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Flake, Otto

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The Project Gutenberg EBook of Nein und Ja, by Otto FlakeThis eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and mostother parts of the world at no cost and with almost no restrictionswhatsoever.  You may copy it, give it away or re-use it under the terms ofthe Project Gutenberg License included with this eBook or online atwww.gutenberg.org.  If you are not located in the United States, you'll haveto check the laws of the country where you are located before using this ebook.Title: Nein und Ja       RomanAuthor: Otto FlakeRelease Date: December 28, 2014 [EBook #47797]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK NEIN UND JA ***Produced by Jens Sadowski

NEIN UND JA

ROMANVONOTTO FLAKE

1920S. Fischer / VerlagBerlin

Geschrieben 1919

Erste bis vierte Auflage Alle Rechte vorbehalten, besonders das der Übersetzung Copyright 1920 S. Fischer, Verlag

NEIN UND JA

I

Lauda kam am Nachmittag in Zürich an, Stadt die er nie betreten hatte, und erster neutraler, die er im Krieg betrat, seltsames Gefühl.

Er ertappte sich dabei, wie er gleich einem Zeitungsberichterstatter in fremdem Land, der seinen Artikel vorbereitet, kleinste Dinge notierte: Straße gefüllt mit jungen Männern, Straße gefüllt mit Auslagen entbehrter Dinge, Straße, in der Frühlingsbäume legitim blühten, denn Mensch darunter war im Einklang mit ihrer Freude, dachte nicht an Mord.

Folgend der grünen Avenue sah er die weiße Lohe, und als er die Brücke betrat, darunter der See zum stadtdurchziehenden Fluß ward, war es, als stehe er der Sonne so nah, wie man am äußersten Rand eines Kraters dem Erdfeuer nah steht; Silberebne lag zwischen Uferhügeln — gleich, ob man sie Wasser oder Licht nannte. Segel darauf waren regungslose Schmetterlinge, die mit senkrechten Flügeln eine Wiese aussaugen.

Da erhob sich ein Wind, erster Atemzug des Abends, und alsbald war die große Bewegung. Möwen warfen sich vom Gelände zum Spiegel, schreiend wie junge Hexen in der Walpurgisnacht der Bühne; die Schmetterlingsflügel blähten sich, begannen den dunklen Leib der Kajüte zu schleppen; Boote schaufelten vom Land, Wasserkäfer, die mit geknickten Beinen auf Flüssigem gingen — es ward der See zum Marktplatz inmitten der hügelbedeckenden Quartiere, Mittelpunkt, zu dem es aus allen Ecken schoß, als sei die Bucht ein Archipel, ferne Dörfer seine Inseln, von denen Ruderndes zur Versammlung der Insulaner eilte.

Lauda nahm ein Boot, war unter ihnen auf der Straße, worin Zeitungsjungen das Abendblatt ausriefen, der Photograph der Liebespaare vor dem Kasten stand, Kokotten kreuzten, wartend daß einer sie ins Schlepptau nahm. Belcanto Verdis mischte sich mit Dudelsack, und aus dem Kielraum einer Jacht quoll Foxtrott eines Grammophons, Unterwasserinstrument phantastisch. In dieser Jacht saß eine junge Miß, Lorelei in Mausgrau tailormade — zu unachtsam am Segelseil, sie rammte Lauda, ihm blieb nichts übrig, als aus dem umschlagenden Boot in ihren Kahn zu springen. Da er darin war, band er ruhig sein Fahrzeug an den Sporn und sagte lachend:

„All right, nun bringen Sie mich an Land.“

„Wo kommen Sie her?“ fragte sie, nasales Englisch verriet die Amerikanerin.

„Aus Brüssel,“ antwortete er und besann sich zu spät, daß das die schlechteste Empfehlung war, denn seit drei Monaten war Krieg zwischen ihrem Land und seinem. Es fiel schwer, ihr versteinertes Gesicht zu glätten; er erreichte es, indem er gewissenlos versicherte, er sei aus dem besetzten Brüssel entwichen, um an dem deutschen Irrsinn nicht länger teilzuhaben, obwohl nur soviel wahr gewesen wäre, daß er gekommen war, um Klarheit in der Frage der Schuld am Krieg zu erlangen. Beruhigung stellte ganz sich ein, als er erzählte, wie man ihn, den Nationalitätenlosen, zum Dienst gezwungen hatte; mit einem der Henker Miß Cavells hätte sie nichts zu tun haben wollen. Bestimmteste Vorstellungen in dem kleinen Köpfchen, das das eigenwillige amerikanische Kinn aufwies. Sie sprach geläufig deutsch, Studentin des Polytechnikums.

Unterdessen quoll aus dem Kielraum Twostep und Tango weiter, dort kauerte auch ein Seidenpinscher; Lauda lachte über solchen Zeitvertreib, mit Grammophon und Hund zu segeln. Sie sah erstaunt auf ihn herab, denn Schlanke stand am Segelbaum, hübsch, ein wenig flach und den Unterleib aus der Hüfte wölbend wie die gotische Figur des Christentums am Straßburger Münster.

Auf sie schauend achtete er nun seinerseits des Steuers nicht und ward aus einem Boot warnend angerufen, russisch und deutsch. Noch damit beschäftigt, rasch zu kreuzen, vernahm er seinen Namen, warf sich herum und sah Hannah Graumann, im Kreis schwarzhaariger Leute. Frage und Antwort flog hin und her, dann bestellte sie ihn zum Abend ins Café. Danach steuerte er ans Land, stieg aus und sah, daß Miß Lilians Jacht Caramba hieß — so schneidig, war es ihre Jacht?

Auf irgendeine Art mußte man in die Dinge springen; die eine, fröhliche, hatte sich von selbst gefunden; die andre, ernste, stand nun fest und entlockte — Widerstreben. Daß er Hannah sofort aufsuchen werde, war sein Plan gewesen; aber da er die Gesichter ihrer Begleiter gesehn hatte, wußte er, was er von ihr erfahren werde, die Auffassung russischer Sozialisten. Er wollte sich unterrichten, Weiß- und Gelbbücher lesen, und sein Gefühl für Helfferich und Ludendorff war böse, hart; doch überschüttet werden von der Worte Flut, drin Hochmut war und Eifer — nein. Ihm schien, es sei noch immer Zeit, das zu hören, und wichtiger, Tage der Einsamkeit, eben erst begonnener, zu verlängern. Es war so schön, in dem Land zu sein, das im Meer des Bluts wie eine Insel lag, und in sein Innres vorzustoßen. Vielleicht war es nur eigner Hochmut, selbst zu finden; wer kannte sich?

