Heute mal bildschirmfrei - Prof. Dr. Paula Bleckmann - E-Book

Heute mal bildschirmfrei E-Book

Prof. Dr. Paula Bleckmann

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Beschreibung

Der Eltern-Ratgeber für den Medienalltag: Auf der Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse der Medienpädagogik geben Paula Bleckmann und Ingo Leipner alltagstaugliche Tipps, wie Eltern die Konflikte um Smartphone, Spielekonsole, Computer und TV mit dem Erziehungsziel einer selbstbestimmten Mediennutzung beilegen können. Digitale Medien erobern das Leben unserer Kinder. Viele Eltern fragen sich: Muss das so sein? Wie lässt sich der ewige Streit um die Nutzungszeiten vermeiden? Und wie sehen attraktive Alternativen aus? Paula Bleckmann und Ingo Leipner zeigen an vielen Fallbeispielen aus dem Alltag, wie verantwortungsvolle Eltern mit Phantasie und Kreativität bildschirmfreie Zonen für ihre Kinder schaffen können – und damit digitalem Stress und Suchtverhalten vorbeugen und ein konfliktfreieres Familienleben ermöglichen.

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Seitenzahl: 384

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Paula Bleckmann / Ingo Leipner

Heute mal bildschirmfrei

Das Alternativprogramm für ein entspanntes Familienleben

Knaur e-books

Über dieses Buch

Viele Eltern klagen: »Ich bin schockiert, was mit Smartphone, Tablet und Spielekonsole alles auf meine Kinder einströmt: Cybermobbing, Computerspielsucht, Internet-Pornos! Wie kann ich meine Kinder vor den Folgen des digitalen Konsums schützen?«

Eine »All-In-One-Lösung« für diese Probleme gibt es nicht, so Paula Bleckmann und Ingo Leipner. Sie haben aber viele ermutigende Beispiele gesammelt, wie Familien erfolgreich gegen den digitalen Strom schwimmen, und schildern Alltagssituationen, die immer wieder zeigen: Die digitale Kindheit - von der Geburt bis zur Pubertät - ist nicht alternativlos!

Im Gegenteil: Verantwortungsvolle Eltern schaffen bildschirmfreie Zonen für ihre Kinder - und gestalten so ein Familienleben mit weniger Konflikten. Und wie machen sie das den eigenen Kindern verständlich? Oma und Opa? Den Lehrern? Die Autoren zeigen, wie das gelingt - nicht sauertöpfisch-belehrend, sondern fröhlich, pragmatisch, oft mit einem Augenzwinkern. So macht es Spaß, eine »Heute-mal-bildschirmfrei«-Familie zu werden.

Inhaltsübersicht

Einleitung1. Digitales Betthupferl für Babys?TV und Apps als Einschlafhilfe?TINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)Wissenschaft und Argumente»Es ist doch nur ein Viertelstündchen«?»Nur gewalthaltige Filme schaden«?Achtung, Nebelwerfertaktik! Komplexität bedeutet keine Wirkungslosigkeit»Ich bin ja dabei! Nur wenn das Kind allein vorm Bildschirm sitzt, treten Probleme auf«?Ideale LösungWeitere Lösungen2. Fördert TV-Totalverzicht ungebremsten Konsum?Gefesselt vom Fern seherTINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)Wissenschaft und ArgumenteDer »fröhlich-aktive Nichtfernsehertyp«Bewusst-reflektierende Nichtfernseher und ehemals süchtige NichtfernseherIdeale LösungWeitere Lösungen3. Geschwisterzwist»Blöde Schwester! Deinetwegen verpasse ich ›Germany’s Next Topmodel‹!«TINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)Wissenschaft und ArgumenteVersuch 1: Dreimal TastsinnVersuch 2: Treffen der FingerspitzenVersuch 3: Gleichgewicht findenVersuch 4: Sensomotorische IntegrationReale vs. virtuelle SchokoladeIdeale LösungWeitere Lösungen4. Trojanisches Pferd zum GeburtstagStreit um den Barbie-LaptopTINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)Wissenschaft und ArgumenteIdeale LösungWeitere Lösungen5. TV als Belohnung? PC-Entzug als Strafe?Eine Wüste aus LegosteinenTINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)Wissenschaft und ArgumenteIdeale LösungWeitere Lösungen6. Kampf am KühlregalGesangseinlage im SupermarktTINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)Wissenschaft und ArgumenteIdeale LösungWeitere Lösungen7. Star Wars – frei ab 6 Jahren?Angriff der KlonkriegerTINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)Wissenschaft und ArgumenteIdeale LösungWeitere Lösungen8. Kita und Grundschule im DigitalfieberProlog – was zuvor geschah …1. Akt – 1. Szene1. Akt – 2. Szene1. Akt – 3. Szene2. Akt – 1. Szene2. Akt – 2. Szene3. Akt – 1. Szene3. Akt – 2. SzeneEpilogWeitere Lösungen9. Zocken, Gamen, Daddeln»Ich will ›Farmerama‹ spielen!«TINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)Wissenschaft und ArgumenteComputerspielsucht und andere digitale SüchteDas Suchtdreieck – Person, Umfeld und GameVorbeugen gegen MediensuchtIdeale LösungWeitere Lösungen10. »Alle Anderen Dürfen Das Aber«Alle kennen »Gandalf Style«TINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)Wissenschaft und ArgumenteIdeale LösungIdeen für eine KlassenvereinbarungWeitere Lösungen11. Digitale Nabelschnur kappenBerlin ohne Handy? Geht gar nicht … oder?TINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)Wissenschaft und ArgumenteIdeale LösungWeitere Lösungen12. »Ungerecht! Ihr dürft, ich nicht!«Gleiches Recht für alle?TINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)Wissenschaft und ArgumenteIdeale LösungWeitere Lösungen13. Das Social-Media-DilemmaSchlaflos mit WhatsAppTINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)Wissenschaft und ArgumenteIdeale LösungWeitere Lösungen14. Pornogucken als Mutprobe?Ein Klick mit schweren FolgenTINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)Wissenschaft und ArgumenteEinstellungen zu Sexualität und BeziehungUnzufriedenheit mit eigenem Körper und eigener SexualitätImpotenz in der PartnerschaftNeigung zu sexueller AggressionIdeale LösungWeitere Lösungen15. Impfung gegen »Fake News«TINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)Wissenschaft und ArgumenteIdeale LösungWeitere LösungenTaschenlexikon digital – analogWir bedanken uns …
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Einleitung

Warum dieses Buch? Drei Kernbotschaften

Aufrüttelnde Bücher wie Digitaler Burnout[1], Digital Junkies[2] und Digitale Demenz[3] sind der Beweis: Erziehende sind heute mit Herausforderungen konfrontiert, die sich vor zehn Jahren noch nicht erahnen ließen, als Smartphones weltweit ihren Siegeszug antraten. Dazu eine Zahl: WhatsApp wurde 2009 gegründet, heute verwenden weltweit 1,3 Milliarden Menschen diesen Messenger-Service.[4] Zwischen Entwicklung und globaler Ausbreitung lagen nur acht Jahre! Paula Bleckmann hat diese explosionsartigen Entwicklungen im Blick; sie ist als Professorin für Medienpädagogik auch Expertin für Digitalrisiken. Sie weiß: Diese neuen Probleme müssen wir sehr ernst nehmen! Als Mutter von drei Kindern weiß sie auch: Wenn Bücher Probleme nur beschreiben, hilft das nicht, alltägliche Konflikte zu lösen, die rund um TV, PC und Smartphone auflodern.

Diese Erkenntnis hatte auch Ingo Leipner, der sich publizistisch mit der digitalen Transformation im Bildungsbereich auseinandersetzt.[5][6] Seine Erfahrung aus vielen Vorträgen: Kritische Eltern wissen schon lange Zeit, WARUM es wichtig ist, auch einmal »bildschirmfrei« zu machen. Hier geht es um die Frage: WIE wehren sich Familien heute gegen den magischen Magnetismus digitaler Welten?

