Heute ist es schon zu spät - Alexander Cimzar - E-Book

Heute ist es schon zu spät E-Book

Alexander Cimzar

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Beschreibung

Für Fin ändert sich alles, als er die Klimaaktivistin Lara kennenlernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt. Sie stellt sich unerschrocken Umweltzerstörern entgegen und greift dabei auf immer radikalere Mittel zurück, die das junge Paar zunehmend in Gefahr bringen. 60 Jahre später hat die globale Erwärmung große Teile der Welt unbewohnbar gemacht. In Europa flüchten Millionen Menschen in den Norden, wo der Lebensraum immer enger wird. In Deutschland hat eine autokratische Regierung die Macht ergriffen, die brutal gegen ihre eigene Bevölkerung vorgeht. Überwachung, Terrorismus und Polizeigewalt sind an der Tagesordnung. Jeder Widerstand wird unterdrückt und gnadenlos verfolgt. Ein Notfall in seiner Familie zwingt Fin, inzwischen Großvater geworden, noch einmal aktiv zu werden. Gemeinsam mit seinem Enkel macht er sich zu einer riskanten Rettungsaktion auf. Auf ihrer Reise geraten sie zwischen die Fronten des militanten Widerstands und des tyrannischen Staats. Nach und nach erfährt Roland Geheimnisse aus der Vergangenheit, die sein Weltbild erschüttern. "Heute ist schon zu spät" ist eine spannungsgeladene, kompromisslose Coming-of-Age-Story.

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Seitenzahl: 356

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Alexander Cimzar

Heute ist es

schon zu spät

© 2024 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein

Überarbeitete Neuausgabe

Alle Rechte vorbehalten

ISBN TB – 978-3-95869-356-2Print in the EU

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amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

v1/24

Für Patrizia und Günther

Ich habe Euch so viel zu verdanken.

PROLOG

Roland lag in der baumlosen, trockenen Grasebene zwischen Frankfurt und Straßburg auf dem Bauch und hatte sein Kinn auf beide Hände gestützt. Er beobachtete einen Skorpion und wunderte sich, dass dieses Tier hier heimisch geworden war.

In seinen Scheren hielt es eine große Wanderheuschrecke. Die kleinen Beißwerkzeuge gruben sich in die grüne Stirnplatte des Insekts, dessen zarte Flügel nur mehr schwach zuckten. Als der Skorpion sich schon bis zu dem Hals vorgearbeitet hatte, spürte Roland die schwere Hand des Großvaters auf der Schulter.

»Zeit für das Abendessen, mein Junge«, sagte Fin mit einer einladenden Geste.

Es gab Bohnen aus der Dose, dazu Grillen und Mehlwürmer. Fin hatte ein kleines Lagerfeuer aus verrottetem Holz entzündet.

»Als ich in deinem Alter war, stand hier überall Wald. Wir schreiben heute … was, 2075? Vor 50 Jahren war hier noch alles grün«, sagte Fin bedauernd und blickte dabei in das Feuer, als könnte er jene Bäume noch vor sich sehen.

Sie hatten ihr Lager am Fuß eines kleinen Bergmassivs aufgeschlagen, das etwa zweihundert Meter hinter ihnen in einer Steilklippe abbrach. Den ganzen Tag waren sie gewandert, hatten Tiere beobachtet und sich über dies und das unterhalten. Einmal im Jahr, meist in den Herbstferien, bestand sein Großvater auf diesen Wochenendausflug. War Roland in der Vergangenheit immer begeistert davon gewesen, wusste er inzwischen, nachdem er zwölf geworden war, viele Orte, wo er lieber gewesen wäre.

Er aktivierte die VR-Funktion seiner Brille, um kurz nachzusehen, was seine Freunde zu dem neuen Spiel sagten, das an dem Wochenende veröffentlicht wurde. Doch bevor die Software geladen war, überlegte er es sich anders und machte sie wieder aus. Sein Großvater würde es womöglich merken, wenn er ins Netz einstieg. Und das würde ihn kränken. Roland hatte ihm versprochen, an diesem Wochenende in der realen Welt zu bleiben.

»Vielleicht ist es das letzte Mal, dass du mit Opa Fin einen Ausflug machen kannst«, hatte seine Mutter vor ein paar Wochen durch seine Zimmertür geschrien, die er kurz davor zugeknallt hatte. Diese Karte spielte sie gerne aus.

Er musterte seinen Großvater, der müde in das Feuer starrte und dabei schwer atmete. Roland war froh, dass er nachgegeben hatte. Denn seine Mutter hatte recht: Sein Opa war alt. Vielleicht würde es wirklich das letzte Mal sein. Es schmerzte ihn, wenn er an eine Welt ohne Fin dachte.

»Und damals habt ihr Rindfleisch gefuttert wie wir heute Mehlwürmer?«, fragte er, um auf andere Gedanken zu kommen und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Der Eintopf war köstlich. Zuerst reagierte Fin nicht, sodass Roland meinte, sein Großvater habe ihn nicht gehört. Das kam öfter vor. Aber dann antwortete er doch.

»Oh ja. Jaja. Doch … Nun, vielleicht nicht wie Mehlwürmer. Aber wie Heuschrecken.«

»Hm. So gut finde ich Fleisch gar nicht.«

Er dachte an Weihnachten und die anderen Festtage, an denen sie Fleisch aßen. Bevor sich seine Eltern getrennt hatten und Rolands Vater weggezogen war, hatten sie es sich öfter leisten können. Aber es fehlte ihm im Grunde genommen gar nicht.

»Ansichtssache«, antwortete sein Opa, leckte sich unbewusst über die Lippen und fuhr sich mit der Hand über das müde Gesicht. Die Nase seines Großvaters war schief. Als wäre sie vor langer Zeit einmal gebrochen und nicht mehr richtig zusammengewachsen. Und entlang seines Kiefers spannte sich eine fast verblasste Narbe. Wenn man genauer hinsah, erkannte man sie. Sie musste einmal ziemlich groß gewesen sein. Seit Jahren fragte sich Roland, woher diese Narben stammten. Aber sein Opa hatte nie davon erzählt.

Noch immer starrte er in das Feuer. War halb dort, in dieser alten Welt, und halb hier. Im Heute. Roland meinte in seinen Augen einen feuchten Schimmer zu erkennen, so wie es oft passierte, wenn er über damals sprach.

Sie hatten gerade fertig gegessen, als ein langes Donnergrollen am Horizont zu hören war.

Sie sahen erschrocken auf. Warteten. Lauschten. Roland spürte, wie sein Herzschlag schneller wurde. Aber da war nichts mehr. Nur das rhythmische Zirpen einiger Grillen und das Aufleuchten von ein paar Glühwürmchen hangaufwärts. Beide sanken zurück und atmeten auf. Doch ihre Erleichterung verschwand, als ein neues Geräusch anhob.