Er ging in das Café, das Hannah zugerufen hatte, schrieb, daß er erst zwei Wochen reisen wolle, gab den Brief dem Kellner. Am nächsten Morgen fuhr er nach Luzern, Billett nach Interlaken in der Tasche, und saß nach Mittag wieder im Zug, der durchs Wiesental von Lungern zum Brünig stieg. Der Paß erklommen lag Quertal von Meiringen bis Brienz wie erstes südländisches Frühlingsland vor ihm in Tiefe, und war ihm schöner, als hätte er die große Klimascheide des Gotthard in einem Loch durchkrochen.

Daß es Südland im Norden gab, mußte einer wissen; er wußte es und liebte diese Bahn, die mit Zahnrad und Adhäsion sich mühte, ehrlich im blauen Licht die Steigung zu überwinden. Es gab auch auf dem Brünig Palmen fünf oder sechs, und in dem Park des Grandhotels stand eine Tonfamilie, Schneewittchen mit den Zwergen — Kitsch, doch Erinnrung des Kinds. Er stieg aus, einen Zug zu überspringen; da berührte ihn eine Hand — Frau Hannahs.

„Es war nicht schwer,“ sagte sie, „Sie zu berechnen, Vorteil der ausfallenden Nachtzüge. Ich stand hinter Ihnen am Schalter, und Sie kamen mir unerwartet entgegen, denn mein Plan war, Sie an den Brienzer See zu leiten, Ort, wo ich ein Haus besitze.“

Er blickte forschend in Augen ihm vertraut, denn man konnte mit allem vertraut sein, was entgegentrat, und ihm fremd, denn drei Wochen heißer Begegnung waren nur Rausch gewesen, nicht Wunsch, sie zu verlängern. Warum? Vielleicht, weil diese Frau mit dem strahlenden Funken in brauner Pupille ihm zu verwandt war, die Sinnlichkeiten zu geschwisterlich ineinanderflossen, parallel, nicht gegenüberstehend. Das bot Möglichkeit einer Freundschaft, oft mahnend, etwas für ihre Verwirklichung zu tun, Vorsatz nie verwirklicht. Es waren jetzt zwei Jahre her, daß er im Begriff gewesen war, mit ihr von München nach der Schweiz zu fahren, da hatte man ihn angehalten und unter die Soldaten gesteckt; es wäre, wenn ihr Mann es so nennen wollte, eine Entführung geworden, aber er wußte nicht einmal, ob sie noch mit Graumann verheiratet war und ob das Kind, von dem sie in ihrer einzigen Mitteilung nach Brüssel geschrieben hatte, daß es sein eignes sei, Graumanns Namen trug.

Er führte sie an den Rand des Plateaus, wo unter Kastanien Strandkörbe standen, fünfhundert Meter über dem See, auf den sie wiesen.

„Ich bin Ihnen gefolgt,“ sagte sie, „nicht weil es mein ganzes Verlangen war, Sie in den Kreis einzuführen, den Sie nun fliehn, sondern weil Sie flohn und über mich wie schlimme Katastrophe plötzlich gleicher Wunsch hereinbrach. Erinnern Sie sich unsrer Gespräche in München, als ich erzählte, wie ich als Hannah von Cedernström in dem Augenblick, wo Ehe Haus Versorgung nicht mehr in Frage stand, Ehe Haus Versorgung aufgab, weiter zog?

Wäre es Lust am Neuen gewesen, hätte man wenigstens eine Erklärung gehabt; aber es kam aus Schichten der Erkenntnis, die eine Frau zu benennen scheut, weil sie zu fühlen glaubt, Erkenntnis sei Angelegenheit des Manns. Sie als Mann hatten eine Erklärung zur Hand, sprachen von Aufhebung, bekannten mutig, daß jede Wahrheit, die Sie erlebt haben, zwar nicht in Ihnen stirbt, aber ihre Dämonie über Sie verliert und vom Absoluten her zu einer relativen Wahrheit, kleiner Angelegenheit menschlichen Hirns wird, deren Wichtigkeit Sie einschränken.

Allen fühlte ich mich überlegen, weil ich das selbst empfand; Ihnen gegenüber mich schwächer, weil Sie sich in so männlicher Domäne legitim ergingen, ich nur tastend. Wir arbeiteten, diese Russen deklamierten nicht, wie Sie vielleicht glauben, sie dachten scharf, die einen verwarfen nur die Genossen der deutschen Partei, und ihnen war der Krieg ein deutsches Verbrechen; die andren verwarfen die Sozialisten aller Länder; die französischen taten in ihren Augen dasselbe wie die deutschen, und sie waren unter dem höheren Gesichtspunkt der großen Zersetzung damit einverstanden. Ich nahm an den Zusammenkünften in Kienthal und Zimmerwald teil und war Zeugin, wie eine neue Taktik entstand, die auf den Zusammenbruch wartet, um Sozialismus zu verwirklichen.

Die Russen, die Sie im Boot sahn, reisen in acht Tagen durch Deutschland nach Hause, um Kerenski zu stürzen; wenn man sie fragt, wie sie es mit ihrer Überzeugung vereinen, daß sie Ludendorffs Hilfe annehmen, lächeln sie, und ich weiß, was dieses Lächeln sagt. Wenn ich will, kann ich mit ihnen fahren; sie erwarten es, ich habe ihre Sprache gelernt, sie verheißen mir Wirkung, die noch keine Frau gehabt hat, und wissen nicht, daß ich zurückscheue, nicht weil ich nicht glaubte, nicht die große Verlockung fühlte, nicht die Energie hätte, in das Dunkel der Tat zu springen — sondern weil dieses Tödliche, Bohrende da in mir ist, daß, was Menschen tun, nur so lange Wert hat, wie man es will, nicht Gott ist, der unabhängig von seinen Gläubigen existiert. Ich trenne mich nicht von ihnen, fahre mit, nur eines muß sich erst erfüllen: daß ich noch einmal bis auf den Grund des Zweifels tauche, alles in mir zersetze, durch solchen Zweifel gerecht werde, durch solche Gerechtigkeit härtre Energie erlange.

Mich auszudrücken ist schwer — es ist ein Haß in mir gegen die Wichtigkeit, die ich mir beilege, wenn ich mich mit jenen sozialen Ideen beschäftige. Begegne ich nach irgendeinem heftigen Diskussionsabend wieder den Russen oder allgemein den Menschen, so finde ich sie gleich überzeugt, gleich bereitwillig; aber in mir zog sich eine Spannung zusammen, wie sich in den glücklichsten Tagen der Ehe mit Graumann eine Spannung zusammenzog, irgendeine Summierung von Begierden, die durch Güte des Partners nicht zu befriedigen waren; tat mir einer der Russen oder vorher Graumann den Gefallen, mich zu reizen, dann entlud ich mich und, zauberhaft, alles war verflogen, ich fühlte mich gut, und jeder Zweifel an den großen Ideen war unverständlich geworden. Antworten Sie nicht, das Weib in mir habe den Druck, den Willen, die Energie, den Herren gesucht. Im Fall der Russen war es nicht das Weib, sondern der geistige Mensch.

