HEUTE ist MORGEN aus der Sicht von GESTERN - Karin Barz Dieterle - E-Book

HEUTE ist MORGEN aus der Sicht von GESTERN E-Book

Karin Barz Dieterle

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Beschreibung

«Für einen Augenblick war ich abgelenkt. Als ich mich wieder auf den jungen Mann und das schwarze Gemälde konzentrieren wollte, nahm ich grad noch wahr, wie der Mann sich im schwarzen Bild auflöste. Oder darin verschwand. Oder von ihm verschluckt wurde.» Haben Sie auch schon ein Möbelstück vom Strassenrand mitgenommen? Was passiert, wenn Sie dann in einer Schublade über hundert Jahre alte Briefe aus Peru entdecken? Waren Sie auch schon Zeuge eines Unfalls? Was ist, wenn Sie merken, dass alles zusammenhängt und Sie darin verwickelt sind? Gemeinsam mit einem Kommissar aus Wien begibt sich die Winterthurerin Karin B. auf Spurensuche. Diese führt die beiden durch Europa, die USA und Lateinamerika.

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Seitenzahl: 333

Veröffentlichungsjahr: 2019

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HEUTE ist MORGEN aus der Sicht von GESTERN

Zur GeschichteDankeTitelgeschichteFerienbilderWeisst-du-noch?-GeschichteWer nicht hören will …KinderschwärmereienZwischen zwölf und postmateriellImmer der Sonne entgegenDas Schwarze LochTotenstadtJenseits der Wirklichkeit und mitten in der RealitätWasserspieleWenn Träume wahr werdenIm Zeichen der MuschelAm Nabel der WeltEs geht um die WurstNeue HorizonteTiefe EinblickeDistanzlosigkeitGezeitenAuf Granit gebissenHinkelsteineOrtswechselDen Grappa auf der ZungeSisis ReichFreier FallBriefeMeine lieben Daheimgebliebenen (1)Meine lieben Daheimgebliebenen (2)Meine lieben Daheimgebliebenen (3)AufgelistetAktenstudiumJonas AltmannGradoGustav erzähltSan GimignanoMeine lieben Daheimgebliebenen (4)Meine lieben Daheimgebliebenen (5)Wer ist der alte Mann?Die BaumgartnersLuise, Jahrgang 1909Ruth, Jahrgang 1890Margrit, Jahrgang 1892Liselotti, Jahrgang 1893Leichen zum FrühstückDer 90. GeburtstagPfingsten 19741954MichaelaWiener SchnitzelCoraBrigitteVerdingkindDas erste GeschenkSilvester im TessinMusik-ClipsSchwarz und WeissIm Kloster ReichenauIch sehe schwarzFerien auf ZypernEinbahnstrassenKonrad und Mike HellbergDie letzte SeiteDie anderen BaumgartnersDia-AbendDas Meeresrauschen in der MuschelConchaE-Mails für michDie CurtonisCarlaIn der TrattoriaDu, ich, alleGeschieht dir recht!Wer bist du?Das Bild der SalomePeruWeltenbummlerinÜberseeMit Maya unterwegsGustav und SusanneSienaGustavs BriefDas Baumgartner-FestEpilogEpilog 2StammbaumVorschau auf Band 2 Zeitensprung zur AutorinImpressum

Zur Geschichte

Gustav Aans ist ein Kommissar aus Wien. Eines Tages bekommt er Besuch von einer Winterthurerin, die ihm merkwürdige Geschichten erzählt, welche irgendwie mit einem Fall zusammenhängen, den zu lösen er seit Jahren vergeblich versucht.

Gemeinsam begeben sie sich auf Spurensuche durch Europa, Lateinamerika und die USA. Dabei lernen sie Mitglieder einer weitverzweigten Familie kennen und treffen auf Menschen mit aussergewöhnlichen Fähigkeiten.

Danke

Viele Freunde haben zur Entstehung dieses Buches beigetragen. Ihnen ist auch der Hinweis zu verdanken, ich solle doch einen Familienstammbaum erstellen. Dieser befindet sich beim Inhaltsverzeichnis. Zudem bin ich dankbar, auf einen reichen Schatz an Familiengeschichten zurückgreifen zu können.

Mein besonderer Dank gilt Andrea Dall’Omo,Brigitte Egg und natürlich meinem Mann. Zumeinem 20. Geburtstag schenkte er mir einenGlobus mit den Worten: «Ich lege dir die Welt zu Füssen.» Er hat Wort gehalten.

Titelgeschichte

Es war in Salzburg in der Adventszeit. Nach stundenlangem Streifen durch den Weihnachtsmarkt wollte ich mich im Café Tomaselli bei einer heissen Schokolade mit Schlag aufwärmen. Das Lokal war proppenvoll. Ich hoffte, im ersten Stock noch einen Platz zu finden und schlängelte mich durch die besetzten Tischchen und Stühle vorbei an den schwarzbefrackten Kellnern. «Das ist doch der, der seinen Bruder umgebracht hat.», sagte gerade der eine zu seinem Kollegen und deutete mit dem Kinn in Richtung Fenster. Sofort war ich hellhörig und folgte dem Zeichen. Mein Blick richtete sich auf einen alten Herrn, der allein vor einem Verlängerten sass.

Bot sich mir hier endlich die Gelegenheit, Stoff für einen Krimi aufzutun?

Ich trug mich nämlich seit Jugendzeiten mit dem Wunsch, ein Buch zu schreiben. Ich setzte mich also so hin, dass ich die Szenerie gut überblicken konnte. Zum Glück war grad ein Tisch in aussichtsreicher Lage freigeworden.

Draussen schneite es. Grosse, nasse Flocken tanzten nicht leichtfüssig, sondern sehr behäbig vor den Fenstern. Ich musterte die Passanten, alle mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen oder mit Schirmen bewehrt. Hotel Sacher, Hotel Wolf Dietrich – die Schirme zeigten, in welchem Hotel die Gäste logierten.

Um nicht zu leicht als «Spionin» enttarnt zu werden, nahm ich mein Buch aus der Handtasche. Das Privileg Alleinreisender ist, im Restaurant lesen zu können. Kästners «kleiner Grenzverkehr» sollte meine Aufwärmpause mit heisser Schokolade abrunden. Natürlich konnte ich jetzt nicht lesen. Vielmehr versuchte ich, hinter das Geheimnis des Brudermörders zu kommen und schielte über den Rand hinüber zu besagtem alten Herrn.

Der Ober unterbrach mich kurz und nahm meine Bestellung auf. Danach wieder volle Konzentration auf den Mann vor dem Verlängerten. Ich nahm nur den oberen Teil seines Kopfes wahr, sein Gesicht war von einer Zeitung verdeckt. In meinem Kopf tat sich ein ganzer Roman auf. Das war sicher ein stadtbekannter Salzburger, der nach Jahren im Gefängnis endlich wieder auf freiem Fuss war. Im ältesten Kaffeehaus seiner Heimatstadt wollte er in Ruhe etwas trinken und einfach nur Zeitung lesen. Immerhin hatte er seine Strafe für eben jenen Mord an seinem Bruder abgesessen. Aber man hatte ihn nicht vergessen. Die Kellner hatten ihn gerade wiedererkannt. Ich überlegte, wie ich an Details kommen könnte, vor wie vielen Jahren der Mord wohl stattgefunden haben könnte etc., und schon sah ich mich in Zeitungsarchiven recherchieren.