Es war ein dumpfes, kaum wahrnehmbares Surren, das rasch zu einem lauten Rauschen anwuchs. Der plötzlich aufkommende Wind erfasste sie wie eine Welle und schoss ihnen Staub ins Gesicht. Er nahm rasant zu. Zerrte erst nur an ihren Kleidern, peitschte aber bald die Flammen des Feuers zu Boden und drückte Rolands Haare platt. Sie sprangen auf, beide wussten, was sie jetzt zu tun hatten.

Sein Opa schnappte Kochgeschirr, leerte es aus und warf es schmutzig in den Rucksack. Roland scharrte, so wie sie es geübt hatten, mit dem Fuß notdürftig Sand über das Feuer. Dann rollte er hastig die beiden Isomatten und die Schlafsäcke zusammen.

Verschwommen sah er noch, wie sein Großvater sich zu ihm umdrehte und ihm etwas zurief. Dann wurde er vom wirbelnden, grauen Staub, wie alles ringsum, verschluckt. Er versuchte etwas zu erkennen, aber nach zwei Metern verschwand die Umgebung im Staub.

Die Brille! Hastig suchte er nach der großen Schutzbrille, die er bei diesen Ausflügen immer um den Hals tragen musste und die sogar über seine VR-Gläser passte, und zog sie über. Doch es war zu spät.

Das Brennen in seinen Augen zwang ihn in die Knie. Er spürte dicke Tränen, die über die Wimpern perlten und sich zwischen Brille und Wangenknochen sammelten, während das Rauschen des Unwetters zu einem Dröhnen anwuchs, das in den Ohren schmerzte. Er hörte die ferne Stimme seines Großvaters, konnte aber nichts erwidern. Ihm blieb keine Zeit. Er musste sich beeilen. Doch er war so gut wie blind.

»Hilfe!«, schrie er verzweifelt. Da zerrte etwas an seinem Hosenbund, das beißende Prasseln des Sandes auf seiner Haut hörte auf.

Jemand nahm ihm die Schutzbrille ab und warmes, sanftes Wasser plätscherte über sein Gesicht. Automatisch legte er den Kopf in den Nacken. Die Schmerzen ließen nach, allmählich klärte sich seine Sicht. Ihm wurde eine Flasche in die Hand gedrückt und er spülte seine Augen so lange selbst aus, bis er wieder etwas besser sehen konnte.

»…müssen hier weg!«, schrie sein Großvater, der ihn in das Zelt gezogen haben musste. Fin hatte inzwischen eine durchsichtige Plastikbrille aufgesetzt und sich ein T-Shirt vor Mund und Nase gebunden. Ein Knicklicht am Zeltboden hüllte sie in künstliches, rotes Licht.

»So schlimm war es noch nie!«, schrie Roland zurück, während draußen der Sturm tobte und an der Zeltwand zerrte.

»Schon gar nicht so weit nördlich. Ich weiß nicht, was los ist!«, antwortete Fin und fluchte.

»Egal jetzt«, fügte er dann hinzu und schüttelte den Kopf. Roland musste es von seinen Lippen ablesen, so laut war es mittlerweile. In diesem Moment wurde eine Ecke des Zeltes mit einem Schnalzen hochgehoben. Roland stürzte, das Knicklicht flog durch die Luft. Es wurde ganz dunkel. Einer der Heringe musste aus der Verankerung gerissen worden sein.

Das Zelt gehörte zu der besten Ausrüstung, die zu kriegen war. Das war eine der Grundvoraussetzungen, die seine Mutter für die großväterlichen Expeditionen gestellt hatte: kein Abenteuer ohne das richtige Equipment. Aber das beste Zelt und die sichersten Heringe halfen nichts, wenn man nicht die Kraft hatte, sie ordentlich einzuschlagen. Und die hatte sein sturer Opa scheinbar nicht mehr, obwohl er das niemals zugegeben hätte. Als sie eine scharfe Böe erfasste, spürten sie, wie ein noch größerer Teil des Zeltes hochgezogen wurde und sich über das Dach stülpte. Wenn noch mehr Heringe nachgaben, würden sie mitsamt ihrem Zelt davonfliegen. Roland musste an die Kante der Steilwand denken, von der er am Nachmittag gepinkelt hatte. Sie waren vielleicht hundert, zweihundert Meter von diesem Abgrund entfernt. Krampfhaft überlegte er, in welcher Richtung er lag und ob der Orkan sie dorthin treiben würde. Aber es war zwecklos. Er hatte keinerlei Orientierung. Zudem war es jetzt stockfinster, der Sturm brüllte zornig und dröhnte in Rolands Ohren.

Blind und taub klammerte er sich verzweifelt an seinen Opa, der seine Arme um ihn schloss und ihn fest an seine Brust drückte.

Das Toben des Unwetters ließ endlich ein wenig nach und die Böen peitschten weniger heftig gegen die Außenwand, bis es schließlich zu einem milderen Flattern wurde. Aber es war nicht das Abklingen des Sturms, das Roland beruhigte. Da war noch etwas anderes. Leise, geflüsterte Worte, als würden sie aus seiner Erinnerung zu ihm aufsteigen. Erst viel später sollte ihm bewusst werden, dass es das tiefe, tröstende Murmeln seines Großvaters war, der ihn fest gepackt hatte und ihn zärtlich hin und her schaukelte, wie ein Kind in der Wiege.

Nachdem er sich vom ersten Schock erholt hatte, wurde Roland von einer schweren Müdigkeit erfasst, die ihn an den Rand einer Ohnmacht brachte.

Das Erste, an das er sich später wieder erinnern sollte, war der Atem seines Großvaters, der irgendwie immer nach Kaffee und Zimt roch. »Aufwachen, mein Junge. So wach doch auf«, sagte Fin. Jetzt ganz und gar nicht mehr ruhig und tröstend.

Es war kalt geworden und Roland lag eingerollt auf dem wasserdichten Boden, als er das volle Bewusstsein wiedererlangte. Draußen trommelte schwerer Regen auf die Zeltwand. Er stellte mit Schrecken fest, dass der Boden unter der Plane weich geworden war und gluckste, wenn man sich bewegte. Als es blitzte, fuhr er auf und stieß gegen seinen Großvater, der noch immer auf ihn einredete. Die Seitenwände bogen sich schwer nach innen. Draußen musste das Wasser schon mindestens zwei Handbreit hoch stehen.

»Endlich bist du wach. Hör zu, mein Junge. Hör mir jetzt genau zu.«

»Nein Opa, begreifst du denn nicht?! Es schüttet in Strömen«, schrie Roland.

Er schien ihn nicht zu verstehen. Also kroch Roland zum Eingang und öffnete den Reißverschluss. Sein Opa rief noch »Halt!«. Aber es war zu spät.

Eiskaltes Wasser strömte herein. Es raubte Roland den Atem, als es seine Knie und die Unterschenkel umspülte, ihm ins Gesicht spritzte und seine Finger sofort klamm werden ließ. Dann wurde er herumgerissen.

