Hey, das kannst du! - Ben Furman - E-Book

Hey, das kannst du! E-Book

Ben Furman

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Beschreibung

Albträume, Eifersucht, Hausaufgaben, Schlafengehen – Kinder stehen täglich vor besonderen Herausforderungen. Viele bewältigen sie alleine, bei manchen brauchen sie die Unterstützung von anderen. Wo es um hartnäckige Probleme oder ernsthafte Schwierigkeiten geht, hilft eine Haltung, die der finnische Psychiater und Psychotherapeut Ben Furman "Fähigkeitsdenken" nennt. Dieses Buch zeigt, wie Eltern ihr Kind "coachen" können, damit es die neuen Fähigkeiten erlernt, die es braucht, um seine Herausforderungen zu meistern. Es richtet sich neben Eltern an alle Personen, die an der Erziehung beteiligt sind. In zahlreichen Geschichten und Fallbeispielen vermittelt Ben Furman auf anschauliche Weise die Ideen und Konzepte, die dem Fähigkeitsdenken zugrunde liegen. Eine Sammlung von praktischen Werkzeugen hilft herauszufinden, welche Fähigkeit das Kind aktuell benötigt und wie man es motiviert, sich diese Fähigkeit anzueignen. Einfache Schritt-für-Schritt-Anleitungen erleichtern den Umgang mit den unterschiedlichsten Anlässen – von Angst bis Wutanfall.

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Ben Furman

HEY, DAS KANNST DU!

WIE FÄHIGKEITSDENKEN KINDERN HILFT, HERAUSFORDERUNGEN ZU MEISTERN

Aus dem Englischen übersetzt von Nicola Offermanns

2023

Reihe »Fachbücher für jede:n«

Reihengestaltung und Satz: Nicola Graf, Freinsheim, www.nicola-graf.com

Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich

Umschlagmotiv: © tookitook – stock.adobe.com

Redaktion: Anja Bachert

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2023

ISBN 978-3-8497-0501-5 (Printversion)

ISBN 978-3-8497-8460-7 (ePUB)

© 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Das Original erschien unter dem Titel ”Ben Furman & Lasten haasteet taidoiksi”

© 2023 Ben Furman

First publised in Finland in 2023 by Viisas Elämä Oy

Aus dem Englischen übersetzt von Nicola Offermanns

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: www.carl-auer.de.

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Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

INHALT

1 DER STEIN DER WEISEN ZAUBERIN

2 WAS IST FÄHIGKEITSDENKEN?

3 WIE MAN PROBLEME IN ERLERNBARE FÄHIGKEITEN UMWANDELT

Probleme in Fähigkeiten umwandeln ist leichter gesagt als getan

Überlegen Sie, wie das Kind in einer schwierigen Situation besser reagieren könnte!

Beschreiben Sie die Fähigkeit als wünschenswertes Verhalten!

Suchen Sie nach Ausnahmen von der Regel!

Benennen Sie das Gegenteil des Problems!

Verlagern Sie den Schwerpunkt: weg von den Erklärungen für das Verhalten hin zum Verhalten selbst!

4 WIE MAN KINDER MOTIVIERT, NEUE FÄHIGKEITEN ZU ERLERNEN – ICH SCHAFF’S! IN 15 SCHRITTEN

Schritt 1: Sprechen Sie mit dem Kind zuerst über Fähigkeiten, die es bereits gelernt hat!

Schritt 2: Sagen Sie »wir« anstelle von »ich«!

Schritt 3: Finden Sie heraus, welche Fähigkeit das Kind am liebsten lernen möchte!

Schritt 4: Verbünden Sie sich mit dem Kind, indem Sie ebenfalls eine Fähigkeit erlernen!

Schritt 5: Sprechen Sie mit dem Kind über die Vorteile, die das Beherrschen der Fähigkeit mit sich bringt!

Schritt 6: Stärken Sie das Selbstvertrauen des Kindes!

Schritt 7: Achten Sie darauf, dass die Fähigkeit nicht zu anspruchsvoll ist!

Schritt 8: Bitten Sie das Kind, der Fähigkeit einen Namen zu geben!

Schritt 9: Bitten Sie das Kind, Helfer zu benennen!

Schritt 10: Ermutigen Sie das Kind, sich einen imaginären Helfer zu suchen!

Schritt 11: Planen Sie eine Feier für das Beherrschen der Fähigkeit!

Schritt 12: Helfen Sie dem Kind herauszufinden, wie es die Fähigkeit üben kann!

Schritt 13: Klären Sie, wie Sie das Kind am besten loben können!

Schritt 14: Vereinbaren Sie eine gute Art, wie Sie das Kind an sein Vorhaben erinnern können!

Schritt 15: Bieten Sie dem Kind die Möglichkeit, einem anderen beim Erlernen der gleichen Fähigkeit zu helfen!

5 WIE MAN DAS FÄHIGKEITSDENKEN IM ERZIEHUNGSALLTAG EINSETZT

Schritt 1: Betrachten Sie Ihre eigenen Wünsche als Fähigkeiten, die das Kind lernen soll!

Schritt 2: Erklären Sie dem Kind, warum es wichtig ist, diese Fähigkeit zu erlernen!

Schritt 3: Stärken Sie das Selbstvertrauen des Kindes!

Schritt 4: Erinnern Sie das Kind auf eine freundliche Art und Weise!

Schritt 5: Bestärken Sie das Kind beim Lernen!