Meine Schokolade kam und der Ober sprach mich auf mein Buch an. «Hübsche Geschichte, nicht wahr?» Normalerweise war ich immer für Smalltalk zu haben, und mich in Salzburg über Erich Kästner austauschen zu können, wäre genau meins. Immerhin spielt eine Schlüsselszene hier im Café Tomaselli. Nur gerade jetzt hatte ich dafür kein Musikgehör. Vielleicht konnte ich den Kellner unauffällig ausfragen. «Ich mag eigentlich Krimis lieber. Letztens habe ich einen gelesen, da hat einer seinen Bruder umgebracht.» Ich hoffte, der Ober möge jetzt ins Erzählen kommen. Es war ja nicht alltäglich, einen Mörder quasi persönlich zu kennen. Und prompt erhielt ich Antwort: «In den Salzburger Nachrichten haben sie grad heute über den Mord dieses Nordkoreaners, Kim irgendwas, an seinem Halbbruder berichtet. Wissen’s diesen Giftmord am Flughafen in Malaysia. Soweit ich das überfliegen konnte, geht es um den Prozess.» Wieder machte er eine Kopfbewegung in Richtung des alten Herrn. Ich schaute genauer hin. Die Zeitung, die dieser vor seinem Gesicht hielt, zeigte auf dem Titelbild tatsächlich gross das Konterfei von Kim Jong-un. Obwohl der Titel in grossen Lettern geschrieben stand, konnte ich diesen nicht lesen. Das Gesicht des koreanischen Machthabers aber erkannte ich sehr wohl.

Ach, davon haben sie also gesprochen. Es ging um die Titelgeschichte in der hiesigen Tagespresse.

Wieder war es nichts mit einem Stoff für meinen Roman. Den Wunsch, ein Buch zu schreiben, hegte ich nämlich, seit ich denken und schreiben konnte. Aber den haben wohl viele. Denke ich. Und jeder stolpert über ähnliche Probleme. Was soll’s denn überhaupt sein? Ein Liebesroman? Kitschig! Aber schön. Oder tragisch, je nachdem. Okay, nächste Frage: Happy End oder offenes Ende? Der Leser soll sich selbst den Ausgang der Geschichte vorstellen können. Hat so etwas Gehaltvolles. Aber Liebesgeschichten gibt es mehr als genug. Wer wartet schon auf meinen Roman? Das Thema «Buch» wird immer wieder versorgt. Sorgfältig. Aber nie ganz.

In der Hoffnung, den Stoff zu finden, geht man wach durchs Leben. Leider hat immer jemand anderes die zündende Idee. Kinderbücher, die in der Zauberwelt spielen, bringen sogar überzeugte Nichtleser zum Lesen. Schade, diese Eingebung hatte eine andere. Jetzt noch auf den Zug aufzuspringen – zu spät. Ärgerlich nur, dass andere das nicht so sehen und munter Fantasy-Romane schreiben, und das nicht nur für Kinder. Auch die Erwachsenenwelt wird von diesem Genre erobert. Schade, wieder eine Chance verpasst.

Krimis! Ich lese gerne Krimis und schaue jeden Sonntag den «Tatort». Krimis sind in seit Agatha Christie oder noch länger. Krimis kommen nie aus der Mode und neben dem «Tatort» gibt es noch den «Fall für zwei», SOKOS (Sonderkommissionen) in mindestens einem Dutzend deutscher und österreichischer Städte. Neue Staffeln, Wiederholungen, alles immer gern gesehen. Also Lust an Mord und Totschlag ist im deutschen Sprachraum vorhanden. Das wäre ein Riesenmarkt. Und auch als Schriftstellerin muss man wirtschaftlich denken!

Da war sie also endlich, die neue, die zündende Idee für den Start einer neuen Karriere. Als Anschauungsmaterial besorgte ich mir Kriminalromane aller erdenklichen Art: Krimis Schweizer Autoren mit viel Lokalkolorit, deutsche, österreichische und schwedische Autoren mit Spannung und Nervenkitzel. Vor allem amerikanische und englische Schriftsteller warteten neben Lokalkolorit, Spannung und Nervenkitzel auf mit viel kriminaltechnischem Fachwissen, so dass ich manchmal kaum die Hälfte verstand. Unverkennbar, «CSI». Ich begann nun, auch diese amerikanischen Serien zu schauen, in New York, in Las Vegas, in Miami, bei der Navy – und verstand … nichts. Klar, die Story schon, aber eben nicht die ganzen pathologischen, forensischen, ballistischen, kriminaltechnischen und anderen Ausführungen der vielköpfigen Spezialeinheiten, der einzelnen Polizeistellen, Sonderkommissionen, Staatsbeamten, Verhörspezialisten, psychologischen Beratern und so weiter.

Und wieder war ich an einem Punkt, wo sich die Frage nach dem «Wie-weiter?» stellte. Ich hatte keine Beziehungen zur Polizei, die ich hätte spielen lassen können, um mich in die nun gefragte Thematik der hochkomplexen Kriminaltechnologie einzuarbeiten.

Die «Idee Krimi» war also tot, bevor der erste Mord geschah.

Soweit meine Eingebungen, endlich ein Buch zu schreiben und berühmt zu werden. In Salzburg glaubte ich mich am Ziel meiner Träume. Peinlicherweise stellte sich heraus, dass der vermeintliche Brudermörder ein einfacher Zeitungsleser war und der Mord in Malaysia stattgefunden hatte, wovon aber die ganze Weltöffentlichkeit schon längst wusste. Einmal mehr begrub ich eine Idee.

Ich sass im Zug. Hatte sechs Stunden Zeit, die vergangenen Tage Revue passieren zu lassen. Lachte mich selbst aus. Gescheitert am Traum, ein Buch zu schreiben.

Doch dann tauchte ich ein in andere Erinnerungen. Plötzlich bemerkte ich, das Leben schrieb die Geschichte von selbst. Und wenn ich’s richtig bedachte, geschah dies alles schon vor Jahren.

Mit dieser Erkenntnis reiste ich von Salzburg nachhause nach Winterthur. Dort holte ich die alten Fotoalben ebenso wie die neuen, mit dem Computer gestalteten Fotobücher aus dem Büchergestell. Liess die Bilder lebendig werden. Es ging längst nicht mehr darum, einen Roman niederzuschreiben. Mir ging es viel mehr darum, all das aufzuzeichnen, was meinem Mann und mir widerfahren war.

Wieso war mir nicht schon längst aufgefallen, was sich seit Jahren vor meinen Augen zugetragen hatte?

Ferienbilder

Es geschah an einem Herbsttag in Kroatien, präziser in Istrien, fahler Sonnenschein an einem leicht dunstigen Donnerstag. Mein Mann und wollten hier den Sommer verlängern, wie so manches Jahr im Oktober.

Wir planten eine Schiffstour entlang der Westküste der kroatischen Halbinsel. Ein Ausflugsboot wartete im malerischen Hafen von Poreč auf uns und ein paar wenige Touristen, die sich wie wir ein paar Ferientage am Meer gönnten und durch die Adria schippern wollten. Eine eindrückliche Landschaft, idyllische Städtchen und viel Meer lagen vor uns.

Wenig Leute? Warum nur waren fünf Tischreihen auf dem Boot reserviert? Die Frage war kaum zu Ende gedacht, wurden wir auch schon aufgeklärt. Beim Hotelkomplex in der nächsten Bucht würde eine Reisegruppe aufgenommen.