Fin nahm sein Gesicht in beide Hände und sprach ruhig, aber so laut, dass es nicht zu überhören war: »Wir haben nicht viel Zeit. Der ausgetrocknete Boden nimmt das Wasser nicht mehr auf. Es geht jetzt um alles, mein Junge. Hörst du?«

Trotz der Dunkelheit war zu erkennen, dass seinem Mund kleine, weiße Wölkchen entströmten. Roland spürte eine Gänsehaut am ganzen Körper. Die Temperatur musste innerhalb von Minuten um mehrere Grad gefallen sein.

»Ich will hier weg«, sagte er unvermittelt.

»Ich weiß. Deswegen ist es umso wichtiger, dass du mir jetzt genau zuhörst.«

Zitternd folgte er Fin kurz darauf ins Freie. Er hatte seine Schutzbrille über der VR-Brille aufgesetzt, die auch seine Fehlsichtigkeit korrigierte.

Der Orkan empfing sie laut tobend und mit eisigem, nassem Atem. Der Regen schien nicht nur von oben zu kommen. Von allen Seiten schossen Roland Wassermassen entgegen, als stünde er in einer gigantischen Autowaschanlage.

Er sank fast bis zu den Knien im Schlamm ein, bevor Fin seine Hand umklammerte und ihn hochzog. Sie hatten besprochen, so schnell wie möglich Richtung Osten zu laufen. Den Hang hinauf in den Norden würden sie es bei diesem Regen nicht schaffen. Im Süden lag die Steilklippe. Aber bevor sich Roland orientieren konnte, wurde er weitergezogen.

Sein Großvater stapfte fest und rasch durch den Regensturm und zog ihn unerbittlich hinter sich her. Überall war Wasser. In seinem Kragen, auf seinem Gesicht, in seiner Hose und zwischen seinen Zehen. Seine Bewegungen wurden steif vor Kälte und gleichzeitig raubte ihm das Wasser immer wieder die Sicht. Irgendetwas unter ihm gab nach und er stolperte. Roland spürte einen stechenden Schmerz in seinem Knie, sodass er laut aufschreien musste. Es dauerte keine Sekunde, da wurde er hochgerissen. Wie eine schwere Einkaufstüte drückte Fin ihn gegen seine Brust. Einen Arm hatte er unter seine Beine geschoben, mit dem anderen hielt er seinen Rücken fest. Instinktiv umschlang Roland seinen Nacken. Er hatte nicht geahnt, dass solche Kräfte in seinem Opa steckten. Doch darüber konnte er jetzt nicht weiter nachdenken. Der Wind war mittlerweile so stark geworden, dass sie immer wieder stehen bleiben mussten. Manchmal taumelten sie, für Sekundenbruchteile wirkte es, als würde Fin stürzen. Aber jedes Mal wartete er die Böe ab und stapfte dann entschlossen weiter.

Rolands Knie schmerzte nicht mehr, er wusste jedoch, dass er von selbst nicht mehr laufen konnte. Also nahm er seinen ganzen Mut zusammen und versuchte sich zu orientieren, um wenigstens dadurch eine Hilfe zu sein. Aber ein Blick über die Schulter ließ ihn erstarren. Dort, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, war gerade noch im Licht zuckender Blitze zu erkennen, wie die Leinen des Zelts durch die Luft peitschten. Sie zerschnitten das Wasser und im nächsten Moment wurde ihre Unterkunft wild flatternd in die Luft gerissen. Eine Sekunde hing das Zelt an seinem letzten Hering, ehe er nachgab, die Plane meterhoch davon gewirbelt und von der Dunkelheit verschluckt wurde. Roland wollte seinen Opa darauf hinweisen. Er rief und tippte ihm dabei hektisch auf die Schulter. Aber Fin reagierte nicht.

Roland folgte dem Blick seines Großvaters hangaufwärts in die Finsternis. Zuerst war nichts zu erkennen, aber dann zuckte ein breiter Blitz irgendwo am Horizont und er bemerkte, wie sich zwischen den Bergen etwas veränderte. Da verschoben sich Landmassen, so groß wie Fußballfelder. Braun und grau und schwarz türmten sie sich auf und drückten sich aus einer Schlucht heraus. Noch ehe sein Verstand die Bilder richtig einordnen konnte, schrie sein Opa: »Sturzflut!« und begann zu rennen. Ein erneuter Blitz zeigte Roland, dass die Masse nicht blieb, wo sie war. Sie bewegte sich.

Die Sturzflut wurde von der Dunkelheit der Nacht verschluckt, wenn nicht gerade ein Blitz die Umgebung erleuchtete. Aber Roland hörte sie. Er hörte das Rauschen des Wassers, das immer näher kam und alles mit sich riss, bevor ein neuer, gewaltiger Blitz den Himmel teilte.

Zwischen zwei Gipfeln brach die schwarze, meterhohe Lawine donnernd in das Tal. Sie riss Baumstämme, Schlamm, Geröll und ganze Felsbrocken mit sich und kam direkt auf sie zugewalzt. Roland schloss die Augen.

ERSTES Buch

Heute

Roland stand in der Küche und dachte darüber nach, wann das alles angefangen hatte. Wahrscheinlich schon vor drei Jahren, als ihn sein Opa auf einen illegalen Camping-Trip in ein Natur-Sperrgebiet mitgenommen hatte. Die Sturzflut, von der sie überrascht worden waren, hatte sie damals beinahe umgebracht. Aber sie hatten überlebt. Irgendwie.

Seine Mutter hatte damals einen Mordskrach gemacht, weil sein Großvater mit ihm in eines der neuen Hochrisikogebiete gefahren war. Und rückblickend hatte sie wohl recht damit gehabt.

Am Ende hat sie sich dann doch beruhigt und Fin schließlich sogar dazu überredet, zu ihnen zu ziehen. Roland sollte erst später verstehen, warum sie so reagiert hatte und regelrecht darauf bestand, dass sie zusammenwohnen sollten.

Sein Großvater hatte zuerst abgelehnt und gemeint, er würde alleine ganz gut zurechtkommen.

»Dann kannst du öfter auf Roland aufpassen. Und du würdest mir damit sehr helfen«, hatte seine Mutter gesagt. Sie hatte gerade ihre Stelle bei Ärzte ohne Grenzenangenommen, und würde dadurch viele Wochen pro Jahr im Ausland verbringen. Sein Großvater hatte sich ein paar Tage Bedenkzeit erbeten, aber dann, noch lange vor dem Frühling, war er schließlich doch bei ihnen eingezogen.

»Opa … Opa?!«, rief Roland, erhielt jedoch keine Antwort.

In der smarten Küchenwand hinter der Spüle lief die Übertragung einer Polit-Diskussion. Roland wischte darüber, um die Sendung auszuschalten, aber das Gerät reagierte nicht. Wieder einmal. Die smarten Oberflächen, die in die Möbel und Wände verbaut wurden, waren praktisch. Doch mit der Zeit wurden sie fehleranfällig. Und ihre Küche war fast älter als er selbst.