Was ich wissen möchte, ist: kennen auch andre den Wunsch, zu zerstören, was sie aufbaun, vollziehn auch sie die Gerechtigkeit, denn es ist eine Gerechtigkeit, indem sie so ungerecht sind, höhnen sie, was sie verehren, verehren sie nur um so inbrünstiger und bereuender, nachdem sie gehöhnt haben?“

„Erstaunliche Frau, die benennt, was ich wie mein letztes Geheimnis empfand, das zu entblättern mir erst die Nerven wachsen sollen. Vielleicht können Sie es, weil Sie stärker darunter leiden, ich widerstandsfähiger bin. Denn soviel ist mir klar, jenem Wunsch nach Zersetzung nachgeben, bedeutet große Widerstandslosigkeit. Früher beruhigte ich mich mit dieser Erklärung und fühlte mich überlegen, weil ich widerstehn konnte, das Dunkle in mir überdeckte; dann kam eine Zeit, wo ich feststellte, daß Abschließung gegen das Dunkle ärmer macht als die sind, die es suchen, Hingabe an das Dunkel reicher macht, weil es seelenhafter macht; das mag die Erklärung dafür sein, daß jedes helle Heidentum von einem Christentum bedroht wird, jede Männlichkeit den femininen Tag erlebt, jeder Diesseitige den Gott. Das ist heute mein Problem, wichtiger als das, was mir das Wichtigste war, die Kunst.“

„Und Lösung, ist sie möglich?“

„Nicht in dem Sinn, daß man im männlichen, heidnischen, diesseitigen Zustand endgültig beharren könnte. Weil wir immer endgültig sein wollen, tritt die innre Mahnung ein, Ihr Widerstreben, Ihre Spannung. Möglich ist nur, in dem Kampf zuletzt doch oben zu bleiben, vorausgesetzt, daß man überhaupt zu denen gehört, die ohne dauernden Aufenthalt im Dunkel, das zugleich das Warme, Schützende und Erregende ist, zu leben vermögen. Ja, ich glaube auf Ihre Frage antworten zu können.

Wenn Sie eine Wahrheit, eine Idee gefunden haben und an ihr festhalten wollen, ist das, als wiesen Sie die Erde an, sich nicht mehr zu drehn, da ihre Ruhelage nun feststehe; unmöglicher Befehl. Sie, ich, wir alle, sind Himmelskörper wie die Erde, rasend in Rotation — es läßt sich vermuten, welche Spannungen in ihnen entstehen, sich entladen, immerwährend. Die Spannung, von der Sie sprachen, ist Botschaft solchen Vorgangs, schwache Botschaft, gesandt aus den unbekannten Himmelsräumen in Ihrem Innern, darin Formung und Entformung unermüdlich sind. Denke ich daran, so stellt sich das heroische Gefühl ein, ich meine das der Tragödie, die auch Leben selbstzerstörerisch in den Rachen des Tods wirft. Ihr Grundbewußtsein von Ihnen selbst ist tragisch, es ist Tapferkeit, Hohn, Demut, Auflehnung darin. Sie neigen leichter als andre zu Spannungszuständen, deshalb suchen Sie den Druck, das Gebot, wie allgemein, aber auf dem engren Gebiet des Sinnlichen, Ihr Geschlecht.“

„Wenn es so ist,“ sagte sie, „wie halten dann andre, die Masse der Menschen, die Tragik, den Einbruch dessen, was die Ruhe stört, von sich fern, wie ist es möglich, daß sie überhaupt in Ruhe leben?“

„Wissen Sie das nicht? Indem sie sich einen Mittelpunkt geben, um den ihr Kosmos dreht, genau das, was Sie als Wahrheit oder Idee suchen. Und um den Mittelpunkt ganz unerreichbar zu machen, um vor einer Auflehnung wie der Ihrigen geschützt zu sein, die immer möglich ist, wenn man weiß, daß man einen solchen Gott selbst erfunden hat, geben sie ihm die Eigenschaft des absoluten Gotts, dem zu dienen nicht ehrenrührig ist, der Demut, das ist Willigkeit der Rotation, verlangen darf.

Lehnen sie sich auf, so gibt ihnen dieser Gott im religiösen Sinn den Druck, den ihre Atmosphäre braucht — das ist das letzte Geheimnis des menschlichen Gottesbegriffs, und er ist tief, denn er erklärt sich unmittelbar aus Energiezuständen, Gravitationsvorgängen unsrer innren Welt. Glaube ist der Druck, durch den die Milliarden Weltkörper, die mein Ich bilden, zu einer Einheit gezwungen werden. Auch wer glaubt, zersetzt sich wohl, aber er hat eine Gewißheit: daß die Zentralachse, um die er sich dreht, bleibt und stärker ist als er. Das Bedürfnis der Menschen nach Gehorsam und Unterordnung haben schon manche festgestellt, keiner als tiefste Beschaffenheit erklärt, denn wir treiben wohl Psychologie, aber nicht das, was uns noch zu entdecken bleibt, innre Physik, mathematische Seelengeographie — Seele ist ein Phänomen der kosmischen Physik.“

„Ihre Entdeckung, Lauda?“

„Mag sein, ich weiß es nicht, meine Entdeckung für mich jedenfalls.“

„Da Sie die Unterordnung für die tiefste Beschaffenheit des menschlichen Organismus ansehn, bleibt noch immer unerklärt, wie Sie und Ihresgleichen, die Sie so stolz Heiden nennen, ohne absoluten Glauben, Gott, Religion, nur mit relativem Glauben leben können.“

„Ziehn Sie selbst den Schluß: daß ich wie alle den tödlichsten Zersetzungen ausgesetzt bin, zwölfmal im Jahr den Tag habe, der mit Selbstmordgedanken entsetzlich gefüllt ist. Rettung ist immer wieder, daß der Wille, selbst Achse und Mittelpunkt zu sein, nicht zu unterliegen, suverän, männlich, ganz Energie zu bleiben, die Rolle des Gotts, also des Kristallisationspunkts, spielt.“

