Hey, Sherlock! - Simon Mason - E-Book

Hey, Sherlock! E-Book

Simon Mason

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Beschreibung

MACHT PLATZ FÜR DEN MEISTER – GARVIE SMITHS DRITTER FALL Amy Roecastle ist umwerfend schön, reich, egoistisch – und spurlos verschwunden. Sie hat ihren bissigen Hund mitgenommen und noch etwas anderes. Etwas Tödliches. Und Inspector Singh hat natürlich weder eine Spur noch irgendeine Ahnung. Zum Glück gibt es Garvie Smith, den faulsten, aber nun mal klügsten Kopf in Five Mile und Umgebung. Denn wie sich herausstellt, geht es längst nicht mehr nur um Amy – sondern auch um Mord. Und nebenbei muss Garvie aufpassen, sein Herz nicht zu verlieren. Wer kann das schon gebrauchen? «Besser kann man Detektivromane einfach nicht schreiben.» CRIME REVIEW

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Seitenzahl: 389

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Simon Mason

Hey, Sherlock!

Kriminalroman

 

Aus dem Englischen von Karsten Singelmann

 

Über dieses Buch

 

 

Garvie Smith – hochbegabt wie Sherlock Holmes, aber tiefenentspannt, sobald es um Schule geht – «arbeitet» mit seinem Freund Smudge im Garten einer herrschaftlichen Villa, als die Tochter des Hauses auf einmal nicht mehr nach Hause kommt. Klar, dass Garvie ab sofort Wichtigeres zu tun hat, als Zäune zu reparieren. Zum Beispiel einen toten Rottweiler finden. Oder einen weißen Lieferwagen. Oder eine Mordwaffe – denn einen Mordfall gibt es jetzt auch noch zu lösen. Mal ganz abgesehen davon, dass Garvie das vermisste Mädchen finden muss, das ihn mehr interessiert, als ihm lieb ist. Da hilft es auch nicht wirklich, dass seine eigene Mutter sich gerade verliebt hat. Und das ausgerechnet in Inspektor Singh! Kann das Leben eigentlich noch ätzender sein?

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Simon Mason arbeitet als Verlagsleiter bei Pushkin Books, wenn er nicht gerade Bücher schreibt. Für seine Kinder- und Jugendbücher wurde er bereits vielfach ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Oxford.

Für Gwilym und Eleri

 

Und in memoriam Joe Nicholas

(1951–2019)

1

Es war eine nasse, windige Augustnacht. Ein Gewitter zog auf. Wolken wirbelten von Osten heran und brachten peitschenden Regen mit sich. Donnergrollen war zu hören, Blitze zuckten über den Himmel, und binnen kurzem standen die menschenleeren Straßen der Innenstadt unter Wasser. Die langgestreckten Vororte Five Mile und Limekilns verschwammen hinter der Regenwand.

In der Siedlung Froggett wiegten sich die Bäume in den Gartenlandschaften der eleganten Villen träge im Wind. Froggett, das wohlhabendste Viertel der Stadt, war eine grüne, von Wald umgebene Enklave geschmackvoll restaurierter alter Häuser. Hausnummern gab es nicht. Die Häuser hatten Namen – «Meadowsweet», «The Rectory», «Field View». So besaß jedes von ihnen seine eigene Persönlichkeit und thronte behaglich hinter rosa Backsteinmauern oder Buchenhecken auf sorgsam angelegten Grundstücken mit Teichen und Rasenflächen, Tennisplätzen und Terrassen. Jetzt aber, im Gewittersturm, dampfte Sprühnebel in den makellosen Gärten, die Teiche sprudelten und zischten, und die exotischen Bäume schlugen ihre Äste zusammen.

Es war Mitternacht. Im Wohnzimmer eines dieser Häuser – «Four Winds», eine spätviktorianische Villa aus keksfarbenem Backstein, Giebel und Schornsteine, wohin man blickte – saß Dr. Roecastle ganz allein über ihren Aufzeichnungen. Sie war Oberärztin in der Chirurgie des städtischen Krankenhauses, eine schlanke Frau mittleren Alters mit dunklen, feminin frisierten Haaren und einem schmalen Gesicht, das sich nie entspannte. Von Zeit zu Zeit nahm sie mit gewissenhafter Konzentration einen Schluck Kräutertee.

Das Wohnzimmer war ein unverfälschter Ausdruck ihres persönlichen Stils. Es war ganz und gar in Schwarz-Weiß gehalten: ein weißer Teppich auf schwarz lackiertem Fußboden, ein schwarz glänzender Tisch auf dem Teppich und zwei Reihen streng geometrischer, schwarz-weißer Sofas und Sessel vor dem schwarz glasierten Kamin an der Stirnwand, über dem der riesige Siebdruck eines schwarzen Dreiecks auf strahlend weißem Hintergrund hing.

Als sie es donnern hörte, blickte sie zum regennassen Fenster, das gerade in diesem Moment vom Blitzschlag in grelles, unheimliches Licht getaucht wurde. Ärgerlich sah sie auf ihre Armbanduhr. Elf Minuten nach zwölf. Sie neigte den Kopf zur Seite, denn neben dem Sturmgetöse nahm sie plötzlich ein weiteres Geräusch wahr, das gedämpfte Öffnen und Schließen der Haustür. Sie schob den Laptop beiseite und wartete mit ernstem Blick.

Ihre sechzehnjährige Tochter erschien, schob sich zögernd ins Zimmer und blieb, vom Regen durchnässt, mit gesenktem Kopf stehen.

«Das ist für mich nicht spätestens zehn Uhr», sagte die Mutter nach kurzem Schweigen. «Für dich etwa?»

Amy Roecastle sagte nichts. Sie hatte ein schönes, störrisches Gesicht – blaue Augen, dichte Brauen, breiter, forscher Mund –, und sie stand klitschnass da, in schwarzer Bondagehose, Armyjacke und durchgeweichter, tief in die Stirn gezogener Wollmütze, starrte zu Boden und schwieg, während ihre Mutter redete. Sie stand ganz still. Hin und wieder zitterte sie. Wasser tropfte von ihren Ärmeln auf den weißen Teppich.

«Wir hatten eine Abmachung», sagte ihre Mutter. «An die du dich nicht gehalten hast. Warum nicht?»

Ihre Tochter schwieg weiter mit ausdruckslosem Gesicht.

«Es gibt natürlich einen Grund.» Dr. Roecastle fasste Amy scharf ins Auge. «Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt frage. Gedankenlosigkeit ist der Grund. Egoismus. Völlige Missachtung deiner Mitmenschen.»

Sie glaubte ein flüchtiges Lächeln im Gesicht ihrer Tochter zu erkennen.

«Bist du betrunken?», fragte sie heftig.

Amy sagte noch immer nichts. Der Regen trommelte gegen die Fensterscheiben, aber die Stille im Zimmer war schwer.

Ihre Mutter erhob sich. «Ich gehe jetzt in die Küche und schenke mir noch eine Tasse Tee ein. Du bleibst hier und denkst über dein Verhalten nach. Und wenn du damit fertig bist, kommst du und gibst mir eine Erklärung.»

Amy öffnete den Mund. «Okay», sagte sie.

Dr. Roecastle musterte ihre Tochter für einen Moment, dann drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Sie ging zuerst zur Haustür, um die Alarmanlage einzuschalten, dann weiter in die Küche.

Wieder donnerte es, und fast gleichzeitig folgte der nächste Blitzschlag. Kurz glaubte sie, einen Aufschrei und gedämpfte Rufe von irgendwo zu hören, dann prasselte eine Regenböe gegen die Fenster, und das Geräusch war verschwunden. Am Küchentisch sitzend, zog sie schaudernd ihren Kragen um den Hals zusammen.

Mehrere Minuten vergingen.

«Ich warte!», rief sie.