Deutsche Kinder sind immer jünger, wenn sie das erste Smartphone erhalten. Der Einstieg erfolgt mit jedem Kalenderjahr ein Lebensjahr früher: 16 Jahre, 15 Jahre, 14 Jahre, 13 Jahre, 12 Jahre, 11 Jahre,[7] …

Im Jahr 2018 haben am Ende der Grundschulzeit (!) mehr als die Hälfte der Schüler ein Smartphone in der Tasche – sollte der aktuelle Trend so anhalten. Wie lange wollen Eltern sich das gefallen lassen? Bis 6-Jährige Freundschaftsanfragen nur noch online erhalten? Bis immer mehr Eltern, auch von Vorschulkindern, keine Alternative zum Smartphone-Besitz sehen, aus Angst, dass ihr Kind ausgegrenzt wird?

Kernbotschaft 1

Die digital dominierte Kindheit ist NICHT alternativlos.

Eltern sind in der Lage, im Interesse ihrer Kinder die Weichen anders zu stellen.

Unser Buch richtet sich gegen das Gespenst der Alternativlosigkeit. Und gegen das AADDA-Syndrom … Nie gehört? Sie kennen es sicher: »Alle anderen dürfen das aber!« Das führen Kinder gerne ins Feld, wenn sie ein eigenes Smartphone haben wollen – oder darum kämpfen, einen angesagten Film zu sehen oder »coole Games« zu spielen. Was wir halb scherzhaft das »AADDA-Syndrom« nennen, gibt es als Krankheitsbild in vielen Familien – und es ist ziemlich ansteckend. Was dagegen hilft? In den Kapiteln 2, 7, 8, 10, 11, 13, 14 finden Sie praxistaugliche Tipps.

Als Autoren ermutigt uns: In den Vereinigten Staaten schließen sich Tausende Eltern zusammen, um ihre Kinder besser zu schützen. Sie gründen die Initiative »Wait Until 8th«.[8] Wie erklärt sich der Name? IT-Bosse wie Bill Gates, Jeff Bezos oder der verstorbene Steve Jobs gaben ihren Kindern erst ein Smartphone, als diese 14 Jahre alt waren. Also in der achten Klasse (»8th grade«). Richtig! Durch eine frühe Nutzung digitaler Medien werden Kinder nicht schlau, fit und medienkompetent. Stattdessen steigt das Risiko, übergewichtig, abgestumpft und süchtig zu werden. Entsprechend haben Kinder heute langfristig umso bessere Zukunftschancen, je weniger sie in jungen Jahren einer digitalen Reizüberflutung ausgesetzt sind.

Doch aktuell schwimmen Eltern in einer Schulklasse gegen den Strom, wenn sie den Smartphone-Kauf des Kindes aufschieben möchten, weshalb Initiativen wie »Wait Until 8th« so wichtig sind.

 

Auch in Deutschland haben Hunderte von Eltern gemeinsam entschieden: Sie zögern den Kauf der Smartphones in der gesamten Schulklasse ein, zwei oder drei Jahre hinaus. (Ideen für eine »Klassenvereinbarung« finden Sie in Kapitel 10.)

Ein berechtigter Einwand könnte lauten: Im Alter von 14 Jahren kommen die Geräte immer noch zu früh. Tatsächlich lässt sich auch die Forderung »Smartphones ab 18 Jahren« gut begründen. Aber wir halten jeden kleinen Schritt für wertvoll, der in die richtige Richtung führt. Es ist besser, wenn ein Kind erst mit 14 Jahren sein Smartphone bekommt als mit 10 Jahren, wie es bei vielen Klassenkameraden der Fall ist. Das sind vier gewonnene Jahre für das Kind! Darauf können und sollten Eltern stolz sein.

Kernbotschaft 2

Kleine Erfolge feiern, kleine Schritte würdigen.

Ein schlechtes Gewissen ist ein miserabler Erziehungsberater.

Die Katastrophe ist scheinbar schon eingetreten? Nicht verzweifeln, es gibt immer etwas zu retten.

Tatsächlich! Ein bisschen besser kann es immer werden, wenn es um den Umgang mit digitalen Medien in der Familie geht. Daher ist dieses Buch so aufgebaut: Am Anfang stehen Tipps und Tricks, wie Eltern verhindern, dass der Digital-Stress zu früh losgeht. Zum Beispiel den Fernseher ins Arbeitszimmer räumen – oder ganz abschaffen (ein Film lässt sich abends auch in einer Mediathek abrufen). So gelingt es, viele Gefahren aus dem Leben der Kinder fernzuhalten: Internet-Pornos, Gewaltfilme, Suchtspiele, Sexting, Cybermobbing oder Fake News.

Aber: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben! Und: Familien leben nicht auf Inseln. Es wäre illusorisch für Eltern zu glauben, Kinder vollständig vor Medienrisiken bewahren zu können. Doch es gibt viele Möglichkeiten, kritische Situationen zu bewältigen. Das zeigen unter anderem diese Geschichten in unserem Buch:

Der 6-jährige Simon kommt verstört nach Hause und hat nachts Albträume, weil er »Star Wars« bei einem Freund geguckt hat (Kapitel 7).

Teenies schlafen mitten im Unterricht ein, weil sie bis tief in die Nacht WhatsApp-Nachrichten schreiben (Kapitel 13).

Die 11-jährige Lena bekommt den Link zu einem Hardcore-Porno über die WhatsApp-Klassengruppe geschickt – und hat bereits daraufgeklickt (Kapitel 14).

Unser Prinzip: Alle 15 Kapitel zeigen, wie sich kritische Ausgangssituationen im Alltag ins Gute wenden lassen. Viele der Geschichten werden Ihnen vertraut sein! Denn die Fallbeispiele[9] basieren auf Familienberichten, die zum Teil mit vielen Details auf Tonband dokumentiert sind. Dabei haben wir uns die Freiheit genommen, Geschichten aus zwei oder mehreren Familien zusammenzufassen und Details fiktiv zu ergänzen. Natürlich wurde auch einiges verfremdet, um die Privatsphäre nicht zu verletzen.

So waren unsere Probeleser bei einigen Kapiteln überzeugt: »Da habt Ihr vieles dazu erfunden. So etwas passiert doch nicht in der Realität!« Doch genau in diesen Kapiteln waren wir besonders nahe am Original geblieben. Erstaunlich: Die besten Geschichten schreibt immer noch das Leben. Überzeugen Sie sich selbst!

Daher danken wir allen Familien, die ihre Erlebnisse mit uns geteilt haben: bei Gesprächen nach Vorträgen und gemütlichen Kneipenrunden mit Freunden sowie bei Interviews im Rahmen wissenschaftlicher Forschung. Es gibt noch sehr viel mehr Menschen, denen wir danken wollen (siehe Danksagung auf Seite 301f.).

Gebrauchsanweisung: Jedes Kapitel in diesem Buch steht für sich. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis – und Sie können sofort das Thema herauspicken, das Ihnen unter den Nägeln brennt. Jedes Kapitel beginnt mit einem »Einstieg«, der eine mehr oder weniger vertrackte Situation widerspiegelt, die eine unserer Familien im Alltag erlebt hat (siehe Abb. 1). Für dieses Problem bietet sich ein bequemer, aber fragwürdiger Ausweg an, unsere »TINA-Lösung«. Die Abkürzung steht für »There Is No Alternative« und geht auf Margaret Thatcher zurück, die mit einer vorgeblichen Alternativlosigkeit versuchte, ihre Politik zu legitimieren. Etwas, das auch deutsche Politiker immer wieder gerne probieren … Vorsicht! Mit der »TINA-Lösung« führen wir unsere Leser gerne etwas aufs Glatteis.

