Hexengau - C. Hinterlechner - E-Book

Hexengau E-Book

C. Hinterlechner

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Beschreibung

Der Pongau zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es ist Winter und ein achtjähriges Mädchen ist seit Stunden abgängig. Die verzweifelte Suche führt in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele und deckt schreckliche Begebenheiten auf. Eine Reise, dunkler als jede Seele, schwärzer als der Wald samt seiner finstersten Gesellen.

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Seitenzahl: 187

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C. Hinterlechner

 

Hexengau

 

Roman

 

C. Hinterlechner im Internet:

www.c-hinterlechner.at

1. Auflage (E-Book und Print-on-demand), 2023

© 2023 Christian Hinterlechner

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags und des Autors wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Christoph Stranger

Lektorat & Satz: Stefan Stranger

ISBN: 978-3-9505203-2-3

Ah Schattn im Woid, du gspiast sein Frost.

Alloa kämpfst gegen dei verdommte Ongst.

Doch ois, wos du duasd, is komplett umsunst,

weil egal, wos passiert, du sowieso nie wiederkummst.

IAgatha

Der Schnee knirschte unter seinen schweren Schritten, die er nach und nach in den Boden setzte. Obwohl schon so viele Jahre vergangen waren, schmerzte der linke Fuß immer noch etwas. Wahrscheinlich würde er dieses Leid für immer ertragen müssen. Dieses Jahr hatte der Winter bereits sehr früh Einzug gehalten. Der Schnee lag sogar hier im Wald gut einen halben Meter hoch. Agatha war jetzt schon seit drei Stunden abgängig. Es war absolut untypisch für das achtjährige Mädchen, dass sie nach der Schule nicht pünktlich nach Hause gekommen war. Natürlich plante man als Eltern eine gewisse Verzögerung mit ein, immerhin hatte der viele Schnee einen großen Reiz auf die Kleinen, doch als die Dunkelheit einsetzte, machte Leopold sich auf die Suche nach seiner Tochter. Er konnte die vorwurfsvollen Blicke seiner Schwiegereltern im Nacken spüren, so war es doch seine Idee gewesen, die Kleine in den ersten Schuljahren in die „normale“ Dorfschule von Bischofshofen zu schicken. Er wollte, dass sie bereits in ihren jungen Jahren lernt, was es bedeutet, wenn man nicht so viel besitzt, wenn man sich nicht immer nur auf seine Eltern verlassen kann und auch in diesem Alter schon eine gewisse Spur an Selbstständigkeit mitbringen muss. Mit dieser Meinung hatte er sich – trotz heftigem Widerstand – durchgesetzt, gleichzeitig aber versprechen müssen, dass sie nach der Volksschule in ein Internat für höher gestellte Töchter gehen sollte.

Neben dem vielen Schnee war es für Anfang Dezember verdammt kalt. Die vielen kleinen Schneekristalle in der Luft ließen seine Wangen brennen, auch seinen linken Lungenflügel konnte er deutlich spüren. Wegen des verdammten Flügels war er überhaupt erst nach Österreich gekommen. Bis heute war es ihm peinlich, dass die Kugel, die ihn damals so schwer verletzte, aus seiner eigenen Waffe stammte. Es war doch nur eine Übung gewesen, ein Schaugefecht. Viele Male hatte er, während seiner Offiziersausbildung beim deutschen Heer, dieses Manöver durchgeführt, aber irgendetwas ging an diesem Tage schief und er durchschoss seinen linken Oberschenkel und eben auch die Lunge. Heilte zunächst der Fuß relativ schnell, so bereitete die Lunge massive Schwierigkeiten. Erst sein Vater, selbst ein hochrangiger Offizier, schickte ihn schließlich ins österreichische Kaiserreich nach Bad Gastein. Hier befand sich eine weithin bekannte Kuranlage, die mit der neu entdeckten Radium-Emanation große Erfolge feierte. Auch Leopold spürte bereits nach wenigen Tagen eine deutliche Verbesserung seines Allgemeinzustandes. Diese Verbesserung konnte aber auch mit dem Kennenlernen einer unglaublichen Schönheit in Zusammenhang stehen und weniger mit der Kurtherapie.

