Hier ist Gomorrha - Tom Chatfield - E-Book

Hier ist Gomorrha E-Book

Tom Chatfield

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Beschreibung

Der Brite Azi Bello ist ein Hacker, einer der besten. Unerkannt bewegt er sich durch das Netz – und so ist der Schock umso größer, als eines Morgens eine junge Muslima an seinen mit Technik vollgestopften Gartenschuppen klopft. Munira braucht seine Hilfe: Ihr Cousin, auch er ein genialer Hacker, ist zum IS nach Syrien gegangen, wo er furchtbarste Greuel erlebt hat. Nun will er nichts als zurück nach Europa. Im Gegenzug verspricht er explosive Informationen. Azi sagt zu und findet sich bald dort wieder, wo das weltweite Herz des unsichtbaren Netzkrieges schlägt: in Berlin. Doch damit hat die Reise erst begonnen. Am Ende steht Azi vor einem Gegner, dem alles recht ist, um eine neue Weltordnung zu errichten.

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Ähnliche


Tom Chatfield

Hier ist Gomorrha

Thriller

Aus dem Englischen von Gottfried Röckelein

Über dieses Buch

Azi Bello ist Hacker – einer der besten. Unsichtbar bewegt er sich durch das Netz – und so ist der Schock umso größer, als eines Morgens eine junge Frau an seinen mit Technik vollgestopften Londoner Gartenschuppen klopft. Munira braucht Azis Hilfe, sagt sie: Ihr Cousin, auch er ein Hacker, ist zum IS nach Syrien gegangen. Dort hat er unfassbare Gräuel erlebt. Und er will nur noch zurück nach England. Im Gegenzug verspricht er explosive Informationen. Azi sagt zu und findet sich bald dort wieder, wo das Herz des weltweiten Netzkrieges schlägt: in Berlin. Doch damit hat die Reise erst begonnen. Am Ende steht Azi vor einem Gegner, dem alles recht ist, um eine neue Welt zu errichten.

 

«Mach Platz, James Bond, Azi Bello hat dein Smartphone gehackt und es dir so richtig gezeigt.» (Michael Ridpath)

 

«Eine überzeugende Mischung aus Hackerfolklore, starken Dialogen und einfallsreichen Actionszenen.» (Sunday Times)

 

«Perfekt geschrieben und angsteinflößend ... ein adrenalinschwangeres Buch für unsere unruhige Gegenwart.» (Publishers Weekly)

 

«Ein Thriller, der keine Sekunde Pause macht und vor allem Leser begeistern wird, die sich wirklich für die digitale Welt interessieren.» (Booklist)

Vita

Dr. Tom Chatfield, geboren 1980, ist ein britischer Autor und Technikphilosoph. Seine Bücher zum Thema Digitalkultur wurden in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Er ist Kolumnist für die BBC und ein gefragter TED-Speaker. «Hier ist Gomorrha», seinen ersten Roman, hat die Sunday Times zum Thriller des Monats gewählt.

Für meine Frau – wie immer

Januar 2014

Zuvor waren sie Cousins. Jetzt sind sie Brüder – einander eng verbunden in diesem Augenblick von Todesangst und Hoffnung. Neunzehn Jahre alt, mit einem Monat Unterschied, doch nun sind sie Männer, die sich die Welt unterwerfen wollen.

Hamid sieht seinem Atem nach, wie er in der Luft steht. Kalt ist es hier, was er sich nie hat vorstellen können. Daheim in England war Syrien für ihn ein Land wie das Ägypten bei Indiana Jones: heißer Sand, gleißendes Licht über der Wüste, Einheimische, die dankbar übers ganze Gesicht strahlen. Doch jetzt versucht er, bei seiner ersten Kontaktaufnahme mit sichtlich eingeschüchterten Bürgern des Islamischen Staats das Eis dadurch zu brechen, dass er auf seine Handschuhe zeigt, Überraschung mimt und mit hochgezogenen Brauen barid sagt, kalt. Sobald sie sicher sind, dass er nicht ihnen die Schuld an den niedrigen Temperaturen gibt, lachen sie immer. Ängstlich.

Seine Einheit befindet sich gerade im Kampfeinsatz, um die Stadt endgültig unter Kontrolle zu bringen. Sie sind dem Sieg nahe. Das Feuer eigener schwerer Waffen aus irakischen Beständen, bedient von ausgebildeten Soldaten aus Saddams ehemaliger Armee, lässt immer wieder die Luft erzittern und die Erde beben. Hamid ist schnell erwachsen geworden. Sobald er die Augen schließt, sieht er alles wieder vor sich: die unter Trümmern eingeklemmten Gliedmaßen, das Blut, das grauenhafte Durcheinander der von Granaten zerfetzten Leiber. Nichts von alldem hat Ähnlichkeit mit dem großen Kino in seiner Phantasie, auf das er gehofft hatte.

Andererseits ist sein Alltag gut, jedenfalls meistens. Die Brutalität und die Kameradschaft gefallen ihm. Es gibt Belohnungen, sowohl erwartete als auch überraschende. Drogen und Frauen sind, innerhalb sanktionierter Grenzen, reichlich verfügbar: Rauschgift in den Häusern, die von den Truppen benutzt werden, welche die Schmuggelrouten kontrollieren; Sex in Häusern, in denen Frauen als Sklavinnen gehalten werden. Nach entsprechender Ermunterung durch bereits abgehärtete Rekruten, hat er Gebrauch von beidem gemacht. Anders als sein Cousin ist Hamid ein Kämpfer; Kabirs Welt sind eher Tastaturen statt Waffen.