6 FALLBEISPIELE: FÄHIGKEITSDENKEN IN DER PRAXIS

Selektives Essen, 4-jähriges Mädchen

Selektives Essen und Einkoten, 5-jähriger Junge

Einnässen am Tag, 6-jähriger Junge

Widerstand gegen ein Hörgerät, 7-jähriger Junge

Angst vor Hunden, 7-jähriger Junge

Nägelkauen, 7-jähriger Junge

Geringes Selbstbewusstsein, 8-jähriges Mädchen

Schimpfwörter, 8-jähriger Junge

Konzentrationsschwierigkeiten, 9-jähriger Junge

Wutanfälle, 9-jähriger Junge

Rivalität unter Geschwistern, 11-jähriges Mädchen

Konzentrationsschwierigkeiten, 12-jähriger Junge

Dazwischenreden, 12-jähriges Mädchen

Wutanfälle, 12-jähriges Mädchen

Spielsucht, 14-jähriger Junge

7 HERAUSFORDERUNGEN FÜR KINDER VON A BIS Z

Aggressives Verhalten

Albträume

Ängste

Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung

Beißen

Bestrafung

Bildschirmnutzung

Bipolare Störung

Dazwischenreden

Depression

Einkoten

Einnässen

Fingerlutschen

Fluchen

Gehorsamkeit

Geschwisterrivalität

Glück

Haareausreißen

Hausaufgaben

Kokeln und Zündeln

Konfabulieren

Konzentration

Mäkelei beim Essen

Mangel an Selbstbewusstsein

Mobbing

Nägelkauen

Oppositionelles Verhalten

Perfektionismus

Scheidung

Schlafen

Schreien und lautes Sprechen

Schüchternheit

Selbstbefriedigung

Selektiver Mutismus

Tics

Traumatische Erfahrungen

Trennungsangst

Übergewicht

Ungesunde Ernährung

Wutanfälle

Zwangsstörungen

8 WAS SONST NOCH ZU BEACHTEN IST

1. Sorgen Sie zunächst für eine gute Verbindung zum Kind!

2. Vergewissern Sie sich, dass das Kind die Fähigkeit auch wirklich erlernen möchte!

3. Die Fähigkeit sollte nicht das benennen, womit das Kind aufhören soll

4. Sorgen Sie dafür, dass die Fähigkeit etwas Konkretes ist, was das Kind aktiv tun oder sagen kann!

5. Treffen Sie eine Vereinbarung, wie Sie das Kind erinnern sollen!

6. Bereiten Sie sich auf Herausforderungen vor!

9 FÄHIGKEITSDENKEN IN SCHULEN

Die Arbeit mit Schülern

Die Arbeit mit Eltern

Die Arbeit mit der ganzen Klasse

NACHWORT

DANKSAGUNG

LITERATUR UND INTERNETADRESSEN

Meine Bücher zum Thema

Internet-Ressourcen

Relevante Literatur zum Thema Fähigkeitsdenken

ÜBER DEN AUTOR

1

DER STEIN DER WEISEN ZAUBERIN

In diesem Buch möchte ich Sie mit einer Haltung vertraut machen, die ich »Fähigkeitsdenken« nenne, die kreativ ist und Spaß macht. Mit dieser Denk- und Sichtweise können Sie Kindern in ihrer Entwicklung auf die Sprünge helfen und sie dabei unterstützen, Schwierigkeiten durch das Erlernen neuer Fähigkeiten zu überwinden. Die Grundidee des Fähigkeitsdenkens ist leicht zu erfassen. Wenn Sie dieses Buch zu Ende gelesen und den Eindruck gewonnen haben, dass die beschriebene Haltung gut mit Ihren Werten und Ansichten im Einklang steht, wird es Ihnen mühelos gelingen, die Ideen direkt in den Alltag mit Ihrem Kind einfließen zu lassen.

Bevor ich im Einzelnen erkläre, was ich unter dem Denken in Fähigkeiten verstehe und wie Sie es in Ihrem Umgang mit Kindern einsetzen können, möchte ich Ihnen ein Märchen erzählen – sozusagen als Einführung in die hier beschriebene Denkweise. Wer nichts für allegorische Geschichten übrig hat, kann die nächsten Seiten einfach überspringen und mit dem zweiten Kapitel beginnen.

Es war einmal in einem weit abgelegenen Dorf, in dem seltsame Dinge geschahen: Die Kinder, die dort lebten, wurden von ganz eigenartigen Problemen geplagt. Einige waren plötzlich so schüchtern geworden, dass sie kein Wort mehr hervorbrachten, andere wurden so jähzornig, dass sie unentwegt um sich schlugen und auf andere Menschen eindroschen. Manche hatten Ängste entwickelt, wo es gar nichts zu befürchten gab, und wiederum andere bekamen hartnäckige Angewohnheiten wie Haareausreißen oder Daumenlutschen, die sie trotz aller Bemühungen ihrer Eltern nicht mehr loswurden.

Man rief die Dorfältesten zusammen, um die Lage zu besprechen. »Wir müssen herausfinden, was der Grund für dieses Übel ist«, sagte einer der Ältesten. Daraus entspann sich eine lange Unterredung. Schon bald zerbrach sich das ganze Dorf den Kopf darüber, woher die Probleme der Kinder wohl kamen.