Beim Warten grübelte sie vor sich hin. Amys Verhalten war schon den ganzen Sommer über untragbar gewesen, und als sie sich jetzt die Gesamtsituation noch einmal vor Augen führte, fühlte sie den Zorn der Gerechten in ihrem Innern aufsteigen. Stirnrunzelnd wischte sie einen Fleck vom Rand ihrer Tasse und legte sich zurecht, was sie sagen wollte.

Nach einer Weile rief sie erneut, lauter diesmal. «Amy! Ich hab gesagt, ich warte!»

Schließlich sprang sie verärgert auf und ging ins Wohnzimmer zurück.

Ihre Tochter war nicht mehr da. Nur eine nasse Stelle auf dem weißen Teppich deutete darauf hin, wo sie gestanden hatte.

Mit großen Schritten eilte Dr. Roecastle in den Flur und stellte sich an den Fuß der Treppe.

«Amy!»

Keine Antwort. Nur der Regen, der sich an den Fensterscheiben zu schaffen machte.

«Amy!», rief sie noch einmal. «Glaub nicht, dass ich dir hinterherlaufe. Ich kann so lange warten wie nötig. Du wirst herunterkommen und dich erklären.»

Ein langgezogener Donnerschlag dröhnte rund ums Haus, und in der anschließenden Stille hörte sie die windgebeutelten Bäume ächzen und stöhnen. Es gab keinerlei Geräusch im Haus, doch erneut glaubte sie einen Schrei von draußen zu hören, augenblicklich hinweggefegt vom Tosen des Sturms. Sie sah auf ihre Uhr. Es war halb eins. Sie ging ins Wohnzimmer, setzte sich an ihren Laptop und wartete.

2

Zweige peitschten Amy ins Gesicht, sie rutschte aus und fiel mit einem Aufschrei hin, stand nass wieder auf und kämpfte sich weiter zwischen den rauschenden Bäumen hindurch. Regenblind, mit eingezogenem Kopf, lief sie rutschend den Weg entlang, während das Unwetter ringsum donnerte und toste wie ein aufgewühltes Meer.

Von Zeit zu Zeit blieb sie keuchend stehen, um ängstlich zurückzublicken, wischte sich mit einem verdreckten Ärmel über die Augen und spähte durch die Dunkelheit, bevor sie durchnässt und zitternd weitereilte. Zweimal noch schrie sie auf, als windgetriebene Schatten ihr entgegenflogen. Das Donnern hörte sich an, als würden Felswände auseinanderbrechen; erneut fiel sie hin, rappelte sich wieder auf und taumelte weiter.

Sie war schon tief im Wald. In der Dunkelheit blieb sie stehen und blickte zurück. Ihr Haus war nicht mehr in Sicht; es war nichts zu sehen als die chaotische Dunkelheit des Waldes. Ein plötzliches Geräusch in der Nähe ließ sie herumfahren, panisch blickte sie sich nach allen Seiten um. Durch eine Lücke in den Bäumen vor ihr drang Mondlicht, das im Regen flackerte, sie schirmte ihre Augen ab und spähte in die Richtung. Da war etwas. Was war das? War das … ein Transporter? Mitten im Wald?

Klatschnass stand sie inmitten der Schatten. Dann stürzte einer der Schatten auf sie zu und packte sie.

3

Wie verabredet, holte Smudges Bruder sie kurz nach sechs Uhr morgens mit seinem Ford Transit an der Ecke Pollard Way ab. Er war ein dunkelhaariger Mann mit zerstreutem Gesicht, und er ließ sie einsteigen, ohne etwas zu sagen, blickte sich nur einmal kurz um, während Garvie und Smudge sich hinten zwischen den Werkzeugen niederließen. Auch die anderen Männer auf der Vorderbank sagten nichts. Der eine war ein Riese mit Babygesicht, Korkenzieherlocken und einem fehlenden Vorderzahn. Er wurde Tar genannt. Der andere war ein blasser Waliser namens Butter. Alle drei trugen staubverkrustete Stiefel, ausgebeulte Trainingshosen und Kapuzenjacke, die verschmiert und fleckig waren.

Es war ein heiterer, stiller Morgen nach dem Gewitter, noch ekelhaft früh. Auf der gesamten Town Road sah es aus, als wäre die Flut abgezogen und hätte die nackte Stadt zurückgelassen, schutzlos dem Tageslicht ausgesetzt: mit Pfützen übersäte Gehsteige, überschwemmte Parkplätze und die stumpf glänzenden Schaufenster leerer Verkaufsräume. Sie fuhren, den zweiten Lieferwagen im Schlepptau, in die aufgehende Sonne Richtung Schnellstraße. Im Radio brachten sie Sportergebnisse, Werbejingles und einen Bericht über Ausschreitungen auf dem Market Square am Abend zuvor: umfangreiche Sachschäden, eine tödliche Schussverletzung, ein Polizeipferd mit gebrochenem Bein.

Smudge schenkte all dem keine Beachtung. Er war siebzehn und hatte gerade seine Führerscheinprüfung bestanden. Liebevoll tätschelte er die Armlehne seines Sitzes und sagte: «Was ich an dem Custom so mag, ist die Hinterachsenfederung. Findste nicht auch? Als würde man so dahingleiten.»

Smudge grinste. Er war ein Morgenmensch.

Garvie sagte nichts. Er war kein Morgenmensch.

«Aber um ehrlich zu sein», fügte Smudge nach kurzer Pause hinzu, «gefällt mir eigentlich alles daran. Abstandsregeltempomat, Parksensoren. Abblendautomatik …»

Butter drehte sich nach hinten um. «Intelligenter Allradantrieb.»

«Scheibenwischer mit Regensensor», sagte Tar, ebenfalls nach hinten gewandt. «Regensensoren sind das Größte.»

Alle sahen Garvie an.

Butter sagte zu Smudge: «Redet nicht viel, was? Dein genialer Freund hier.»

«Transporter sind nicht so sein Ding», sagte Smudge entschuldigend.

Tar sagte: «Was ist denn dann dein Ding, Superhirn?»

Garvie sah ihn an. «Zuhören, wenn Transporterfans sich unterhalten», sagte er. «Kann ich nur von Glück sagen.»

Scherze und lockere Sprüche flogen hin und her. Garvie nahm alles nur mit halbem Ohr wahr, genau wie das Radio, in dem weitere Meldungen folgten. Zwei Schwerverletzte bei einem Verkehrsunfall auf der Ringstraße. Brandstiftung in einem Bürokomplex. Neuerliche Verzögerung der polizeilichen Ermittlungen über Geldwäsche im Kasino Imperium: Sie waren noch immer nicht dem Ober-«Smurf» auf die Spur gekommen – dem Schmuggler, der in Absprache mit dem Club schmutziges Geld gegen Spielchips getauscht hatte.

Auf der Ringstraße gerieten sie in den morgendlichen Berufsverkehr und schoben sich langsam im Konvoi bis zur Ausfahrt Battery Hill, dann ging es schneller weiter auf dem sanften Anstieg in Richtung Froggett Woods.

«Tja», sagte Smudge mit Blick aus dem Fenster, «das ist heute doch wieder ein toller Tag zum Zäunesetzen.»

Garvie dachte über diese Bemerkung nach. Es war ein frischer, sonniger Augustmorgen, insofern hatte Smudge recht. Es war außerdem der neunte Tag hintereinander, dass er für Smudges Bruder arbeitete, am Wochenende Überstunden machte, frühmorgens rausmusste, sich auf der Fahrt durchschütteln ließ und sich launiges Geplauder über Transporter anhörte. Und natürlich Zäune setzte! Vor zwei Monaten war er noch zur Schule gegangen, jetzt bewegte er sich in der Welt der Arbeit. Er war sich noch nicht sicher, was er von dieser Welt halten sollte. Auf jeden Fall fing sie für seinen Geschmack viel zu früh an.