Darauf folgt der Abschnitt »Wissenschaft und Argumente«: Wir liefern Fakten sowie wissenschaftliche Erklärungen zu den Fallbeispielen. Es gibt auch diverse Hinweise auf Originalquellen, falls Sie tiefer ins Thema einsteigen möchten. Übrigens: Die Fakten sprechen stets gegen die »TINA-Lösung« …

Der nächste Abschnitt ist einer »Idealen Lösung« gewidmet. Der Wissenschaftsteil gibt Ihnen handfeste Gründe in die Hand, WARUM es sich lohnt, gegen den Strom zu schwimmen. Jetzt geht’s um das WIE! In der »Idealen Lösung« begegnen Sie Eltern, die für ihre Kinder bildschirmfreie Zonen schaffen – und so ein Familienleben mit weniger Konflikten gestalten. Ihre Lösungen sind manchmal unerwartet, unkonventionell, aufwendig und gewagt. Sie haben sich aber in der Praxis bewährt. Daher unsere Ankündigung auf dem Buchtitel: »Das Alternativprogramm für ein entspanntes Familienleben.«

Oft scheint es für solche Lösungen nötig zu sein, dass viele Umstände günstig zusammenkommen. Manchmal zu schön, um wahr zu sein? Daher schließt jedes Kapitel mit rund einem halben Dutzend Ideen und der Botschaft: So lässt sich der Alltag mit Medien etwas besser gestalten. Diesen Abschnitt haben wir »Weitere Lösungen« genannt.

Damit kommen wir zu unserer dritten Kernbotschaft. Um eine »Ideale Lösung« im Ansatz umzusetzen, ist viel Fingerspitzengefühl notwendig. Der Grund: Gespräche über TV, Smartphone und Co. sind häufig emotional belastet: Es lauern viele Fallstricke! Manche sind als »dicke Taue« gut sichtbar, manche als »durchsichtige Schnüre« kaum wahrnehmbar – und deshalb besonders gefährlich.

Kernbotschaft 3

Es lohnt sich, für jeden Gesprächspartner den treffenden Ton zu finden.

Oft ist Handeln wirksamer als Reden.

Oft ist Zuhören wichtiger als Wissen.

Wie gelingt es, den treffenden Ton zu finden – für die unterschiedlichsten Menschen? Vom Kleinkind bis zum Jugendlichen, vom Partner über die Oma bis zum Grundschulrektor? Dafür gibt es nachahmenswerte Beispiele in der »Idealen Lösung«, die alle 15 Kapitel abrundet.

Abb. 1:

Kapitelaufbau

Wie erkläre ich einem kleinen Kind, dass es heute nicht fernsehen darf? Unsere Antwort: Die Frage ist falsch gestellt! Es gibt zum Beispiel weniger Streit, wenn sich der Fernseher nicht dauernd im Blickfeld des Kindes befindet (»aus den Augen, aus dem Sinn«). Legen Eltern klare Regeln fest und setzen sie durch, entstehen ebenfalls weniger Konflikte (nach vereinbarter Zeit Ausschaltknopf drücken). Und: Eltern können prüfen, ob ihr eigenes Verhalten ein ungesundes Vorbild für die Kinder darstellt.

Je kleiner das Kind, desto eher gilt: Handeln geht vor Erklären. Was uns Familien mit kleinen Kindern berichtet haben, können wir erfreulicherweise auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Je weniger Bildschirm, desto weniger Stress!

Bei Jugendlichen gilt oft das Gegenteil: Je weniger Bildschirm, desto mehr Stress! Wer die Zeiten mit digitalen Medien begrenzen will, handelt sich beim älteren Nachwuchs fast automatisch Ärger ein. Viele Eltern fragen sich: »Was mache ich nur falsch? Warum gibt es ständig Streit um die Mediennutzung?« Nur Mut: Das kann ein positives Zeichen sein. Da heißt es dranbleiben und Konflikte ruhig durchstehen, wie etwa in Kapitel 12. In dieser Geschichte setzen sich die Eltern mit dem 12-jährigen Thorben zusammen, um gemeinsam in einem Familienrat Regeln festzulegen, wie sich der digitale Dauerstreit beilegen lässt. Fatal ist es, wenn es Eltern gleichgültig wird, wie ihre Kinder mit digitalen Medien umgehen. Klar, es gäbe keinen Streit ums Thema. Aber die langfristigen Folgen sind verheerend!

Bei aller Streitkultur – genauso wichtig ist für Kinder in jedem Alter: Ja-Sagen geht vor Nein-Sagen. Dazu ist es entscheidend, dem Kind gut zuzuhören. Welche (unerfüllten?) realen Wünsche bewegen Jugendliche, wenn ihr Computerspielverhalten bedrohlich viel Zeit frisst? Das kann die Sehnsucht nach Anerkennung für Leistungen sein, nach Zugehörigkeit in einer Beziehung oder einer Gruppe, ebenso wie die Sehnsucht nach Autonomie.

Also: Nicht einfach Nein sagen zu digitalen Medien, sondern Ja zur analogen Entsprechung. Dieses Prinzip steckt in unserem »Taschenlexikon digital – analog«. Und schließlich: Wie hört sich der »treffende Ton« an, um mit Erwachsenen über Medienthemen zu sprechen? Wie kann man aus der »Besserwisser-Falle« aussteigen (vgl. Kapitel 1, 2 und 4)? Kommen wir mit anderen Eltern ins Gespräch, ist ein besonderes Feingefühl gefragt. Oft sind Eltern ohnehin der Meinung, dass ihr Kind zu viel Zeit am Bildschirm verbringt. Sie fühlen sich dabei aber einem Dilemma ausgesetzt: Den Alltag zu bewältigen hat Vorrang vor den idealen Vorstellungen, wie Medienerziehung ablaufen sollte. Beispiel: Eine gestresste Nachbarin, die ihr Kind regelmäßig vor dem Bildschirm parkt – als Babysitter.

 

Eigentlich will die Mutter das Kind nicht so behandeln, was zu einer Rationalisierungsstrategie führt: Sie »lügt sich in die Tasche«, indem sie fest daran glaubt, kleine Kinder könnten viel durch TV-Sendungen lernen. Menschen sind sich oft der Brüchigkeit ihrer Rationalisierungsstrategien bewusst, weshalb sie gereizt reagieren, wenn Kritiker den »Finger in die Wunde legen«. Statt sich Vorwürfe anzuhören, hätten sie lieber Unterstützung, um ihren Alltag besser zu bewältigen. Die Konsequenz: Wer sein Gegenüber mit überragender Sachkenntnis »erschlägt«, erreicht selten eine Einigung und ruft oft Zerwürfnisse hervor. Da schadet es nicht, eine gute Portion Demut zu pflegen, etwa durch die Frage: Was braucht mein Gegenüber, um seine Haltung zu ändern und sich dabei gut zu fühlen? In welchen Punkten kann ich mich auf den anderen zubewegen, um eine Einigung zu erzielen? Dafür ist ein eigener klarer Standpunkt wichtig, gestützt auf Faktenwissen. Die Konsequenz aus Kernbotschaft 3 wäre also nicht, dass Wissen schadet. Vielmehr geht es um die richtige Dosierung. Der Dichter Matthias Claudius hat das so ausgedrückt: »Sage nicht alles, was du weißt, aber wisse immer, was du sagst.«

Wir wollen mit diesem Buch dazu beitragen, dass Kinder in Begleitung Erwachsener lernen, die Chancen digitaler Welten langfristig zu nutzen. Dabei möchten wir Sie als Erziehende ermutigen, auch die Risiken bewusst wahrzunehmen und Ihre Kinder davor früh zu schützen. In diesem Sinne: Machen Sie heute mal bildschirmfrei!

 

Emmendingen/Lorsch, im Oktober 2017

 

Paula Bleckmann und Ingo Leipner

[home]

Marcello, 2 Jahre

1.Digitales Betthupferl für Babys?

Verharmlosung durchschauen – aber nicht den Besserwisser spielen

TV und Apps als Einschlafhilfe?