Wir fanden dessen ungeachtet einen schönen Platz direkt an der Reling. Nach und nach füllte sich das Boot. Rund herum ertönte ein Sprachengewirr, wie es nur in Europa möglich ist.

Eine deutsche Familie setzte sich an den Nachbartisch, die beiden Söhne begannen sofort, das Boot zu erkunden und überall hochzuklettern. Ein Crew-Mitglied machte die Eltern darauf aufmerksam, dass dies nicht ganz ungefährlich sei. Die Mutter rief die Jungs zurück. Der eine gehorchte ohne Widerrede, der andere überhörte wohl die Ermahnung der Mutter. Der Vater hielt sich aus der Sache raus, was ihm einen tadelnden Blick der Gattin einbrachte. Sie beauftragte ihren Sohn, doch den Bruder zu holen. Daraufhin krähte der Kleine durchs ganze Boot: «Lars, Mutti sagt, du sollst sofort runterkommen, das Rumklettern ist gefährlich.» Lars wandte nur kurz seinen Kopf, feixte und kraxelte munter weiter. Ein auffordernder Blick der Mutter an ihren Gatten, der sich nun nicht mehr aus der Affäre raushalten konnte.

«LARS! Komm sofort her, die Mutti muss sonst schimpfen.» Das half. Lars kam her, strahlte übers ganze Gesicht und wischte sich den Rotz von der Nase. Das königsblaue Polo-Shirt diente als Taschentuch.

In der Zwischenzeit hatte das Boot abgelegt, die angekündigte Reisegruppe war längst zugestiegen, und der erste Slivovic wurde gereicht. Ein Crew-Mitglied holte seine Harmonika hervor und spielte auf. Kroatische Folklore? Weit gefehlt. Das «Kufstein Lied» und der «Schneewalzer» erklangen entlang der adriatischen Küste. Wellen umspülten den Bug, romantische Buchten glitten an uns vorüber, das Meer glitzerte im fahlen Sonnenlicht und die Schneeflocken tanzten im Dreivierteltakt.

Irgendetwas begann, nicht mehr zu stimmen.

Lars kletterte noch immer überall rauf und runter. Die Mutter trank den zweiten Slivovic, der Vater bestellte das erste Bier. Der Bruder – Tim – sass am Tisch und schlürfte eine Cola.

«Lars, wir haben dir gesagt, dass du das nicht darfst. Wie oft sollen wir das noch wiederholen?», für einmal wandte die Mutter das Wort direkt an ihren Sprössling. Das königsblaue Poloshirt hatte mittlerweile einen Riss. Weder die Ansprache der Mutter noch das kaputte Shirt hatten irgendeinen Einfluss auf die gewagten Kletteraktivitäten des Jungen.

Weisst-du-noch?-Geschichte

Wie so oft in den Ferien erzählten sich mein Mann und ich «Weisst-du-noch?-Geschichten» von früheren Ferien und Reisen. Dabei fielen uns Details ein, die längst vergessen geglaubt waren. Zum Beispiel meine Erfahrungen mit der Polizei. Die mir ja angeblich fehlen. Dem ist eigentlich gar nicht so.

In La Paz – dieser friedlichen Stadt auf 3800 Metern in der dünnen Luft Boliviens – im Jahre 1989 wurden mir 100 Dollar gestohlen. In Reisechecks. Damals war ich noch Bankangestellte und wusste, mit Traveller Checks ist dein Geld versichert. Nach dem Feststellen des Diebstahls suchten wir also in La Paz eine Filiale der entsprechenden Bank auf, um den Verlust zu melden, den Check sperren zu lassen und Ersatz einzufordern. War wirklich kein Problem. Es fehlte lediglich ein Polizeirapport als Bestätigung für diesen Versicherungsfall. Wiederum kein Problem. Auch in La Paz gab es einen Polizeiposten, um einen Diebstahl anzuzeigen. Einzige Schwierigkeit war, dass der Beamte nicht wusste, an wen er uns verweisen sollte. Gehörten wir als Ausländer eher in den Zuständigkeitsbereich der Ausländerpolizei oder doch in den der Kriminalpolizei? Als entscheidend erwiesen sich aber die Sprachkenntnisse, denn unser Spanisch reichte damals nur knapp für eine Diebstahlanzeige aus. Und Englisch sprach nur der Chef. Wir kamen nun also zu grosser Ehre und wurden von diesem persönlich bedient. «Ah, Sie sind aus der Schweiz. Schönes Land. Ich war auch schon dort. In Genf.», bekannte er, meinen roten Pass mit dem weissen Kreuz betrachtend. Sofort wechselten wir auf Französisch und die Anzeige wurde effizient behandelt. Erst als es darum ging, davon auch eine schriftliche Bestätigung für die Bank zu erhalten, wurde es wieder etwas kompliziert. Das Papier, worauf das Delikt protokolliert werden sollte, das sogenannte «papel sellado», mussten wir selbst mitbringen. Das hatten wir nicht gewusst. Und wo kann man so ein «gestempeltes Papier» erstehen? In der Papelería (Schreibwarenhandlung), welche gleich zweimal links um die Ecke liege. Guten Mutes marschierte ich los. Doch zweimal links um die Ecke lag keine Papeterie, dort fand ich lediglich eine Panaderia (Bäckerei). Oder hatte ich die Wörter verwechselt? Tapfer fragte ich mich durch. Nein, nein, ich sei da schon richtig – theoretisch. Praktisch sei die Papelería aber umgezogen. Vier Mal um die Ecke nach rechts. Was ich dann machte. Und ich stand wieder vor … der Bäckerei. Irgendwie verlor ich meinen inneren Frieden und meine Spanischkenntnisse waren nun gänzlich weggeblasen. Fluchen lässt sich am besten in der Muttersprache.

Geknickt ging ich zurück zum Polizeiposten und erklärte dem Chef die Situation. Er nickte zu meinen Worten und lächelte verständnisvoll. Er liess einen Rekruten antraben und schickte ihn los. Eine halbe Stunde später kam dieser dann mit einem «papel sellado» zurück. Wo er es her hatte, war mir egal, ich bedankte mich und gab ihm ein Trinkgeld. Die Diebstahlanzeige war eine weitere halbe Stunde später bereit. Kostenpunkt für Papier und Bearbeitungsgebühr: 45 Dollar.

Drei Stunden nach meinem ersten Besuch in der Bank trat ich dort wieder ein, um den Ersatz für die gestohlenen, aber versicherten 100 Dollar einzufordern. Die Schwierigkeiten waren aber noch nicht ganz ausgeräumt. Ein Tippfehler in meinem Namen hätte beinahe alles zum Scheitern gebracht. Traveller Checks sind Namenpapiere und Name und Geschädigte stimmten nun nicht mehr überein. Wieder musste ein Vorgesetzter bemüht werden, damit auch wirklich alles seine Richtigkeit hatte. Zum Glück wurde nicht nur mein Name protokolliert, dank der Passnummer konnte meine Identität zweifelsfrei belegt werden.

Aber – wie war ich auf diese Geschichte gekommen? Ach ja, meine Beziehungen zur Polizei. Diese bolivianische Episode eignete sich wohl nicht wirklich, um daraus einen Krimi zu spinnen.