Der Transporter fuhr jetzt langsam und leicht schaukelnd über einen einspurigen Weg, zwischen hohen, grünen Heckenfronten hindurch, hinter denen hier und da Hausdächer und -giebel hervorlugten. Nachdem er neben einem dekorativen Bushäuschen mit Reetdach abgebogen war, näherte er sich dem Tor der «Four Winds», dem Heim von Dr. med. Roecastle. Bevor Smudges Bruder etwas in die Gegensprechanlage am Eingang sagen konnte, schwenkten die automatischen Torflügel auf, und beide Transporter steuerten über die weitgeschwungene Zufahrt zum Haus.

Schweigen breitete sich aus, ein Moment des Innehaltens vor der an diesem Tag zu leistenden Arbeit. Und in diese Stille hinein sagte Garvie: «Irgendwas stimmt hier nicht.»

Smudge sah ihn verständnislos an.

«Das war ein nicht sequenzielles Element», sagte Garvie.

«Was denn?»

«Du kennst sie doch. Die Frau, der dieses Haus gehört.»

«Jep. Bisschen verkrampft. Und?»

«Sie ist immer schon bereit, wenn wir ankommen. Alle Jalousien sind hoch. Die Tür ist offen. Sie wartet schon darauf, uns Anweisungen zu geben.»

«Ja. Und?»

«Bisher hat sie jedes Mal gefragt, wer wir sind, bevor sie uns reingelassen hat. Heute hat sie nicht gefragt. Sondern einfach gleich das Tor aufgemacht. Ein nicht sequenzielles Element. Fällt aus der Reihe.»

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann brachen alle, mit Ausnahme von Smudge, in Gelächter aus.

Sie fuhren die Auffahrt hinauf, bis das Haus in Sicht kam, und dann sagte Smudge: «Oh, guckt mal, die Jalousien sind noch unten.»

Jetzt verstummten alle und sahen zum Haus, während sie langsam an der Vorderseite entlangfuhren und schließlich anhielten. Es stimmte. Sämtliche Fensterjalousien waren noch heruntergelassen.

Dr. Roecastle erwartete sie nicht an der Tür.

Ringsherum war alles still.

Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen. Butter sagte: «Komm schon, Mann. Das kann wer weiß was für Gründe haben. Was sollen wir deiner Meinung nach machen, die Polizei anrufen?»

«Nicht nötig», sagte Garvie. «Falls die Sache ernst genug ist, wird sie das schon gemacht haben. Sie ist dieser Typ Frau.»

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da kam ein Streifenwagen auf der Zufahrt hinter ihnen in Sicht.

Die Männer stiegen aus den Transportern und blickten ihm argwöhnisch entgegen. Sie standen nicht unbedingt auf freundschaftlichem Fuß mit den Vertretern des Gesetzes; Smudges Bruder hatte gerade mit einer Klage – oder, wie er es lieber ausdrückte, einem «Missverständnis» – im Zusammenhang mit Diebesgut zu tun gehabt. Der Wagen kam mit hoher Geschwindigkeit angerauscht, hielt vor dem Haus, und ein Polizist stieg aus. Er war ein kleiner, schlanker, bärtiger Mann von etwa dreißig; er trug eine akkurate Uniform und einen kugelsicheren Turban, und er rückte beides sorgfältig zurecht, bevor er ebenso sorgfältig seine Autotür schloss und sich dann dem Haus zuwandte. Auf dem Weg dorthin warf er einen Blick hinüber zu den acht Männern, die verlegen neben ihren Transportern standen in ihren ausgebeulten Trainingshosen und ölverschmierten Kapuzenjacken – und als er Garvie erkannte, blieb er überrascht stehen.

«Was machst du denn hier?», fragte er.

«Zäune.»

Für einen Moment klappte Inspektor Singhs Mund auf, doch es schien, dass er nichts weiter zu sagen wusste, und so sammelte er sich schließlich, nickte knapp und ging auf die Haustür zu, die plötzlich aufgerissen wurde. Dr. Roecastle, die noch immer die Kleidung vom Abend zuvor trug, sagte mit vorwurfsvoller, vor Erregung schriller Stimme: «Na endlich!»

Sie ließ ihn eintreten und schloss die Tür, während sich draußen vor dem Haus alle Männer einträchtig umwandten und Garvie anstarrten, der schweigend rauchte und dabei seine Stiefel betrachtete.

4

Im schwarz-weißen Wohnzimmer saß Dr.  Roecastle auf dem einen Sofa und Detective Inspector Singh von der städtischen Polizei mit seinem Aufnahmegerät auf dem anderen.

«Also», begann er mit der ihm eigenen Sorgfalt, «erzählen Sie, was passiert ist.»

Sie sagte ihm, dass ihre Tochter verschwunden sei.

Mit viel Emotion, die sich großenteils aus Zorn und Gereiztheit zusammensetzte, beschrieb sie Amys Ankunft nach Mitternacht, ihre Unterhaltung und wie sie darauf gewartet hatte, dass Amy runterkam.

«Anfangs war mir gar nicht klar, dass sie weg war», sagte sie. «Ich hatte gerade die Alarmanlage eingeschaltet und hätte es gehört, wenn Amy sie deaktiviert hätte, also habe ich erst mal eine Stunde hier drinnen herumgesucht, bis ich begriff, was los war. Wie sie das Haus verlassen hat, weiß ich nicht. Dann hab ich noch einmal zwei Stunden gewartet, dass sie zurückkommt, bevor ich die Polizei gerufen habe. Ich bin überhaupt nicht im Bett gewesen.»

«Und verständlicherweise machen Sie sich große Sorgen», sagte Singh.

«Ich bin außer mir. Ich habe furchtbar viel zu tun, und offen gestanden fehlt mir die Zeit für so was.» Sie sah Singh streng an. «Und jetzt, wo ich sie als vermisst gemeldet habe, würde ich gern wissen, was als Nächstes passiert.»

Singh skizzierte die übliche Vorgehensweise. Eine Risikoanalyse würde erstellt werden, und die Polizei würde sich mit anderen Dienststellen koordinieren, um eine sachgemäße Strategie zu entwickeln; Unterstützer vor Ort würden sich mit landesweiten Netzwerken abstimmen. Dr. Roecastle schien gar nicht zuzuhören.

Er wandte sich den praktischen Details zu. Erinnerte sich Dr. Roecastle daran, was Amy angehabt hatte, als sie das Haus verließ? Könnte sie ihm ein aktuelles Foto zur Verfügung stellen?

Mit einer jähen Handbewegung brachte Dr. Roecastle ihn zum Schweigen. Sie stand auf, ging zur Tür und warf einen Blick in den Flur, bevor sie zu ihrem Sofa zurückkehrte.

«Ich habe Arbeiter auf dem Grundstück», sagte sie, «und einige von denen sind nicht allzu wohlerzogen, das heißt, ich muss ein Auge auf sie haben. Es gibt einige wertvolle Kunstgegenstände im Flur. Bitte, fahren Sie fort.»

Mit einem etwas abwesenden Ausdruck nahm sie seine Frage nach Amys Aktivitäten am Abend zuvor entgegen.

«Sie ist mit einer Freundin in der Stadt gewesen», sagte sie. «Als sie zurückkam, hatte ich, ehrlich gesagt, den Eindruck, dass sie betrunken war.»

«Sie ist sechzehn, sagten Sie?»

«Wird im Februar siebzehn. Sie geht auf die Alleyn’s School und bereitet sich auf ihre Prüfungen vor.»

«Für eine Kneipentour in der Stadt ist sie noch recht jung, nicht wahr?»

«Man merkt, dass Sie selbst keine Kinder haben», sagte sie trocken.

Er zögerte kurz, dann fuhr er fort: «Wer ist die Freundin, mit der sie unterwegs war?»

«Sophie Brighouse. Eine Schulkameradin. Sie wohnt in Battery Hill. Ist im gleichen Alter wie Amy. Natürlich können sie beide viel älter aussehen, wenn sie es drauf anlegen. Plötzlich denken sie, sie wären erwachsen.»

«Wissen Sie, wo genau sie gewesen sind?»