Suse hat es nach einer gefühlten Stunde »Kampf« am Abend geschafft, ihren kleinen Sohn Marcello ins Bett zu bringen. Erschöpft sinkt sie in ihren Sessel und checkt das Smartphone. Wie schön, denkt sie, da ist eine neue Nachricht von Marcellos Patentante.

~ Ulrike:

Hallo, du Liebe, habe gerade im Theaterprogramm was Tolles für dich gefunden, eine ganz moderne Inszenierung von Shakespeares »Sommernachtstraum«. Du meckerst ja immer, dich nur noch als Mama und nicht mehr als Suse zu fühlen. Also Theater mit Hans? Und ich spiele die Babysitterin. How about it?

~ Suse:

Du kommst mir wie gerufen. Ich bin schweißgebadet. Marcello hat mich eine Stunde gefoltert.

~ Ulrike:

???

~ Suse:

M. tut immer wieder so, als würde er schlafen, und sobald ich aus dem Zimmer will, wieder: Rabääh rabääh. Irgendwann war ich so wütend! Jetzt schläft er friedlich. Theater hört sich für mich wie ein Traum an. ABER: Termine? Wann kommt denn Shakespeare?

~ Ulrike:

Bist die Heldin des Alltags! Du bekommst von mir einen Orden. Termin: Jeden Abend um 20 Uhr im Februar und März.

~ Suse:

Wunderbar, danke! Muss mit Hans klären, wann er geschäftlich unterwegs ist. Melde mich …

~ Suse:

Theaterabend 17. oder 24. Februar wäre perfekt. Geht das bei dir?

~ Ulrike:

24. Februar geht leider nicht. Fortbildung. 17. Februar? Das ist ja schon in acht Tagen. Da hab ich eine Freikarte für ein Konzert, aber die verschenke ich einfach. Klappt schon! ☺

~ Suse:

Hurra. ☺ Alles Weitere gleich am Telefon.

Nach dem zweiten Klingeln geht Ulrike ans Telefon: »Alles schon erledigt, die Freikarte ist verschenkt, meine Nachbarin hat sich gefreut.« Suse berichtet: Ihr Mann Hans habe euphorisch reagiert, als sie ihm vom Theaterabend erzählte. »Ich bin auch hin und weg von der Idee«, fährt sie fort. »Als wir das letzte Mal abends weggehen wollten, war Marcello krank. Eine Woche davor fiel es aus, weil ich Migräne hatte … alles wie verhext. Wir dachten, es wird nie mehr etwas mit unserem Abend als Paar.«

»Na, die Pechsträhne ist vorbei«, antwortet die Patentante. »Perfekt. Ich freue mich riesig. Nur etwas macht mir Sorgen: Marcello schläft im Moment schlecht ein«, wendet Suse darauf ein.

Da weiß die erfahrene Patentante gleich Rat: »Mach dir keine Sorgen, mit ›Janoschs Traumstunde‹ auf DVD habe ich bisher alle Einschlafprobleme beim Babysitten gelöst. Die Filme sind so süß gezeichnet, ganz ruhige Musik. Wenn das Kind schreit, lege ich die DVD ein, und es beruhigt sich. Mit dem Kind auf dem Arm setze ich mich in den Sessel, es schaut noch ein paar Minuten auf den Bildschirm, und schon schläft es ruhig ein. Das hat bisher immer geklappt.«

Nach dem Gespräch macht sich Suse doch Sorgen: Sie hat Bedenken, DVDs als Einschlafhilfe einzusetzen. Sie fragt Hans nach seiner Meinung, doch der reagiert allergisch: »Du willst jetzt nicht zum dritten Mal unseren gemeinsamen Abend absagen, oder? Langsam habe ich das Gefühl, du kannst dich einfach nicht von Marcello trennen!« Wenn jetzt sogar Ulrike nicht mehr gut genug sei, um auf Marcello aufzupassen, fährt er fort, wisse er auch nicht mehr weiter. »Sie hat wegen uns eine Konzertkarte verschenkt. Ist es dir eigentlich nicht peinlich, ihr jetzt abzusagen, weil du mal wieder überbesorgt bist?«

Ob der dritte Versuch noch gelingt, einen Abend als Paar zu verbringen?

TINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)

Es wäre wirklich peinlich, der Patentante jetzt noch abzusagen, bloß weil Suse DVDs als Einschlafhilfe nicht für das »Gelbe vom Ei« hält. Dazu kommt: Suse würde ihren Mann schwer enttäuschen. Und sie würde als »Glucke« dastehen, die nicht loslassen kann und ihr Leben vollständig nach einem Kleinkind ausrichtet. So schlimm kann es doch auch nicht sein … Ulrike hat doch mit »Janoschs Traumstunde« gute Erfahrungen gemacht? Schnell haben Suse und Hans die Serie gegoogelt. Über sie gibt es nur Gutes zu lesen, zum Beispiel in Erfahrungsberichten wie diesem hier: »Ich habe die Serie geliebt. Die ruhige, gemütliche und liebenswürdige Art der Geschichten und Figuren hat mich sehr verzaubert.« Na bitte! Das scheint wirklich eine kindertaugliche Sendung zu sein.

Aber ab welchem Alter dürfen Kinder fernsehen? Auch zu dieser Frage gibt es Hinweise im Internet – zum Beispiel in einem Interview mit Prof. Wassilios Emmanuel Fthenakis, Experte für frühkindliche Bildung[10]. Er wurde gefragt: Wann sind die entwicklungspsychologischen Voraussetzungen gegeben, damit Kinder Sendungen wie »KiKANiNCHEN« sehen können? Seine einfache Antwort: »Von Anfang an.« Als Begründung sagte er: »Unmittelbar nach der Geburt werden die Säuglinge mit Reizen konfrontiert, mit Figuren, mit Farben. Und all das ist ein mediales Angebot, was den Kindern, den Säuglingen von Anfang an zur Verfügung steht.«[11]

Suse und Hans surfen von Seite zu Seite – und finden große Mengen Filmempfehlungen für Kinder, auch für die Allerkleinsten. Ein paar Klicks weiter tauchen Empfehlungen für Smartphone-Apps auf. Hans zeigt auf den Bildschirm: »Schau mal her, Suse, das wäre doch was für Marcello, oder?« Es geht um die App »Süße Träume«, Hans liest den Werbetext vor: »Die superniedliche Kleinkinder-App hieß zuvor ›Gähnerli‹, und es geht darum, viele müde Tiere schlafen zu legen.«

Jetzt erwärmt sich auch die vorher so kritische Suse für die Idee und liest weiter vor: »›Die App eignet sich besonders als digitales Betthupferl für Kleinkinder und lässt sich wunderbar in das Zubettgeh-Ritual einbauen.‹ Das habe ich schon ganz oft gehört, wie wichtig für Kinder Regelmäßigkeit und feste Rituale sind.« – »Und hier steht auch«, ergänzt Hans, »dass die App ab 18 Monaten empfohlen wird. Marcello ist ja schon 24 Monate alt. Lass uns die App morgen gleich ausprobieren, wenn Marcello wieder schreit.«

Der Theaterabend ist gerettet, der Frieden zwischen Hans und Suse wiederhergestellt. Marcello wird in Zukunft leichter in den Schlaf finden, auch die Patentante wird glücklich sein. Suse entspannt sich, ihr fallen langsam die Augen zu. Warum sollte sie jetzt noch weiter recherchieren?

Lied der Oompa Loompas

Das Gedicht, »Lied der Oompa Loompas« hat Roald Dahl 1964 (!) in seinem Buch Charlie und die Schokoladenfabrik[12] veröffentlicht. Daraus hier zwei Strophen. Wie weitsichtig!

 

Für den, der Kinder gerne hat,

gibt es noch einen guten Rat –

der wäre: Lasst sie niemals an

den Fernseh-Flimmerkasten ran!