Zuerst vermuteten sie, dass vergiftetes Wasser schuld sei. Daher begannen sie, ihr Wasser aus dem Nachbardorf herbeizuschaffen. Doch das half nicht. Der nächste Verdacht lautete, es könne daran liegen, dass die Kinder im Säuglingsalter durch irgendetwas traumatisiert worden seien. Infolgedessen begannen die Dorfbewohner, alles daranzusetzen, dass die Kinder auf keinen Fall durch irgendetwas geängstigt wurden. Aber das war unendlich schwierig, denn das Leben zu jener Zeit war schließlich voller Gefahren, und es war schier unmöglich, Kinder vor jeglicher Angst zu bewahren. Irgendein Dahergekommener behauptete, dass den Eltern aus welchem Grunde auch immer die Fähigkeit zur Kindererziehung abhandengekommen und dies die Ursache für die Nöte der Kinder sei. Deswegen wurden die Eltern dazu verpflichtet, sich von den Dorfältesten beibringen zu lassen, wie man Kinder richtig erzieht. Aber auch das stellte sich schnell als Holzweg heraus. Die Ältesten, die die Eltern unterweisen sollten, waren sich so uneins darüber, wie richtige Erziehung zu erfolgen habe, dass ihre Ratschläge die Eltern nur noch mehr verwirrten.

Die Dorfbewohner fanden immer wieder neue Erklärungen für die Schwierigkeiten der Kinder, aber das Rätsel blieb ungelöst. Vielen schwante allmählich, dass die ganzen Deutungsversuche die Dinge eigentlich nur noch schlimmer machten. Die Eltern im Dorf fühlten sich schuldig dafür, dass die Kinder es so schwer hatten, und waren ob ihrer Sorgen sehr verzweifelt.

Als alle schon geraume Zeit über die Schwierigkeiten der Kinder nachgegrübelt hatten und die Stimmung im Dorf immer schlechter wurde, verkündete einer der Ältesten:

»Wir haben unser Bestes getan, um uns aus dieser misslichen Lage zu befreien, aber es ist uns nicht gelungen, einen Ausweg zu finden. Es ist an der Zeit, dass wir in dieser Angelegenheit die weise Zauberin konsultieren und ihren Rat einholen.«

Drei der Ältesten machten sich zu Fuß auf den Weg zur weisen Zauberin. Nach einer langen Reise kamen sie zu der Stadt, in der die Zauberin lebte.

»Es ist lange her, dass die Leute aus eurem Dorf zuletzt bei mir Rat gesucht haben«, sagte die Zauberin. »Was führt euch heute zu mir?«

Die Ältesten schilderten der Zauberin ihre Sorgen und erzählten ihr von all den verschiedenen Vermutungen, mit denen die Dorfbewohner die merkwürdigen Probleme der Kinder zu erklären versuchten. Als sie fertig gesprochen hatten, senkte die Zauberin ihren Blick, schloss die Augen und versank in einem scheinbaren Schlaf. Nach einer Weile öffnete sie die Augen wieder und sprach:

Seit’s Menschen gibt auf dieser Welt,

hab’n sich Probleme dazugesellt.

Wenn wir die Gründe dafür suchen,

werd’n wir einander nur verfluchen,

wobei jeder den andern für schuldig hält.

Schaut ihr nur auf die Probleme,

wie ihr sie vertreiben könnt,

ist euch kein Erfolg vergönnt.

Wollt ihr Kindern wirklich helfen, auf die rechte Spur,

nennt doch lieber Fähigkeiten, in der richtigen Mixtur,

die sie neu erlernen könn’n!

Als die drei Ältesten ins Dorf zurückkehrten, baten sie den Steinmetz, die Verse der Zauberin in einen Stein zu meißeln, der in der Dorfmitte stand. Sie versammelten sich sodann um den Stein, um herauszufinden, was die Zauberin ihnen mit diesem Spruch vermitteln wollte. Nachdem sie eine Weile darüber nachgedacht hatten, riefen sie die Dorfbewohner zusammen und verkündeten ihnen:

»Mit diesem Spruch will uns die Zauberin sagen, dass wir aufhören müssen, danach zu suchen, warum unsere Kinder solche Schwierigkeiten haben. Stattdessen sollen wir unser Augenmerk mit aller Kraft darauf richten, welche neuen Fähigkeiten sie lernen müssen, um nicht mehr unangenehm aufzufallen.«

Die Menschen im Dorf freuten sich über diese Botschaft. Sie verstanden, dass es an der Zeit war, mit den Schuldzuweisungen sich selbst und anderen gegenüber aufzuhören. Von nun an brauchten sie keine Zeit mehr darauf zu verwenden, über die Ursachen der Probleme zu streiten. Und alle konnten ihre Aufmerksamkeit darauf richten, den Kindern zu helfen, dass sie die Fähigkeiten entwickeln konnten, die sie brauchten, um ihre Herausforderungen zu meistern.

Die Dorfbewohner kehrten nach Hause zurück und erzählten ihren Kindern, dass sie von nun an neue Fertigkeiten erlernen würden, um ihre Schwierigkeiten zu überwinden. Die Kinder waren froh, als sie das hörten, denn sie waren es längst leid, sich die endlosen Mutmaßungen ihrer Eltern über die Ursachen der Misere anhören zu müssen.

Die Dorfbewohner wurden tätig, und innerhalb kürzester Zeit war für jedes Kind im Dorf eine Fähigkeit gefunden, von deren Beherrschung es profitieren würde. Zunächst lief alles gut, doch schon bald tauchte ein neues Problem am Horizont auf.