«Sophie wird es Ihnen sagen können. Sie werden mit ihr sprechen wollen, nehme ich an.»

Er nickte. «Das mache ich auf meinem Rückweg ins Zentrum.» Er überlegte einen Moment. «Ist irgendetwas in jüngerer Vergangenheit vorgefallen, das Amy veranlasst haben könnte, wegzugehen? Probleme in der Schule? Streit mit ihrem Freund?»

«Sie hat keinen festen Freund.»

«Ein Streit mit Ihnen vielleicht?»

«Sie streitet andauernd mit mir. Über Kleinigkeiten.»

Er überlegte. «Ist sie vorher schon mal von zu Hause weggelaufen?», fragte er.

Dr. Roecastle antwortete schmallippig: «Im Februar war sie drei Tage verschwunden.»

«Was ist da passiert?»

«Wir haben die Polizei nicht eingeschaltet, sondern eigene Nachforschungen angestellt. Wir haben uns natürlich Sorgen gemacht. Haben überall gesucht. Am Ende haben wir sie in einem Hotel in der Innenstadt gefunden, wo sie sich ein Zimmer genommen hatte. Und wo eine nicht unerhebliche Rechnung für den Zimmerservice aufgelaufen war. Meine Tochter hält sich für eine Rebellin, Herr Inspektor, sie trägt diese Goth-Punk-Klamotten, flirtet mit Jungen, die nicht zu ihr passen, raucht Gras an ihrer exklusiven Schule, protestiert gegen Politiker, aber im Grunde ist sie ein ganz normaler Teenager. Gedankenlos. Nur die eigene Person im Blick. Sie hat den Alkohol für sich entdeckt. Der Sommer war ein absoluter Albtraum. Ich bin alleinerziehend, ich habe eine leitende Position im Krankenhaus, es ist mir schlicht nicht möglich, sie die ganze Zeit zu überwachen. Weil immer noch Ferien sind, hatte ich ihr erlaubt, auszugehen, unter der Voraussetzung, dass sie spätestens um zehn zurück ist. War sie aber nicht. Natürlich habe ich ihr zu viele Freiheiten gewährt, das weiß ich selbst. Sie hat ihre eigene Kreditkarte. Wir sind nicht arm. Sie ist äußerst privilegiert, aber sie hat mein Vertrauen missbraucht. Und zwar nicht zum ersten Mal.»

Singh ließ die Informationen auf sich wirken. «Was ist im Februar passiert?», fragte er nach einer Weile.

Dr. Roecastles Nasenflügel blähten sich. «Das war, als meine Ehe in die Brüche gegangen ist.»

Singh nickte verständnisvoll. «Und Amys Vater lebt jetzt woanders?»

«Ja.»

«Könnte sie letzte Nacht zu ihm gegangen sein?»

«Amys Verhältnis zu ihrem Vater ist noch schlechter als das zu mir. Sie reden nicht miteinander. Außerdem weiß keiner von uns, wo er ist. Er ist Mathematiker, er forscht auf einem Gebiet, das man Stringtheorie nennt. Als ich das letzte Mal von ihm hörte, war er in Kalifornien. Jedenfalls ist er wie üblich nicht anwesend, um mich zu unterstützen. Nein. Ich habe Amy gewarnt, wenn sie so etwas noch einmal macht, dann würde ich die Polizei einschalten, und daran habe ich mich gehalten. Es wäre sicherlich nicht die schlechteste Idee, wenn Sie bei Ihrer Suche mit den Hotels in der Innenstadt anfangen würden.»

Singh nickte. «Danke, dass Sie so offen mit mir gesprochen haben. Gibt es sonst noch etwas, das wichtig sein könnte?»

«Ich glaube, ich habe alles gesagt, was zu sagen ist. Jetzt übergebe ich Ihnen die Sache.»

Er erhob sich. «Darf ich nach oben gehen?»

«Warum?»

«Ich würde mir gern Amys Zimmer ansehen.»

Dr. Roecastle zuckte die Achseln und führte ihn in den Eingangsflur.

«Oh, eins noch», sagte Singh im Gehen. «Ist gestern Abend irgendetwas Ungewöhnliches passiert?»

«Ungewöhnliches?»

«Irgendetwas, das aus dem Rahmen fiel.»

Sie blieb am Fuß der Treppe stehen, um nachzudenken, während Singh sich im Flur umblickte. Wie das Wohnzimmer war auch er nach künstlerischen Maßgaben neu gestaltet, die originale dunkle Täfelung aus dem neunzehnten Jahrhundert durch moderne Ausstattung aus Glas, hellem Holz und Chrom ersetzt worden. Sonnenlicht flutete jetzt durch die Schiebefenster, ließ die weiß getünchten Wände erstrahlen und beleuchtete die Kunstwerke, die auf Sockeln davor platziert waren, röhrenförmige, scharlachrot glänzende Keramikobjekte, die vage an Sexspielzeug erinnerten. Es war weniger ein Wohnraum als eine Galerie, oder auch, dachte Singh, die Darstellung einer resoluten, wenn nicht gar rigiden Persönlichkeit. Das Einzige, was hier nicht hineinpasste, war eine gelbliche Einkaufstasche von Doc Martens, die am Ende eines Tisches auf der Seite lag. Davon abgesehen, war alles von beinahe mathematischer Perfektion.

«Jetzt, wo Sie mich drauf ansprechen», sagte Dr. Roecastle. «Es ist zwar ein seltsamer Zufall, aber seit gestern Nacht haben wir noch einen weiteren Vermisstenfall.»

«Tatsächlich?»

«Unser Wachhund Rex. Ein Dobermann. Er schläft im Nebengebäude. Gestern Nacht war er wie üblich angekettet, aber heute Morgen war er nicht mehr da.»

«Könnte Amy ihn mitgenommen haben?»

Sie sah ihn mit einem gewissen Hohn an. «Ich bezweifle, dass Haustiere im Astoria oder im Hilton erlaubt sind. Nein. Und Amy hat sowieso immer Angst vor dem Hund gehabt. Er ist ein ziemliches Biest, um ehrlich zu sein. Die Kette ist alt und abgenutzt; ich nehme an, sie ist gerissen. Vielleicht war er unruhig wegen des Gewitters und hat heftig daran gezogen. Wie auch immer –» Sie überlegte einen Moment. «Es ist ein Zufall. Zwei Vermisste in einer Nacht.»

Sie ging die Treppe hinauf, Singh folgte ihr stirnrunzelnd.

Zwischendurch blickte er auf seine Armbanduhr. 8:00 Uhr. Amy Roecastle wurde seit siebeneinhalb Stunden vermisst.

5

Im Garten, auf der Anhöhe und außer Sicht, trat Smudges Bruder auf Garvie zu, um ihm den Marsch zu blasen.

«Irgendwas stimmt hier nicht? Ich sag dir, was hier nicht stimmt. Dein nichtsnutziges Scheißstück von einem Zaun.»

Der Garten der «Four Winds» war ein weitläufiges Gelände, das sich von der gepflasterten Terrasse über drei Ebenen gepflegten Rasens bis zu einem malerischen Sträucherensemble hinaufzog, welches die Grundstücksgrenze markierte. Der neue, halb fertiggestellte Zaun sollte genauso weitläufig sein, eine elegante, umgreifende Einfriedung, die sich, teilweise unsichtbar oberhalb der Anhöhe, am Waldrand entlangschlängelte. Klassisches Rotzedernholz, neunundzwanzig Pfähle pro 2,4-Meter-Abschnitt auf traditionell ausgehärtetem 150-mm-Sockelbrett, dazwischen jeweils 2,70 Meter hohe Pfosten mit den amtlichen kugelförmigen Zieraufsätzen. Nicht von schlechten Eltern. Und schon gar nicht billig.