(Am besten wär’s, in allen Fällen

den Kasten gar nicht aufzustellen.)

 

Doch vielfach achtet man nicht drauf

und lässt den Dingen ihren Lauf:

Der halbe Tag, die halbe Nacht

wird vor dem Bildschirm zugebracht.

Natürlich zieht es Kinder immer

zu jeder Art von Bildgeflimmer.

Wenn sich nur irgendwas bewegt,

schon sind sie davon angeregt

und sind bereit, sich voll Vertrauen

den größten Blödsinn anzuschauen.

Wissenschaft und Argumente

Muss man weiter recherchieren? Unbedingt! Denn der Stand der Forschung belegt das Gegenteil von dem, was Prof. Fthenakis behauptet. Die American Academy of Pediatrics (AAP) vertritt 60000 amerikanische Kinderärzte und -chirurgen. Sie hat 50 Studien ausgewertet, die seit 1999 der Frage nachgegangen sind: Wie wirken Fernsehen und Videos auf die Allerkleinsten? Die Ärzte-Organisation schreibt klipp und klar:[13] »Die AAP rät davon ab, dass Kinder unter zwei Jahren elektronische Medien benutzen.« Kein Fernsehen, kein Laptop, kein Smartphone.

Für die jüngste Altersgruppe hat laut AAP die Forschung eindeutig nachgewiesen: Es entsteht langfristig keinerlei Nutzen, wenn Kleinkinder Bildschirmen ausgesetzt sind, weder beim Fernsehen noch beim Gebrauch von Apps auf dem Smartphone. Dagegen lassen sich negative Auswirkungen auf die Entwicklung zunehmend besser belegen. Für das Kindergarten-, Grundschul- und Jugendalter liegen dazu viele Hundert Studien vor[14] (vgl. zusammenfassend Mößle 2012, Nunez-Smith et al. 2009, Spitzer 2005). Diese Studien dokumentieren Auswirkungen in drei großen Bereichen:

Körperliche Auswirkungen: Es sind Verzögerungen der Bewegungsentwicklung, Übergewicht und Folgeerkrankungen (z.B. Diabetes) sowie Schlafstörungen nachgewiesen.

Psychosoziale Auswirkungen: Mehr Konsum von Bildschirmmedien führt zu einem Verlust von Empathie, einer verzögerten Sprachentwicklung, Störungen der Beziehungsfähigkeit und ADHS-ähnlichen Symptomen.

Kognitive Auswirkungen: Es wurden Beeinträchtigungen der kognitiven Entwicklung nachgewiesen. Diese äußern sich in verschiedenen messbaren Outcomes wie einer kurzfristig geringeren Aktivität des Stirnhirns. Langfristig zeigen sich die Folgen in schlechteren Schul- und Leseleistungen[15] sowie weniger hohen Bildungsabschlüssen.[16]

Es wäre aber falsch, diese Ergebnisse übersteigert zu interpretieren, nach dem Motto »Die bösen Medien sind an allem schuld!«. Es ist sinnvoll, genau nach Altersgruppen zu unterscheiden. An dieser Stelle ist zunächst wichtig: Die negativen Effekte sind umso eindeutiger, je jünger die Kinder sind. Für das Kindergartenalter sind sie stärker als in der Grundschule; für Grundschüler stärker als bei Jugendlichen. Für unter 3-Jährige gibt es viel weniger Studien, vor allem fast keine zu langfristigen Folgen. Das ist auch nicht anders möglich: Vor 20 Jahren waren keine Filme, Apps oder Spiele für unter 3-Jährige auf dem Markt, sodass die Wissenschaft langfristige Folgen überhaupt nicht untersuchen KONNTE. Auf die wenigen vorhandenen Studien gehen wir weiter unten ein. Vorab so viel: Keine dieser Untersuchungen belegt positive Effekte, einige wenige finden keine Effekte, und die Mehrheit belegt negative Wirkungen. Es wäre also Augenwischerei, zu behaupten, der Forschungsstand sei nicht ausreichend für die jüngste Altersgruppe (unter 3 Jahre).

Genau wie die amerikanischen Kollegen urteilen österreichische Ärzte: 2016 erschien ein Konsensuspapier, verfasst von Schlafmedizinern und -forschern: »Empfehlungen zur Regulierung von Bildschirmzeiten im Kindes- und Jugendalter«[17]. Da heißt es für die jüngste Altersgruppe (0- bis 2-Jährige): gar keine Nutzung von Bildschirmmedien! Bis etwa zur Einschulung werden maximal 30 Minuten pro Tag für vertretbar gehalten (siehe auch Kapitel 2, in dem die ideale Lösung zeigt, dass auch 0 Minuten pro Tag machbar und sinnvoll sind). Auch im Jugendalter empfehlen die Ärzte nicht mehr als zwei Stunden pro Tag. Und sie betonen besonders: Die Zeit vor dem Schlafengehen muss bildschirmfrei bleiben.

Wenn sich die Kinderärzte in aller Welt so einig sind: Wie kann es sein, dass Fthenakis behauptet, Fernsehen ab der Geburt sei in Ordnung? Drücken wir es vorsichtig aus: Der Bildungsforscher ist nicht gerade bekannt für eine kritische Sicht auf digitale Medien, die auch langfristige Folgen ins Auge fasst. Als Präsident der Bildungsmesse didacta hat er in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, immer mehr Messestände mit den neuesten Digital-Produkten zu füllen. Besucher müssen oft mehrere Hallen voll mit Hard- und Software durchqueren, bevor sie Malutensilien, Bauklötze oder Brettspiele erreichen.

Fthenakis pflegt gute Verbindungen zur Digitalindustrie. Er verleugnet Bildschirmrisiken und versteht es geschickt, mit den Ängsten von Eltern, Erziehern, Lehrkräften und Politikern zu spielen: Wer nicht früh genug mit dem Tablet hantiert, wird angeblich zum digitalen Versager (vgl. Kapitel 8)! Wer diese Hintergründe kennt, wird zunehmend skeptischer, wenn er Experten wie Fthenakis zuhört.

Trotzdem bleibt die Frage, die unsere Geschichte aufwirft, spannend: Warum glaubt eine kluge, engagierte und wohlmeinende Patentante wie Ulrike, dem kleinen Marcello etwas Gutes zu tun, wenn sie ihn vor dem Fernseher einschlafen lässt? Sie hat sicher keine Beraterverträge mit Großkonzernen unterschrieben … In ihrem Fall dürfte die Erklärung ganz anders ausfallen: Ulrike stützt sich auf eigene Erfahrungen und Beobachtungen. TV als Einschlafhilfe – das funktioniert so gut! Die Kinder tauchen ab, ohne lange zu schreien. Langfristige Auswirkungen? Darüber hat sich die Patentante wohl noch keine Gedanken gemacht. Wenn aber doch, rechtfertigt sie sich vermutlich mit den folgenden Argumenten, die sowohl Laien als auch Experten gerne anführen: »Es ist doch nur ein Viertelstündchen.« – »Nur gewalthaltige Filme schaden.« – »Ich bin ja dabei! Nur wenn das Kind allein vorm Bildschirm sitzt, treten Probleme auf.«

Damit liegt Ulrike nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Das Leben ist komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. Wir wollen im Detail auf die drei Einwände eingehen.

»Es ist doch nur ein Viertelstündchen«?