„Also kommen auch Sie nicht ohne Gott aus, sei es auch nur ein symbolischer?“

„So wahres Wort. Das Grundproblem, Hingabe oder Überlegenheit, Seelendunkel oder Klarheit, Feminität oder Männlichkeit nimmt Dimensionen an, in die alle Fragen stürzen.“

„Haben Sie in den zwei Jahren gearbeitet, Lauda?“

„Theaterstücke geschrieben? Nein. Auch Kunst stürzte in diesen Abgrund, denn sie beruht mehr als jede andre Tätigkeit auf Hingabe, Unterordnung, eifrigem Einheimsen der armen Ernte. Pathos, Leiden, Sentimentalität, Beredsamkeit, augenblickliche Lombardierung jeder kleinen Entdeckung auf seelischem Gebiet, das ist Kunst. Sie kommen nicht weiter, sie nehmen sich so ernst, sie glauben tief zu sein, und haften an der Oberfläche der Erde, denn sie variieren das Gegebne, die Einzelexistenz, die lügnerische Individualität, alles was nicht primär, nur Manifestation ist. Das alles soll stürzen; kommt keiner zuvor, durch mein Denken. O, wie verlogen Künstler sind. Sie fühlen wohl die Zersetzung der Einheit des Ichs, aber sie haben nicht den Mut, von ihr zu reden, vielleicht haben sie nur die Kraft nicht. Wenn eine Wahrheit in ihnen einstürzt, fürchten sie, nicht mehr produzieren zu können, deshalb kleistern sie und lassen am Ende die alten Götter wieder aufleben. Sie würden sich schämen, zu gestehn, daß ihnen die Weltanschauung unter den Händen zerfließt; statt ihre Zerrissenheit zu gestalten, retten sie sich in die bequeme Heiligkeit des Lebens.“

„Seltsam. Ich will Sie mit jungen Künstlern bekannt machen, die dasselbe zu fühlen scheinen, von ihrer Kunst bitter sprechen, Verächter jener Malerexistenz, die unermüdlich die Dinge variiert; ihr Haß gilt dem Gegenständlichen; sie malen nicht mehr Existierendes, befremdende abstrakte Gebilde. Und ich kann Sie, wenn Sie nur wollen, mit vielen zusammenbringen, die auf irgendeinem menschlichen Gebiet Opposition treiben. Es ist, als habe der Krieg sie von überall her in der Schweiz versammelt.“

Schlaf im Silberfall des Brunnens und Rauschen der Bäume war beglückend; als sich das Jubeln der Vögel hineinmischte, erwachte Lauda.

Sonne war noch nicht sichtbar; hinter dem Brienzer Horn am jenseitigen Ufer leckte Gold herauf. An der Wand hing Schwinds Bürgermädchen, das in kurzem Rock die Läden zur Sonne aufstößt; er tat wie es, fühlte sich nicht weniger kindlich. Doch dann kam Bewußtsein der Wirklichkeit; sie war nicht so reinlich, denn es war der Knabe da, sein Kind. Frau Hannah erhob zwar keinen Anspruch auf ihn, er war ihr Gast, der in keines Mannes Frieden einbrach, von Graumann war sie geschieden. Und doch war es geschmacklos, sich in diese Situation zu begeben, weil sie zu nah legte, das Familienleben fortzusetzen, sei es auch nur ein unverbindliches.

Hannah war sachlich genug gewesen, ihn dem Jungen nicht als Vater vorzustellen, ihm das Kind nicht als Sohn. Da sie also des Kinds froh war, und da sie unabhängig war, und da er an irgendeinem Tag seines Lebens zu ihnen verschlagen wurde, warum überempfindlich sein? Aber es war auch der Gedanke an Claire da, die ihm selbst gesagt hatte, daß er sie mit andren Frauen vergessen werde, und die ihm doch diese Situation nicht vergeben hätte, das gefälschte Idyll. Sie hätte ihm nicht einmal Begegnung mit Hannah allein, ohne das Kind und das Haus gestattet, denn sie hätte anerkennen müssen, daß Hannah das stärkre Temperament war und die Fähigkeit hatte, ihn in geistige Sphären zu begleiten, die nicht Claires waren.

Er fühlte Eifersucht der fernen Frau und wie sie höhnisch darauf wartete, daß auch diese Geistigkeit nur zu einer erotischen Begegnung führte — dann durfte sie sagen: Lüge, ihr gefallt euch in Umwegen, das ist schmutzig.

Er ging in den Garten, der eingelegt in Matten zum Fuß der Berge stieg. In sieben Fällen zerstäubte ein Bach von der Region des Schnees bis zu der des Segelboots. Im Garten fand er den Gärtner, sah ihm zu, wie er Bohnen pflanzte; mit einem tellerartigen Rund machte er Mulden, richtete in der Mitte eine Stange auf, legte darum die Bohnen; sein Messer schnitt den Regenwurm, Teil einer legitimen Handlung, Nahrung der Menschen betreffend.

Lauda sprach mit dem Eingebornen, ward respektvoll angehört, als sei er der Herr des Hauses — von diesem Haus brauchte nun noch Hannah zu kommen, in Wärme des Schlafs und loses Gewand gehüllt, an der Hand den Knaben, dann stand der Gärtner vielleicht auf, zog sich zurück, Diskretion eines Tölpels vor der Herrschaft.

Lauda ging ins Haus, brach in der Küche ein, sich Brot zu holen, nahm in der Bibliothek aufs Geratewohl zwei Bände und stieg bergan, zum ersten Wasserfall, dem dritten, vierten, bis er in Sicherheit sich fühlte, weil endlich keine Bank mehr stand.

Er aß das Brot, trank von dem Quell, öffnete ein Buch und lächelte, es war Fouqués „Undine“, das Märchen von den Wassergeistern, die überall sind, wo Bach hüpft, Wasser stäubt — traf ihn ein Stäubchen, war es, als neckte ihn die Nixe mit dem feuchten Saum. Gut, Märchen zu lesen; Märchen blieb, wenn Strindberg schon ermüdete. Zwar wurde im Verlauf das Märchen selbst zur Geschichte, die auf gelegtem Geleis lief; doch ging es leidlich aus, zerrann in Schaum des Donaustrudels, nicht Scheidung, nicht Versöhnung — Spiel wie eine Schleife geknüpft, gelöst; Schleife, die Beschäftigung für eine Stunde war, unbelastet von den Problemen und den dem Bürger so wichtigen Seelenkämpfen.