Der Abschnitt entlang des Weges war von Tar und seinem Team hochgezogen worden, der Abschnitt vom Tor bis zum Teich von Butters Truppe und der Abschnitt zwischen Teich und Gebüsch, am weitesten entfernt vom Haus, von Smudges Bruder, mit Smudges und Garvies Hilfe. Alle drei Abschnitte waren fertig, standen sauber und gerade – mit Ausnahme von Garvies 2,4 Metern, die irgendwie in sich zusammengefallen waren.

«Drei Tage», sagte Smudges Bruder. «So lange hast du daran gearbeitet.»

Garvie sagte nichts.

«Ja, was?»

Garvie sagte: «Zwei Tage, vier Stunden, fünfzig Minuten.»

Smudges Bruder starrte ihn an. «Zwei Tage, vier Stunden und fünfzig Minuten komplett für ’n Arsch!»

Garvie zog an seiner Zigarette und blies Rauch aus. «Gestern Abend hat’s noch gestanden», sagte er.

«Dir ist aber schon klar, dass die Dinger länger als einen Tag halten sollen, oder? Wir bauen keine Wegwerfzäune, das weißt du, ja?» Smudges Bruder ging um das umgestürzte Zaunstück herum, während Garvie weiterrauchte. «Wie oft hab ich dir erklärt, wie tief die Löcher sein müssen? Was hab ich dir über den Ballast gesagt? Hast du überhaupt eine Richtschnur benutzt?»

Garvies Blick schweifte zu den Sträuchern, wo Smudge seine Arbeit unterbrochen hatte und besorgt zu ihm herüberblickte. Er hob eine Hand und winkte.

«Ja und, Superhirn?», sagte Smudges Bruder. «Was hast du mir zu sagen?»

«Erklär noch mal kurz, was eine Richtschnur ist.»

Smudges Bruder rastete ein bisschen aus, während Garvie sich noch eine Benson & Hedges anzündete und darauf wartete, dass der Lärm aufhörte. Als er wieder aufblickte, war Smudges Bruder über den Rasen nach unten gegangen, wo er auf Tar und Butter einredete. Garvie seufzte. Ohne sein umgestürztes Zaunstück weiter zu beachten, schob er sich daran vorbei, stieg über die Reste des alten Drahtzauns an der Gartengrenze und verharrte dort für einen Moment, die Zigarette im Mund. Vor ihm, zur Linken, lagen karge Wiesen. Zur Rechten war Wald, ein schwarzes Dickicht von Birken und Ahornbäumen. Ein Fußweg, der aus Richtung der Straße kam, beschrieb vor dem Zaun, genau dort, wo er stand, einen Bogen und verlor sich zwischen Wiese und Wald in der Ferne.

Es war friedlich, die Vögel in den Bäumen schienen zufrieden mit sich und der Welt, und Garvie beneidete sie darum. Als er sich umdrehte, um in den Garten zurückzugehen, fiel ihm etwas auf dem umgestürzten Zaunstück ins Auge. Er beugte sich hinunter und zog einen langen schwarzen Stofffetzen von einem Nagelkopf.

Die Ausstattung in Amys Zimmer war ebenso geschmackvoll wie die der Räume im Erdgeschoss. Anders als diese aber war es chaotisch und unaufgeräumt. Musikzeitschriften und alternative Lifestyle-Magazine waren auf dem Fußboden verstreut. Die Schranktür stand offen, Kleidungsstücke waren herausgefallen und lagen in Haufen auf dem Fußboden, Punk- und Goth-Outfit, überwiegend in Schwarz, dazwischen Sachen im Military-Look, T-Shirts, Gürtel mit silbernen Nieten, brutal aussehende Schuhe und Schnürstiefel.

Singh stakste durch das Chaos und sah sich aufmerksam um.

Kleine Details fielen ihm auf: auf einem Holzbrett hoch über dem Bett eine Reihe von handbemalten Pappmachéfiguren in seltsamen Verrenkungen; auf dem Schreibtisch, noch von der Gelenklampe beleuchtet, das halbfertige Bild einer Frau in Kriegsbemalung; daneben ein aufgeschlagenes Übungsheft mit einer komplizierten Mathe-Aufgabe. Alles Hinweise auf eine künstlerisch interessierte, kluge, rebellische Person.

Für einen Moment stutzte er angesichts einiger Blumen in einem Krug auf dem Kaminsims. Sie schienen hier fehl am Platz, irgendwie mager und schmutzig, keinesfalls ein Strauß aus einem Blumenladen.

Er ging zum Fenster und blickte in den Garten hinaus, dann wandte er sich erneut dem Zimmer zu. Etwas in dem Kleiderschrank erregte seine Aufmerksamkeit, er zog seine Latexhandschuhe über und nahm es näher in Augenschein.

Kurz darauf rief er Dr. Roecastle herbei.

«Ist das die Jacke, die sie gestern Abend getragen hat?», fragte er.

Ganz nach hinten ins obere Schrankregal gestopft lag eine kurze olivgrüne Jacke, noch immer nass.

Dr. Roecastle sah sie prüfend an. «Ja, ich glaube wohl.» Sie runzelte die Stirn. «Obwohl ich nicht weiß, warum sie sie ausgezogen haben sollte, bevor sie wieder losgezogen ist. Es hat in Strömen geregnet.»

«Besitzt sie noch eine andere Jacke?»

«Sie hasst Jacken. Ich wusste nicht mal, dass sie diese hat. Sie hat ein bestimmtes Budget zur Verfügung, um sich selbst einzukleiden.» Sie deutete in die Runde. «Was dabei herauskommt, sehen Sie hier.»

Sie kehrten in den Treppenflur zurück.

Singh sagte: «Amys Zimmer ist ab sofort von polizeilichem Interesse. Es wird versiegelt, damit die Kriminaltechniker ihre Arbeit machen können. Gehen Sie bitte möglichst nicht mehr hinein.»

«Noch eine Unannehmlichkeit mehr.»

«Und jetzt würde ich mich gern im Garten umsehen, wenn ich darf.»

«Im Ernst? Warum?»

«Ihr Zimmerfenster ist entriegelt. Überwacht Ihre Alarmanlage nur das Erdgeschoss?»

«Ja.»

«Ich nehme an, Ihre Tochter wusste das, als sie hinausgeklettert ist.»

Er ließ sie stehen, ging die Treppe hinab und durch die Eingangstür ums Haus herum zur Terrasse auf der Rückseite. Dort fielen ihm sofort die deutlichen Fußabdrücke im Blumenbeet direkt unter Amys Zimmerfenster ins Auge. Schlammige Fußspuren führten quer über die Terrasse zum Rasen, und Singh folgte ihnen die Anhöhe hinauf, wobei er sich, getreu seiner methodischen Vorgehensweise, hin und wieder bückte, um Abdrücke auf dem Boden näher zu untersuchen, die ganze Zeit argwöhnisch beobachtet von den Männern, die an der Umzäunung arbeiteten.

Nur ein einziger der Zaunmonteure ließ sich von ihm nicht bei der Arbeit stören. Doch es war gerade dessen Abschnitt des umgestürzten Zaunes, auf den Singh achtsam zusteuerte.

Als er dort angelangt war, kam Smudges Bruder zögernd herbei, und sofort begann Singh ihn zu befragen.

«Diese ganze Umzäunung ist neu?»

«Jep.»

«Alles vor gestern Abend aufgebaut?»

«Jep.»

«Ist Ihnen heute Morgen irgendwas aufgefallen, das anders war?»

«Jep.»

«Ja? Und was?»

Jetzt erst nahm Smudges Bruder die Zigarette aus dem Mund und zeigte damit zaghaft auf das umgestürzte Zaunstück. «Das hier war umgefallen.»

Beide Männer sahen Garvie an, der dem Polizisten die ganze Zeit den Rücken zudrehte und beim Weiterarbeiten leise vor sich hinpfiff.

«Sonst noch etwas?», fragte Singh Smudges Bruder. «Als Sie heute Morgen hier eintrafen, ist da zum Beispiel –»

Ohne sich umzudrehen, sagte Garvie: «Wahrscheinlich ist er eingestürzt, als sie drübergeklettert ist.»

