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Rouen 1347. Während die Flammen der Scheiterhaufen in ganz Europa gen Himmel lodern, wartet die Korbflechterin Anne Langlois im Hexenturm von Rouen auf ihre Verurteilung. Nur der junge Dominikanermönch Raphael glaubt an ihre Unschuld. Aber seine Bemühungen sind vergebens - gegen den Inquisitor Henri le Brasse verliert er den Kampf um Annes Leben. Als er selbst in das Visier des Hexenjägers gerät, beginnt eine abenteuerliche Flucht durchs ganze Land nach Avignon. Dort will Raphael den Papst von Henris Machenschaften in Kenntnis setzen. Doch die Verfolger sind ihm dicht auf den Fersen. Und Raphael ahnt den Grund: Er weiß als Einziger, warum Anne in Wahrheit sterben musste ...
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Seitenzahl: 599
Veröffentlichungsjahr: 2013
Stefan Fandrey
HEXENGERICHT
Historischer Roman
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG erschienenen Werkes
Lübbe Digital in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG
Originalausgabe
Copyright © 2006 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
Einbandgestaltung: Bianca Sebastian
Titelbild: © Chasseriau/Artothek
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-8387-2009-8
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Für Julia
In Gedenken an meine Mutter Hannelore (1947–2001)
Tiefste Finsternis. Die schwärzeste Nacht war gleißendes Feuer gegen diesen dunklen, kalten Ort. Und still war es. Stiller als auf einem Totenacker. Selbst die Ratten wagten sich nicht hierher. Als wäre dies der einzige Winkel auf Erden, den Gott in seinem siebentägigen Werk mit Leben zu füllen vergessen hatte.
Plötzlich wurde es Licht. Es fiel als dünner Strahl von oben auf den kalten Boden. Dann ertönten Schritte. Und mit den Schritten kam mehr Licht. Das Klackern von Sandalen erfüllte die Gänge und Hallen. Die Mönche entzündeten Fackeln an den Wänden, und mit der Stille verschwand auch die Dunkelheit. Immer weiter drang das Licht vor, bis alle Schatten aus den Nischen verschwanden.
Niemand sprach ein Wort. Alle hatten ihre Aufgaben zu erfüllen. Einige schleppten schwere Säcke durch die Gänge in Vorratskammern, andere trugen Reliquien und Statuen durch die Räume. Aus verborgenen Kammern kamen sie mit Skulpturen und Büsten aus purem Gold, die hässliche Fratzen zeigten.
Nachdem sie ihr Werk vollbracht hatten, sammelten sich die Mönche in einem großen Saal. Ein halbes Dutzend Stufen führte in der Mitte zu einer ovalen Empore aus weißem Marmor. An der Längsseite stand ein hoher Altar aus tiefschwarzem Lydit. Vorn am Altar prangte die Fratze eines goldfarbenen Dämons. Die Wände waren reich mit biblischen Szenen und Bildern des Weltenendes bemalt.
Die Mönche standen mit verschränkten Händen beieinander und beteten lautlos. Da begann einer von ihnen einen Choral anzustimmen, und seine Mitbrüder fielen in den Singsang ein.
Dann erschienen die Priesterinnen. Die schlanken Körper waren in weiße Gewänder gehüllt, die Schädel kahl geschoren. In einer stillen Prozession stellten sie sich neben die Mönche. Kaum hatte die Letzte unter ihnen ihren Platz gefunden, stimmten auch sie in den Choral ein.
Schließlich verstummten sie, und der älteste Mönch unter ihnen sprach Verse, die die anderen singend wiederholten.
Darauf öffnete sich eine Tür hinter dem Altar. Eine schwarz gekleidete Gestalt mit verhülltem Gesicht betrat den Saal. Sie stieg die Stufen hoch und trat an den Altar. Sie sah im Raum umher, nickte und nahm mit beiden Händen den Schleier ab. Zum Vorschein kam das Gesicht einer jungen Frau mit großen Augen und dunklem, lockigem Haar, das ihr bis über die Schultern reichte. Die Mönche und Priesterinnen fielen auf die Knie.
Die dunkle Priesterin hob beschwörend die Hände und rief: »Dich rufe ich an, den Ungeborenen. Dich, der die Erde und den Himmel erschuf. Dich, der die Nacht und den Tag erschuf. Dich, der die Dunkelheit und das Licht erschuf.«
Auch die Mönche und Priesterinnen hoben die Hände. »O, Adu en I Ba Ninib!«, sangen sie.
»Du«, fuhr die Priesterin fort, »hast zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten unterschieden. Du hast das Weibliche und das Männliche geschaffen. Du hast den Samen und die Frucht hervorgebracht. Du hast die Menschen geformt, dass sie einander lieben und dass sie einander hassen.«
»O, Adu en I Ba Ninib!«, sangen die Mönche und Priesterinnen.