Als er aufhörte, stand die Sonne schon hoch; er dachte an den Mönch von Heisterbach, von dem Claire erzählt hatte: ein Jahrhundert war verflossen, als er zurückkehrte, alles fremd. Er hätte unbedenklich, ohne Zögern, seine Rolle übernehmen mögen, ausgenommen, daß er sofort in Staub zerfiel; Hannah wäre nicht mehr gewesen, das Kind nicht mehr, der Krieg nicht; nicht Claire — das allein würde ihn geschmerzt haben, denkend, wie sie ihn gesucht hätte. Er wäre unbefangen unter Menschen gegangen, nicht zweifelnd, daß er alles wiederfand, Frauen, Unterhalt und nicht unterliegendes Denken von den Zuständen Unabhängiger.

Am zweiten Wasserfall kam Absteigender in eine Schlucht. Da sah er vier Meter über dem Boden, vier Meter unter den oberen Bäumen, eine Gestalt, eingeschmiegt in eine Rinne, Plaid um die Hüften. Wurde das Märchen Wirklichkeit, lockte die Nixe? Darauf erkannte er ein blasses Gesicht, geschlossne Augen, die ohnmächtige Hannah. Sie hatte sich verstiegen, konnte nicht vorwärts, nicht zurück. Um ihren Mund lag ein bebender, entschlossen bittrer Zug, er mußte denken, daß sie schön war. Er rief sie an, sie erwachte. Er ließ sie das Plaid zuwerfen, legte es auf seine Brust, den Anprall zu mildern und befahl mit erhobnen Armen: „Springen Sie.“ Sie gehorchte, sie stürzten beide zu Boden, aber sie waren nicht verletzt.

„Wie lang standen Sie da’?“ fragte er.

„Ich weiß es nicht, eine Sekunde der Ewigkeit, die aus allem heraushob. Es war nicht anders, als wenn der Abgrund unter mir vierhundert Meter tief gewesen wäre, ich rechnete ab. Nicht mehr ich dachte, in mir dachte das Unbekannte, das sich nun enthüllte. Ich verstand, was Todesstunde ist, denn ich merkte nicht, daß ich gesichert war, solange ich mich in die Spalte schmiegte, ich fühlte nur, daß ich stürzen und den Kopf auf der Kante zerschmettern würde. Denken war zeitlos, ich erkannte mich: keine Furcht vor dem Tod; Mißachtung war seltsamer Stolz, ich hörte, daß die Berge tosend rauschen, und dieses Rauschen war der Fall der Zeit in die Ewigkeit, gleichmüßiger Donner. Ich begann mit unaussprechlicher Intensität eine Gestalt zu schaffen — Alkestis, die für Admet zum Hades ging; Admet erlangt die Erlaubnis, ihren Schatten zu sprechen, bewegt sie, zurückzukehren. Sie will nicht mehr, alles ist fern, die Liebe, die Kinder, das Licht. Wäre ihr Dialog niedergeschrieben, es wäre vielleicht gewaltig.“

Sie hatte das Pathos der Erschütterten, darnach war sie erschöpft; unmöglich zum Haus zu gelangen. Er breitete das Plaid auf einer Wiese aus, sie hatte Körbchen des Frühstücks mitgebracht. Danach schlief sie, er las; nach einer Weile sah er sie nach einem Buch greifen, ließ sie gewähren. Stunde des Mittagspans war vorüber, die hohe heiße Stunde des frühen Nachmittags kam. Da schloß sie das Buch und sagte:

„Es ist eine Szene darin, die Sie lesen sollen. Sie durchwühlt mich, führt zurück zu dem heute morgen Gefühlten.“

Er sah nach dem Titel, es war ein Roman, der die Erobrung Mexikos durch Cortez behandelte.

„Erzählen Sie aus Ihrer Erregung,“ sagte er. Sie:

„Im Land der Azteken herrscht unerhörter Luxus und unerhörte Grausamkeit. Sie reißen den Gefangnen das Herz aus der Brust, bieten sich selbst als Opfer dar. Sie essen das Fleisch der Geopferten in Mais gebacken, nicht mehr Kannibalismus, religiöse Handlung. Ein Krieger hat sein Leben verwirkt. Man schmückt ihn, läßt ihm eine Woche lang jede Freiheit, er wird nun strahlender Gott geheißen, der unter Menschen weilt, jede Frau, zu der er geht, muß ihm zu Willen sein; doch bei diesem ist sein junges Weib, die zärtlich Schöne. Am letzten Tag setzt man ihm ein Gemüse vor, darin sind die Geschlechtsteile seines Weibes gekocht, er ißt, unbeschreiblich Schmerz, Stolz, Demut in ihm. Danach geht er zum Tempel, um sich das Herz aus der Brust reißen zu lassen; Volk bewundert, liebt und bleibt doch mitleidlos. Ist diese Mitleidlosigkeit nicht Sinn für ein Gesetz über uns, Symbol einer Philosophie, in der das Heroische noch die Größe des Barbarischen hat, die Götter grausam sind? Welch tiefer, gerechter Sinn, den Todgeweihten zum Gott zu erheben, solang er noch im Licht lebt, denn das Jenseits ist unsicher. Ist das Schlachten der jungen Frau und der teuflische Einfall, ihr Weiblichstes dem Gatten vorzusetzen, kannibalisch?

Ich fühle die Idee, die denkende Verkettung, die Dämonie darin, die Inbrunst, die Menschen heißt, Reiche zu gründen und Blumenfeste zu feiern, und den Stoizismus, der von Tod und Schmerz als den elementaren Wirklichkeiten weiß. Ich mag nicht mehr denken, denn die nächste Frage ist: waren die Deutschen nur Dummköpfe und Verbrecher, als sie den Krieg zur Achse ihrer Zivilisation machten? Waren die Spanier, Herde von Abenteurern, besser als die Azteken, die sie ausrotteten, um des Glaubens und Gottes willen?“