Smudges Bruder runzelte die Stirn und machte den Mund auf.

Singh sagte: «Warum sollte sie rübergeklettert sein?»

«Um auf die andere Seite zu kommen.»

«Was ist auf der anderen Seite?»

«Der Weg.»

Smudges Bruder blickte verwirrt von einem zum anderen. «Hören Sie –», setzte er besorgt an.

«Sie können die ausgetretene Linie im Gras genauso gut sehen wie ich», sagte Garvie zu Singh, der einen Blick zurück über den Rasen warf.

«Du glaubst also, sie ist öfter hier langgekommen? Warum?»

«Weil es ruhig ist. Weil es besser ist, als wenn man sich die Mühe machen muss, durch das gesicherte Tor zu gehen. Weil es die Richtung ist, in die sie wollte.»

Singh nickte. Er blickte durch die Zaunlücke zum dunklen, dichten und feuchten Waldgelände hinüber. Kaum hatte er es ins Auge gefasst, befiel ihn eine bange Vorahnung.

«Wo führt der Weg hin?», fragte er.

Smudges Bruder sagte: «Keine Ahnung.»

Garvie sagte: «Zu irgendeinem Ort, wo sie hinwollte. Sie muss echt sauer gewesen sein, als sie feststellte, dass hier plötzlich ein Zaun stand. Und vor allem», fügte er hinzu, «so ein stabiler.»

Singh dachte darüber nach. «Deine Pfostenlöcher sind nicht tief genug», sagte er schließlich.

Garvie zuckte die Achseln. Er sah Smudges Bruder an, der wütend an seiner Marlboro zog, während er weiter von einem zum anderen blickte. «Wie auch immer», fuhr Garvie fort, «ich hab keine Zeit, Ihnen zu helfen, Kumpel, ich muss weitermachen. Wir reißen uns hier alle den Hintern auf, um einen Job zu erledigen.»

Singh sah ihn an, nickte kurz und entfernte sich. Smudges Bruder, der während des gesamten Wortwechsels in seiner verwirrten Haltung verharrt hatte, warf Garvie einen langen, feindseligen Blick zu und ging dann in die andere Richtung. Und Garvie unterbrach seine Arbeit, lehnte sich gegen den einen aufrechten Zaunpfosten und zündete sich noch eine Benson & Hedges an.

Kurz darauf gesellte sich Smudge zu ihm. Gemeinsam beobachteten sie, wie Singh am unteren Ende des Rasens von Dr. Roecastle abgefangen wurde.

Sie schien ihm ordentlich zuzusetzen.

«Das vornehme Töchterchen ist also verschwunden», sagte Smudge.

«Nicht, bevor sie meinen Zaun plattgemacht hat.»

«Ich glaube, deine Pfostenlöcher hätten bisschen tiefer sein können.»

«Fang nicht damit an.»

Singh holte jetzt ein Notizbuch hervor und schrieb etwas auf.

«Hab zufällig mitgehört, als ich auf Klo war», sagte Smudge. «Sie hat den Hund mitgenommen. Scheint ’ne kleine Bestie zu sein. Ist mit ihm in eins von diesen komischen Hotels, wo sie auf Haustiere eingerichtet sind.»

«Ach ja?»

«So geht das Gerücht. Könnte auch was anderes sein.»

«Irgendwelche Ideen, was?»

«Ich könnte mir Terrorismus vorstellen. Das wäre ein Ansatz. Vornehme Töchter stehen auf Terroristen. Was meinst du?»

«Ich würde da dranbleiben an deiner Stelle.»

Smudge sah ihn an. «Hey, Sherlock. Du solltest dem Wachtmeister echt unter die Arme greifen. Weißt schon, so wie letztes Mal.»

«Bin mir nicht so sicher, ob er das gut finden würde, Smudge.»

«Er hat es aber nötig. Bei diesen Bullen geht es doch immer einen Schritt vor und dann wieder einen Schritt zurück. Oder zur Seite», ergänzte er nach kurzem Nachdenken. «Eben haben sie noch was rausgekriegt, und im nächsten Moment verlieren sie ihre Fahrradklammern.»

Garvie betrachtete sein umgestürztes Zaunstück und seufzte.

«Pass auf», sagte Smudge, «ich helf dir, den Zaun wieder aufzurichten, und dann kannst du mir diese Sachen im Haus zeigen, von denen du erzählt hast. Du weißt schon, welche ich meine.»

Er zwinkerte.

Garvie seufzte. «Das sind keine richtigen Sexspielzeuge, Smudge. Das ist dir klar, oder? Das sind Kunstwerke. Skulpturen.»

«Ich will ja nur mal gucken», sagte Smudge in gekränktem Ton.

«Okay. Später. Aber nichts anfassen. Und du musst leise sein. Wir wollen nicht, dass diese Frau uns auf die Pelle rückt.»

«Mach dir darüber keine Gedanken, Alter. Ich kann gut mit Leuten.»

«Mit der kannst du nicht gut. Glaub mir.»

Unten auf der Zufahrt sagte Dr. Roecastle etwas in scharfem Ton, drehte sich mit einer ungeduldigen Handbewegung abrupt um und marschierte ins Haus, während Singh nachdenklich zu seinem Auto ging.

Garvie drückte seine Benson & Hedges aus und sah hinauf in den strahlend blauen Himmel. Unglücklicherweise war es ein prachtvoller Tag zum Zäunebauen. Smudge reichte ihm einen Hammer, und sie machten sich an die Arbeit.

6

Ort: große, komfortable Küche im Landhausstil.

Erscheinung des Befragenden: ruhig, ordentlich, gewissenhaft.

Erscheinung der Befragten: blond, nervös, trotzig.

Erscheinung der Mutter der Befragten: wächsernes Gesicht.

DI Singh: Danke Ihnen beiden, dass Sie sich so kurzfristig bereitgefunden haben, mit mir zu sprechen.

Sophie Brighouse: Sie sagen, dass Amy vermisst wird.

DI Singh: Das ist leider der Fall.

Sophie Brighouse: Aber ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun hat.

DI Singh: Ich möchte dir nur einige Fragen zu dem gestrigen Abend stellen.

Sophie Brighouse: Aber gestern Abend war gar nichts.

DI Singh: Ihr seid in der Stadt gewesen?

Sophie Brighouse: Market Square. Wir sind nicht lange geblieben. Wir haben im Chi-Chi, an der Ecke Well Street, was getrunken, dann sind wir weiter zur Wicker, da haben sie uns ins Wild Mouse reingelassen, den Underground-Laden. Allzu lange waren wir da auch nicht. Eine Stunde, anderthalb. Die haben plötzlich angefangen, dieses psychedelische Zeug zu spielen, da sind wir dann nach Hause. Das war alles.

DI Singh: Und wie seid ihr nach Hause gekommen?

Sophie Brighouse: Taxi. Wir fahren immer mit dem Taxi, das ist Teil der Abmachung. Amy ist bei sich ausgestiegen, und ich bin hierher weiter.

DI Singh: Und wann genau ist Amy ausgestiegen?

Sophie Brighouse: Gegen Mitternacht. Kurz vorher.

DI Singh: Das ist ziemlich spät, nicht wahr? Wie alt bist du, Sophie? Sechzehn?

Sophie Brighouse: Ich habe meinen eigenen Schlüssel, das ist kein Problem. Ich darf zweimal die Woche ausgehen, solange meine Zensuren nicht darunter leiden.

Mrs. Brighouse:(lakonisch) Das ist eine Regelung, die zurzeit auf dem Prüfstand steht, Herr Inspektor.

DI Singh: Ihr seid nicht zu dem Rave gegangen, der an der Wicker stattfand?

Sophie Brighouse: Natürlich nicht.

DI Singh: Ihr wart nicht am Market Square während der Randale?

Sophie Brighouse: Nein.