»Es ist uns gelungen, uns mit unseren Kindern auf die Fähigkeiten zu einigen, die sie erlernen sollen«, beklagten sich die Eltern im Dorf bei den Ältesten. »Aber als es an der Zeit war, dass sie sich daranmachen sollten, dieses Neue auch einzuüben, verloren sie bald das Interesse. Und wir fanden keine Mittel und Wege, sie zu ermuntern, dass sie sich anstrengen, um sich diese Fertigkeiten anzueignen. Wie sollen wir unsere Kinder dazu bringen, dass sie sie auch wirklich lernen?«, fragten sie.

Wieder setzten sich die Ältesten zusammen, um über diese vertrackte Frage der Dorfbewohner nachzudenken. Aber so sehr sie sich auch bemühten, sie fanden keine Antwort. Schließlich beschlossen sie, dass die drei Ältesten die weise Zauberin erneut um Rat ersuchen sollten.

Als diese dort ankamen, fragte die Zauberin: »Was führt euch diesmal zu mir?«

Die Dorfältesten sprachen: »Als wir dich das letzte Mal aufsuchten, gabst du uns den Rat, dass wir unsere vergeblichen Bemühungen, die Probleme unserer Kinder erklären zu wollen, fahren lassen sollen, und uns stattdessen darauf auszurichten, die Fähigkeiten zu finden, die sie erlernen müssen, um den Anforderungen zu genügen. Das haben wir getan, aber jetzt stecken wir fest und stehen vor einer neuen Herausforderung. Wir wissen nicht, wie wir die Kinder dazu bringen können, nun die nötigen Schritte zu unternehmen und sich anzustrengen, um die Fähigkeiten tatsächlich zu erlernen.«

Die Zauberin hörte aufmerksam zu. Dann senkte sie ihren Blick, schloss die Augen und schien einzuschlafen. Als sie die Augen wieder öffnete und den Blick hob, sprach sie die folgenden Worte:

Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.

Drum merkt euch von nun an und sagt es allen:

Um Neues zu lernen – damit das gelingt,

musst du erkennen, was es dir bringt.

Was hast du davon, was ist der Gewinn?

Hab eine endlose Liste im Sinn!

Gib dieser Fähigkeit nun einen Namen

und sieh es als Spiel im lustigen Rahmen.

Find magische Freunde für dieses Spiel,

die dich begleiten bis an das Ziel!

Auch wenn du jetzt denkst: »Das schaff ich allein«,

braucht’s eine Mannschaft von Helferlein.

Sie werden dir jeden Zweifel rauben,

weil sie nun alle an dich glauben.

Auch wenn du mal stolperst – und das wird geschehen –,

musst du nicht stürzen, kannst weitergehen.

Und du hast ja die Helfer, was für ein Glück!

Sie setzen dich sanft auf die Spur zurück.

Sie werden dir helfen, zum Ziel zu gelangen.

Doch sollten sie auch deinen Dank empfangen –

all die, die dir so wohlgesonnen,

denn geteilter Gewinn ist doppelt gewonnen.

Tage und Wochen werden vergehen,

doch wie bleibt nun das Können bestehen?

Bring einem andern die Fähigkeit bei,

das ist der Trick bei der Lernerei!

Die drei Greise prägten sich diese Verse ein und machten sich auf den Weg zurück ins Dorf. Als sie ankamen, baten sie wieder den Steinmetz, die Worte der Zauberin in den Stein im Dorfkern zu meißeln. Die Ältesten versammelten sich alsdann, um über die Worte der Zauberin nachzusinnen, und verkündeten bald ihre Einsicht:

»Die Verse der Zauberin sind die Antwort auf unsere Frage. Sie geben uns Hinweise, wie wir unsere Kinder ermuntern können, ihre Fähigkeiten zu erlernen. Folgen wir ihren Anregungen, dann könnte unsere Misere schon bald vergessen sein.«

Als die Eltern im Dorf begannen, die Ratschläge aus dem Spruch der Zauberin zu befolgen, wurden ihre Kinder ganz eifrig, sich neue Fähigkeiten zu eigen zu machen. Und als sie die Fähigkeiten beherrschten, verschwanden die Probleme eines nach dem anderen. Und wann immer mal auch später ein Kind auf neue Schwierigkeiten stieß, konnte es auch diese mit der Weisheit der Verse auf dem Stein erfolgreich bewältigen. Die Dorfbewohner waren erleichtert: Das Übel war besiegt.

● ● ●

Das Fähigkeitsdenken ist keine streng reglementierte Methode, die Sie Schritt für Schritt befolgen müssen. Es handelt sich vielmehr um eine Sammlung von Denkweisen und Praktiken, die sich durch Versuch und Irrtum als nützlich erwiesen haben. Die in diesem Buch vorgestellten Ideen sollen Ihnen dabei helfen, mit Ihrem Kind so zu kommunizieren, dass es Hoffnung weckt, die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Kindern fördert und vor allem die Kinder dazu bringt, sich aktiv an dem Prozess zu beteiligen, ihre Herausforderungen in Stärken umzuwandeln.

2

WAS IST FÄHIGKEITSDENKEN?

Kinder haben keine Probleme – sie haben nur einige Fähigkeiten noch nicht erlernt.