Aber darum ging es ja schon lange nicht mehr. Denn seit damals auf dem Ausflugsboot an einem schönen, fahlsonnigen Herbsttag auf der kroatischen Adria der «Schneewalzer» ertönte, begann sich sowieso alles zu verändern. Warum nur hatte ich solange gebraucht, bis mir das alles auffiel?

Ich tauchte erneut ein in meine Vergangenheit.

Wer nicht hören will …

Die deutsche Familie am Tisch hinter uns bestellte Bier um Bier, verzichtete aber auf weitere Slivovices. Eine zweite Familie hatte sich zu ihnen gesellt. Wortreich schilderte man sich gegenseitig das Leben: «Letztes Jahr machten wir keinen Urlaub. Wir sind in unser Eigenheim umgezogen. Den Sommer haben wir in vollen Zügen in unserem grossen Garten geniessen können.» – «Ja, das kennen wir, das haben wir vor Jahren auch so gemacht, als unser Haus fertig war. Doch dann fehlte uns doch der Sandstrand. Über Weihnachten sind wir damals noch auf die ‘Domis’ geflogen. Tolles All-Inclusive-Hotel direkt am weissen Strand inmitten eines ausgedehnten Palmenhaines.» – «Auf den Domis waren wir vor zwei Jahren auch. Vor drei Jahren flogen wir aber auf die Malediven. Unglaublich, wie klar das Wasser dort ist.» – «Die Malediven kennen wir nicht, dafür waren wir auf den Seychellen, die sollen ja noch schöner sein.» So ging es in einem fort. Wer wann wo war und wie man dort residiert hatte.

Mir kam es vor wie ein Wettbewerb. Wer würde in diesem «Wir-waren-am-schöneren-Ferienort-Wettkampf» obsiegen?

Zu Lars und Tim hatte sich noch Dirk gesellt. Dessen Mutter allerdings musste nur einmal darauf hinweisen, dass das Herumklettern – vor allem das Raufklettern auf die Reling – gefährlich und verboten sei. Dirk sass brav am Tisch der Erwachsenen und las in einem Comic.

Ich stellte mich an die Reling, betrachtete tagträumend das glitzernde Meer. In der kroatischen Adria tauchten immer wieder kleine Inseln auf. Die mit den Leuchttürmen waren besonders romantisch. Nachdem sich das Schneewalzer-Gestöber verzogen hatte (nun wurden italienische Volksweisen gesungen – «Santa Lucia», «O sole mio», was weitaus besser zur Umgebung passte), spintisierte ich weiter vor mich hin. Plötzlich drosselte der Kapitän den Motor. Was war das? Sicher ein treibender Benzinkanister oder etwas Ähnliches. Nein, da, wieder: es war tatsächlich ein Delphin! Er schwamm direkt vor uns im Wasser. Die Natur kommt vorbei, wenn es ihr passt. Noch eine Weile stand ich ergriffen an der Reling und liess meine Augen suchend hin und her gleiten. Sollte Flipper nochmals grüssend auftauchen?

Lars und Tim wurden dreister, sie kletterten immer höher und lehnten bedenklich weit über die Reling. Ein weiteres Mal wies ein Crewmitglied die Eltern darauf hin, wie gefährlich das und eigentlich verboten sei. Ein weiteres Mal schallte die schrille Stimme der Mutter zu ihren Sprösslingen, wo sie aber nicht ankam. Der Vater trank derweil ein weiteres Bier, die Mutter bestellte sich zur Abwechslung einen Kaffee. Da stieg ein merkwürdiges Gefühl in mir hoch. Es war mehr ein kurzer Gedanke. «Wenn dieser Lars noch fünf Zentimeter höher klettert, das Boot ruckelt, dann fällt er raus …»

«Mutti, Mutti, der Lars ist ins Wasser gefallen!» ruft Tim. Die Mutter erhebt sich, so schnell sie kann. Der Vater quetscht sich panisch zwischen den eng gestellten Tischen durch und schaut suchend über die Reling. Alle Passagiere schreien durcheinander, der Kapitän stoppt sofort das Boot. Ein Crewmitglied entledigt sich seiner Schuhe, klettert auf die Reling, auf der Seite, auf der die Jungs zuvor herumgeturnt sind, und sucht, die Hand gegen die blendende Sonne an die Stirn haltend, nach Lars. Obwohl dieser nirgends zu entdecken ist, springt er ins Meer und schwimmt hektisch herum, taucht runter und prustend wieder hoch, nochmals runter und wieder hoch. Kein Lars. Alle sind verzweifelt, entsetzt. Traurig. Schockiert.

Die Mutter erleidet einen Nervenzusammenbruch, der Vater ebenso. Tim sitzt wie ein Häufchen Elend da. Die gerufene Polizei kommt mit einem Schnellboot angebraust. Die Suche nach Lars geht weiter. Ein Spezial-Tauchteam wird eingesetzt. Die Passagiere werden alle befragt. Alle sagen aus, dass die Knaben den ganzen Tag schon unbeaufsichtigt und äusserst wagemutig an der Reling rumgekraxelt seien. Nur, im entscheidenden Moment hat niemand etwas gesehen.

Es war ein Unfall. So stand es im Polizeirapport und in allen Zeitungen, die tags darauf erschienen.

Kinderschwärmereien

Kaum hatte ich dieses Erlebnis auf dem Ausflugsboot aufgedröselt und notiert, konnte ich kaum mehr stoppen. Nach und nach tauchten Bilder auf, die ich eigentlich vergessen wollte. Alles war wieder da. Ich hatte das Gefühl, Gewitterwolken türmten sich in meinem Kopf und plötzlich entluden sich die Gedanken und Erinnerungen wie Donner und Blitze.

Unvorstellbar, was sich in den letzten Jahren alles ereignet hatte.

Wieder waren wir in den Ferien. Diesmal in Österreichs malerischer Bergwelt. In einem schmucken, landestypischen Hotel erlebten wir unseren zweiten Frühling. Präziser: nicht unseren, sondern den jahreszeitlichen, mit Tulpen und Osterglocken, die bei uns im Unterland bereits vor Monatsfrist geblüht hatten.

Ich sass auf dem Balkon und genoss die lauen Sonnenstrahlen des frühen Morgens. Die Stimmung erinnerte mich an meine Kindheit. Einmal, ich war wohl etwa zwölf, verbrachte unsere Familie Ferien im Berner Oberland im Chalet einer Tante. Eine lauschige Veranda war mein Lieblingsplatz. Am Tag zuvor waren wir im Schwimmbad, lernten dort eine Familie aus Basel kennen, neben einer Tochter in meinem Alter hatte sie noch einen zwei Jahre älteren Sohn. Wir verbrachten einen schönen Nachmittag in der alpinen Badi. Den Sohn fand ich nett. Allerdings gefiel er mir nur halb so gut, wie der Schlagerstar auf dem Cover der aktuellsten «Bravo», die ich mir hatte kaufen dürfen. Wer war das gleich nochmal? Chris Roberts? Rex Gildo? Roy Black? Ich erinnerte mich nicht mehr, was bedeutete, dass Kinderschwärmereien (darüber bin ich nicht ganz unglücklich ...) vergehen.

Dieser neue Tag versprach ein regnerischer zu werden. Also kein Schwimmbad, kein erneutes Treffen mit meinem Schwarm aus Basel. Das war aber nicht weiter tragisch. Ich würde mich an meinen Lieblingsplatz auf die Veranda zurückziehen und lesen, abwechslungsweise Wissenswertes über Stars, Sex und erste Küsse aus der Jugendzeitschrift holen oder in einem Karl-May-Buch schmökern. Ja, ich war ein Kind meiner Zeit. Winnetou war eigentlich mein grösster Favorit.