„Verbrecher und Dummköpfe waren jene nicht,“ antwortete Lauda, „selbst ihr Einfall in Belgien war nicht schlimmer als der Krieg, den Engländer gegen Buren führten. Expansion und Imperialismus eines Volks sind biologisch oder philosophisch gesehn nichts als das Bestreben eines Kosmos, der in sich einheitlich rotiert, die Nachbarzellen in sein System einzubeziehn und zur Stoffwechselgemeinschaft zu zwingen. Es ist der Grundvorgang alles Geschehns, und diese Vitalität empfanden die Deutschen wohl, sie hatten eine Philosophie, die auf die ältesten Urzustände zurückgriff. Und doch ist diese Philosophie ein verlorner Posten, denn der Mensch ist, wie jeder Kosmos, dem Gesetz der Mutation unterworfen. Schon die Bildung eines in sich rotierenden Kosmos ist Überwindung des Urzustands, in dem Zelle Zelle auffrißt. Zelle und Zelle gehn bereits eine Gemeinschaft ein. Der Begriff der Brüderlichkeit, der als Idee Güte heißt, beginnt den Kosmos von sich aus umzuschichten. Das ist der Sinn des christlichen Begriffs und seine Überlegenheit, die auf die Dauer den Sieg über die grandiose Barbarei eines aztekischen Systems davonträgt. Flache Köpfe sagen, der Krieg sei eine Verirrung, klare leugnen nicht, daß er der Vater aller Dinge war, aber sie fügen hinzu, daß er veraltete Methode geworden ist. Es gibt ja zwei Grundtatsachen der Existenz, ich und die andren, deshalb sind Egoismus und Brüderlichkeit gleichberechtigt und der Brudergedanke zuletzt der stärkre. Die Deutschen werden den Krieg verlieren und büßen, wie nie in zivilisierter Zeit gebüßt wurde; sie werden nicht nur für sich büßen, sondern für alle andren, die erst im Begriff sind, das kriegerische Prinzip aus sich auszuscheiden — sie werden also für die Gesamtheit der Völker ein Problem, das ein wahres Menschheitsproblem ist, durchkämpfen, und die andren werden von diesem Bruderdienst nichts wissen, sondern nur rufen: kreuzige sie. Das wird die Ungerechtigkeit sein, gegen die Deutschland wehrlos ist, und es wird seine Entsühnung sein. Fühlt man das, so ist es schwer, noch zu der Schuldfrage in der Tagesform Stellung zu nehmen. Aber es wird gut sein, von dieser höchsten Betrachtungsweise gar nicht zu sprechen, weil es neben ihr, der elementaren Sphäre, die Fordrung der praktischen Welt gibt, in der man nicht anschaun, sondern Stellung nehmen muß.“

Hannah sagte, zärtlich für einen Augenblick das Sie verlassend:

„Du sprichst weise wie ein Gott, erhaben und unberührt. Sagen Sie mir, ob Sie nicht auch wie ich vorhin das Bedauern empfinden, daß die großen elementaren Perioden so in uns sterben müssen und nur noch in Büchern mühsam rekonstruiert werden, unverweilende Erregung einer Stunde.“

„Als ich gestern das Tal herauffuhr, beobachtete ich, daß mitten in Mulden, durch die nun die Eisenbahn läuft, Moränenreste, ungeheure Ablagrungen von Gletschern liegen, die auch die Wände des Tals bis zur äußersten Höhe ausgeschliffen haben. Ihre Zeit ist vorüber. Als ich heute auf der Höhe stand, bleichten zwischen Moosteppich und starrenden Tannen Blöcke wie ein entblößter Kirchhof von Mammutschädeln. Die Zeit der Mammutschädel ist vorüber. Auch die Natur ist an das Nacheinander gebunden, und was uns erlaubt wird, ist, als späte Nachkommen eine Erinnrung an das Elementare zu haben. Wir sind mehr als alles an das Nacheinander gebunden, und unsre Kunst ist in ihrer letzten Absicht ein Versuch, die Möglichkeit, die nicht mehr besteht, zu rekonstruieren; Kunst ist Ergänzung.

Aber wer sagt, daß darum ein aufwühlender Eindruck wie der Ihrige nur Unterhaltung einer Stunde sei? Er durchsetzt Sie ja, wird weiter wirken und vielleicht schon heute abend einen Einfluß auf die Gestaltung Ihres Lebens haben, der ohne diese Lektüre unmöglich gewesen wäre. Wenn es uns gelänge — vielleicht gelingt es einmal — eine einzige unsrer Ideen in ihrer Chemie darzustellen, dann würde sich zeigen, daß in einem Traum, einer Handlung, einer Vorstellung dieselben Elemente gebunden sind, die in irgendeinem heroischen Zeitalter ungebunden, elementar vorhanden waren. Um ganz weise zu sein und Ihr spöttisches Kompliment zu verdienen: alles ist Variation, fortwährende Verbindung und Scheidung, nur das Format wird immer kleiner und reduzierter.

Die innre Kosmogonie ist noch nicht gefunden, wäre sie es, würde ich sagen: Hannah, Sie sind ein Stern aus Milliarden Sternchen, ich neben Ihnen wie Jupiter neben dem Abendstern; das ist die neue Religion, des Himmelskörpers Mensch. Es gibt einen Grad von Identifikation mit den Mitmenschen, der mir manchmal wie Irrsinn erscheint. Ich sehe eine Frau und philosophiere von ihren Hüften aus, fühle, höre das Rasen ihrer Zellen, steige in ihren Säften, breite mich in ihren Ästchen aus, aufgehoben jede Fremdheit, jeder Ekel. Lust, nach ihr zu greifen, sie durch Akt des Eros in mich zu überführen, dieses kannibalische Stadium, das wir Liebe nennen, wird ersetzt durch das geistige und darum nicht weniger absolute, mich in ihr zu wissen, Blutkörperchen in ihrem Blut.“

Sie sah ihn unsicher an, ihr Mund öffnete sich, zweimaliger Ansatz zum Reden, und Lauda bereute ein wenig, das Gespräch in jene Region geführt zu haben, wo alles Geistige zur primären Sinnlichkeit zurückkehrt, aber sie bezwang sich, fragte ablenkend:

„Und was haben Sie gelesen?“

„Das Eingangskapitel von Eugenie Grandet. Es ist bewunderungswürdig. Das ist Diktatur des Geists, die einzige, die erlaubt ist, Architektur einer Intelligenz, die alle Erscheinungen der realen Welt in Bausteine auflöst, aus denen das Fundament aufgeführt wird. Es ist die anschauliche irdische Welt, die Welt der Anwendung, nicht der Ideen, in denen ich mich bewege. Aber in meiner Welt nicht weniger klar, fugenlos, überlegen zu sein, das ist das höchste Ziel, das noch locken kann. Nur ein Franzose kann Balzac sein, kein Franzose kann der Balzac der elementaren Welt sein, dem doch die lateinische Klarheit unentbehrlich wäre.“

Lauda lag im halben Schlaf und suchte den ganzen zu finden, indem er auf das Rauschen des Falls lauschte, der am Morgen wie der Silberbart Kühleborns gewesen war, da hörte er zweimal ein Steinchen durchs Fenster fallen.

„Auch Undine treibt ihr Wesen,“ dachte er und trat in die Öffnung; weißes Gewand schimmerte.