DI Singh: Okay. Habt ihr irgendjemand getroffen im Chi-Chi oder im Wild Mouse?

Sophie Brighouse: Nein. Ich meine, wir haben mit ein paar Typen geredet, aber die kannten wir nicht oder so.

DI Singh: Du weißt nicht, wer die waren?

Sophie Brighouse:(schüttelt den Kopf) Einfach irgendwelche Typen.

DI Singh: Hat Amy mit irgendwem telefoniert?

Sophie Brighouse: Nicht, dass ich wüsste.

DI Singh: Wie viel Alkohol habt ihr beide zu euch genommen?

Sophie Brighouse:(zögert)

Mrs. Brighouse: Sophie. Der Inspektor muss genau wissen, wie es war.

Sophie Brighouse: Wir hatten jede eine Margarita im Chi-Chi. Die waren echt total teuer. Im Wild Mouse haben wir nur Wasser getrunken.

DI Singh: War Amy betrunken?

Sophie Brighouse: Auf keinen Fall. Waren wir beide nicht.

DI Singh: Hat sie irgendwelche illegale Substanzen konsumiert?

Sophie Brighouse: Natürlich nicht. Wir sind doch nicht blöd.

DI Singh: Also würdest du ihren Zustand am Ende des Abends als nüchtern bezeichnen?

Sophie Brighouse: Total.

DI Singh: Hat sie sich normal benommen?

Sophie Brighouse: Natürlich.

DI Singh: Gab es irgendetwas an dem Abend, worüber sie sich aufgeregt hat?

Sophie Brighouse: Nein, nichts.

DI Singh: Bist du sicher?

Sophie Brighouse: Da war nichts. Deshalb …

DI Singh: Deshalb was?

Sophie Brighouse:(Pause) Deshalb ist diese ganze Fragerei auch sinnlos.

DI Singh:(Pause) Okay. Nur ein paar Punkte noch. Nachdem das Taxi dich abgesetzt hat, hast du sie an dem Abend noch mal gesehen?

Sophie Brighouse: Nein.

DI Singh:(Pause) Hast du mit ihr gesprochen?

Sophie Brighouse: Warum hätte ich mit ihr sprechen sollen?

DI Singh: Hast du?

Sophie Brighouse: Natürlich nicht.

DI Singh: Okay. Kannst du mir jetzt einige allgemeinere Fragen über Amy beantworten? Was für eine Art Mädchen ist sie, was würdest du sagen?

Sophie Brighouse: Na ja, sie ist wirklich richtig schlau. Ihr Dad, also, der hat praktisch zwei Gehirne, und ihre Mom ist so eine Topchirurgin, und tja, sie kommt nach den beiden. Aber sie ist auch echt cool. Ich meine, sie ist total sie selbst. Und sie ist loyal. Wenn du mit ihr befreundet bist, hält sie zu dir, egal was passiert.

DI Singh: Okay, das ist interessant. Gibt es irgendwas Bestimmtes, das Amy in letzter Zeit beschäftigt hat?

Sophie Brighouse: Eigentlich nicht.

DI Singh: Alles, was dir einfällt, könnte hilfreich sein, egal was es ist.

Sophie Brighouse: Na ja. (Pause) Sie ist gerade in so einer etwas wütenden Phase.

DI Singh: Wütend? Worüber?

Sophie Brighouse: Sie streitet sich ständig mit ihrer Mum.

DI Singh: Sonst noch etwas?

Sophie Brighouse: Nicht wirklich. Aber sie macht ziemlich einen auf Guerilla Girl. Sie wissen schon, Protest und so.

DI Singh: Wogegen protestiert sie?

Sophie Brighouse: Ungerechtigkeit, Armut, Unterdrückung, solche Sachen halt.

DI Singh: Verstehe (macht Notizen). War sie wegen irgendwas im Speziellen aufgebracht? Ihre Mutter sagt, die Scheidung hätte Amy zu schaffen gemacht.

Sophie Brighouse: Ich glaube, ehrlich gesagt, sie ist froh, dass ihr Dad von der Bildfläche verschwunden ist. Der ist ein ziemlicher Spinner. Ist ins Ausland gegangen, glaube ich.

DI Singh: Was ist mit Amys Freundinnen und Freunden? Hat sie viele?

Sophie Brighouse: Alle mögen Amy.

DI Singh: Wie steht’s mit Jungen?

Sophie Brighouse: Die mögen Amy besonders. Die Jungs, kann man sagen, stehen praktisch Schlange. Sie geht aber mit keinem.

DI Singh: Niemand, dem sie nähersteht?

Sophie Brighouse: Nein.

DI Singh: Okay. Bevor ich gehe, gestatte mir, dass ich noch einmal frage, ob dir irgendetwas einfällt – egal was –, das Amy an diesem Abend aus der Fassung gebracht haben könnte. Es muss nichts Auffälliges gewesen sein. Irgendetwas, das sie vielleicht gesehen oder gehört hat. Etwas, das vielleicht in der Unterhaltung zur Sprache kam.

Sophie Brighouse: Wie ich schon sagte. Da war nichts. Es war ein völlig normaler Abend.

DI Singh: Dann danke ich dir, Sophie. Ich lasse deiner Mutter meine Kontaktdaten da für den Fall, dass du dich später an etwas erinnerst.

Sophie Brighouse erhob sich rasch vom Küchentisch, verharrte dann aber, die Hände auf die Rückenlehne ihres Stuhls gestützt. Im Licht, das durchs Fenster fiel, war sie geradezu bestürzend blond, mit kleinem Mausgesicht, Fältchen um die malvenfarbenen Augen und blassen Lidern. Die Augen waren voller Tränen. Sie biss sich auf die blassrosa Unterlippe.

«Sie werden sie finden, nicht wahr?» Sie sprach mit einem Lispeln.

Singh sagte: «Das ist unser Ziel.»

«Ich meine, es wird alles gut werden?»

Singh entgegnete darauf nichts, und Sophie drehte sich um und verließ mit raschen, befangenen Schritten die Küche.

Singh wandte sich ihrer Mutter zu, die am Tischende saß.

«Bevor ich gehe, darf ich Sie fragen, ob Sie die Meinung Ihrer Tochter über Amy Roecastle teilen?»

Mrs. Brighouse war eine von denen, die immer erst einmal eine Pause machen, bevor sie sprechen. Sie hielt ihre Augen mit den schweren Lidern auf Singh gerichtet, während sie gemächlich die Lippen schürzte. «Ja, ich denke schon», sagte sie schließlich. «Amy ist ein intelligentes Mädchen. Im Moment vielleicht ein bisschen neben der Spur. Eins muss ich aber sagen.»

«Und zwar?»

«Ich fand immer, sie hätte ihre Geheimnisse. Obwohl, ein bisschen sind sie ja alle so in diesem Alter.»

Singh nickte, schrieb etwas auf.

«Und was denken Sie über ihre Mutter?»

Mrs. Brighouse blinzelte langsam, ließ sich Zeit. «Ich finde, sie ist eine schreckliche Frau», sagte sie dann.

Singhs Reaktion beschränkte sich auf das Hochziehen einer Augenbraue. «Und wie ist ihr Verhältnis zu ihrer Tochter?»

«Es ist gerade das Verhältnis zu ihrer Tochter, das ich meine.»

Er ging über die Gasse vor dem Haus «Cross Keys» und blickte sich um. Es war eine dörfliche Szenerie, wie sie im Buche steht: eine Reihe von Cottages, ein Postamt, eine Bushaltestelle und ein Pub namens Royal Oak, alles sehr malerisch, ruhig und menschenleer. Hinter dem Pub mündete ein Weg, der aus dem Wald kam.

Es traf ihn wie eine Erleuchtung.

Mitten auf der Straße blieb er abrupt stehen, kehrte zum Haus der Brighouses zurück und trommelte an die Tür.

Mrs. Brighouse öffnete und sah ihn überrascht an.