Ich hockte gemütlich da und las. Ritt mit Winnetou durch die Weiten des Wilden Westens. Und schon ging meine Phantasie mit mir durch. Ich versetzte mich von Abenteuern in den Rocky Mountains in eine Traumwelt in den Alpen. Ich stellte mir vor, dass es an der Tür klingle, und er davor stünde und mich zu einem romantischen Regenspaziergang einlüde. Auf wen ich wartete, meinen Lieblingsstar oder den jungen Basler, daran konnte ich mich nicht mehr erinnern. War auch absolut egal, denn während dieser Träumereien ersann ich meine erste Kurzgeschichte. Eine romantische Mädchengeschichte, die heute noch in einer Schublade vor sich hinschlummert.

Genau diese Geschichte fiel mir in den österreichischen Bergen wieder ein. Das mag wohl an der Ähnlichkeit der Landschaft liegen, vielleicht auch, weil mein Blick auf ein Konzertplakat mit Hansi Hinterseer fiel. Für den schwärmte ich damals nämlich auch. Er war noch kein Schmusesänger, sondern ein Skistar. Seine Musik ist nicht mein Ding. Dem Schlager bin ich längst entwachsen. Ich glaube, es war ein Jahr nach besagten Kandersteg-Ferien. Mit 13 entdeckte ich die Beatles und Rolling Stones für mich.

Beim Betrachten des Konzertplakates mit dem ex-skifahrenden Entertainer wanderten meine Gedanken zurück in die vergangenen Tage, die mein Mann und ich in München verbracht hatten.

Wir spazierten im berühmten Englischen Garten. Inklusive Biergartenbesuch beim Chinesischen Turm mit Mass und Obazda. Und bayerischer Blasmusik. Die Sängerin folgerichtig im Dirndl. Die hiesige Blaskappelle passte zum Setting (nicht wie Schneewalzer in die Adria). Nur, bei zu viel Lokalkolorit werde ich ungeduldig. Aber ich bin ja nicht massgebend. Die leuchtenden Augen der anwesenden Touristen, allen voran derjenigen aus Asien, zeigten deutlich, dass diese Musik – Polkas, Märsche und Wiesnhits – ihr Bild der gemütlichen, bierseligen Bayuvaren bestätigten und abrundeten. Genau so hatte man sich München im Fernen Osten vorgestellt und genauso war es denn auch. Schöne heile Welt!

Plötzlich geschieht das Unglück. Ein vehementes Prosit auf die Gemütlichkeit trällernd stöckelt die Dirndl tragende Sängerin auf das Geländer zu. Singt vom Turm oben dem dankbaren Publikum zu. Hinter ihr blasen die Kollegen mit ihren Gamsbartbewehrten Hüten kräftig in ihre Instrumente. Unten heben die Gäste ihre Masskrüge und stossen an. Der Bleistiftabsatz der Sängerin verhakt sich in einer Spalte im Holzboden. Sie kommt ins Stolpern. Jemand kreischt, die Sängerin verliert das Gleichgewicht, stürzt. Nicht nach hinten, sondern nach vorn, übers Geländer in die Tiefe.

Bereits am selben Abend war's in grossen Lettern an den Zeitungskästen zu lesen. Die Sängerin im Englischen Garten war bei ihrem Sturz vom Chinesischen Turm so schwer verletzt worden, dass sie später im Krankenhaus ihren Verletzungen erlag.

Ich atmete tief durch. Diese Münchener Bilder waren plötzlich wieder ganz lebendig. Aber sie riefen schon eine nächste Erinnerung hervor.

Zwischen zwölf und postmateriell

Meine Lieblingsfächer in der Schule waren Deutsch, Geschichte und Geographie. Unbestritten. Irgendwie mag ich alle drei heute noch. Wann mir diese Erkenntnis gekommen ist? Genau zwischen den inneren und äusseren Hebriden. Wir waren mal wieder unterwegs. Diesmal auf Kreuzfahrt im Norden Europas. Rund um Grossbritannien. Eine traumhafte Landschaft, die viel Raum lässt für Mythologie, Whiskey und Schafe. Wir waren entzückt.

Kreuzfahrten selbst haben sich vom Luxusgut für Reiche gewandelt in erschwingliche Ferien auch für Otto Normalverbraucher. In meiner Schulzeit kostete eine Kreuzfahrt einen Betrag, der mir in einer Sphäre schien, die zu erreichen definitiv ausser meiner Reichweite liegen würde, ausser ich heiratete reich oder hätte einen Lottosechser. Beides Wunschträume eines Backfisches, der mit viel Leidenschaft und Hingabe sein Geographieheft mit Bildern aus Reiseprospekten verzierte. Ein Eiffelturm beim Kapitel Paris/Frankreich und ein Brandenburger Tor für die Bundesrepublik Deutschland erhöhten die Zeugnisnote. Zudem machte es mir einfach Spass, all die Bilder zusammenzusuchen, auszuschneiden und einzukleben.

Bevor jedoch dieser Hausaufgabenteil erledigt wurde, schwelgte ich in Phantasiereisen an all jene schönsten Flecken die Welt. Mir war damals schon klar, die eine oder andere Destination würde ich mir irgendwann anschauen. Nur Kreuzfahrten, die würden wohl immer Träume bleiben! Nie hätte ich gedacht, dass diese Preise je so purzeln könnten.

Wir waren also für einmal unterwegs als moderne Kreuzfahrer. Dies übrigens eine Vorstellung, die mir mit etwa 25 Jahren aus anderen Gründen mehr als abwegig erschien. Damals waren wir auf unserer zweiten grossen Südamerikareise unterwegs – überzeugte Travellers, die mit zehn Dollar pro Tag locker über die Runde kamen.

«All inclusive» hiess damals wirklich alles inklusive: Busfahrten, Essen, Schlafen und Extras wie Kosten fürs Wäschewaschen, Eintritte zu Kulturstätten und Museen etc.

Als wir in Playa del Carmen an der mexikanischen Karibikküste die Ankunft eines Kreuzfahrtschiffes beobachteten, mitbekamen, wie dieses scharenweise angegraute, sonnenbehutete Touristen ausspuckte, waren wir uns einig: so etwas nie mit uns und wenn, dann frühestens mit fünfundsechzig. Heuer machten wir aber bereits das sechste Mal mit. Ausser Acht lassend, dass noch mehr als ein Jahrzehnt bis zur Pensionierung fehlte und die erste Kreuzfahrt gar schon vor mehr als zehn Jahren stattgefunden hatte. Eins war aber geblieben: das Gefühl, keine Touristin im herkömmlichen Sinne zu sein.

Meine Abneigung gegenüber Schunkelmusik und Schlagern war bekannt, auch wenn der deutsche Schlager und seine Interpreten in meiner Jugend von Bedeutung waren. Immerhin hatte ich mich jeden Samstag mit meinem Vater gezankt, damit ich die ZDF-Hitparade schauen durfte, denn praktisch zeitgleich kam auf einem anderen Kanal die Sportschau mit den Fussballberichten zur deutschen Bundesliga. Gewisse Schlager geniessen darum meinen persönlichen Nostalgie-Bonus. Was aber nicht geht, sind singende Greise, die eine Hammondorgel bearbeiten und mit näselnder Stimme ins Mikrophon greinen.