„Ich kann nicht schlafen,“ rief Hannah hinauf, „die Nacht ist warm wie im Juni, kommen Sie noch in den Garten?“

Sie hüllten sich in Mäntel und stiegen zur gemähten Wiese. Der Bär stand zwischen den Berghörnern, Venus leuchtete wie ein Hospiz auf dem höchsten Grat, die Milchstraße zog gleich Rauch eines Holzfeuers unter der Wölbung, als zwinge die Wölbung ihn, sich auszubreiten.

„Man muß es von unten sehn,“ sagte Hannah und legte wie am Mittag den Mantel, „ich konnte nicht schlafen. Es machte wohl froh, mit Ihnen zu reden, alles Wirre ordnete sich durch Gespräch, Gespräch ist Entspannung. Aber als ich allein war, kehrte alles verstärkt wieder. Es ist ein Unterschied zwischen uns, der des Geschlechts. Mann, der philosophiert, wohnt in seinem legitimen Reich, Frau fühlt nur ihre Tragik. Was haben wir? Die Sehnsucht nach dem Druck, der über uns komme; was sind wir? Die nicht in sich selbst Schwingenden, die Kosmen ohne eigne Achse, um mit Ihnen zu reden, diejenigen, die Geistiges, wie wir es heute sprachen, erst ganz begreifen, wenn es in die Feststellung der letzten Sinnlichkeit einmündet. Warum fügten Sie diesen seltsamen Schluß hinzu, dieses Wort vom Von-den-Hüften-Philosophieren? Ich bin so weich geworden, es widerstrebt nicht, einem Mann zu gestehn, daß ich ihn nicht erreiche. Ich habe in diesen zwei Jahren alle kennengelernt, die in diesem Land für die Selbständigkeit der Frau streiten. Das Höchste, auf das sie hoffen, ist Wahlrecht und Bankkonto ohne Unterschrift des Manns. Es ist eine Fordrung der praktischen Welt und der sanft gewordnen Zivilisation, in der Bahnen fahren. Dahinter liegt die elementare, wie ist ihr das Wahlrecht gleichgültig. Was bin ich? Ein Mensch, täglich dem Einbruch der elementaren Sphäre in die gesittete ausgesetzt. Ahnen Sie, wie er zerrissen sein muß? Was ich Ihnen von dem Verlangen sagte, die Wahrheit durch Zweifel und Haß zu erkaufen, ist nichts als die nie gestillte Begierde, des Elementaren teilhaftig zu werden, damit Existenz in Ordnung erträglich und nicht als feige Lüge empfunden werde. O Freund Lauda in schweigender Nacht, die Dinge des mexikanischen Romans haben mich tiefer aufgewühlt als das extremste Programm. Helfen Sie einem Stolz, der vor Ihnen das Visier öffnet. Sei mir Bruder, da Brüderlichkeit Gerechtigkeit ist.“

„Brüderlichkeit,“ antwortete er so leise, wie sie gesprochen hatte, und ihr so nah wie sie ihm, „ist ein andres Wort für Inzest. Bruder nimmt die Schwester, es vereinigen sich die Getrennten. Wenn wir anfangen, geistig zu sein, überwinden wir die Sinnlichkeit, wenn wir es ganz sind, kehren wir zu ihr zurück. Ich wehrte mich, es ist gleich, was geschieht. O warme, brennende Schwester.“

In seinem Arm sagte sie:

„Ich gebe hin allen Fortschritt des Jahrhunderts, könnte ich jene Prinzessin sein, deren Geliebter Gott wird, bevor er stirbt. Er wählt sie unter allen, die ihm erlaubt sind, er könnte in den Nächten sie töten, um sie der letzten Grausamkeit zu entziehn, er tut es nicht, man muß sein Schicksal erfüllen. Sie stirbt vor ihm, aber während man sie verstümmelt, fühlt sie die Lust, daß er von ihr essen wird, er Held, für den es keine Auferstehung nach dem Tod gibt.“

Am nächsten Tag erfüllte sich die Szene, die ihn am Morgen vorher imaginär zur Flucht getrieben hatte. Er stand beim Gärtner, da kam Hannah aus dem Haus, an der Hand das Kind. Kein Grund mehr, zu widerstreben, Tat ist gerecht, so einfach. Es war ihm fremd, beim Anblick einer Frau, die sich in der Nacht in seine Arme geflüchtet hatte, am Morgen zu denken, nun sei „alles geändert“, Recht oder Verpflichtung entstanden. Es war auch ihr fremd; Wärme, im Druck der Hand verspürt, war gewachsen, darum nur sachlicher geworden; zwangloser Stolz in ihr, gute Haltung.

Das Kind, abwechselnd zwischen aufrechtem Gang und Kriechen, war unbefangen zu ihm, er zu dem Kind. Seejungen nannte er es, Hannah sah ihn verwundert an, er sagte:

„Auf einem bayrischen See gezeugt, am Zürcher geboren, aufwachsend am Brienzer.“

Sie lächelte, führte ihn in die Ecke des Gartens, bog Gebüsch zurück, zeigte die Statuette eines Jünglings; in der wolligen Haarschur, die wie die eines Stiers war, leise Andeutung tierischer Ohren.

„Pan, von dem du an jenem Tag in Bayern sagtest, er sei nicht bocksbärtiger Faun, sondern Jüngling aus den olympischen Spielen. D’Arigo machte ihn, ein deutsch-spanischer Künstler, der Ähnlichkeit mit dir hat, ich lud ihn auf morgen, mit noch einigen.“

„Laß ihn in die andre Ecke Eros stellen, der die Spannung löst, froh macht, straff, untragisch, wie du heute bist.“

„Ja, seltsam ist es; heute nacht konstruierte ich mir die nächsten Tage mit dir, die letzten vor der Abreise: voll Dunkel, gewalttätig gegen mich selbst sein, gewalttätige Liebe suchen, dann wie eine aufgewühlte Schauspielerin, Gefäß des Tragischen, dorthin reisen, wo das Geschick ins Maßlose wächst, Untergang eines im Bürgerkrieg zerfleischten Volks ist — nichts von allem mehr heute morgen, klar, froh, so hell die Tage vor mir, hinter dem Gewitter.“

„Nein, wir sind nicht gemacht,“ bestätigte er, „im Dunkel zu weilen, seßhaft zu werden in Selbstzersetzung, letzte Heiden, erste wieder.“

Sie war ihm nah, wie nie vorher, es verband ihn mit ihr das Gefühl, Vorstadium der Annäherung, suchendes, zehnmal in Frage gestelltes, sei überwunden, durch Gespräch und durch Handlung; Abstimmung sei erreicht, die große Parallelität, jeder für sich, einer neben dem andren. Ritterlichkeit, die sich um den Freund kümmert, war nicht mehr lügnerische Galanterie — Herzlichkeit der Selbständigen.