Tatsächlich führt nicht das »Viertelstündchen« zu negativen Spätfolgen, ein einziges Viertelstündchen schadet wirklich nicht. Aber: Wer als Kleinkind mit dem Konsum von Bildschirm beginnt, rutscht früh in eine Gewohnheit hinein, die später schwer einzudämmen ist. Das gelingt vielen Eltern nicht. Ein »Frühstarter-Kind« schaut schon mit 1,5 oder 2 Jahren Filme oder benutzt Apps. Es wird statistisch gesehen bis zur Grundschule mehrere Hundert Stunden zusätzlich vor einem Bildschirm sitzen – im Vergleich zu einem »Spätstarter-Kind«.[18] Das geschieht jedoch nicht, weil die »Frühstarter-Eltern« diese Entwicklung gut finden oder gar bewusst fördern würden. Es passiert einfach … Die »Frühstarter« fordern später mehr Film, Fernsehen oder Tablet ein und sind dabei schwerer zu bremsen, sobald sie diese Mediengewohnheiten aufgebaut haben. Das zeigt eine Studie aus den USA: »Frühstarter« protestierten im Alter von 6 Jahren ausdauernder und lauter als »Spätstarter«, wenn Eltern den Fernseher ausschalten wollen.[19]

»Nur gewalthaltige Filme schaden«?

Diese These würde stimmen, wenn nur Medieninhalte negative Auswirkungen erklären würden. Doch es gibt eine Reihe weiterer Effekte, die in keinem Zusammenhang mit Inhalten stehen. Zum Beispiel: Je jünger die Kinder sind, desto mehr spielt die entgangene Lebenszeit eine Rolle (Hypothese der Zeitverdrängung). Auch der süßeste Kinderfilm ist für die Entwicklung kleiner Kinder weniger förderlich als das unmittelbare Leben. Medien wirken sich negativ aus, nicht weil sie »böse« sind, sondern weil sie nicht gut genug sind. Das belegen Experimente zum Spracherwerb sehr eindrücklich: So testeten Wissenschaftler in einer Laborstudie, wie gut Kleinkinder zwischen 15 und 24 Monaten neue Wörter lernen. Ob sie einen Begriff gut erfasst hatten, wurde überprüft, indem die Kinder das neue Wort hörten und auf das zugehörige Objekt zeigen konnten. Das Ergebnis: Wie erwartet lernten die Kleinkinder Wörter am besten, wenn sie von einer realen Person vorgesprochen wurden. Die unmittelbare Interaktion zwischen Erwachsenen und Kindern gibt den Ausschlag! Die schlechtesten Ergebnisse brachte ein Kinderfilm, obwohl ihm die Kinder mehr Aufmerksamkeit widmeten als einem Video mit einem sprechenden Erwachsenen. Bemerkenswert: Der Kinderfilm war gewaltfrei und sogar so konzipiert, dass er die Sprachentwicklung fördern sollte. Ein weiteres Ergebnis: Die jüngeren Kinder bis 21 Monate lernten die Wörter nur direkt von Erwachsenen. Das galt auch für ältere Kinder, die beim Start des Experiments einen geringen Wortschatz hatten.[20] Wer noch nicht sprechen kann, hat keine Chance, es am Bildschirm zu lernen.

Was die Studie im künstlichen Umfeld nahelegt, trifft im Alltag ebenfalls zu: Weisen Kleinkinder höhere Bildschirmzeiten auf, verzögert sich signifikant ihre Sprachentwicklung. Wieder ist dieser Effekt nicht auf Filme beschränkt, die problematische Inhalte transportieren.[21]

Die folgende Studie bestätigt, dass auch in den Auswirkungen auf das Sozialverhalten nicht nur »schlechte« Filme schaden. Die Kinder waren im Schnitt 3,5 Jahre alt. Die Wissenschaftler untersuchten ausdrücklich die Wirkung der Nutzung von Filmen und Computerspielen, die einen erzieherischen Anspruch hatten (educational media exposure). Es stellte sich heraus: Je höher die Nutzungszeiten nach Angaben der Eltern waren, desto problematischer war das Sozialverhalten der Kinder. Dies galt besonders für beziehungsbezogene Aggressionen, damit sind unter anderem Beschimpfungen, verbale Demütigungen oder der Ausschluss anderer Kinder aus der Gruppe gemeint. Es ging weniger um körperliche Angriffe.

Dieser Zusammenhang blieb stabil in einer Nachuntersuchung derselben Kinder, die zwei Jahre später erfolgte.[22] Das alles bedeutet selbstverständlich nicht, dass es völlig gleichgültig ist, ob Kinder einen brutalen Spielfilm sehen oder ein niedliches Lernvideo: Schädlich ist für kleine Kinder zwar schon das Lernvideo, weil reale Lebenszeit verloren geht. Noch schlimmer wäre es aber, die Kleinen einen Gewaltfilm schauen zu lassen (siehe hierzu Kapitel 7).

Achtung, Nebelwerfertaktik! Komplexität bedeutet keine Wirkungslosigkeit

Die Nebelwerfertaktik verwenden Medienunternehmen gerne: Sie wollen ein positives Image erzeugen, indem sie die Bereitschaft signalisieren, Risiken ernst zu nehmen. Sie fragen tatsächlich: Machen Medien dumm? Oder dick? Oder aggressiv? Doch die Antwort lautet in der Regel: Kein Wissenschaftler sei in der Lage, auf diese Frage eine genaue Antwort zu geben.

Beim Lesen solcher Texte ergab sich folgendes Muster: Jeder mögliche positive Effekt wird als »Urteil« bestätigt (z.B. »Computerspiele machen schlau«). Dabei reicht es oft aus, reine Korrelationen und kurzfristige Wirkungen anzuführen. Selbst wenn sich experimentelle Studien fernab vom Alltag bewegen, sind sie gut genug, um sie als gesichertes Wissen zu zitieren. Besonders pikant: Die Studien zu positiven Effekten sind oft aus der Tasche der Großkonzerne finanziert, welche die untersuchten Produkte verkaufen. Gleichzeitig wird jede negative Folge von Computerspielen als »Vorurteil« relativiert (z.B. »Computerspiele machen aggressiv«). Die Latte wird bei den Risiken dreimal so hoch gehängt wie bei den Chancen, sodass sie wissenschaftlich nicht zu überspringen ist.

Was hilft gegen diese Nebelwerfertaktik? Um bei der Vielfalt von wissenschaftlichen Resultaten den Überblick zu behalten, bietet es sich an, Metaanalysen heranzuziehen. So bleiben wir nicht auf der Ebene stehen: »Das kann mal so sein oder mal so sein.« Vielmehr werden die Ergebnisse verschiedener Studien zusammengefasst und erhalten umso mehr Gewicht, je sauberer die Wissenschaftler methodisch gearbeitet haben.

»Ich bin ja dabei! Nur wenn das Kind allein vorm Bildschirm sitzt, treten Probleme auf«?

Dieser letzte Einwand ist ein harter Brocken, der sich von zwei Seiten betrachten lässt: Die Medienwirkungsforschung hat sehr gut belegt, dass positive Effekte unterstützt werden, wenn Erwachsene Kinder beim Fernsehen begleiten. Das betrifft zum Beispiel das Lernen durch TV-Sendungen. Ist es also besser, dabei zu sein? Nicht notwendigerweise! Denn es gibt auch Situationen, in denen sich das »Ich bin ja dabei«-Argument in eine gefährliche Rechtfertigungsstrategie verwandelt. Sehr wohl tritt diese Strategie in vielen Familien in Erscheinung: Gemeinsames Fernsehen kann auf zwei problematische Arten geschehen, die sich gehäuft in der familiären Vergangenheit von Menschen finden, die später süchtig nach Computerspielen geworden sind.

Fall 1: Eltern möchten selbst fernsehen oder am Computer spielen – und erlauben ihren Kindern, dabei zu sein.

Fall 2: Um problematische Stimmungen zu verdrängen (z.B. bei Streit), vereint sich die Familie »friedlich« auf dem Sofa vor dem TV-Gerät.

Das Kind übt dabei ein dysfunktionales Nutzungsmuster ein, aber die Eltern wiegen sich auf dem Sofa in falscher Sicherheit. Sie trösten sich mit der Aussage: »Solange wir das Kind vorm Bildschirm nicht allein lassen, ist alles in Ordnung.« So einfach ist es aber eben nicht.

Resümee: Eine Reihe guter Gründe sprechen dafür, kleine Kinder nicht vor Bildschirme zu setzen.