Im Laufschritt eilten wir Abend für Abend auf dem Weg in unsere Lieblingsbar bei einem solchen Alleinunterhalter vorbei.

Eilig passieren wir den schummrigen Schunkelbereich, dabei stolpere ich über ein Kabel. Zum Glück kann ich mich auffangen, erspare mir einen peinlichen Sturz, und im nächsten Raum erobern wir einen Platz an der Bar. Dort ertönt Musik der Sechziger und Siebziger Jahre aus dem Lautsprecher. Joe Cocker, Beatles, Rolling Stones und wie sie alle heissen. Plötzlich unterbricht ein Knall unser angeregtes Gespräch und für einen Moment ist alles stockdunkel. Im nebenan liegenden Casino rattern die einarmigen Banditen. Nachdem es wieder hell wird (es vergehen nur zwei, drei Sekunden), hört man aus dieser Richtung vielstimmige Jubelschreie. Da hat es wohl den einen oder anderen glücklichen Gewinner im Rahmen dieses kurzzeitigen Stromunterbruches gegeben.

Aus dem anderen Raum – eben aus dem Bereich der «Schunkel-Bar» – dagegen ertönen Schreie des Entsetzens. Der singende Hammondorgelspieler liegt zusammengesunken auf den Tasten seines Instrumentes. Die Haare stehen unnatürlich vom Kopf ab.

Am anderen Tag konnten wir in der Bordzeitung das Furchtbare nachlesen. Ein Stromschlag hatte den armen Künstler mitten in seiner Arbeit getroffen. Er war auf der Stelle tot. In einem Nachruf würdigte die Crew sein Wirken auf dem Kreuzfahrtschiff. Und: Für die restlichen Abende würde auf Unterhaltung in jener Lounge verzichtet.

Die Bordzeitung dieser Kreuzfahrt lag noch immer in einer meiner vielen Erinnerungsboxen. Diese füllte ich seit Jahren. Stadtpläne, Eintrittstickets für Museen, Konzerte, Theater, sogar Rechnungen von Restaurants und Hotels befanden sich in diesen Kartonschachteln.

Statt dass ich in Salzburger Zeitungsarchiven einen Kriminalfall recherchierte, wühlte ich in meinen Schachteln und Umschlägen. Alles lag wild durcheinander. Vereinzelt hatten sich auch Fotos in mein organisiertes Chaos geschmuggelt. Und mit dem Wühlen darin (Sortieren gab ich nach fünf Minuten auf) kamen nach und nach Erinnerungen hoch. Praktisch zu jedem Fetzen Papier fiel mir eine Geschichte ein.

Als nächstes entdeckte ich einen Prospekt eines Museums in Wien.

Immer der Sonne entgegen

In Sachen Ferienplanung waren mein Mann und ich meist sehr spontan und entschieden oft nach dem Lustprinzip oder aufgrund der Wettersituation. Deshalb sollten uns die nächsten Ferien Richtung Osten führen. Wieso nicht wieder einmalnach Wien? Die Hauptstadt unseres Nachbarlandes hat immer wieder Sehenswertes zu bieten. Die Kärntnerstrasse zum Shoppen, der Naschmarkt zum Naschen, was ja auf der Hand liegt, auch wenn die Namensherkunft anderes erzählt: Dort, wo früher Asche und Mist abgelagert worden war, hatte sich einst ein kleiner Milchmarkt etabliert. Daher wird vermutet, dass die Wienerinnen und Wiener ihren neuen Markt vorerst mal aus Gewohnheit «Aschenmarkt» nannten und dann, zu Anfang des 19. Jahrhunderts, begann sich die Bezeichnung «Naschmarkt» durchzusetzen, möglicherweise als eine Angleichung der alten Bezeichnung an die nunmehr erhältlichen Leckereien aus der Nähe und aus fernen Ländern. Mir taugt diese Geschichte, auch wenn der Ursprung nicht eindeutig geklärt ist.

In der Karlskirche hörten wir abends ein klassisches Konzert, als Ouvertüre gab’s passenderweise Mozarts «Kleine Nachtmusik».

Tags darauf besuchten wir das Museum «Albertina», das uns aufschlussreiche Einblicke in die Wege des Pointillismus’ mit Bildern aller bedeutenden Impressionisten gewährte.

Natürlich besichtigten wir auch den Bereich «Albertina Contemporary». Wir freuten uns auf die Werke zeitgenössischer Künstler. Ich fand es immer anregend, all diesen Malern und ihren Arbeiten an den verschiedensten Ecken der Welt zu begegnen. Nur zu gerne erinnerte ich mich an unseren Besuch in New York im Museum of Modern Art, an die Bilder von Andy Warhol mit Suppendosen und Hollywood-Sternchen. Später erst wurde mir bewusst, dass Warhol 1968 einen Mordversuch knapp überlebte. Nun kam es also in Wien zu einem Wiedersehen mit dem Pop-Art-Künstler.

Wir liessen uns durch den Bereich zeitgenössischer Kunst treiben und bewunderten Meisterwerke aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ein Bild fiel mir besonders auf. Es ist einfach schwarz. Schwarzes Bild, schwarzer Rahmen. Schwarz in Schwarz. Schwarz. Ich las das kleine Informationsschild an der Wand. Der Name sagte mir nichts. Das Bild dagegen erregte meine Aufmerksamkeit, eben weil es einfach nur schwarz ist. Aber ich entdeckte nichts, was mich ansprach – moderne Kunst kann mich zum Phantasieren anregen oder einfach nicht berühren. Anders erging es wohl einem jungen Mann mit schwarzem Haar, einem hellgestreiften Hemd und einer dunklen Jeans, arrogante Haltung. Er betrachtete das Bild eingehend, als ich das erste Mal vorüberging. Er stand auch noch da, die Hand ans Kinn gelegt, als ich eine halbe Stunde später das zweite Mal in diesem Raum vorbeikam. Das wunderte mich nun doch ein bisschen. Was sah er wohl? Ich stellte mich hinter ihn und versuchte (ausser dunkler Schwärze) etwas in dem Bild zu erkennen. Ich entdeckte nichts.

Ich liebe es, Menschen zu beobachten. Also positionierte ich mich so, dass ich nicht das Bild betrachten, sondern das Gesicht des jungen Mannes studieren konnte. Aus dem Nebenraum kam eine junge Frau. Für einen Augenblick war ich abgelenkt. Als ich mich wieder auf den jungen Mann und das schwarze Gemälde konzentrieren wollte, nahm ich grad noch wahr, wie der Mann sich im schwarzen Bild auflöste. Oder darin verschwand. Oder von ihm verschluckt wurde.

Das Schwarze Loch

Das ist’s! Das ist kein Bild gemalt aus schwarzer Farbe, das ist DAS Schwarze Loch. Nein, das muss eine Sinnestäuschung sein. Ich schüttle meinen Kopf und suche den Raum nach diesem Mann ab. Das danebenhängende Bild ist gelb und zerschnitten. Es hängt noch mehr da. Aber der Mann ist verschwunden. Nur ein paar Bilder an den Wänden und diese Frau, die nun ihrerseits auf das schwarze Gemälde starrt … und starrt … und starrt.