Schließlich wurde er nach einem Passwort gefragt. Nachdem er zwei falsche Kombinationen eingegeben hatte, gab er auf. Er musste der Diskussion wohl bis zum Ende folgen. Ein Politiker, man erkannte am Abzeichen auf seinem Revers, dass er zur Regierungspartei gehörte, gestikulierte wild: »…Es wird nicht nur mehr Sicherheit bringen, sondern auch Wohlstand!«

Ein Oppositioneller mit griechischem Akzent antwortete: »Sie sind ja wahnsinnig! Menschenverachtend wahnsinnig!«

Roland probierte weitere Passwörter aus. Keines stimmte. Der Fall war klar: Sein Großvater hatte wieder einmal absichtlich den Bildschirm gesperrt, um ihn zu zwingen, sich mit Politik auseinanderzusetzen.

In der Diskussion sagte jetzt ein zweiter Vertreter der Regierung: »Bei dem Projekt handelt es sich um die größte infrastrukturelle Maßnahme in der Geschichte des Kontinents. 2.900 Kilometer Länge. Durch die Kooperation mit der Schweiz und Österreich können wir große Teile im Bereich der Alpen einsparen …«

»Das ist verfassungswidrig! Diese Mauer ist verfassungswidrig«, konterte eine Politikerin der Gegenseite. »Bevor Sie die hochziehen, bauen Sie doch zuerst die Dammmauern und Deiche in der Nordsee weiter aus. Das halbe Land ersäuft, inklusive Hamburg und Umgebung.«

Aber das Regierungsmitglied ließ sich nicht beirren, faltete die Hände und sprach mit einem Haifischlächeln weiter: »Nein, ist sie nicht. Und genau das ist der Punkt. Diese Mauer wird unsere Verfassung schützen, wie Ihre Partei in der Vergangenheit es hätte tun sollen. Und da haben Sie versagt. Das muss einmal deutlich gesagt werden. Und jetzt stellen Sie sich vor, was das Projekt für unsere Sicherheit bedeutet. Nicht nur, dass uns innereuropäische Migranten aus Spanien und Griechenland nicht mehr länger überrollen können, auch die afrikanischen Invasoren bleiben endgültig draußen …«

Die Oppositionspolitikerin schüttelte bloß den Kopf. Der Mann mit dem griechischen Akzent hingegen räusperte sich kurz und begann schließlich zu schreien.

»Stellen Sie sich vor, Sie würden aus Spanien kommen. Stellen Sie sich vor, Ihr Zuhause wäre eine Wüste ohne Wasser und ohne Lebensgrundlage! Würden Sie nicht flüchten?!«

Der Moderator versuchte schlichtend einzugreifen, aber der Regierungssprecher redete unbeirrt weiter: »Das Boot ist nun einmal voll. Sie tun noch immer so, als hätten wir das Jahr 2030. Sie leben in der Vergangenheit! In manchen Städten wohnen heute bis zu viermal mehr Menschen als vor fünfzig Jahren. Und da handelt es sich nicht um Deutsche! Und was das Projekt für die Energieversorgung erst bedeutet, ist einmalig. Die gesamte Oberfläche soll mit bruchfesten Photovoltaikpaneelen ausgestattet werden. Das ist die endgültige Wende in der Energiekrise! Wieder Strom für alle und zu jeder Zeit. Unbegrenzt. Wie schon vor dem Ausstieg aus Kohle und Öl!«

»Aber wie soll denn das finanzierbar sein?«, kreischte der Grieche. Die Szene drohte zu eskalieren.

Der Moderator musste einschreiten: »Sie haben die Sicherheitslage angesprochen. Kommen wir zu diesem Punkt. Was sagen Sie zu den jüngsten Aktionen der SA:DE-Bewegung. Was sagen sie zu den Dokumenten und Videos, die die Regierung schwer belasten?«

Eine Sekunde lang entglitten dem Regierungspolitiker die Gesichtsmuskeln. Sogar seine Gegner waren verstummt. Zähneknirschend murmelte er: »Es war vereinbart, dieses Thema nicht …« Er hielt inne, rückte sein Krawatte zurecht und hatte plötzlich seine Fassung wiedererlangt: »Hören Sie. Früher hätte man die Machenschaften des terroristischen SA:DE-Kartells als Fake News bezeichnet. Sie erinnern sich. Heute kann ich nur sagen, dass es sich um gezielte politische Propaganda handelt, die … die Hass und Uneinigkeit schürt.«

Doch der Moderator ließ nicht locker. »Aber das veröffentlichte Material lässt darauf schließen, dass es schwere Fälle von Korruption im Bundestag gibt, ja es enthält sogar ernst zu nehmende Vorwürfe, dass die Bevölkerung sowohl von der Opposition als auch vonseiten der Regierung bewusst belogen wird. Es enthält sogar Beweise, dass Ihre Regierung selbst mit Attentaten in Verbindung gebracht werden kann. Mit dem mysteriösen Tod von Oppositionellen und struktureller Polizeigewalt gegen die eigene Bevölkerung. Und weiters ist …«

Die Übertragung riss plötzlich ab. Einige Sekunden blieb der Bildschirm schwarz. Dann folgte ein Werbeblock.

Roland runzelte die Stirn, zuckte mit den Achseln und rief noch einmal nach seinem Großvater. Nachdem er noch immer keine Antwort bekommen hatte, machte er sich auf die Suche nach ihm. Die Reihenhaushälfte, die er mit seiner Mutter und seit ein paar Monaten nun auch mit Fin bewohnte, war nicht groß. Aber immerhin waren es fast 77 Quadratmeter und damit hatte jeder von ihnen mehr Wohnfläche zur Verfügung als 80 Prozent der Menschen im ganzen Land. Und dadurch, dass sie auf zwei Stockwerke, einen Keller und einen schmalen Rasenstreifen aufgeteilt war, gab es eine ganze Menge Möglichkeiten, wo er sich aufhalten konnte.

Roland fand ihn schließlich im Garten, wo er die Äste des alten Kirschbaums stutzte. Er stand, nur in Hausschuhen und Bademantel, auf der obersten Sprosse einer Stehleiter und schnitt mit einer elektrischen Stichsäge Zweige und Wildwuchs zurück. Roland fragte sich wieder einmal, wer hier auf wen aufpasste.

»Opa, was machst du denn da?«

»Ich gieße die Geranien«, antwortete Fin grimmig. »Wonach sieht es denn aus? Das Ding gehört zurückgeschnitten, sonst wächst es mir bald ins Schlafzimmerfenster hinein.«

»Lass das doch eine der Drohnen machen.«

»Auf die ist kein Verlass mehr. Die Technik ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Genauso wie der Rasenmäher. Liegt nur faul auf seiner Ladestation, arbeitet die halbe Zeit nicht, und wenn, dann schlampig. Als Nächstes gründen die Dinger noch eine Gewerkschaft!«, schimpfte er und fuchtelte mit der Stichsäge gefährlich durch die Luft.