 

Wie aber ist das Argument einzuschätzen, Fernsehen helfe Kindern beim Einschlafen? Das glaubt auch Marcellos Patentante, die seine Eltern in unserer »TINA-Lösung« beruhigt ins Theater schickt und das Kleinkind in den TV-Schlaf »wiegt«. Zum Schlafverhalten von Kleinkindern hat die amerikanische Ärzte-Organisation AAP ebenfalls Stellung bezogen und warnt vor langfristigen negativen Folgen für Gemüt, Verhalten und Lernfähigkeit. Die Forscher stellen fest:

Obwohl Eltern das Fernsehprogramm als beruhigende Einschlafhilfe betrachten, haben einige Sendungen tatsächlich negative Folgen: Die Kinder wehren sich mehr gegen das Zubettgehen, der Zeitpunkt des Einschlafens verzögert sich, es entstehen Ängste vor dem Einschlafen, und die Schlafdauer geht zurück.[23]

 

In einer etwas älteren Studie aus Deutschland kamen Kölner Ärzte zu ganz ähnlichen Ergebnissen[24]. 62 Prozent der 5- bis 6-jährigen Kinder hatten keine Schlafprobleme, aber 38 Prozent zeigten verschiedene Symptome einer Insomnie oder Parasomnie (Formen des gestörten Schlafs), darunter nächtliches Aufwachen (23 Prozent), Albträume (14 Prozent) und Einschlafprobleme (10 Prozent). Unter den Einflussfaktoren für Schlafstörungen dominierte das Fernsehen vor dem Schlaf (57 Prozent), gefolgt vom Fernseher im Kinderzimmer (21 Prozent). Warum das alles nicht auf die leichte Schulter zu nehmen ist, zeigen weitere Beobachtungen der Kölner Studie: »Kinder mit Schlafstörungen haben ein erhöhtes Risiko für Hyperaktivität und seelische Probleme.« Auch die schulische Leistungsfähigkeit werde durch Schlafstörungen beeinträchtigt.

Zu diesen Ergebnissen könnte ein Einwand lauten: Das sind ja nur Studien mit Vorschulkindern! Wie sieht es mit den unter 3-Jährigen aus? Doch zwei Studien (2015 und 2017) zeigen ähnliche Effekte. In der ersten Untersuchung beantworteten mehr als 100 Eltern 1- bis 5-jähriger Kinder die Fragen der Wissenschaftler. Die Auswertung: Zwei Gruppen schnitten in vielen abgefragten Bereichen schlechter ab, nämlich Kinder mit eigenen Bildschirmgeräten im Kinderzimmer sowie Kinder, die vorm Schlafengehen Fernsehen schauten. Ihre Probleme waren kürzere Schlafdauer, größere Einschlafschwierigkeiten, mehr Albträume, mehr Sprechen im Schlaf und mehr Morgenmüdigkeit.[25]

Noch jünger waren Kinder in einer aktuellen Studie aus Großbritannien, nämlich zwischen 3 und 36 Monaten. Hier wurde untersucht, welcher Zusammenhang zwischen Schlaf und Nutzung von Touchscreens besteht. Es zeigten sich dieselben Zusammenhänge wie beim Fernsehen: Je länger die Nutzungsdauer war, desto mehr Schlafstörungen ergaben sich.[26] Die durchschnittliche Zeit vor dem Touchscreen lag bei 25 Minuten (!) pro Tag.

Kein Wunder, dass auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) die gleichen Empfehlungen gibt wie die amerikanischen und österreichischen Experten: »In der letzten Stunde vor dem Schlafengehen sollten Fernsehen oder Videospiele grundsätzlich tabu sein.« Die Begründung: »Gerade in der Kleinkind- und Vorschulzeit, wenn aufgrund der magischen Phase Phantasie und Wirklichkeit in der kindlichen Vorstellung oft noch eins sind, können die Fernsehbilder des Tages abends und nachts lebendig werden und zu Einschlafängsten und Albträumen führen.«[27]

Unterm Strich: Wer kleine Kinder von Bildschirmen fernhält, betreibt keine verstaubte »Bewahrpädagogik«. Im Gegenteil: Er bewahrt die Kleinen vor vielfältigen Risiken, die ihre gesunde Entwicklung gefährden.

Wie könnte es aber Marcellos Eltern gelingen, die Patentante in ihr Boot zu holen, obwohl sie doch so gute Erfahrungen mit Filmen als Einschlafhilfe gemacht hat?

Ideale Lösung

Tatsächlich kam es völlig anders, als in der »TINA-Lösung« dargestellt: Der »Sommernachtstraum« wurde für die Eltern Wirklichkeit, der kleine Marcello blieb noch viele Jahre von »Janoschs Traumstunde« verschont, und seine Eltern erweiterten das Zubettgeh-Ritual durch ein Gutenachtlied – und nicht durch eine Einschlaf-App. Klingt wirklich traumhaft, oder?

Zurück zu unserer Geschichte: Suse bespricht mit ihrem Mann ihre Sorgen und besucht am nächsten Tag Patentante Ulrike. Die Freundinnen spazieren eine Weile durch den Park, Marcello warm eingepackt im Kinderwagen. Da fasst Suse sich ein Herz: »Ulrike, ich habe lange überlegt, wie ich dir das sagen kann, denn du bist eine wunderbare Patentante. Also: Es geht um ›Janoschs Traumstunde‹.« Dann erklärt sie Ulrike, wie viele Gedanken sie und ihr Mann sich schon darüber gemacht hätten, welche Rolle Film und Fernsehen in ihrem Familienleben spielen sollen. »Wir haben das so entschieden: Marcello darf mit uns DVDs gucken, wenn er 5 Jahre alt ist. Das ist der Plan.« Jetzt halte sie es noch für zu früh, Marcello vor einen Fernseher zu setzen. »Würdest du dir zutrauen«, fragt Suse, »eine Schrei-Stunde am Abend auch ohne DVD zu überstehen?«

Ulrike wundert sich, warum ihr das die Freundin nicht gleich am Telefon gesagt hat: »Na klar traue ich mir das auch ohne DVD zu.« Doch Ulrike möchte gern wissen, warum die Freundin den Umgang mit Medien so streng regeln wolle. »Das bisschen Film wird Marcello doch nicht schaden.«

Suse überlegt, ob sie die Patentante mit allen gesammelten Argumenten konfrontieren soll, die sie in Büchern gefunden hat. Sie entscheidet sich dagegen: »Na ja, das sehen die einen so, die anderen so. Meine Schwester hat sehr gute Erfahrungen damit gemacht, bei den Kindern mit Medien erst spät anzufangen, ab einem Alter von 6 Jahren.« Das habe ihr und der Familie viel Stress und Streit erspart – im Vergleich zu anderen Familien. Suse: »Da erlebe ich dauernd dasselbe Gequengel: ›Mama, darf ich fernsehen? Mama, warum muss ich schon ausmachen? Oooch, noch zehn Minuten … Biiitteee …‹«

Sie berichtet Ulrike auch von einer Studie: Wenn Kinder früh mit dem Fernsehen anfangen, protestieren sie später lauter und länger, sobald die Eltern den Apparat ausschalten wollen.[28] »Du kennst mich ja, Ulrike. Ich bin nicht die Größte im Neinsagen. ich habe einfach Sorge, dass es mit dem Fernsehen schnell mehr und mehr wird. Deshalb wollen wir es so ausprobieren, wie es meine Schwester gemacht hat.« Das Gespräch ist fruchtbar: Ulrike lässt sich darauf ein, Marcello ohne die Janosch-DVD in den Schlaf zu bringen.