Anna war zarte 18 Jahre alt, als er sie zum ersten Mal sah. Ihre weiße Haut strahlte eine unglaubliche Intensität aus, die nur von ihrer unbeschreiblichen Schönheit übertroffen wurde. Als „Liebe auf den ersten Blick“ bezeichnete er gerne dieses Kennenlernen, auch Anna berichtete ihrerseits, dass der stattliche Anblick von Leopold ihr sofort den Atem raubte. Sie war wegen Schwindsucht in Behandlung und die Kur sollte sie wieder zu Kräften kommen lassen. Da sich beide sofort ineinander verliebten, war der Rest keine allzu große Prozedur. Als Anna ihren Leopold schon nach kurzer Zeit ihren Eltern vorstellte, waren sie mehr als begeistert. Ein Offiziersanwärter aus gutem Hause, was wünschte man sich mehr für das eigene Kind. Auch Leopold passte die ganze Sache gut ins Bild, denn eine Rückkehr zum Heer konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Die Scham war einfach zu groß und weil Annas Vater ohnehin einen geeigneten Nachfolger für seine hervorragend laufende Schneiderei in Sankt Johann suchte, stand einer neuen Zukunft nichts im Wege. Natürlich fragte seine Mutter, ob er völlig verrückt sei, solch eine wichtige Entscheidung so überstürzt zu treffen, aber sein Vater verstand die Handlung des Sohnes nur zu gut. Er würde in der Truppe immer der „Selbstschütze“ bleiben und ein solcher Spitzname machte sich in der Karriere als Offizier miserabel. Obwohl Leopold keinen blassen Schimmer von der Schneiderei hatte, kompensierte er dieses Defizit mit seiner Ausstrahlung und einer gehörigen Portion Gespür für das Geschäft. Auch seine großen dunklen Augen gepaart mit einem 185 cm großen durchtrainierten Körper verhalfen dazu, dass der Verkauf mit seiner Hilfe noch mehr florierte als zuvor. Die Frauen der Umgebung stürmten geradezu die Schneiderei. Zunächst wohnte das junge Liebespaar bei den Schwiegereltern, die eine große Wohnung über ihrem Geschäft bewohnten, aber als sich der Umsatz innerhalb einiger Monate verdoppelte, war Schwiegervater Franz so zufrieden, dass er den beiden ein Häuschen mit Stall in Bischofshofen kaufte. Zwar hatte Leopold jetzt einen weiteren Weg in die Arbeit, aber er genoss den morgendlichen Ausritt zusammen mit seinem Pferd durch die wunderschöne Landschaft des Pongauer Salzachtales. Nach gut einem Jahr, kurz nach der großen Hochzeit, wurde Anna schwanger. Leopold, der mittlerweile seinen dreißigsten Geburtstag hinter sich gebracht hatte, war mehr als nur stolz als er nach anstrengenden neun Monaten seine kleine Agatha in den Händen halten konnte. Das knuffig kleine Wesen war sein ganzer Stolz und obwohl Anna immer wieder mit ihrer chronischen Schwindsucht kämpfte, entwickelte sich der kleine Wirbelwind prächtig.

Leopold erhöhte seine Geschwindigkeit. Er hatte sein Pferd im Stall gelassen und die schnellere Route durch den Wald gewählt. Die Sorgen um sein Kind zerfraßen ihn innerlich. Schließlich hielt er vor der kleinen hölzernen Schule, die sich etwas außerhalb von Bischofshofen befand. Das Gebäude stand alleine am Waldrand, die Fenster glotzten ihn wie schwarze Löcher durchdringend an. Alles wirkte verlassen, nur der kalte Wind rüttelte an den hölzernen Balken, die leise vor sich hin stöhnten. Es war sofort klar, dass sich hier niemand mehr befand und Leopold suchte mit verzweifeltem Blick die Umgebung ab. Am Boden befanden sich hunderte kleine Fußabdrücke im Schnee, welche die spielenden Kinder hinterlassen hatten. Nicht wissend, wo er anfangen sollte, suchte er hinter den Gebäuden nach Spuren. Vielleicht fand er dort einen Anhaltspunkt. Zunächst aber rief er mehrmals nach Agatha, die Rufe verhallten jedoch unbeantwortet zwischen den Bäumen. Etwas verloren betrachtete er die verschiedenen Abdrücke im Schnee genauer, als ihm auffiel, dass sich zwei Fußspuren von den anderen absonderten und in den Wald hineinführten. Zwei Kinder also hatten sich von der Gruppe getrennt. Etwas Hoffnung keimte in ihm auf.