Das macht mich stutzig. Hat sie dasselbe wahrgenommen wie ich? Aber kann ich jemanden ansprechen und die Frage stellen: «Haben Sie auch gesehen, wie ein junger Mann vom schwarzen Bild verschluckt worden ist?» – Nein, das kann ich nicht. Es gelingt mir aber auch nicht, meinen Blick von der Frau zu lösen. So wie sie starrt … hat sie dasselbe wahrgenommen wie ich. Daran hege ich plötzlich nicht mehr den geringsten Zweifel.

Die Frau beginnt zu schluchzen und sinkt zusammen. Aufsichtspersonal läuft aus den anderen Ausstellungsräumen zusammen und führt die Frau hinaus. Ich höre noch, wie die Frau hysterisch schreit: «Auch wenn er ein Arschloch war, das hat er nicht verdient!»

Tags darauf, wir waren mit dem Auto unterwegs nach Klagenfurt, hörten wir es im Radio. Im ureigensten österreichischen Dialekt berichtete der Nachrichtensprecher von einem mysteriösen Vorfall in der Wiener Albertina. Ein 28-jähriger Bursche wäre mitten im Museum spurlos verschwunden. Seine Lebensgefährtin hätte einen Nervenzusammenbruch erlitten und würde psychiatrisch betreut. Die Polizei suchte seit 24 Stunden nach dem Abgängigen. Kommissar Gustav Aans bäte die Bevölkerung um Hinweise. Allerdings machte er sich wenig Hoffnungen, wurde Kommissar Aans weiter zitiert, denn die Fussspuren des Vermissten hätten im Museum bis zu einem bestimmten Gemälde verfolgt werden können, wo sie urplötzlich endeten.

Die Wiener Kriminalpolizei stünde vor einem Rätsel. Die Fahndung verliefe bis anhin im Sand.

Totenstadt

Keine Landeshauptstadt, keine Weltstadt, nicht mal ein nennenswerter Ort auf der Weltkarte. Einzig der populistische Name Populonia und ein Internet-Eintrag über eine bedeutende Kultstätte der Etrusker hatten uns in den Süden, genauer nach Italien in die Toskana gelockt. Ich fand in einer meiner Kisten ein Kroki, das uns damals den Weg wies.

Ein herrlicher Frühsommertag war die beste Werbung für einen Rundgang durch die Nekropolis am Golf von Baratti. Ein staubtrockener rotsandiger Weg führte uns vom Besucherzentrum in Richtung bewaldetem Hügel, vorbei an Korkeichen zu den antiken Gräbern der Etrusker. Zunächst schauten wir uns die Grabhügel der Nekropole San Cerbone an. Diese erinnerten uns stark an die Mounds (Erdhügel) der Indianer im Süden Nordamerikas. Im Hintergrund brandete das tyrrhenische Meer an die Küste. Wir befanden uns in der einzigen Etrusker-Nekropole, die direkt am Meer liegt. An attraktiver Stelle hatte dieses alte Volk seine Toten bestattet.

Bald schon folgten wir dem Weg bergan. In unserer Nähe war eine italienische Gruppe mit Führer unterwegs. Der ausgeschilderte «Via delle Cave» führte immer steiler bergan, ausgewaschene Stufen halfen, die Höhe zu überwinden. Rechts und links säumten hölzerne Leitplanken den Pfad. Er führte an den sogenannten Protomengräbern vorbei bis hin zur spektakulären «Necropoli delle Grotte», einer Gräberstätte mit Nischengräbern für Persönlichkeiten der hier siedelnden Etrusker.

Die italienische Reisegruppe holte uns wieder ein, so konnten wir die eine oder andere Information zu diesen Felsgräbern erlauschen. Eine dieser Persönlichkeiten soll eine angesehene Frau gewesen sein. Dies konnte den Grabbeigaben entnommen werden. Leider waren viele Gräber schon vor langer Zeit geplündert worden, so dass nur wenige Anhaltspunkte Rückschlüsse auf die Geschichte der Bestatteten ziehen liessen. Das, was man hier gefunden hatte, würde zum Teil im Museum im nahegelegenen Piombino ausgestellt. Andere Artefakte seien in Neapel zu bewundern.

Die Gruppe verschob sich weiter. Nachdem bis hierhin der Weg zwischen den einzelnen Sehenswürdigkeiten und Aussichtspunkten relativ weit war, folgte der nächste grad um die Ecke: die «bemalten Gräber». Wir waren unfreiwillig zu einem Teil der Gruppe geworden, ein Überholen war auf dem nunmehr engen, sehr unwegsamen Trampelpfad schlicht nicht möglich. Die Holzgeländer wurden immer instabiler und der steinige Weg immer ausgetretener. Wir reihten uns ganz zum Schluss ein. Etwa in der Mitte der Gruppe unterhielt ein grossgewachsener, athletischer Italiener seine Mitwanderer lautstark. Wie meist in diesem Land ging es um Fussball. Was dieser im Wald der Toten zu suchen hatte, entging mir. Wort- und Gestenreich debattierte die Gruppe über eine ungenügende Schiedsrichterleistung und zu hohe Saläre, über Fouls und Torwartfehler und vieles mehr rund um das runde Leder.

Die Gruppe erreicht die Zone der «Tombe dipinte». Die Einzigartigkeit dieser bunten Erdgräber lässt sogar den grossen Tifosi verstummen. Eine Frau aus der Gruppe macht auf die Magie aufmerksam: «Schaut mal, wie das Sonnenlicht die Farben des Gesteins hier zum Leuchten bringt!».

Er lehnt gegen das Geländer, um einen besseren Einblick zu erhaschen. Seine Augen verfolgen die Strahlen. Die Schatten der Blätter zaubern immer neue Muster auf die tief ins Erdreich führenden Grabwände. Weit hinten und ganz unten ist die Grabplatte zu erkennen.

Ein leichtes Knirschen zeigt es an, die alten Holzgeländer sind an dieser Stelle besonders morsch. Er lässt sich davon nicht beirren, sucht den perfekten Winkel für eine Aufnahme. Das Knarren wird bedrohlicher, ein rostiger Nagel löst sich ächzend aus dem Pfosten.

Er stürzt mitsamt der Handy-Kamera ins uralte Erdloch.

Grabesstimmung macht sich breit. Die Touristengruppe steht versteinert da. Das zuvor lautstarke Geplapper, das oft herrscht, wenn eine Schar etruskischer und römischer Nachfahren unterwegs ist, ist verstummt. Fassungslos starren alle ins Grab. Es liegt da wie zuvor. Die Grabplatte vor der Öffnung. Nichts deutet darauf hin, dass soeben ein Mitglied der Reisegruppe hinabgestürzt ist. Einzig die Lücke zwischen zwei Pfosten der Wegbegrenzung zeugt davon, dass hier irgendetwas passiert ist.

Nur was? Wieder hat ein schwarzes Loch einen Menschen verschluckt. Hört das denn nie auf?

Da wir als Teil der Gruppe betrachtet wurden, mussten auch wir auf den Posten der Carabinieri in Piombino. Wir wurden befragt. Aber wir konnten nichts Entscheidendes erzählen. Die Holzabschrankung war morsch, sie hatte dem Druck des daran lehnenden Mannes nicht standgehalten und er stürzte … nur wohin? Das erzählten auch die anderen. Dass sich die Grabplatte geöffnet haben musste, ist eine Vermutung, die ebenfalls alle andern geäussert hatten. Anders liess sich nicht erklären, dass der Abgestürzte sich quasi in Luft aufgelöst hatte.