Die Stimme der Priesterin wurde lauter. »Höre mich, denn ich bin der Engel von Osoronophris. Ich rufe Dich an, den schrecklichen und unsichtbaren Gott, der im leeren Platze des Geistes wohnt. Komme und wohne uns bei an diesem Tage der wirbelnden Luft und des brausenden Feuers. Eile herbei und segne Deinen obersten Diener.«
Nun sangen nur die Mönche: »Qu-u imtana.«
Die Priesterinnen antworteten: »Allu-u pi-ia.«
In diesem Augenblick öffnete sich wieder die Tür hinter dem Altar. Ein Mann in glänzend schwarzer Robe trat aus der Dunkelheit. Sein schwarzes Haar war schütter, und auf dem Hinterkopf trug er die Tonsur der Mönche. Seine Nase war lang; die kleinen dunklen Augen lagen tief in den Höhlen. Kein Muskel in dem hageren Gesicht regte sich. Wortlos ging er zu der Priesterin am Altar. Kurz trafen sich ihre Blicke, dann kniete er vor ihr nieder. Sie nahm eine schwarze Tiara aus einer Nische des Altars und hob sie über den Kopf des Mönchs. »Geist des Großen Planeten«, rief sie, »erinnere Dich! Gott des Sieges über die dunklen Engel, erinnere Dich. Herr all der Lande, erinnere Dich! Überwältiger der Alten, erinnere Dich! Kenner der Geheimnisse aller Dinge, erinnere Dich! Gehörnter der Stille, erinnere Dich!«
»Ninib ia duk Marduk!«, sangen die Versammelten.
»Im Namen des zwischen Dir und der Rasse der Menschen geschlossenen Pakts«, fuhr die Priesterin fort, »rufe ich Dich! Höre und erinnere Dich! Segne in Deinem Namen diesen Mann! Auf dass er Dein oberster Priester und geringster Diener zugleich sei! Führe und schütze ihn auf seinen Wegen! Und strafe ihn, wenn er sich Deiner unwürdig erweist!« Mit diesen Worten setzte sie die Tiara auf das Haupt des Mönchs. »Erhebe dich, Sohn der flammenden Scheibe des Anu! Erhebe dich, Abkömmling der goldenen Waffe des Marduk! Erhebe dich, Bewahrer der Wahrheit!«
Langsam stand er auf. Entrückt blickte er die Priesterin an. Auch die Priesterinnen und Mönche im Saal erhoben sich.
Erneut griff die Priesterin in eine Nische des Altars und holte drei Rollen aus Ziegenleder heraus, die an den Rändern die Abnutzung von Jahrhunderten zeigten. Sogleich warfen sich die Mönche und Priesterinnen erneut auf den weißen Marmor. Feierlich überreichte sie die Rollen. »Auf dass du unsere Gemeinde auf ihrem Pfade weiterführst und das Geheimnis vor den Verrätern beschützt. So wie es viele vor dir getan haben und viele nach dir tun werden.«
Der schwarze Mönch nahm die Rollen behutsam entgegen. Er wandte sich seiner Gemeinde zu und hielt die Rollen hoch. »Wendet eure Blicke auf die Wahrheit!«, rief er. »Kein Zauber soll euch hindern! Kein Spruch euch binden! Kein Gericht soll euch richten! Kein Kerker euch schinden! Nun geht und verstreut die Speise des Lebens. Geht und versprengt das Wasser des Lebens. Geht mit der Wahrheit im Herzen!«
»Marzas zin kanpa!«, antwortete die Gemeinde ihrem neuen Abt.
Der Mönch wandte sich der Priesterin zu. Ein kaltes Lächeln huschte über seine Lippen. Er legte die Rollen auf den Altar, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Er war am Ziel seiner Wünsche …
Das Land, in dem dies geschah, hieß Frankreich. Man schrieb das Jahr der Menschwerdung des Herrn 1331.
Sechzehn Jahre später.
»Bruder Raphael – wach auf, Bruder.«
Das sanfte Rütteln an seiner Schulter riss Raphael aus einem tiefen Traum. Schlaftrunken öffnete er die Augen und erblickte über sich Bruder Brunos faltiges Gesicht. »Habe ich etwa verschlafen, Bruder?«, fragte er.
»Nein, nein«, sagte der alte Mönch. »Wir haben die Nachricht bekommen, dass Bruder Henri früher eintrifft als erwartet. Es bleibt nicht einmal Zeit für das Morgengebet. Der gesamte Konvent versammelt sich in diesem Moment vor den Toren des Klosters.«
»Ich verstehe«, murmelte Raphael. »Ich komme sofort.«
Bruder Bruno verließ Raphaels Schlafzelle.
Der Mond schien durch ein kleines Fenster in den schmalen Raum. Selbst die Sonne ist noch nicht erwacht, dachte Raphael. Er gähnte, fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht und stand auf. Auf einem Tisch standen eine Karaffe mit Wasser und eine Schale aus Ton, in die er das Wasser goss. Er fröstelte. Es war Herbst, doch die herrschende Kälte ließ bereits den kommenden Winter ahnen.