„Agatha!“, schrie er wieder laut, doch eine Antwort blieb aus.

Mit schnellen Schritten folgte er den Kinderspuren in den Wald, als er plötzlich verdutzt stehen blieb. Vor ihm tauchte wie aus dem Nichts ein Mann zwischen den Bäumen auf. Eindeutig ein Bauer, wie er unschwer an dessen Kleidung erkennen konnte. Sein Gesicht war wettergegerbt und tiefe Furchen zogen sich quer über die Stirn. Trotzdem schätzte er, dass er etwa gleich alt wie er selbst sein musste. Auch der Bauer wirkte überrascht, grüßte aber sofort als er Leopold sah.

„Grüß Gott, der Herr.“

„Guten Tag.“

Beide glotzten sich für einen Moment lang an.

„Sie müssen der Vater von der Agatha sein.“

Leopold hob überrascht seine Augenbrauen.

„Woher wissen Sie das?“

Über das Gesicht des Bauern huschte ein leichtes Grinsen.

„Es gibt nur wenige Männer mit deutschem Akzent hier in der Gegend.“

Jetzt musste auch er etwas lachen. Natürlich. In der ganzen Aufregung hatte er gar nicht daran gedacht, obwohl er doch hunderte Male in der Woche mit diesem Umstand konfrontiert wurde. Er selbst bemerkte seinen Sprachunterschied kaum, aber natürlich war es für die Einheimischen sofort hörbar. Der eigenwillige Dialekt der Pongauer hatte ihm zunächst einige Schwierigkeiten bereitet, aber mit der Zeit waren diese Probleme immer weniger geworden. Mittlerweile verstand er die meisten Ausdrücke ganz gut, obwohl es trotzdem immer wieder zu Missverständnissen kam.

„Ich suche meinen kleinen Elias. Er ist nicht wie gewohnt nach Hause gekommen“, sagte der Bauer.

„Meine Agatha auch nicht.“

Beide starrten sich wieder für einen Moment an. Leopold zeigte schließlich auf die Spuren im Schnee.

„Zwei Kinder sind hier in den Wald gegangen.“

Der Bauer kniete sich sofort auf den Boden und begutachtete die Abdrücke.

„Eines hatte bessere Schuhe als das andere“, bemerkte er.

Leopold dachte an all die Schuhe, die sein kleines Mädchen besaß. Sie hatte heute wahrscheinlich die dicken, guten Winterstiefel angezogen. Der kleine Bauernjunge hatte sicherlich nicht annähernd den gleichen Zugang zu solch einer Qualität. Es konnten also tatsächlich die Spuren der zwei Abgängigen sein.

„Das könnte passen. Kommen Sie. Suchen wir gemeinsam.“

Er streckte dem Bauern seine Hand entgegen, der sie überrascht nahm und schüttelte.

„Leopold“, stellte er sich dem Bauern vor.

„Jakob.“

Nach dieser kurzen Vorstellung stapften sie mit schweren Schritten durch den Schnee, der, je tiefer sie in den Wald vordrangen, immer fester und eisiger wurde. Zwar konnte man dadurch etwas leichter gehen, aber die Spuren am Boden schienen durch den harten Untergrund immer weniger erkenntlich zu werden. Schließlich, sie waren schon eine ganze Weile unterwegs, verschwanden die Abdrücke komplett. Sie schienen wie von Luft aufgelöst und obwohl sie sich in alle Himmelsrichtungen umsahen, konnten sie keine weiteren entdecken. Zusätzlich zu diesem äußerst negativen Umstand verschlechterte sich das Wetter von Minute zu Minute. Ein wahrer Sturm hatte sich über ihren Köpfen zusammengebraut und je heftiger die Böen gegen die Bäume drückten, desto größer waren die Schneemengen, die jetzt auf sie niederprasselten.