Bukolischer Tag ward Belohnung solcher Harmonie; Villa im Sinn des Horaz lag am alpischen See unter Bergen, die am Abend rosig erglühten; Verse des Horaz waren nicht mehr gewärtig, aber ihre Rebe und Ulme; kühler Wein zu Mittag, Schatten zum Vesper, Forellen am Abend. Es formte sich das Ideal künftiger Lebensmöglichkeit: ein Haus zu haben in Landschaft, über die die Schauspiele des Himmels ziehn, Sitz der Ruhe und des bestellten Bodens; Gegengewicht gegen Geistigkeit, Obst züchten und Gemüse. Wandrer hätte einen Ort, wo seine Habseligkeiten, Bücher, Gesammeltes waren — Ort, von dem er aufbrechen, zu dem er zurückkehren konnte; Märkte beliefern oder auch nur den eignen Tisch; Fischfang treiben und ländlichen Wein keltern.

Lauda verriet Hannah nichts von ersten Gedanken, damit sie nicht Pläne machen würden; aber als sie sah, daß er sich vom Gärtner Sinn jedes Beets erklären und um den Bezirk des Guts führen ließ, sagte sie:

„Es bleibt ungenutzt, wenn ich fort bin, der Bonne, dem Mädchen und dem Gärtner überlassen; ich wage nicht, ihnen zu sagen, wie lang und wie weit ich fortgehe. Bleibe hier oder benutze es zu Aufenthalten. Mir wäre es ein Dienst und verringerte Sorge um das Kind, dir eine Annehmlichkeit.“

Er saß an ihrem Schreibtisch und dachte: „Ist es poetische Reminiszenz an Romane, ist es Atavismus aus Zeiten, in denen die Menschen nachts zusammenkrochen, ist es einfach Wirkung bürgerlicher Zustände, die die vierundzwanzig Stunden in beschäftigten Tag und freie Nacht teilen — Hannah zeigt wie alle den Wunsch, Liebesstunde in die Nacht zu verlegen. Vielleicht ist es auch der Reiz, eine doppelte Existenz zu führen, tagsüber die eine nichts von der andren wissen zu lassen, den Mann und sich selbst durch den geheimen Gegensatz zu erregen. Wie dem auch sei, mir ist Eros in Tag und Licht am nächsten.“

Er sah ein Heftchen liegen, seine Leere lockte ihn, es zu beschreiben. Unerwarteter Gedanke bot sich an, es mit Feststellungen zu füllen, die sich von allen andren seiner Selbstbeobachtungen durch die Überzeugung unterschieden, daß sie nicht nur halbwahr, sondern von diktatorischer Bestimmtheit seien. Er schrieb der rücksichtslosen Diagramme Laudas erstes:

„Er liebt die Liebesstunde im hellen Tag, denn er will nicht im Dunkel der Frau zerfließen. Sinn der Liebeshandlung ist wohl, daß vom Ganzen abgetrennte Partikelchen zum Ganzen, noch nicht Geteilten, zurückkehren; darum warten die meisten die Nacht ab, Symbol der Rückkehr ins Primäre. Er aber wollte, weil er diesen Sinn fühlte, die Selbständigkeit nicht aufgeben, darum liebte er den Nachmittag, der erlaubte, danach nicht in Schlaf zu versinken, sondern im Licht zu bleiben. Den Verzicht des Partikelchens auf seine Individualität erreichte er auf andrem Weg, indem er die Frau zwang, mit ihm dem dritten Gemeinsamen, der Körperlichkeit, zu opfern, und ersparte ihr dadurch die verlogne Sentimentalität, daß sie glaubte, er gehe in ihr auf, oder sie in ihm.

War aber die Frau von Natur aus sentimental, dann verstand sie solche Parallelität nicht, und stellte fest, daß er den ‚Mensch in ihr beschmutzte‘, denn um das körperliche Opfer, die Bereitwilligkeit zur sachlichen Lust, als reinliche Handlung zu empfinden, in der einer dem andren nur einen Dienst erweist, dazu gehörte das Vermögen, die Würde der Persönlichkeit als Fiktion zu erkennen, unpersönlich, herrisch, elementar zu sein. Aber auch feinfühlige Frauen litten durch ihn, weil sie fanden, daß er sie in sinnlichen Fordrungen, sinnlichen Deutlichkeiten zu weit führe, und sie wahrhaft nackt, seelisch nackt vor ihm waren, der ihnen nicht den Mantel der Scham ließ. Eine Frau mußte von äußerster Leidenschaftlichkeit, also individueller Begierde sein, also Hingabe nicht ‚nur um seinetwillen‘ vollziehn, und sie mußte die äußerste Gewißheit seiner Freundschaft besitzen, um nicht plötzlich in höchster Lust ihrer Einsamkeit bewußt zu werden oder ihre Sicherheit zu verlieren; sie hätte vielleicht weniger Deutlichkeit, weniger Sachlichkeit verlangt, denn wenn er von ihr ging, war ihr das Mysterium für alle Zeit entschleiert und es blieb eine Kenntnis ihrer Sinne, die zugleich wie ein brennendes Gift weiterwirkte und die Begegnung mit einem andren Mann matt erscheinen ließ, in dessen größrer Rücksicht sie die Klarheit Laudas vermißte.

Das fühlend litt er an sich selbst, nicht in dem Sinn, daß er sich für einen Zerstörer hielt, aber die Zerstörung feststellte. Gab sich ein junges Mädchen in seine Hände, wurde es unter ihnen reif — das war Zerstörung und doch nach seiner Auffassung Erfüllung ihres Schicksals. Löste sich eine Frau von ihm, fluchte sie ihm vielleicht und verleugnete ihn — es war zu ertragen.

Er sah durchaus, wie das Positive seines Naturells von einem andren Gesichtspunkt her negativ wirkte: zu wenig Güte, zu wenig Bereitschaft, in seelischen Bezirken zu weilen, zu kurze Behandlung des sogenannten Menschlichen. Er konnte nur sagen: Mensch wird dem Mensch Schicksal. Jene Männerauffassung, die in der Frau das Beßre, Höhre, Reinre suchte, war nicht in ihm, weil er sie Auslegung nannte, tiefer sah, wenn er dem unberührtesten jungen Geschöpf begegnete: die Zärtliche in weißen Mädchenstrümpfen war doch Gefäß aller Erregungen und forderte heraus, auf den Weg des Erlebens gestoßen zu werden — ihr unbewußt, aber er empfand es, dachte nicht wie andre Männer: sie muß geschont werden, sondern: sie will nicht zu sehr geschont sein.