»Bruder Henri«, flüsterte Raphael. Henri le Brasse sollte ihn als Prior des Dominikaner-Klosters St. Albert bei Rouen ablösen. Nachdem der letzte Prior, Bruder Michel, im Frühjahr gestorben war, hatte der Konvent ihn, Raphael, zum Prior gewählt. So lange, bis der Generalmagister des Ordens aus der fernen römischen Abtei Santa Sabina einen Nachfolger für Bruder Michel vorschlug. Seine Wahl war auf Henri le Brasse gefallen. Ein Dominikaner aus Carcassonne, der viele Jahre im Palast des Papstes in Avignon beschäftigt gewesen war. Obgleich Bruder Henri offiziell von den Mönchen des Klosters zum Prior gewählt werden musste, stand der Ausgang der Wahl fest. Es gab ohnehin keine Gegenkandidaten – und Raphael war der Letzte, der dieses Amt anstrebte. Seine Wahl zum Prior auf Zeit hatte, obwohl eine Ehre für ihn angesichts seines noch jungen Alters, stets eine Last für ihn bedeutet. Viel lieber widmete er seine Zeit der Erforschung und Übersetzung alter Schriften im Scriptorium.
Nachdem er sich gewaschen hatte, warf er den weißen, wollenen Habit über. Er glich einer römischen Tunika mit langen, schmalen Ärmeln. Um die Hüfte band er einen Ledergürtel, an dem ein Rosenkranz hing. Darüber legte er das schwarze Skapulier. Das weite Kleidungsstück, das ebenfalls bis zum Boden reichte, bestand aus zwei Stoffbahnen, die vorne und am Rücken herabfielen, und einer angenähten Kapuze. Schließlich band er seine Sandalen um und verließ seine Zelle.
Der Fichtenwald reichte bis an die hohen Mauern des Klosters. Ein breiter Weg führte durch das Dickicht direkt bis vor die Tore und weiter Richtung Rouen. Über dem Boden waberte Morgennebel.
Vor den massiven, eisenbeschlagenen Toren von St. Albert fand Raphael seine Mitbrüder vollständig versammelt vor. Einige waren vertieft in leise Gespräche, andere standen stumm und frierend da. Raphael suchte nach seinem Freund Bruno und sah ihn kurz darauf kommen.
»Bruder Raphael!«, rief Bruno und lief auf den Prior zu.
Raphael lachte. »Langsam, Bruder«, sagte er. »Der Herr sieht die Eile gar nicht gern.«
Raphael legte seinem Mitbruder die Hand auf die Schulter. »Wo ist er nun, Bruder?«
»Du hast es wohl sehr eilig, deine Verpflichtungen als Prior abzugeben?«, fragte Bruno.
»Sieben Monate waren eine lange Zeit«, antwortete Raphael und fuhr sich über die Tonsur, die von braunem Haar umkränzt war. »Es warten Aristoteles, Plato, Horaz und Homer auf mich.«
Aus den Wäldern drang Hufgetrappel herüber.
»Ich glaube, der Herr hat dich erhört!«, meinte Bruno.
Und in der Tat – Augenblicke später erschien eine zweispännige Carretta mit dem Emblem des Heiligen Stuhls.
Er lässt es sich nicht nehmen, mit gehörigem Pomp vorzufahren, dachte Raphael.
Der Lenker nahm die Zügel und brachte sein Gefährt direkt vor Raphaels Füßen zum Stehen. Noch bevor die Pferde sich beruhigt hatten, wurde die Tür aufgestoßen, und ein Mann stieg aus und trat in den Vorhof des Klosters. Henri le Brasse war angekommen.
Unter den Augen seiner fünfzig Mitbrüder ging Raphael zu Henri. Dieser fasste Raphael sanft bei den Schultern und zog ihn an sich, um ihm den brüderlichen Kuss zu geben.
»Seid willkommen in St. Albert, Bruder Henri«, sagte Raphael und neigte mit gefalteten Händen seinen Oberkörper. Unauffällig betrachtete Raphael den neuen Prior. Henri le Brasse war ein Mann mit schwarzen Knopfaugen und spitzer Nase, die ihm das Aussehen eines Raben verliehen. Die Gestalt war hager, der Gang aufrecht. Sein Schädel war kahl bis auf einen schwarzen Haarkranz.
Henri lächelte kalt. »Ich danke Euch, Bruder. Bevor wir mit der Wahl beginnen, führt mich ins Abthaus – und lasst den Zellerar und den Bursar ebenfalls erscheinen.«
Verwundert rief Raphael Bruder Antoine und Bruder Joseph zu sich und bedeutete ihnen, ihnen zu folgen.
Das Abthaus des Klosters lag direkt neben der Klosterkirche. Raphael hatte es von Beginn an vermieden, hier zu leben. Er wollte dieses äußerliche Zeichen äbtlicher Würde nicht annehmen. Stand es doch von vornherein fest, dass er die Geschicke des Klosters nur übergangsweise leitete. Das Abthaus verfügte über drei Räume: den Schlafraum, den Arbeitsraum und den Speiseraum. Raphael führte die kleine Gruppe zunächst in den Arbeitsraum, was Henri mit einem zustimmenden Nicken quittierte.
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