„Es wird zu gefährlich. Wir müssen aus dem Wald raus!“, rief Jakob.

Widerwillig folgte Leopold dem Bauern, aber als sie zurück beim Schulgebäude unter dem Vordach Schutz suchten, äußerte er sofort seinen Unmut.

„Mir ist das Wetter scheißegal. Meine kleine Agatha irrt hier irgendwo durch die Gegend. Sie wird bei diesem Sturm erfrieren.“

Wütend wollte er wieder losmarschieren, aber Jakob hielt ihn zurück.

„Warte, das macht in der Dunkelheit keinen Sinn. Glaube mir, wir werden sie unter diesen Umständen niemals finden. Ihre Spuren sind längst durch den Sturm verwischt und unsere Rufe dringen durch den Lärm keine drei Meter weit. Mein Elias weiß, was er in einer solchen Situation zu tun hat. Er hat gelernt, wie man im Wald überleben kann. Er wird für die beiden einen sicheren Platz gefunden haben, da bin ich überzeugt. Komm, mein Hof ist nur eine knappe halbe Stunde von hier entfernt. Lass uns in der Stube aufwärmen. Dort können wir auch einen Plan schmieden, wie es weitergehen soll.“

Leopold schnaubte widerwillig durch die Nase. Er wusste nur zu gut, dass der Bauer recht hatte, doch der Gedanke, dass sein Mädchen alleine oder im besten Falle in Begleitung des kleinen Elias irgendwo im Wald festsaß, raubte ihm fast den Verstand.

Mit großer Überwindung folgte er Jakob durch das dichte Schneetreiben. Der Sturm hatte weiter an Stärke zugelegt und nur mit Mühe bewegten sich die beiden in Richtung des Hofes. Als sie ihn endlich nach gut einer Dreiviertelstunde erreichten, wehte der Wind so heftig, dass ein Weiterkommen fast unmöglich erschien. Kurz bevor er das Bauernhaus betrat, blickte Leopold noch einmal zurück in die Dunkelheit. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass die Kinder im Wald mehr Schutz vor dem Wetter hatten und dass sein Mädchen wahrscheinlich nicht alleine war, sondern einen kleinen, aber erfahrenen Begleiter dabeihatte.

IIDer Lehenhof

Als Leopold sich durch die kleine Tür des alten Bauernhauses zwängte, schlug ihm sofort der modrige Duft alter Holzbalken entgegen. Das Gebäude musste schon einige Hundert Jahre alt sein und so sah es auch aus. Im Inneren herrschte eine unbehagliche Dunkelheit, nur der Schein einer Kerze erhellte den engen Gang mit seinem knorrigen Holzboden. Als die beiden die Küche betraten, wurden sie von einigen überraschten Gesichtern begrüßt. Es befanden sich drei Frauen, zwei von ihnen etwa Mitte zwanzig, eine schon älter und ein Mann, etwa Anfang vierzig, im Raum. Zunächst brachte niemand von ihnen ein Wort heraus, zu groß war die Überraschung, aber schließlich raunte die ältere der drei Frauen den dümmlich dreinblickenden Mann an.

„Steh auf, du Trottel, und lass den feinen Herrn sich setzen.“

Der Angesprochene schoss, wie von einer Tarantel gestochen, auf und verschwand fluchtartig durch die Tür. Leopold und Jakob ließen sich auf die beiden freien Stühle nieder. Bevor irgendwer etwas sagen konnte, standen auch schon zwei Krüge Bier auf dem Tisch. Eine der jungen Frauen sah Jakob mit traurigem Blick an.

„Nichts?“, fragte sie.

„Nichts, Zita, nur Spuren im Schnee“, antwortete Jakob.

Die Ältere setzte sich ebenfalls zum Tisch.

„Nun, Jakob, du wirst uns doch nicht unseren Gast vorenthalten? Wie kommen wir bei diesem Dreckswetter zu solch einer Ehre?“

Leopold musterte sie von oben bis unten. Ihr Körperbau und ihr zerfurchtes Gesicht waren das einer typischen Bäuerin, wie es sie zuhauf in der Gegend gab. Sie aber wirkte zusätzlich noch äußerst robust und dominant. Ihr stechender Blick ließ ihn sogar leicht erschaudern.