Die Polizei forderte Archäologen an. Diese öffneten das Grab und entdeckten nichts Aussergewöhnliches. Ausser, dass es nicht gewöhnlich war, dass ein Mensch abstürzte und im Nichts verschwand.

Das einzige, was gefunden wurde, war eine Muschel. Das war nicht weiter verwunderlich, befindet sich doch die Nekropole unweit der Meeresküste. Genauso, wie es mich damals in Kroatien nicht erstaunte, dass an der Stelle, wo der kleine Junge ins Meer gestürzt war, eine Muschel auf der Reling gelegen hatte.

Über das Verschwinden des Italieners berichtete das staatliche Fernsehen am Abend in einem Kurzbericht. Im Anschluss folgten die Fussballresultate der Serie A.

Jenseits der Wirklichkeit und mitten in der Realität

Ich öffnete einen Umschlag mit der Aufschrift «Barcelona». Auch darin herrschte ein Durcheinander. Mehrere Besuche verteilten sich über einen längeren Zeitraum. Dementsprechend stammten die Belege aus unterschiedlichen Jahren.

Fakt ist, Barcelona ist eine Stadt, die mich vom ersten Moment an in ihren Bann gezogen hat.

Einmal verbrachte ich vier Wochen am Stück in der katalonischen Hauptstadt. In erster Linie wollte ich mein Spanisch auffrischen, ich wollte aber auch den Alltag kennenlernen und nicht nur die touristische Schokoladenseite schmecken.

Das war aber nicht ganz einfach. Zu viele, weltberühmte Sehenswürdigkeiten reihen sich dicht an dicht. Dank des Architekten Antoní Gaudí (1852 – 1926) erheben sich erhabene Bauten wie die Sagrada Familia, das Casa Milla oder das Casa Batló mit verspielten Fassaden gegen den zumeist tiefblauen Sommerhimmel.

Beim Besuch des Palau Güell, eines Stadtpalais', das der Industrielle Eusebí Güell 1885 beim künftigen Stararchitekten Gaudí in Auftrag gab, konnte ich jedoch einen Blick hinter die Fassaden erhaschen. Auf der Dachterrasse ragten 20 mit Trencadis bedeckte Schornsteine als phantasievoll gestaltete Skulpturen gen Himmel, und dem Besucher bot sich ausserdem ein weiter Blick über Barcelona. Wer sich aber nicht von der Aussicht gefangen nehmen liess, sondern den Blick auf die benachbarten Häuser richtete, sah marode Häuserfassaden und Balkone, auf die man sich aus Sicherheitsgründen besser nicht wagen sollte. Im Hinterhof türmten sich Abfallhaufen, die vor sich hin rotteten. Es roch nach Vergänglichkeit und zeugte von fehlendem Geld.

In jenem Sommer traf ich immer wieder auf Protestierende, die sich zu einer Solidaritätskundgebung für enteignete Nachbarn zusammengefunden hatten. Die Immobilienkrise hatte die Menschen voll im Griff. Wer die Bankkredite nicht mehr bedienen konnte, landete auf der Strasse. Zwangsgeräumt. Das, was ich aus Schweizer Nachrichten-Sendungen kannte, wurde mir zum Alltagsbild.

Nicht selten kam es vor, dass ich angebettelt wurde. Es waren nicht die das Strassenbild anderer Grossstädte prägenden Bettler mit Pappschild und Getränkebecher. Es waren Menschen wie du und ich. Da war diese Mutter, die nicht wusste, was sie ihren Kindern übers Wochenende kochen sollte. Ich ging mit ihr einkaufen. Nachts beobachtete ich Männer, die Alu-Getränkedosen aus Abfalleimern fischten. Tags darauf sah ich ihnen zu, wie sie mit Metallschere und geschickten Fingern daraus witzige Figuren und kleine Teller zauberten. Fast täglich erstand ich einen solchen Teller.

Als wir Ende der 1990er Jahr ein erstes Mal nach Barcelona kamen, glänzte die Stadt noch in Hochkonjunktur-Laune. Zwanzig Jahre später traf man da und dort Baustellen an, die seit Jahren stillstanden. Vom Immobilienboom zur Immobilienkrise.

Carlos Ruiz Zafón ist ein Schriftsteller aus Barcelona. Seine Bücher skizzieren diese Stadt mit all ihren Facetten. Ein bisschen morbid, aber voller Leben, Dramatik und Esprit, geheimnisvoll und spannend.

Auch Pablo Picasso, der in Barcelona die Kunst-akademie besucht und mehrere Male hier gelebt hatte, kannte diese Stadt. Er bannte sie auf Bilder. Seine ausdrucksstarken Gemälde und die mit viel Passion geschriebenen Geschichten Zafóns zeichneten Barcelona genauso, wie ich es empfand: lebendig, bunt, kämpferisch, leidenschaftlich und mit Sonnen- aber auch von Schattenseiten.

Es schien, als seien seit Picassos Zeiten keine 100 Jahre vergangen und keine zwei Jahrzehnte seit dem Erscheinen von Zafóns erstem Roman. Für mich trafen Vergangenheit und Gegenwart in einem unerwarteten Moment zusammen und bildeten ein neues Ganzes. Es war mir ein leichtes, die Darstellungen der beiden Künstler mit dem Barcelona in Einklang zu bringen, das ich täglich stundenlang durchkämmte. Ich kam mir vor, wie jemand, der die Wirklichkeit aus den Augen verliert und unversehens mit der Realität zusammenprallt.

«Jo no vull ser important, Vull ser util» –«Ich möchte nicht wichtig sein, ich möchte nützlich sein.» Ich sass bei meinem Morgenkaffee an der Rambla Raval, als ich diesen katalanisch geschriebenen Satz auf dem T-Shirt eines ca. 60-jährigen Mannes zu lesen bekam. Ob er wohl arbeitslos war? Er wollte kein wichtiger Wert sein in der Arbeitslosenstatistik, sondern ein nützlicher Arbeiter mit einem sinnvollen Job.

Angesichts der wirtschaftlichen Situation in Spanien lagen diese Vermutungen nahe. Sicherer war ich mir in der Annahme, dass er stolz war auf seine Muttersprache. Katalanisch ist mehr als einfach Sprache, sie ist Identifikation. Immerhin wurde Katalanisch und alles Katalonische zu Zeiten des Diktators Franco verboten, selbst nach dessen Tod dauerte es noch Jahre, bis alle Beschränkungen aufgehoben wurden. Der Konflikt zwischen der Regionalregierung und derjenigen in Madrid schwelt bis heute.

Wie weit geht Identifikation und wie weit soll Autonomie gehen? Diese brenzlige Fragestellung nahm ich jedes Mal, wenn ich Barcelona besuchte, wahr. Da ein Informationsstand mit Schriften über die Unabhängigkeitsbewegung der Katalanen, dort ein Balkon, auf der die katalanische Flagge weht. Ja, das Thema war und ist allgegenwärtig.

Wasserspiele

Gleichwohl, die Sehenswürdigkeiten der katalanischen Metropole sollte man sich auf gar keinen Fall entgehen lassen. Ganz einfach weil’s gut tut.

Als an der «Fuente Magica» der Song «Barcelona» von Freddie Mercury und Montserrat Caballé ertönte, vergass ich, dass rund um mich herum tausende von Touristen dicht an dicht standen. Viele erhaschten den Blick auf das Wasser- und Farbspektakel nur via Display auf ihrer Kamera, die sich über die Köpfe der anderen hinweg auf die Brunnenanlage richten liess.