«Der Weg», sagte Singh, «neben dem Pub dort drüben. Wohin führt der?»

Diesmal sprach sie, ohne zu zögern. «Durch den Wald», sagte sie, «bis hin zu Amys Haus.»

Singh sagte: «Bitte rufen Sie Ihre Tochter herunter. Ich habe noch einige Fragen an sie.»

Ort: große, komfortable Küche im Landhausstil.

Erscheinung des Befragenden: angespannt, beherrscht, resolut.

Erscheinung der Befragten: blond, in Tränen aufgelöst.

Erscheinung der Mutter der Befragten: Gesicht mit missbilligendem Ausdruck.

DI Singh: Also. Sie hat dich angerufen. Hat dir gesagt, dass sie rüberkommen würde.

Sophie Brighouse:(weinend) Sie hat gesagt, ich soll es niemandem verraten.

DI Singh: Das ist aber wichtig, Sophie. Du hättest es nicht für dich behalten dürfen. Um wie viel Uhr war das?

Sophie Brighouse: Halb eins. Ich war schon im Bett.

DI Singh: Was waren ihre genauen Worte?

Sophie Brighouse: Sie sagte: «Ich komme rüber.» Ich dann so: «Was? Jetzt? Was ist los?» Ich meine, das kam völlig aus heiterem Himmel. Ich hatte sie ja gerade erst bei ihr zu Hause abgesetzt. Aber sie wollte mir nicht mehr sagen. Sie meinte nur: «Niemand darf das wissen, Soph. Niemand.» Und dann hat sie aufgelegt. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich bin nach unten und hab an der Hintertür gewartet. Aber sie kam nicht. Ich hab sie mehrmals angerufen, aber sie ist nicht rangegangen. Ich dachte, sie hätte es sich wohl anders überlegt. Gegen zwei bin ich dann zurück ins Bett.»

DI Singh: Wovon rief sie an? Drinnen oder draußen?

Sophie Brighouse: Von drinnen.

DI Singh: Wie klang sie, wie war ihr Tonfall? War sie erregt?

Sophie Brighouse: Nein, aber … irgendwas war seltsam an der Art, wie sie gesprochen hat, irgendwie … (beginnt wieder zu weinen) sie klang, als müsste sie gegen irgendeine Panik ankämpfen. (Schluchzend) Und das war das letzte Mal, dass ich sie gehört habe!

DI Singh: Ich verstehe, wie schmerzlich es für dich ist, Sophie, aber es war wirklich sehr wichtig, mir das zu erzählen. Je mehr Informationen wir haben, desto größer ist die Chance, dass wir Amy finden. So, einer unserer Techniker wird kommen, um dein Handy abzuholen. Das werden wir untersuchen müssen.

Sophie Brighouse: Okay.

DI Singh:(Pause) Du sagtest, an dem Abend sei nichts passiert, das sie in Schrecken versetzt hätte. Nicht das Geringste. Und doch, kaum hattet ihr euch getrennt, ruft sie dich in panischer Angst an. Wie können wir das erklären?

Sophie Brighouse: Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Ich verstehe das alles überhaupt nicht.

DI Singh: Okay. Ich habe keine weiteren Fragen. Aber, Sophie, falls dir noch etwas einfällt, wenn ich weg bin, egal was, dann melde dich bitte sofort.

An der Haustür sagte Singh zu Mrs. Brighouse: «Ich bin Ihrer Tochter dankbar, dass sie so ehrlich war. Am Ende.»

Sie sah ihn unter ihren schweren Lidern hindurch an. «Ich frage Sie jetzt das Gleiche, was meine Tochter vorhin gefragt hat: Werden Sie sie finden?»

Jetzt war es an Singh, sich mit seiner Antwort Zeit zu lassen.

«Ich vertraue darauf», sagte er.

«Oje», sagte sie nach einem Augenblick. «Das lässt nichts Gutes ahnen.»

Ohne eine Antwort drehte er sich um, überquerte die Gasse, betrat den Fußweg neben dem Pub und ging, nachdem er einen Blick auf seine Uhr geworfen hatte, in den Wald.

10:30 Uhr. Amy Roecastle wurde seit zehn Stunden vermisst.

7

Garvie und Smudge standen beide in der eleganten Diele der «Four Winds». Smudge betrachtete das auf einem Sockel platzierte hellrote röhrenförmige Objekt und Garvie die auf dem Tisch liegende Einkaufstasche.

«Weißt du was? Das sieht überhaupt nicht wie ’n Sexspielzeug aus.»

«Nicht so laut, Smudge.»

«Sexspielzeuge haben nicht solche Enden. Was solltest du mit so einem Ende anfangen? Das Ende an einem Sexspielzeug ist eher wie –»

«Komm, lass gut sein. Sie kann jeden Moment kommen.»

Smudge wandte seine Aufmerksamkeit einem anderen Objekt zu. Er ging ganz nahe mit dem Gesicht heran und blickte finster.

«Halt Abstand, Smudge. Du kannst es dir angucken. Aber du brauchst nicht daran zu riechen.»

«Das hier», Smudge tippte mit seinem klobigen Finger gegen die Keramik, «ist schon eher wie ein Sexspielzeug. Also, mit einem Ende wie diesem hier könntest du, wenn du’s draufhast –»

Rasche Schritte ertönten vom Wohnzimmer her, und gleich darauf kam Dr. Roecastle mit grimmigem Gesicht durch die Tür, sichtlich erpicht darauf, jemanden zur Schnecke zu machen.

Smudge schob die Hände hinter den Rücken und trat zwei Schritte zurück.

«Keine Ursache», sagte er vorbeugend.

Dr. Roecastle vermied es, ihn anzusehen. Zu Garvie sagte sie: «Ich habe dir schon einmal gesagt, diese Skulptur ist kostbar.»

Garvie warf einen Blick darauf. «Warum?»

Sichtlich überrumpelt von dieser Antwort, klappte sie den Mund zu, um nachzudenken.

«Das ist ein Emily LeClerk», sagte sie. «Eines ihrer frühen Werke. Und jetzt hör zu –»

«Ihrer späten», sagte er.

Wieder hatte er sie auf dem falschen Fuß erwischt. «Wie bitte?»

«Gefertigt 2008. LeClerk wurde 1951 geboren. War also siebenundfünfzig. Das nenne ich spät.»

Sie starrte ihn entgeistert an. «Soll das heißen, dass du dieses Stück kennst?»

Er zuckte die Achseln. «Hab das Schild gelesen.»

Jetzt wurde sie wütend. «Ich erlaube nicht, dass Arbeiter in mein Haus kommen und die Kunst begrabbeln. Ich werde deinen Vorgesetzten informieren.»

Für einen Augenblick standen sie einander gegenüber und strahlten Feindseligkeit aus. Dann schaltete Smudge, der Diplomat, sich ein.

«Übrigens, was ich sagen wollte, im Namen der ganzen Truppe: Das mit Ihrer Tochter, das tut uns sehr leid.»

Sie sah ihn zornig an.

«Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen», sagte sie pikiert. «Oder auch nur zu reden, vielen Dank.»

Smudge nickte verständnisvoll. «Nein, aber ich weiß doch, dass Ihnen das zu schaffen macht, was? Vielleicht ist das ja nur eine terroristische Connection in diesem Hotel, wo sie war. Aber ich hab mal ’n bisschen nachgedacht. Könnte ’ne Entführung sein. Gehirnwäsche. Oder sie ist mit irgend so ’nem Gangster getürmt, der sie geschwängert hat oder so. Ich meine, seien wir ehrlich, Sie wissen nicht mal, ob sie tot ist oder lebendig. Oder, na ja, irgendwas dazwischen.»

Mit gedämpfter, warnender Stimme sagte Garvie: «Smudge.»

Ohne auf ihn zu achten, fuhr Smudge fort: «Ich will der Dame das nur eben verklickern. Sie können von Glück sagen, dass Sie Garv hierhaben.»

«Smudge!»