»Das hast du doch schon im Frühling irgendwann, ich glaube im Februar erledigt«, gab Roland zurück und griff nach dem Bein seines Großvaters, der drohte, ins Wanken zu geraten.

»Hab’ ich das …? Im Feb…?« Er verstummte und dachte kurz nach. »Früher hatten wir den Frühling im April! Nicht im Februar. Außerdem reicht das nicht. Das Biest wächst wie verrückt. Das liegt sicher daran, dass im Nachbarort früher ein Atomkraftwerk gestanden hat. Das sage ich dir!«, erklärte er verbissen. Er stieß ein triumphierendes »Ha!« aus, als er den hartnäckigen Ast endlich gekappt hatte. Beinahe verlor er das Gleichgewicht, als sich das Holz vom Rest des Baums löste. Roland musste die Leiter fixieren.

»Jetzt komm aber bitte runter!«, befahl er seinem Großvater, der, im ersten Moment ein wenig erschrocken, mit einer beschwichtigenden Geste herunterstieg. Er bewegte sich sehr langsam. Jeder Tritt wurde umsichtig geplant und gezielt durchgeführt. Er war alt und konnte sich einen Fehltritt nicht leisten, wie er immer behauptete.

»Schon gut, schon gut«, murmelte er und kam etwas außer Atem und schwitzend am Boden an. Roland zog ihm erleichtert die Stichsäge aus der Hand. »Du hast wieder das Wasser laufen lassen.«

»Hab’ ich das?«, antwortete er. »Es könnte aber genauso gut deine Mutter gewesen sein, Roland.«

»Die ist in Neapel, das weißt du doch.«

»Jaja, natürlich«, murmelte sein Großvater beschwichtigend und sah sich um. Er suchte nach einer Möglichkeit, das Thema zu wechseln. »Ist wohl besser, wenn wir reingehen. Ein Wetter zieht auf.«

Es herrschte strahlender Sonnenschein.

»Und hör auf, mir die Politiksendungen aufzuzwingen. Das nervt!«

»Ein bisschen Bildung schadet dir nicht, Junge«, gab er zurück und runzelte die Stirn. »Wo ist denn meine  …?«, fragte er, tastete nach seiner Brusttasche und sah sich wieder um.

»Du hast sie auf dem Kopf«, warf Roland ein und schob Opa Fin Richtung Hauseingang. Dieser nickte und zog die Brille, die er gesucht hatte, von der Stirn auf die Nase. Bevor er durch die Terrassentür ging, trat er nach dem leise vorbeisurrenden Rasenmäher-Roboter, der automatisch zurücksetzte. »Blödes Ding, du!«

Mittlerweile kam es immer öfter vor, dass ihm etwas unauffindbar verloren ging, er vergaß abzuschließen, den Wasserhahn nicht abdrehte oder nach dem Toilettengang nicht hinunterspülte.

Mindestens zwei Mal pro Woche fielen Roland solche Sachen inzwischen auf. Im Winter hatte ihm seine Mutter verraten, dass sein Großvater in Wahrheit deswegen zu ihnen gezogen war, weil man kurz nach dem Vorfall mit der Sturzflut beginnende Demenz bei ihm festgestellt hatte. Sie hatte Roland erklärt, was das bedeutete, allerdings wollte er es nicht recht einsehen. Sein Großvater schlug ihn nach wie vor im Schach. Er war einer der klügsten Menschen, die er kannte, und hatte zu jedem Thema etwas zu sagen. Roland konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die Geisteskraft seines Opas nachließ. Oder besser: Er wollte es nicht.

»Komm, ich mach mir einen Tee. Magst du auch einen?«, fragte Roland, während sie durch die Verandatür ins Haus traten.

»Tee? Um Himmelswillen bloß nicht. Willst du mich vergiften? Mach mir einen Kaffee. Schwarz wie die Nacht. Sei so nett. Das Zeug ist zwar völlig künstlich und hat mit echtem Kaffee nichts mehr zu tun, aber immer noch besser als dein, äh … Tee.«

»Du hast doch sicher wieder viel zu wenig getrunken«, wendete Roland ein.

»Sag mal, hast du keine Hausaufgaben zu erledigen oder so was?«, erwiderte der Großvater und ließ sich im Wohnzimmer in seinen Sessel sinken. Damit brachte er Roland zum Schweigen, der in die Küche lief und Wasser in den Kocher füllte, während Fin der Sprachsteuerung des Hauses Befehle erteilte. Er würde trotzdem Tee machen. Und sein Großvater würde ihn, nicht ohne zu schimpfen, dann doch trinken.

»Computer, spiel meine Musik.«

An der ihm gegenüberliegenden, weißen Wand erschien eine Aufnahme eines Konzerts aus den frühen Zweitausendern. Fin lehnte sich zufrieden zurück.

»Das war noch Musik«, murmelte er, als Roland den Tee servierte, sich auf die Couch fläzte und ein Tablet auf seinen Schoß zog. Er wollte sein Lieblingsspiel spielen, und dafür brauchte er ein Display, das er mit den Fingern steuern konnte. Als er es aktivierte, erschien ein Clip aus einer Dokumentation. Man konnte ihn nicht vorzeitig wegklicken, ohne das korrekte Passwort einzugeben.

»Ach Opa! Schon wieder?«

»Ich sag doch: Ein bisschen Bildung schadet dir nicht, Junge!« Er lächelte schelmisch.

Roland verdrehte die Augen, musste aber gleichzeitig auch über seine Art schmunzeln. Auf dem Bildschirm erschien ein Mann in einem abgedunkelten Raum. Hinter ihm lag eine interaktive Karte der Nordhalbkugel mit Europa im Zentrum, auf der Windströme und Temperaturanzeigen zu sehen waren. Der Moderator sprach mit einer eindringlichen, aber angenehmen Stimme: »Durch das Abschmelzen des Grönlandeises hat sich der Salzgehalt im Nordatlantik verändert. Das brachte den Golfstrom, der in den Jahrtausenden zuvor warmes Wasser aus dem Süden in den Norden transportierte und so Europa sein mildes, angenehmes Klima schenkte, allmählich zum Erliegen. Dadurch ist es im Nordatlantik immer kälter geworden, während es im Süden immer wärmer wurde. Dies verursacht einen Unterdruck und warme Luft wird aus dem afrikanischen Süden nach Europa gezogen. In Mitteleuropa haben wir heute wesentlich höhere Temperaturen als vor hundert Jahren. In Nordeuropa aber ist es umgekehrt. In großen Teilen Skandinaviens und im ehemaligen Großbritannien kommen die heißen Luftströme nicht an, und deswegen ist es hier wiederum wesentlich kälter als vor hundert Jahren. Waren abgesehen von den Hochgebirgslagen vor siebzig Jahren noch nahezu 90 Prozent Europas bewohnbar, sind es heute kaum mehr als 60 Prozent. Der Platz wird also enger. Die Bevölkerung ist aber massiv gewachsen. Das liegt vor allem an den Millionen Geflüchteten, die aus Nordafrika nach Südeuropa drängen, da große Landstriche nördlich der Sahara von permanenter Trockenheit und Spitzentemperaturen jenseits der 50 Grad Celsius betroffen sind. Dort kann niemand mehr leben. Gleichzeitig versuchen die Menschen aus Südeuropa in den mittleren Norden, das Gebiet in dessen Zentrum Deutschland liegt, zu fliehen, um der Hitze zu entgehen. Und viele Nordeuropäer versuchen der neuen Kälte zu entkommen, indem sie nach Süden flüchten, also ebenfalls in deutsches Gebiet.«