Auf dieser Idee beruht das Fähigkeitsdenken. Der Kompetenzansatz1 wurde in den 1990er-Jahren in einem finnischen Kindergarten in Helsinki entwickelt. Die Kindertagesstätte hatte einen speziellen Bereich für Kinder mit besonderen Bedürfnissen – geleitet von den Sonderpädagoginnen Sirpa Birn und Tuija Terävä. Bei ihnen war ich einige Jahre lang als externer Supervisor tätig. Zu Beginn unserer Zusammenarbeit beschlossen wir, uns zusammenzutun, um eine allgemein anwendbare Methode zu entwickeln, die Kindern hilft, emotionale und verhaltensbedingte Herausforderungen zu bewältigen. Wir strebten eine einfache Schritt-für-Schritt-Methode an, die sowohl für Kinder als auch für ihre Eltern attraktiv ist. Dabei ließen wir uns von der lösungsorientierten Psychologie leiten – einem therapeutischen Ansatz, den ich vertrete –, aber auch von diversen Verfahren der Sonderpädagogik, die unter Lehrern und Erziehern2an der Tagesordnung waren. Nach und nach entwickelten wir durch Versuch und Irrtum gemeinsam eine praktische Methode in 15 Schritten, die wir schließlich Ich schaff’s! nannten. Damals ahnten wir noch nicht, dass unsere Idee in den kommenden Jahren so großes internationales Interesse wecken würde. Heute wird Ich schaff’s! von zahlreichen Fachleuten weltweit angewandt, die Bücher dazu sind bereits in mehr als 20 Sprachen erschienen.

Wir haben die Ich schaff’s!-Methode ursprünglich als Werkzeug für Lehrer, Erzieher und andere mit Kindern arbeitende Menschen entwickelt, aber weil der Ansatz so einfach ist, keine Risiken birgt und leicht zu erlernen ist, eignet er sich auch für Eltern, Großeltern und weitere an der Erziehung Beteiligte. Entstanden ist die Vorgehensweise in einer Gruppe mit Kindern im Alter von 5 bis 6 Jahren, aber es zeigte sich bald, dass sich dieselben Prinzipien auch auf ältere Kinder anwenden lassen. In der Tat ist der Ansatz völlig altersunabhängig – mit leichten Anpassungen lässt er sich auf Menschen jeden Alters zuschneiden.

Das Denken in Fähigkeiten – das Rückgrat von Ich schaff’s! – basiert auf der Idee, dass man sich nicht auf die Schwierigkeit selbst konzentriert, sondern auf die Fähigkeit, die das Kind lernen muss, um die Schwierigkeit zu überwinden – ganz gleich, vor welcher aktuellen Herausforderung das Kind gerade steht. Kindern ist es in der Regel unangenehm, wenn wir versuchen, mit ihnen über ihre Probleme zu sprechen, aber sie genießen es sehr, über Fähigkeiten zu reden. Nicht nur über Fähigkeiten, die sie bereits erworben haben, sondern auch über Fähigkeiten, von denen sie sich Vorteile versprechen, wenn sie sie besser beherrschen würden.

Das Fähigkeitsdenken erfordert, dass wir Kinder durch eine andere Brille sehen. Es verlangt von uns, über den Tellerrand der Probleme hinauszusehen und zu ermitteln, welche Fähigkeiten das Kind verbessern muss, um seine Herausforderungen zu meistern. Das ist jedoch leichter gesagt als getan. Mit diesem Buch möchte ich Ihnen helfen herauszufinden, wie Sie nicht nur kleine alltägliche Schwierigkeiten, sondern auch ernstere Probleme in Fähigkeiten umwandeln können, die Ihr Kind erlernen kann, und wie Sie Ihr Kind beim Erwerb dieser Fähigkeiten unterstützen können.

Beginnen wir mit der Geschichte einer Frau, die an einem Lehrgang für Ich schaff’s! teilgenommen hatte und als Teil ihrer Ausbildung einen Bericht darüber schrieb, wie sie die Methode genutzt hatte, um ihrer 6-jährigen Patentochter über ein Problem hinwegzuhelfen.

JASMIN, 6 JAHRE ALT, hatte mehrere Probleme. Morgens weigerte sie sich, das anzuziehen, was ihre Mutter für sie rausgesucht hatte – alle diese Kleidungsstücke fand sie unangenehm. Sie wollte immer nur die gleichen alten, abgetragenen Klamotten anziehen. Sie hasste alle Wintersachen sowie Regenjacken, Handschuhe und Mützen.

Außerdem fiel es ihr schwer, abends schlafen zu gehen. Sie bestand darauf, so lange aufzubleiben wie ihre Eltern, und das führte fast jeden Abend zu einem erbitterten Kampf. Die dritte Herausforderung bestand darin, dass Jasmin sich weigerte, sich nach dem »großen Geschäft« auf der Toilette den Po abzuwischen, und immer einen Erwachsenen brauchte, der ihr dabei half. Im Kindergarten verkniff sie sich den ganzen Tag lang den Stuhlgang, weshalb sie abends oft Bauchweh hatte.

Jasmins Patentante Emma, die eine Ausbildung im Fähigkeitsdenken absolviert hatte, bot den besorgten Eltern Hilfe an. Als sie alle zusammensaßen, drehte sich das Gespräch zunächst um verschiedene Fähigkeiten, die Jasmin bereits erworben hatte und die sie gut beherrschte. So konnte sie z.B. schon lesen und schreiben, obwohl sie noch nicht zur Schule ging (in ihrem Land beginnt die Schule offiziell mit dem 7. Lebensjahr). Sie konnte auch schwimmen und Fahrrad fahren. Jasmin wirkte stolz, als sie darüber sprachen, was sie alles schon konnte.

Schon bald verlagerte sich das Gesprächsthema von den Fähigkeiten, die sie bereits besaß, zu denen, die sie als Nächstes lernen musste.