„Das ist der Herr Leopold, Mutter. Seine Tochter Agatha ist auch verschwunden. Wir wollen uns beraten, wie wir weiter vorgehen wollen.“

„Ah, das ist ja tragisch, aber auch irgendwie beruhigend. Wahrscheinlich haben sich die beiden Bälger beim Spielen im Wald verirrt und tauchen morgen wieder auf. Elias hat ja schon einiges an Erfahrung, wenn es um das alleine Übernachten im Wald geht.“

Sie zwinkerte Zita zu, die das Eheweib von Jakob zu sein schien, doch diese schenkte ihr nur einen vernichtenden Blick. Scheinbar schien keine allzu große Sympathie zwischen den beiden zu herrschen, denn Jakob lenkte schnell vom Thema ab.

„Wir werden in Kürze wieder aufbrechen, Mutter. Wo auch immer die Kinder sind, sie sollen die Nacht nicht im Wald verbringen müssen.“

Sie stand mit einem Kopfschütteln auf und schob den dreckigen Fenstervorhang beiseite.

„Du Narr, sieh nach draußen. Heute werdet ihr nirgends mehr hingehen. Solch einen Sturm habe ich seit Jahren nicht mehr erlebt. Mehr als Schnee und Kälte werdet ihr in dieser Finsternis nicht finden. Außer vielleicht selbst noch den Tod.“

Auch Leopold blickte verzagt aus dem Fenster. Sie hatte recht. Draußen hatte sich der Sturm in einen regelrechten Orkan verwandelt. Sinnlos, so noch einen Rettungsversuch zu starten. Er setzte sich wieder auf den Stuhl und vergrub sein Gesicht zwischen den Händen. Während sein kleines Mädchen da draußen wahrscheinlich um ihr Leben kämpfte, hockte er hier bei diesen Bauern in der warmen Stube. Trotzig stampfte er mit dem Fuß auf.

„Mir egal, was ihr hier macht. Ich werde mein Kind suchen gehen.“

Er erhob sich und wollte schon aus der Türe treten als ihn die zweite der jungen Frauen sanft an der Schulter berührte. Sie hatte noch kein einziges Wort gesprochen, aber jetzt flüsterte sie ihm ins Ohr.

„Setz‘ dich wieder, schöner Mann. Da draußen wartet heute nur der Tod auf dich. Dein Mädchen ist bei unserem Elias gut aufgehoben.“

Leopold wirkte plötzlich wie hypnotisiert. Die Stimme der Frau hallte in seinem gesamten Kopf nach und als er in ihre wunderschönen kastanienbraunen Augen blickte, begannen seine Knie leicht zu zittern. Sie hatte eine unglaubliche Ausstrahlung und der Duft, der sie umgab, schien ihn komplett zu umhüllen. Als sie ihn dann noch mit ihren weichen Händen am Arm nahm, ließ er sich widerstandslos zurück zum Tisch führen.

„Unsere Resi hat schlagende Argumente“, lachte die Alte hämisch und stellte ihm ein weiteres Bier auf den Tisch.

Der viele Alkohol wirkte schnell beruhigend, so berieten die beiden Männer, wie sie morgen Früh weitermachen wollten. Leopold konnte sich aber nur schwer konzentrieren, verstohlen musste er mehrmals zu Resi blicken, die jetzt in der Küche stand und das Geschirr abwusch. Innerlich schämte er sich etwas dafür, immerhin war er verheiratet. Doch ihre glückliche Beziehung hatte in letzter Zeit eine schwierige Phase beschritten. Die Erkrankung von Anna hatte sich wieder verschlimmert. Immer wieder musste sie ins Krankenhaus eingeliefert werden und wenn sie einmal doch zu Hause war, kam sie vor Schwäche nicht aus dem Bett. Leopold wusste, dass sie ohne seine Hilfe verloren war. Er liebte sie abgöttisch, trotzdem fühlte er sich tief in seinem Inneren oft allein. Er sehnte sich nach dem Körper seiner Frau, denn das gemeinsame Liebesspiel hatte ihm immer viel bedeutet. Jetzt aber war meistens nur ein flüchtiger Kuss möglich und wenn es ganz bitter kam, musste er seine Frau von Kot und Urin befreien. Im Moment aber stand diese junge starke Frau vor ihm und irgendetwas an ihr schien ihn magisch anzuziehen. Während er sie still beobachtete, fiel ihm auf, dass die alte Bäurin, immer wenn sie an Resi vorbeiging, leicht mit der Hand über ihr Gesäß strich. Ein seltsames Verhalten, dachte er bei sich, schien doch Resi aufgrund ihrer einfachen Kleidung nur die hiesige Magd zu sein. Doch er konnte sich auch täuschen, darum zwang er seine Aufmerksamkeit wieder auf Jakob, der sich immer weiter in seinen Gedanken verlor und versuchte einen Plan zu schmieden.