Der Theatertag ist gekommen. Marcello kann inzwischen etwas besser einschlafen, was die Eltern sehr erleichtert. Suse hat sich inzwischen schlaugemacht, was bei Einschlafproblemen helfen kann, und ein paar gute Tipps auf der Website der BZgA entdeckt: Die Bundeseinrichtung empfiehlt einen ruhigen Raum, keinen Bildschirmkonsum in der Stunde vorm Schlafengehen, tagsüber viel Bewegung an der frischen Luft, früh genug Abendessen, eine feste Zubettgeh-Zeit, ein festes Einschlafritual.

Die meisten Ratschläge hatte Suse schon im Kopf. Doch jetzt beginnt sie, die Zeit an der frischen Luft und das Ritual konsequenter in den Tag einzubauen. Sie liest ihrem Sohn immer aus einem Buch vor, dann singt sie das bekannte Wiegenlied »La-Le-Lu«. Daran beteiligt sich auch ihr Mann, sodass beide Eltern an einem Strang ziehen. Trotzdem schreit der Kleine oft noch eine Viertelstunde, aber damit können die Eltern leben.

Auch Ulrike gelingt es, Marcello mit »La-Le-Lu« statt Janosch in den Schlaf zu begleiten – allerdings nach einer schweißgebadeten Dreiviertelstunde. Deshalb freut sie sich umso mehr, als eine strahlende Suse sie nach dem Theater mit Dank überschüttet. Und: Suses glücklicher Ehemann überreicht ihr noch einen Gutschein für einen Wellness-Nachmittag für zwei Personen. Er erklärt: »Ich dachte, ihr zwei geht gemeinsam dorthin, und ich bringe den Kleinen ins Bett.«

Weitere Lösungen

Eine Schwester, deren Kinder erst mit 6 Jahren fernsehen, Einigkeit bei den Eltern, eine flexible und verständnisvolle Patentante, die auch noch ganz in der Nähe wohnt – in solch idealen Verhältnissen leben nicht alle Eltern mit ihren Kindern.

Viele Familien haben gute Erfahrungen mit der Regel gemacht: Zu Hause gibt es bis zum 6. Geburtstag keine Bildschirmmedien. Diese Regel sollte aber nicht dogmatisch und unflexibel zur Anwendung kommen: Es gibt auch Orte und Zeiten oder besondere Bedingungen, die Alternativlösungen nötig machen.

 

Ausnahmesituationen: Einmal probiert, für immer verführt? Nein, so schnell geht es zum Glück nicht. Damit die Nutzung des Bildschirms nicht zur Regel wird, sollten Eltern dies dem Kind ganz klar kommunizieren und wirklich nur in gut begründeten Ausnahmesituationen auf den Bildschirm als Babysitter zurückgreifen. Also immer dann, wenn Alternativen schlechter wären. Wenn das stressige Kofferpacken vor den großen Ferien ansteht, können Eltern schon mal die Nerven verlieren, wenn ihre Kinder sie nicht in Ruhe einräumen lassen. Da kann es weit besser sein, ohne schlechtes Gewissen eine DVD einzulegen.

 

DVD statt Fernsehprogramm: Läuft bei Verwandten oder Freunden oft der Fernseher, können kritische Eltern bei einem Besuch gezielt DVDs mitbringen. Wenn dann ein TV-Gerät eingeschaltet ist, können sie die Bitte aussprechen, lieber den Film auf einer DVD zu gucken. So konfrontiert das Fernsehen die Kinder nicht mit aggressiver TV-Werbung.

 

»Vorhang zu«: Für jüngere Kinder sind ältere Filme besser geeignet, zum Beispiel aus der Serie »Augsburger Puppenkiste«. Nach 20 Minuten fällt der Vorhang, die Folge ist vorbei. Wenn Kinderfilme schon 20 oder 30 Jahre alt sind, zeichnen sie sich oft durch eine ruhigere Handlung aus. Disneys »Dschungelbuch« weist zum Beispiel halb (!) so schnelle Schnittfolgen auf wie die Filme, die der Unterhaltungskonzern heute in die Kinos bringt.

 

Lieblingsmusik: Muss ein »Betthupferl« wirklich über Bildschirme seinen Weg zum Kind finden? Oft haben Kinder eine Lieblingsmusik, die ihnen auch beim Einschlafen hilft. Wer nicht selbst singen will, kann sich mit einer CD helfen. Auch das Anhören einer solchen Musik kann zum Ritual werden.

 

Berechtigte Ausnahmen: Wir haben jetzt viele Tipps gegeben, wie Kinder mit weniger Bildschirmzeit gesünder aufwachsen. Dabei ist nicht zu vergessen: Einige Kinder haben besondere Bedürfnisse, bei denen digitale Medien entscheidend dazu beitragen, die Lebensqualität zu steigern. Zum Beispiel gibt es für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen die Möglichkeit, eine unterstützte Kommunikation per Bildschirm zu praktizieren (Initiative »Team Autismus«[29]). Es gibt auch Kinder, die sich aufgrund einer Erkrankung im Isolierzimmer aufhalten müssen. Sie können (und sollten) mit Skype den Kontakt zu Eltern und Geschwistern halten.

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Jakob, 3 Jahre

2.Fördert TV-Totalverzicht ungebremsten Konsum?

Feindbild Dogmatismus – wie fröhlich Nichtfernseher wirklich leben

Gefesselt vom Fern seher

Frida ist mit ihrem Ehemann und Sohn Jakob zu Besuch bei der Familie ihrer Freundin Mara. Während das Essen im Ofen gart, nehmen die Erwachsenen in einer gemütlichen Sitzecke Platz, die Kinder beschäftigen sich selbst. Dann ist auf der Terrasse der Tisch zu decken, und die Kinder sollen helfen, Teller und Besteck hinauszutragen.

»Jakob, komm doch mal her!«, ruft Frida freundlich. Keine Reaktion. »Jakob, hallo, was machst du denn?« Nichts regt sich. Die Blicke der Erwachsenen wandern ins Wohnzimmer. Der Fernseher läuft, ein Kinderfilm auf KiKA. Ab und zu schauen die beiden Kinder der Gastgeber zum Gerät, ansonsten widmen sie sich eifrig ihren Bauklötzen. Der Turm aus Holz wächst bereits ordentlich in die Höhe. Und Jakob? Er steht still, einen Meter vom Fernseher entfernt, und starrt schweigend auf den Bildschirm. Keinen einzigen Bauklotz hat das Kind bisher angefasst. »Hey, Jakob!«, ruft seine Mutter wieder: »Komm doch mal rüber in die Küche!« Keine Reaktion.

Dazu meint Maras Ehemann: »Frida, da seht ihr mal, was passiert, wenn ihr das Fernsehen so komplett tabuisiert. Euer Jakob gerät regelrecht in Trance vor dem Kasten.« – »Wir wollten bisher nicht, dass Jakob Filme guckt«, antwortet Frida, »weil wir viel darüber gelesen haben, wie schädlich früher Bildschirmkonsum ist.«

Das kann Mara so nicht stehen lassen, sie legt richtig los: »Durch ein Totalverbot macht ihr Fernsehen nur doppelt so interessant für euren Sohn. Das ist wie mit Bonbons. Ein anderes Kind durfte zu Hause nie Süßes essen, das wurde regelrecht verteufelt. Bei uns hat es dann wahllos Kuchen, Bonbons und Schokolade in sich hineingestopft.« Maras Schlussfolgerung: »Genauso ist das mit dem Fernsehen: Unsere Kinder haben gelernt, gut damit umzugehen. Euer Jakob offensichtlich nicht. Es fällt mir echt schwer, mit anzusehen, was ihr eurem Sohn da antut!«

Diese Sätze bringen Frida und ihren Mann zum Grübeln …

TINA-Lösung: Wie es alle machen (sollen)

Bei ihren Freunden überdenken Jakobs Eltern ihre bisherige Position. Sie erkennen, welche Faszination die bewegten TV-Bilder auf ihren Sohn ausüben – und lassen ihn erst einmal vor dem Fernseher stehen, damit er die neue Lebenssituation genießen kann. Vielleicht war der restriktive Umgang mit Medien wirklich der falsche Weg?