Die Wunschliste der Eltern bestand aus drei Punkten: Es waren – unschwer zu erraten – die Fertigkeiten »Anziehen«, »Einschlafen« und »Toilettengang«. Die Eltern besprachen den jeweiligen Nutzen aller drei Kompetenzen, und Emma schlug beiläufig vor, man könne, wenn Jasmin eine der drei erlernt habe, ihr zu Ehren eine Feier veranstalten, wenn sie das wolle. Von den drei gewünschten Fähigkeiten wählte Jasmin den Toilettengang und nannte es »das Abwischen«. »Was würde es dir bringen, wenn du lernst, dir den Po selbst abzuwischen?«, fragte Emma. Jasmin konnte das nicht beantworten, aber sie erzählte, dass sie Angst davor habe, Kot an die Finger zu bekommen. Das erklärte zumindest teilweise, warum sie es bisher tunlichst vermied, sich den Po selbst abzuwischen. Ihre Eltern erläuterten ihr, dass diese Fähigkeit wichtig sei, weil Jasmin dann abends keine Bauchschmerzen mehr hätte. Und sie müsse dann nicht mehr so lange auf der Toilette sitzen und warten, bis ihr jemand hilft. Außerdem würde man im nächsten Jahr, wenn sie in die Schule komme, von ihr erwarten, dass sie es selbst könne. Jasmin hörte aufmerksam zu.

Es wurde dann vereinbart, dass die Eltern Jasmin helfen, das zu Hause zu üben. Die Mutter versprach, bei ihr zu bleiben und ihr Tipps zu geben, wie sie sich die Hände waschen konnte, falls sie sich die Finger versehentlich doch mit Kot beschmieren würde. Jasmin selbst schlug vor, dass sie sich zunächst nur einmal abwischen würde und ihre Mutter dann den Rest übernehmen solle.

»Fällt dir ein Wesen ein, das dich beim Erlernen des Abwischens unterstützen kann?«, fragte Emma. Jasmin wünschte sich Super Marsu (ein schlaues Meerschweinchen aus einem Zeichentrickfilm) als Helfer. Dieser hatte ihr vor einer Weile schon einmal geholfen, als sie von einer Krankenschwester geimpft worden war. Jasmin wollte ein Bild von Super Marsu in der Toilette aufhängen, um an das Üben der Fähigkeit zu denken.

Emma lenkte das Gespräch noch mal auf die Feier: »Wenn du das Abwischen gelernt hast«, sagte sie, »können wir zusammen Kuchen backen und ein Fest machen, wenn du willst.« Jasmin war von der Idee begeistert, und sie überlegten gemeinsam, wer eingeladen würde und was für Kuchen es auf der Party geben solle.

Als Emma eine Woche später mit Jasmins Mutter telefonierte, erfuhr sie, dass ihre Patentochter eifrig geübt hatte und gut vorangekommen war. In den ersten Tagen hatte die Mutter sie angeleitet, aber danach hatte Jasmin das Abwischen allein geschafft. Jedes Mal, wenn sie es selbst erledigt hatte, hatte die Mutter ihr einen Super-Marsu-Aufkleber gegeben, den sie ins Sammelheft einklebte. Die Eltern hatten mit Jasmin vereinbart, dass das Fest stattfinden sollte, sobald sie zehn Sticker gesammelt habe. Sie war inzwischen schon so weit gekommen, dass sie ihrer Mutter erlaubte, im Kindergarten von dieser Fähigkeit zu erzählen, sodass die Erzieherinnen sie auch dort beim Üben unterstützen konnten.

Es gab auch einige Rückschläge. Eines Tages, als sie gerade mal sechs Aufkleber gesammelt hatte, rief sie von der Toilette aus plötzlich ihre Mutter zum Abwischen.

»Warum rufst du mich denn? Hast du vergessen, dass du das schon gelernt hast?«, fragte ihre Mutter.

»Nein, habe ich nicht«, sagte Jasmin, »ich kann das. Ich habe es sogar schon im Kindergarten gemachtt.«

»Ok, zeig mir mal, wie gut du das kannst«, sagte die Mutter.

Jasmin weigerte sich aber, der Mutter ihr Können zu demonstrieren, und jammerte, dass sie ein bisschen Durchfall habe und das nicht abwischen wolle.

»Ja, meine Süße, aber das ist doch kein Weltuntergang«, sagte ihre Mutter. »Lass es uns so machen: Du wischst einmal ab, und ich mach den Rest.« Jasmin war einverstanden, aber am Ende machte sie es dann doch ganz allein. Die Mutter klebte einen Aufkleber ins Heft, und später riefen sie Emma an, um ihr zu erzählen, wie es gelaufen war.

Als Jasmin zehn Aufkleber beisammenhatte, bastelte sie zusammen mit ihrer Mutter eine Karte, um Emma zur Party einzuladen. Die Feier war ein großer Spaß, es gab Kuchen und andere Leckereien. Nach dem Kuchenessen schlug Emma vor, Pappherzen auszuschneiden, um sie den Menschen zu schenken, die ihr geholfen hatten. Jasmin schnitt mehrere Herzen aus und schenkte je eines ihren Eltern, Emma und den Erzieherinnen.

»Welche Fertigkeit wirst du dir als nächste vornehmen, wo du jetzt das Abwischen schon so gut kannst?«, fragte Emma.

»Die nächste ist das Modeln«, antwortete Jasmin.

»Modeln? Was ist denn das für eine Fähigkeit?«, wollte Emma wissen.