„Morgen, gleich wenn es hell ist, werden wir wieder in den Wald gehen. Sollten wir bis Mittag die beiden nicht finden, werde ich die Gendarmerie um Hilfe bitten.“

Die Alte schnaufte verächtlich.

„Diese Arschlöcher sind ja noch unfähiger als jeder Dorftrottel“, polterte sie.

„Filomene!“, erboste sich Zita.

Die Alte hob die Augenbrauen und beugte sich dicht zu ihr hinunter.

„In meinem Haus, Mädel, sage ich, was ich will. Hast du mich verstanden.“

Zita senkte den Blick. Filomene schien in diesem Haus eindeutig das Zepter zu führen. Wieder wunderte sich Leopold, hatte doch in einem traditionellen Bauernhaus doch normalerweise der Bauer das Sagen. Er hatte sich schon gefragt, wo dieser abgeblieben war, erst jetzt fiel ihm das kleine Sterbebild auf, das etwas versteckt, zwischen dreckigen verdorrten Blumen, in der Ecke stand. Sie war also schon Witwe und hatte deshalb die Herrschaft am Hof übernommen. Jakob, das war mehr als ersichtlich, war zu schwach, um sich gegen seine Mutter aufzubäumen. Doch Leopold wollte sich nicht näher mit den privaten Begebenheiten der Bauersleute beschäftigen. Obwohl er nicht wusste, wie er die lange Zeit bis morgen, ohne wahnsinnig zu werden, überbrücken sollte, stimmte er dem Vorschlag von Jakob zu. Um sich abzulenken, trank er noch einige Gläser Bier und Jakob erzählte ihm inzwischen die Geschichte des Hofes.

Der Lehenhof war ein sogenannter Erbhof, also bereits seit über zweihundert Jahren in direktem Besitz der Familie. Wahrscheinlich führte die Ahnenreihe noch viel weiter in die Vergangenheit zurück. Seit jeher war er beliebt bei den Knechten und Mägden, die oft jahrelang blieben. Maria Lichtmess, der traditionelle Tag, an dem die Knechte ihren Arbeitgeber wechseln konnten, wurde daher oft als großes Fest gefeiert und genau für dieses Fest war der Lehenhof auch heute noch weithin bekannt. Leider war im vorletzten Sommer der Bauer bei der morgendlichen Stallarbeit von einem Stier mit den Hörnern aufgespießt worden, darum hatte Jakob den Hof bereits früher als gedacht übernehmen müssen. Aber es lief einigermaßen gut und man war zufrieden. Leopold war froh über das belanglose Geplapper des Bauern, so musste er nicht dauernd an Agatha denken oder an seine Frau samt Schwiegereltern, die zu Hause sicherlich schon ungeduldig auf Nachrichten von ihm warteten. Schließlich, es war schon weit nach Mitternacht, führte Resi ihn in den ersten Stock des Hauses, wo sie ihm eine kleine Kammer für die Nacht hergerichtet hatte. Immer noch war er von ihrer Schönheit verzaubert und ihr ganz eigentümlicher Geruch zog ihn weiterhin magisch an. Nachdem sie sich für die Nacht verabschiedet hatte, berührte sie kurz seine Hand. Ein warmer Schauer lief ihm dabei über den Rücken.

Sie sah ihm tief in die Augen.

„Schlaf gut, morgen musst du bei Kräften sein.“