Endlich war der Clip vorbei und das Spiel konnte starten. Während das Video gelaufen war, hatte Roland seinen Großvater beobachtet. Dieser wirkte plötzlich, nachdem er sich gesetzt hatte, ziemlich erschöpft. Und als er an seinem Tee nippte, verzog er das Gesicht, als würde ihm körperlich etwas wehtun.

»Was denn?«, fragte Roland ein wenig besorgt. Er hatte sein Spiel augenblicklich vergessen.

»Nichts. Es ist nur … Der Tee …«, antwortete sein Großvater und schmatzte abschätzig.

»Mm«, schnaufte Roland, atmete erleichtert aus und schüttelte den Kopf.

»Ich hab’ ihn genau so gemacht, wie Mama immer.«

»Nein, das ist es nicht, es …«

»Wann kommt sie eigentlich zurück?«, wurde er von Roland unterbrochen.

»Ende nächsten Monats endet ihr Einsatz in Neapel.« Sein Großvater nippte noch einmal an der Tasse und schüttelte den Kopf mit einem Schlürfen. »Mm, es ist einfach nicht dasselbe.«

»Es ist der gleiche wie immer. Deine Lieblingssorte«, antwortete Roland und widmete sich wieder seinem Spiel.

»Nein, es ist nicht der Tee selbst. Obwohl, Kaffee wäre mir natürlich lieber gewesen. Aber es ist … das Wasser … es schmeckt nicht. Mit einem Schuss Rum vielleicht. Meinetwegen. Aber so … es schmeckt einfach nicht«, murrte er und sah sich seine Tasse an, die Roland in seiner Kindergartenzeit gemacht und mit den Lettern »Opa Fin« verziert hatte.

»Es schmeckt nicht? Wie soll Wasser denn schmecken?«, antwortete er abwesend.

»Anders …«, erklärte Fin und schloss die Augen.

»Anders?«, wiederholte Roland die Worte seines Großvaters, ohne von seinem Spiel aufzublicken oder darauf einzugehen, wie er es gemeint haben könnte. Später würde er sich vorwerfen, zu selten mit seinem Großvater wirklich gesprochen, anstatt bloß geistesabwesend irgendwas gesagt zu haben.

»Früher … da hatte das Wasser nicht diesen … Blei­­geschmack.«

Mist. Gestorben. Er pausierte und wandte sich seinem Opa zu.

»Du findest, es schmeckt nach Blei? Ist doch Blödsinn. Das geht durch drei Filter, bevor es überhaupt aus der Leitung kommt. Und noch ein Filter ist im Wasserkocher eingebaut.«

»Ich sage ja nicht, dass Blei drin ist. Aber es schmeckt irgendwie danach. Besser kann ich es nicht sagen. Immer diese Filter. Überall bauen sie die Filter ein und setzen dem Wasser dies und dem Brot das hinzu. Spurenelemente und Vitamine und weiß der Kuckuck noch was. Und von der neuesten Salatgurke bekommt man Superkräfte, oder wie? Es schmeckt einfach nicht so, wie es soll.«

»Na gut und wie soll es schmecken?«, fragte Roland. Er wollte das Spiel wieder aufnehmen, ließ es dann aber bleiben. Er beobachtete lieber seinen Großvater, der jetzt in seinem Sessel halb liegend und mit inzwischen geschlossenen Augen wild gestikulierte.

»Na, nach Wasser eben … Weißt du … Bevor es so … bleiartig schmeckte, gab es eine Zeit, da schmeckte es … na gut, da schmeckte es nach Fisch. Davor schmeckte es nach fauler Minze. Und davor nach Chlor. Aber als ich so alt war wie du, da schmeckte es wie … wie ein Hauch von Nichts. Es schmeckte frisch und kühl. Und lebendig. Schmeckte nach ein wenig Kalk und so wie ich mir den Geschmack von Mineralien vorstelle. Es schmeckte so … lebendig … Das war, als das Wasser noch nicht privatisiert und von Konzernen verkauft, sondern vom Staat jedem quasi kostenlos geliefert wurde. Wir haben in dem Zeug gebadet. Kannst du dir das vorstellen? In Trinkwasser! Versuch heute mal einen Schluck aus einem Freibad zu nehmen. Na dann, Prost Mahlzeit, da brauchst du keine Darmspiegelung mehr, das sag ich dir.«

Roland lachte, schüttelte den Kopf über den Witz und widmete sich wieder seinem Tablet. Das schien Großvater Fin aber nicht zu stören. Er schimpfte weiter vor sich hin, bis das Telefon läutete. Also schob er den knopfgroßen Kopfhörer, den er in seiner Brusttasche trug, in sein Ohr.

»Wer ist da?«, fragte er unwirsch. Es klang, als verlangte er nach einer Rechtfertigung dafür, dass er in seinen Ausführungen unterbrochen worden war. Als er aber verdächtig lange nichts mehr sagte, sah Roland wieder auf.

Fin saß plötzlich aufrecht und blickte durch Roland hindurch, als würde er einen Geist sehen. Seine Haut war von einem Moment auf den anderen blass und seine Augen leer geworden. Sein Kinn zitterte ein wenig, ehe er schluckte, zweimal blinzelte und sich über das Gesicht wischte. Etwas Schreckliches musste passiert sein.

»Ja. Danke«, sagte Fin kraftlos und legte auf. Dann wendete er sich an den Fernseher. »Computer, Nachrichten.«

An der Wand erschien ein Bericht von einem Boxkampf.

»Weiter.«

Es erschien ein Bericht über Aktienkurse.

»Weiter.«

Zwei Politiker, die sich in einem Studio mit einem Moderator stritten.

»Weiter.«

Endlich kam ein Sender, der zeigte, wonach der Großvater suchte. Zu sehen war eine junge Nachrichtensprecherin. Am Bildschirm hinter ihr liefen Szenen, die man früher nur aus Katastrophenfilmen kannte. Ein Regensturm tobte über einer Küstenstadt, die am Bildrand als Neapel ausgewiesen wurde. Gischtendes, sandgetrübtes Wasser wurde vom Wind in meterhohen Wellen durch die schmutzige Stadt gedrückt und riss alles mit sich, was nicht niet- und nagelfest war. Straßenschilder, Mülltonnen, Fahrräder und Roller, Kleidungsstücke, Zeltplanen und Hausrat.