Es stellte sich heraus, dass Jasmin mit ihren Eltern öfters ein Spiel gespielt hatte, das sie »Modeln« nannten. Dabei spielte sie ein Model, das ihren Eltern verschiedene neue Kleidungsstücke präsentierte, und gewöhnte sich dabei gleichzeitig an das Tragen unterschiedlichster Anziehsachen.

Die Art und Weise, wie Emma mit Jasmins Eltern zusammenarbeitete, um das Mädchen bei der Überwindung ihrer Hürden zu helfen, ist ein Beispiel für das Fähigkeitsdenken: Anstatt über Probleme zu sprechen, konzentrierten sich alle auf die zu erlernenden Fähigkeiten. Das Kind war an sämtlichen Schritten des Prozesses aktiv beteiligt, und alle wichtigen Personen in seinem Leben halfen ihm, die nötigen Fähigkeiten zu erwerben.

1 Die Begriffe »Kompetenzansatz«, »Fähigkeitsdenken« oder »Denken in Fähigkeiten« werden im vorliegenden Buch synonym gebraucht (Anm. d. Ü.).

2 Zur besseren Lesbarkeit verwende ich bei allgemeinen Personenbezeichnungen das generische Maskulinum. Selbstverständlich sind damit immer alle Geschlechter gemeint.

3

WIE MAN PROBLEME IN ERLERNBARE FÄHIGKEITEN UMWANDELT

Mit »Fähigkeit« ist gemeint, dass Kinder Herausforderungen in der gewünschten Art und Weise meistern.

Der Kompetenzansatz – oder die Idee, Kindern durch das Erlernen von Fähigkeiten über Schwierigkeiten hinwegzuhelfen – hat mehrere entscheidende Vorteile. Erstens vermittelt diese Denkweise eine hoffnungsvolle Haltung. Wir alle assoziieren Fähigkeiten mit »Lernen« – dieses Wort erzeugt per se eine gewisse Zuversicht. Wenn wir uns darauf konzentrieren, über Fähigkeiten und Lernen zu sprechen, entsteht unweigerlich eine Atmosphäre der Hoffnung auf Veränderungen.

Zweitens fördert das Fähigkeitsdenken die Kooperationsbereitschaft bei Kindern. Es ist wahrscheinlicher, dass Ihr Kind mitarbeitet, wenn Sie mit ihm über Dinge sprechen, die es bereits erlernt hat, und über neue Fähigkeiten, von denen es profitieren könnte, anstatt seine Probleme und Schwierigkeiten zu thematisieren.

Drittens erleichtert dieser Ansatz Ihnen die Zusammenarbeit mit anderen Erwachsenen, die an der Betreuung des Kindes beteiligt sind. Wenn Sie sich in Ihren Gesprächen immer auf die Probleme und Schwierigkeiten des Kindes fokussieren, reagieren die anderen oft mit Erklärungsversuchen, was ihrer Meinung nach die Ursache der Probleme sei. Solche Spekulationen sind meist wenig hilfreich und eher frustrierend, als dass sie Hoffnung stiften. Mit dem Fähigkeitsdenken können Sie diese Falle umgehen. Wenn der Schwerpunkt auf den erlernbaren Fähigkeiten liegt, werden alle an der Betreuung Beteiligten Ihnen leichter helfen können, Ihrem Kind beim Üben der erforderlichen Fähigkeiten unter die Arme zu greifen.

Probleme in Fähigkeiten umwandeln ist leichter gesagt als getan

Eine Voraussetzung für das Fähigkeitsdenken ist die Umwandlung der Probleme in Fähigkeiten, die die Kinder lernen können. Dies ist leichter gesagt als getan. Die Idee ist einfach, aber im wirklichen Leben ist es oft schwierig herauszufinden, welche Fähigkeit das Kind bei einem bestimmten Problem braucht. Ich habe immer wieder gehört, die Idee des Fähigkeitsdenkens sei schön und gut, aber die Umsetzung in die Praxis sei viel schwieriger, als man anfangs gedacht habe. »Ich weiß genau, welches Problem das Kind hat«, sagte einmal ein Lehrer zu mir, »aber ich finde es schwierig herauszufinden, in welcher Fähigkeit es besser werden muss, um das Problem zu lösen.«

Die Transformation der Probleme in erlernbare Fähigkeiten – was ich manchmal als »Skilling« bezeichne – erfordert Kreativität. Die Prämisse lautet, dass es unabhängig von der Schwäche des Kindes immer eine Stärke zu entdecken gibt, deren Beherrschung das Problem beseitigt oder zumindest abschwächt.

Ein befreundeter deutscher Psychologe, der wie ich lösungsfokussierte Therapie und Coaching lehrt, sagte einmal zu mir: »Unseren Studenten gefällt der Kompetenzansatz sehr gut, aber es fällt ihnen oft schwer herauszufinden, an welcher Fähigkeit es dem Kind bei einem bestimmten Problem mangelt. Du solltest mal ein Lexikon schreiben, in dem die Leser alle häufigen Probleme von Kindern nachschlagen können und dann die Übersetzung in eine Fähigkeit geliefert bekommen, die das Kind in dieser Situation lernen muss.«

»Ich verstehe, was du meinst«, wandte ich ein, »aber das ist nicht machbar. Wenn man das Problem des Kindes kennt, kann man daraus noch lange nicht direkt auf eine bestimmte Fähigkeit schließen, die es dafür lernen müsste. Um herauszufinden, welche Fähigkeit für das Kind wirklich relevant wäre, müssen wir mit ihm sprechen und in der Regel auch mit den Erwachsenen, die sich um das Kind kümmern.«

»Ja, ja, ich weiß schon«, sagte mein Kollege und zuckte mit den Schultern, »aber trotzdem bräuchten die Leute eine Anleitung, wie sie es anstellen sollen, Probleme in Fähigkeiten umzuwandeln.«

Dem Rat meines Kollegen folgend stelle ich im Folgenden die allgemeinen Prinzipien vor, wie man Probleme in erlernbare Fähigkeiten umwandelt.

