne ich schon seit vielen Jahren, aber andere sind ganz neu dabei. Die Rigger kenne ich wohl noch nicht so gut, das sind die Leute, die als Erstes in die Hallen gehen und an der Decke die ganzen Haken für unsere Traversen und Motoren befestigen. Für mich wäre das nichts, weil ich unter Höhenangst leide.

Wenn ich als Kind meine Tante im Hochhaus auf der Fischerinsel besuchte, konnte ich, wenn ich aus dem Treppenhaus kam, auf einen kleinen Balkon heraustreten und dann an der Hauswand einmal hoch und runter kucken. Dabei wurde mir so schwindelig, dass ich mein Leben lang nicht mehr mit dem Karussell oder der Achterbahn fahren brauche. Als meine Eltern dann mit mir in der Sächsischen Schweiz klettern waren, band mich mein Vater mit einem Riemen an einer Kiefer fest, damit ich nicht herunterfiel. Davor habe ich aber auch in meiner Begeisterung eine Felsspalte übersehen und bin nur nicht abgestürzt, weil ich mich wie ein Äffchen mit einer Hand an einer Stange festgehalten habe. Also Rigger kann ich schon mal nicht werden. Vielleicht ein Lichttechniker. Von denen sind wohl auch einige zum ersten Mal dabei. Die kommen aus den Niederlanden, das sehe ich an den E-Mail-Adressen. Da steht nl hinten.

Ich blättere weiter in meinem Tourbuch. Jetzt kommen die Tontechniker, Systemassistenten, der Vorhangverantwortliche, die Setleute, der Accountmann, die Busfahrer, die Trucker und natürlich die Backliner. Mit denen haben wir jeden Tag direkt zu tun, weil sie unter anderem unsere Instrumente einstellen und uns während des Konzertes betreuen. Wir kennen sie dementsprechend gut. Wir haben mit ihnen zusammen schon vor der Tour alles vorbereitet. Man könnte sagen, wir sind mit ihnen richtig befreundet, aber das betrifft noch viel mehr Leute aus der Crew. Manche kenne ich schon seit ganz langer Zeit. Mit denen war ich schon vor der Gründung von Rammstein befreundet. Einige von ihnen haben früher selbst Musik gemacht. Mit manchen habe ich sogar zusammengespielt. Aber jetzt wirken sie irgendwie zufriedener. Es ist ja auch schwierig, sein ganzes Leben lang Punk zu spielen. Also ich meine die Musik und nicht zu spielen, Punk zu sein, obwohl das bestimmt auch schwierig ist. Für manche Musiker scheint es auch schwierig zu sein, ein Leben lang so viele Stunden keine Musik zu machen und in dieser Zeit kein Rockstar zu sein. Denn selbst, wenn man ein Konzert spielt, sind das nur zwei Stunden am Tag. Den Rest der Zeit verbringt man in Bedeutungslosigkeit. Damit kommen manche Musiker einfach nicht klar, sie betrinken sich dann oder begehen Selbstmord. Dabei bleibt am Tag gar nicht so viel Zeit zum Musikmachen.

Ich habe mal gelesen, dass man zwei Jahre seines Lebens auf dem Klo sitzt. Ein ganzes Drittel des Lebens verschläft man sogar. Da kann man höchstens noch von Musik träumen. In einigen meiner Träume nehme ich Musik auf einen Kassettenrecorder auf, weil ich so etwas früher in jeder freien Minute gemacht habe. Wenn ich es irgendwie geschafft hatte, mir ein neues Instrument oder noch besser ein Effektgerät zu borgen, nahm ich mir als Ziel, mindestens drei Lieder damit aufzunehmen. Da ich mir selber so einen Druck damit machte und ganz viele Lieder aufnehmen wollte, nahm ich mir nie die Zeit, die Lieder so ordentlich einzuspielen, dass sie gut klangen. Diese Aufnahmen habe ich aber trotzdem geliebt. Nach und nach habe ich diese Kassetten alle verloren. Ich habe sie in Autoradios vergessen oder Bekannten geborgt und nicht wiederbekommen. Und jetzt finde ich im Traum einige dieser Kassetten wieder. Ich höre sie mir an und bin ganz begeistert. Natürlich weiß ich sogar im Traum, dass alles nur ein Traum ist. Also versuche ich mir irgendeinen Trick einfallen zu lassen, um diese Aufnahmen in die echte Welt mitnehmen zu können. Ich selbst schaffe schließlich auch diesen Wechsel in die Realität. Was soll ich sagen, es hat noch nicht geklappt, und die alten Aufnahmen geraten immer mehr in Vergessenheit. Das Geld, das ich im Traum gefunden habe, liegt übrigens auch noch dort herum. Aber was soll ich auch mit dem Geld?

Ich sitze hier und kucke mir gemütlich mein Tourbuch an. Auf den nächsten Seiten in meinem Heft kommen alle Konzerte, also zuerst die, die wir schon hinter uns haben. Bologna, London, Paris, Rom und Erkner. Erkner nicht, das ist so ein uralter Witz über einen Berliner, der Weltläufigkeit vortäuschen will und Paris, Rom und Erkner in einem Zuge erwähnt. Zwischen den Konzerten ist immer mal auch ein Tag frei. Das heißt dann Travel Day, dann reisen wir entspannt in die nächste Stadt. Wir haben einmal eine ganze Tour ohne einen einzigen freien Tag gemacht. Die haben wir die Ochsenknecht-Tour genannt, aber das lag daran, dass unser Busfahrer wie Ochsenknecht ausgesehen hat, womit wir den Vater meinten, denn die Söhne kannte da noch niemand. Ich weiß nicht, wann und warum die Konzertreisen einen Namen bekamen. Ich denke mal, sie hießen so wie die Platten, die die Bands gerade veröffentlicht hatten, damit die Fans wissen, welche Lieder hauptsächlich gespielt werden.

Ich sehe gerade, dass es bei uns genauso ist. Auf unserem Tourheft steht MIG2013. Die MIG ist ein berühmtes sowjetisches Kampfflugzeug. Das heißt so, weil der Name seines Erfinders Michail Iossifowitsch Gurewitsch ist. Viele Erfindungen werden nach ihrem Schöpfer benannt, wie auch der Geigerzähler. Der zählt keine Geigen, sondern den hat ein Herr Geiger erfunden. Die MIG 21 hat mich als Kind sehr fasziniert. Im Urlaub habe ich mal in so eine Maschine reinklettern dürfen. Da saß ich direkt auf der Turbine. Das ganze Flugzeug war eine einzige Turbine. Mensch, so könnte man die Tour nennen, Tourbine. Die Bands kennen keinerlei Grenzen in der Namensfindung. Ich denke da an die Schädelfraktour oder einfach Tortour.

Es ist nur ein Zufall, dass die Tour so wie das Flugzeug heißt, denn bei uns ist das die Abkürzung für Made in Germany.