Die Nachrichtensprecherin, sie trug ein rotes Kostüm und viel zu viel Make-up, sah gefasst in die Kamera: »… wurden bisher unbestätigten Meldungen zufolge 217 Todesopfer genannt, wobei eine starke Korrektur nach oben zu erwarten ist. Meine Damen und Herren …«

»Ist das da, wo Mama arbeitet?«, fragte Roland, obwohl er die Antwort kannte. Sein Großvater nickte bloß. Tränen standen in seinen Augen.

»… nachdem die Dammmauer vor der Bucht gebrochen ist, dringen Millionen Liter Meerwasser unkontrolliert in die Flüchtlingsstadt Neapel, und werden vom orkanartigen Wind in großen Wellen durch die Straßen und in die Häuser gedrückt. Die Stadt beherbergte zuletzt rund 240.000 Menschen. In dem Stadtteil, der von der Überflutung betroffen ist, und der mittlerweile fast einen Meter unter dem Meeresspiegel liegt, leben 69.000 Personen. Darunter auch zahlreiche Hilfskräfte, Mitarbeiterinnen von NGOs und ehrenamtlich tätige Menschen. Kritik wird vor allem von Hilfsorganisationen laut, die den Zustand der Dammmauer in den vergangenen Jahren immer wieder bemängelten.«

»Ich verstehe nicht …«, sagte Roland.

Sein Großvater griff nach ihm, packte sein Knie und hielt es fest. Aufnahmen aus der Luft wurden eingespielt, die das volle Ausmaß der Zerstörung zeigten.

»Seit der Großteil der ursprünglichen Bewohner in den 2050ern die Stadt verlassen hat und sie zunehmend zu einem Auffanglager für Flüchtlinge umfunktioniert wurde, sei nichts mehr an der Dammanlage, die den steigenden Meeresspiegel abgehalten hat, gemacht worden, so Lars Thorn von Global3000. Der Dammbruch erfolgte während einer schweren Sturmflut, wodurch die Kanalisation bereits von den Regenmassen überlastet war und zusätzlich Wasser in die Stadt dringen konnte. Wellen mit einer Höhe von bis zu sechs Metern rollten durch die Innenstadt und rissen alles mit sich, berichtet ein Augenzeuge.«

Roland schüttelte den Kopf und rief seine Mutter an. Mailbox.

»Was haben sie dir gesagt?«, fragte er Fin, der sich räusperte.

»Nichts. Sie haben keinen Kontakt zu ihr. Es gibt kaum Rettungspersonal vor Ort. Außer das, das ohnehin schon dort arbeitet. In den Lagern. Sie haben gesagt … sie rufen wieder an.«

Roland wurde schlecht. Die Nachrichtensprecherin schloss ihren Bericht ab.

»… wird ein Terrorakt allerdings auch nicht ausgeschlossen. Die illegale Organisation ›Europäische Identitätsbewahrer‹ ist mit ähnlichen Aktionen gegen Klimaflüchtlinge in den vergangenen Jahren aufgefallen. Ein Bekennervideo fehlt allerdings bislang. Jetzt aber zum Wetter«, sagte die Sprecherin und lächelte: »Tim, was gibt es Neues?«

Die Kamera wechselte ins Wetterstudio. Ein dünner Mann mit altmodischer Fliege und hellen Jeans erschien. Er lächelte ebenfalls.

»Danke, Mandy. Morgen steht uns ein milder Sommertag ins Haus, mit Höchstwerten von 29 Grad in Berlin und 32,5 Grad in München. Aber der Reihe nach. Morgens wird …«

»Nein«, murmelte Roland entsetzt. Fin sprach kein Wort.

Nach längerem Schweigen sagte er endlich: »Geduld Junge … Du hast es doch gehört. Nur ein Teil der Stadt wurde … Ich meine …«

Roland spürte, dass das nur Ausreden waren, die ihn beruhigen sollten. Sein Opa glaubte selbst nicht, was er da sagte. Ganz plötzlich wurde Roland furchtbar zornig. Er trat mit dem Fuß so heftig gegen die Couchlehne, dass es knackte. Dann sprang er auf und schleuderte das Tablet zwischen die Zierkissen.

»Warum hat sie bei Ärzte ohne Grenzen überhaupt erst angefangen? Verdammt noch mal!«, schrie er und stürmte in die Küche. Er schlug mit der Faust auf die Arbeitsfläche neben der Spüle, dass sie kurz flimmerte. Sein Großvater rief irgendetwas. Aber er hörte nicht auf ihn. Stattdessen sah er auf die Familienfotos. Es waren mehrere dutzend, die auf der smarten Oberfläche des breiten Kühlschranks in einer sich langsam wandelnden Collage ineinanderflossen, verblassten und von neuen ersetzt wurden. Da waren Bilder von Ausflügen. Bilder von gemeinsamen Abendessen. Seine Mutter, sein Großvater und er, wie sie in einer Achterbahn saßen. Eine Aufnahme aus dem Urlaub. Seine Mutter in Kindertagen, inmitten einer Schneelandschaft spielend. Es war das einzige Foto, auf dem Schnee zu sehen war.

Er betrachtete ein Bild, das sie alle drei beim Wandern zeigte. Als es verblasste, erschien ein neues, ein aktuelles Foto. Seine Mutter hatte es erst vergangene Woche von ihrem Arbeitsplatz aus hochgeladen. Sie hielt Zeige- und Mittelfinger zum Victoryzeichen gestreckt in die Kamera, hatte ihren Arztkittel an und eine Gesichtsmaske auf und stand inmitten von afrikanischen und inneritalienischen Flüchtlingen an einer Kaimauer. Im Hintergrund war das Meer zu sehen. Sie befand sich auf diesem Bild genau da, wo jetzt alles überschwemmt war.

Bilder davon, wie schmutziges Meerwasser seine Mutter unter sich begrub, stiegen in ihm auf. Bilder von ihr, wie sie vor Angst schrie, wie sie um ihr Leben rannte. Wie sie auf einem Stück Treibholz vom zurückweichenden Wasser hinaus aufs Meer gezogen; wie sie unter einem zusammenstürzenden Gebäude verschüttet wurde.

Verzweifelt schüttelte er den Kopf und sah Tränen, die aus seinen Augen auf die Arbeitsplatte tropften. Er hatte einen Frosch im Hals, als er ins Wohnzimmer trat, wo sein Großvater wieder die neuesten Nachrichten sah. Er schaltete den Fernseher aus, als er ihn bemerkte.

»Inzwischen gehen sie von einem gezielten Anschlag aus. Es wurde ein Loch in die Dammmauer gesprengt … Gleichzeitig sind an drei weiteren Orten in der Stadt Bomben hochgegangen. Eine Massenpanik hat eingesetzt. In ganz Neapel herrscht Chaos«, erklärte er Roland, während er umständlich aufstand und ihn mit zitternden Händen in den Arm nahm.