Überlegen Sie, wie das Kind in einer schwierigen Situation besser reagieren könnte!

Wenn ich Eltern dabei helfe, das Problem ihres Kindes in eine Fähigkeit umzuwandeln, beginne ich oft mit der Frage, welche konkreten Situationen ihr Kind als Herausforderung empfindet. Sobald sie einige Beispiele dafür genannt haben, kann ich sie bitten, über Folgendes nachzudenken: Wie soll das Kind ihrer Vorstellung nach lernen, in diesen Situationen besser zu reagieren? Hier ist ein Beispiel dafür, wie ich versuchen würde, Eltern beim Umwandeln der Herausforderungen in Fähigkeiten anzuleiten.

MUTTER Man hat sich über das Verhalten meiner Tochter im Kindergarten beschwert. Sie schlägt dort offenbar die anderen Kinder.

BEN FURMAN (B. F.) Wissen Sie, in welchen Situationen das passiert? Was für Situationen sind für sie schwierig zu bewältigen?

MUTTER Es heißt, dass es passiert, wenn sie mit einem Spielzeug spielen will, das gerade ein anderes Kind hat.

B. F. Was macht sie dann?

MUTTER Sie versucht, sich das Spielzeug zu schnappen, und wenn das andere Kind es nicht hergeben will, wird sie wütend und fängt an zu hauen.

B. F. Wie würden Sie sich wünschen, wie ihre Tochter sich stattdessen in solchen Situationen verhalten sollte?

MUTTER Sie sollte sich etwas reifer benehmen.

B. F. Ja gut, aber was soll das heißen: Was soll sie stattdessen lernen?

MUTTER Ich möchte, dass sie lernt, freundlich zu fragen, ob sie das Spielzeug haben kann. Und wenn das andere Kind das ablehnt, möchte ich, dass sie in der Lage ist, ein »Nein« zu akzeptieren.

B. F. Was sollte sie Ihrer Meinung nach lernen zu sagen, damit Sie wissen, dass sie gelernt hat, ein »Nein« als Antwort zu akzeptieren?

MUTTER Ich hätte gern, dass sie so etwas sagt wie: »Kann ich das haben, wenn du nicht mehr damit spielen willst?«

B. F. Okay, das ist also die Fähigkeit, die Ihre Tochter lernen sollte.

Mit anderen Worten: Um herauszufinden, welche Fähigkeiten Sie Ihrem Kind beibringen möchten, überlegen Sie, wie Ihr Kind in schwierigen Situationen reagiert, und fragen Sie sich, wie Sie sich das Verhalten Ihres Kindes in einer ähnlichen Lage in Zukunft wünschen.

Beschreiben Sie die Fähigkeit als wünschenswertes Verhalten!

Ein wichtiger Punkt, den wir im Auge behalten sollten, wenn wir über Fähigkeiten sprechen, ist, dass »Fähigkeit« nicht bedeutet, ein unerwünschtes Verhalten abzustellen. Es geht vielmehr darum, ein wünschenswertes Verhalten neu zu erlernen. Für Kinder ist es schwierig, sich ein unerwünschtes Verhalten ganz oder auch nur teilweise abzugewöhnen. Wenn Sie beispielsweise möchten, dass Ihr Kind lernt, in der Klasse nicht reinzurufen, sollte die nötige Fähigkeit nicht wie folgt formuliert sein: »Ich werde in der Klasse nicht mehr reinrufen«, sondern lieber:

»Ich kann die Hand heben, wenn ich in der Klasse was sagen möchte, und warten, bis ich dran bin.«

Oder wenn Ihr Kind lernen soll, nicht mit anderen Kindern zu zanken, sollte die nötige Fähigkeit nicht lauten: »Ich werde mich nicht mit anderen Kindern streiten«, sondern:

»Ich werde lernen, mich aus Situationen rauszuhalten, in denen ich mit anderen Kindern leicht in Streit gerate.«

Die zu erlernende Fähigkeit sollte immer das angestrebte Verhalten konkret beschreiben, statt die unerwünschte Verhaltensweise zu benennen.

Manchmal, wenn ich vor Eltern einen Vortrag über das Fähigkeitsdenken halte, behaupte ich mit einem Augenzwinkern:

»Wussten Sie eigentlich, dass es im Hörnerv von Kindern – dem Nerv, der die Nervenimpulse vom Ohr zum Gehirn leitet – einen Filter gibt? Dieser Filter entfernt Wörter wie ›nicht‹ und ›kein‹ ganz ausnahmslos aus den gehörten Sätzen. Wenn Sie zu Ihrem Sohn sagen: ›Daniel, ich sage dir noch mal: Schrei mich nicht an‹, hört Daniel Sie sagen: ›Daniel, ich sage dir noch mal: Schrei mich an.‹ Oder wenn Sie zu Ihrer Tochter sagen: ›Julia, ich habe dir gesagt, du sollst das lassen. Ich mag es nicht, wenn du mit dem Essen spielst‹, wird sie verstehen: ›Ich mag es, wenn du mit dem Essen spielst.‹«