Roland erwiderte die Umarmung nicht. Steif vor Schreck stand er mit hängenden Schultern da und starrte einige Sekunden an die Wand.

»Hilfe«, flüsterte er schließlich.

»Hm?«, fragte sein Großvater. Roland löste sich von ihm und trat einen Schritt zurück, um ihm ins Gesicht zu sehen. Er merkte, wie ihm Tränen die Sicht nahmen.

»Es gibt doch niemanden, der sich um sie kümmern wird. Die Menschen dort sind sich selbst überlassen. Italien hat die Region längst aufgegeben, hast du selbst gesagt!« Bei den letzten Worten überschlug sich seine Stimme und ein kurzer Heulkrampf schüttelte ihn. Er sank auf der Küchenschwelle nieder, ehe sein Großvater sich zu ihm hockte und ihn erneut in die Arme nahm.

»Mama!«, schluchzte Roland.

Schweigend klopfte ihm Fin den Rücken und streichelte über seinen Kopf. Roland fühlte sich für einen Moment wieder wie ein kleines Kind. Er wusste, dass es in der Region, in der die Katastrophe passiert war, keine staatlichen Institutionen mehr gab. Keine Polizei, keine Armee, die Hilfe leisten konnte. Und bis erste Rettungskräfte der freiwilligen Hilfsorganisationen eintrafen, würden Tage vergehen. Hilfe aus Nordeuropa würde wahrscheinlich sogar erst nach Wochen kommen. So lange konnte Roland nicht warten.

Einen Moment lang schämte er sich dafür, zu weinen. Aber dann wurde ihm bewusst, dass er das in Gegenwart seines Opas nicht musste. Er verstand ihn.

»Nein!«, krächzte er und wollte es nicht hinnehmen. »Nein, nein, nein!«

Das alles durfte nicht wahr sein. Gerade hatte er doch noch mit seinem Opa Tee getrunken, die Welt war in Ordnung und seine größte Sorge war der Punktestand bei dem Computerspiel gewesen.

Fins warme Hände, ja allein schon seine Anwesenheit hatten schließlich Trost gespendet und endlich, nach quälenden Minuten der Verzweiflung wurde es Roland ein wenig leichter ums Herz. Erschöpft atmete er aus, wischte sich mit dem Unterarm die Tränen und den Rotz aus dem Gesicht. Etwas gefasster sagte er:

»Opa, wir müssen sie da rausholen. Bitte!«

Fin machte nur »Schhh«, und tätschelte seinen Hinterkopf. Da drückte sich Roland erneut von ihm weg, sah ihn ernst an und sagte bestimmt: »Opa, ich hole sie da raus. Mit dir oder ohne dich!«

Sein Großvater sah ihn lange an. Dann nickte er.

Und zu Rolands Überraschung antwortete er, während er zum Kühlschrank mit den Familienbildern blickte: »Ja. Wir beide holen sie da raus.«

Damals

Zornig stieß Fin die Haupteingangstür seiner Schule auf, rückte seine Jacke zurecht und eilte über die Straße. Ein feiner, sauer schmeckender Nieselregen benetzte sein Gesicht, als er an der Bushaltestelle anlangte. Er hatte überlegt, ob er bis zur nächsten Station laufen sollte. Andererseits, was sollte schon passieren?

Da stand er nun. War abgehauen und schaute sich das Schulgebäude samt Turnsaaltrakt an, während er auf den Bus wartete. Sollten sie ihn doch erwischen. Was machte es schon? Das war seine Form des Protests. Als Zugabe griff er nach der Zigarettenpackung, die er sich vergangene Woche für eine Party gekauft hatte. Er würde hier stehen, sich dieses Gefängnis von außen anschauen und eine rauchen. Drauf geschissen. Um nicht weiter durch den Mund atmen zu müssen, pulte er das Toilettenpapier, mit dem er sein Nasenbluten gestoppt hatte, heraus und schnippte die vollgesaugten Pfropfen in den Mülleimer an der Haltestelle.

»Arschlöcher«, flüsterte er und schüttelte den Kopf. Er konnte von hier bloß das Licht durch die hohen Fenster des Turnsaalgebäudes sehen, aus dem er geflüchtet war. Und das war auch gut so. »Eure Fressen können mir gestohlen bleiben«, murmelte er gereizt und versuchte nicht weiter an die Klassenkameraden zu denken. Es gelang ihm nicht.

Da öffnete sich die Eingangstür der Schule und er zuckte unwillkürlich zusammen. Unschlüssig überlegte er, wegzurennen. Aber es war kein Lehrer, der heraustrat. Auch keiner seiner Kollegen. Es war eine Schülerin, die er nicht kannte. Sie ließ die Tür hinter sich zufallen, kehrte der Schule den Rücken und kam auf die Bushaltestelle zu.

Irgendwie hatte er das Verlangen, sie anzusprechen. Warum, wusste er selbst nicht. Sie sah seinen forschenden Blick, der ihn verriet, und kam ihm zuvor.

»Das bringt dich um«, sagte sie, als sie auf den Bordstein trat und stehen blieb.

»Ja, ich weiß«, sagte er, nickte zur Schule und dachte an seine Klassenkameraden.

»Was meinst du?«, fragte sie mit einem Stirnrunzeln. Sie hatte ihren mit bunten Aufnähern vollgepflasterten Rucksack lässig über eine Schulter gehängt.

Er blickte sie verwirrt an. »Was glaubst du denn?«, fragte er zurück.

»Na die!«, antwortete sie und deutete auf die Zigaretten. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie zuckte mit den Schultern, nahm ihm das Päckchen weg und ging an ihm vorbei.

Kurz starrte Fin entgeistert auf seine leere Hand, überlegte einen Moment und fragte sich, ob er das Mädchen kannte. Dann wurde ihm plötzlich bewusst, dass ihm gerade seine Zigaretten geklaut worden waren.

»He!«, rief er und lief ihr nach. Aber sie war schnell unterwegs, hatte bereits fast einen halben Häuserblock Vorsprung und ging über die Hauptstraße, als würden die Autos gar nicht existieren. Einige Fahrer mussten heftig bremsen. Zorniges Hupen prallte an dem Mädchen ab und schon war sie auf der anderen Seite. Fin brauchte dafür doppelt so lange.

Beinahe hätte ihn dabei eine Straßenbahn erwischt. Der Fahrer schüttelte wütend seine Faust und keifte ihm etwas hinterher. Fin spürte seinen rasenden Herzschlag, als er auf den Gehsteig sprang und endlich wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte.

Aber wo war sie? Er sah sich um. Blieb stehen.

Ein paar Passanten, die sich auf dem schmalen Gehsteig entlangschlängelten, wichen verärgert aus. Wo war sie bloß hin? Wer war sie überhaupt? Er dachte schon daran, seine Zigaretten aufzugeben und zur Haltestelle zurückzukehren. Diesmal aber über einen Sicherheitsstreifen, soviel stand fest.