Andererseits ist das Internet für ihren Krieg unverzichtbar. Für Hamid und die anderen Ausländer gibt es Zugang zu sozialen Medien, Multiplayer-Onlinegames, Schokobrotaufstrich und gute Winterkleidung. Sie haben einen Sonderstatus als wandelnde Aushängeschilder fürs globale Image. Nicht mehr lange, und er und seine Brüder aus hundert Nationen werden Fastfood essen und schnelle Autos fahren und beten und mit gut geölten Kalaschnikows schießen. Im Glanz ihrer Siege werden sie in Ehren alt und grau werden. Sie müssen nur noch diese kalte, dreckige Stadt vollständig einnehmen, den noch übriggebliebenen Aufständischen die Scheiße aus dem Leib ballern und die ganze Region das Fürchten lehren.

Heute fand eine Kreuzigung statt. Seine erste. Hamid erforscht sein Inneres nach Anzeichen eines Schocks – und seinen Magen nach jener Übelkeit, mit der er bei seiner ersten Enthauptung zu kämpfen hatte –, aber da ist nichts. Der Grund ist möglicherweise, dass der Kopf des Opfers hinterher nicht aufgespießt wurde. Dennoch spürt er, dass er Fortschritte macht. Wie man ihnen angekündigt hat, führen solche Erfahrungen zu Weisheit und Gelassenheit. Wenn er sich doch bloß die gleiche Gelassenheit hinsichtlich seines heftigen Verlangens nach Zigaretten zulegen könnte, die strikt verboten sind. Tatsächlich sind ihm seit seiner Ankunft im November nur einmal die Tränen gekommen, als ein junger Mann wegen des Besitzes einer Packung Akhtamar Classic öffentlich zwanzig Peitschenhiebe erhielt. Für ihn war es unerträglich gewesen mit anzusehen, wie der kostbare Tabak in den Staub getreten wurde.

Im Augenblick ist Hamid angespannt, nimmt seine Waffe mal in die eine, dann in die andere Hand, ohne zu wissen, worauf er sie richten soll. Sie warten auf das Signal, ihre Deckung hinter einem halb zerstörten Mietshaus am Stadtrand zu verlassen und vorzurücken. Die Steine der Mauern klaffen auseinander wie verfaulte Zähne. Im Geist spielt er ein Szenario durch, das ihn in solchen Minuten der Langeweile und Angst tröstet. Er stellt sich vor, wie er sich eine Lucky Strike anzündet, den Rauch inhaliert und dann die Kringel durch die Nase entweichen lässt, um den Brand- und Blutgestank zu unterdrücken.

Dann ist er plötzlich tot.

Hamids Stirn franst rings um ein blutiges Loch aus und implodiert, während die Kugel des Scharfschützen aus dem Hinterkopf austritt. Es dauert merkwürdig lange, bis sein Körper seitwärts kollabiert und wie der eines Betrunkenen mit ausgebreiteten Gliedmaßen auf den staubigen Asphalt sinkt.

Die Männer um ihn herum werfen sich fluchend zu Boden. Nur Kabir rührt sich nicht von der Stelle. Er starrt auf den reglosen Brustkorb und die schlaffen Extremitäten, auf den überraschten Gesichtsausdruck und den nässenden Schädel. So was darf doch nicht passieren, flüstert die Stimme eines Kindes in seinem Kopf. Wissen die Feinde denn nicht, was für Spielverderber sie sind?

Weitere Garben aus Schnellfeuerwaffen reißen um sie herum die Erde auf und beharken das Mauerwerk. Männer schreien. Kabir wendet schließlich den Blick vom Toten ab, robbt in eine bessere Deckung, hantiert dabei mit seinem iPhone und macht eine Reihe von Fotos von der Leiche seines Cousins. Mit etwas Glück und dem richtigen Blickwinkel kann er das Motiv vielleicht zu einem Schnappschuss mit zeitlosem Symbolgehalt aufhübschen.

Während seiner Ausbildung wurde ihm unmissverständlich beigebracht: Jedes Leben, jeder Tod ist von jetzt an eine Botschaft. Wir brauchen sie nur in den sozialen Medien zu posten und dann zu warten, wie sie immer weiter geteilt wird.

Kapitel 1

Tipp vom Profi: Beginne im Leben und bei der Software stets bei den FAQs. Du vermeidest damit, später wie ein Idiot dazustehen.

Dies sind die wichtigsten drei Fragen, um Azi Bello näher kennenzulernen: Wer zum Teufel ist er? Was ist ein Darknet? Was läuft in der modernen Welt falsch?

Wir beantworten sie in umgekehrter Reihenfolge.

Auf diesem unseren Planeten läuft im Jahr des Herrn zweitausendundvierzehn an sich nur wenig falsch, würde ein Bauer des Mittelalters feststellen, dem Hungersnöte, Vergewaltigungen und Plünderungen nur allzu vertraut wären. Dank weniger Jahrhunderte beispiellosen menschlichen Erfindergeistes kann heute jeder seine Zeit mit dem verbringen, was früher nur wenigen vorbehalten war: lesen, schreiben, Handel treiben, über Promis lästern. Das wirklich Neue beruht jedoch auf der Tatsache, dass bei Bedarf auf alles – von Kinderpornographie und Drogen bis zu tödlichen Waffen und noch tödlicheren Ideologien – von Milliarden von Schreibtischen oder Jackentaschen aus zugegriffen werden kann.

Um nichts anderes geht es in den Darknets. Sie sind die Marktplätze, die man aufsucht, um all das zu bekommen, was die Gesellschaft uns verwehren möchte. Sie sind die nachtaktiven Zonen des Internets, dem Blick des Unkundigen entzogen, zugänglich durch Tools, die, wenn man sie richtig handhabt, unsere Identitäten und Aufenthaltsorte genauso verbergen wie jene der Personen, mit denen man Alt-Right-Hardcore-Nazi-Islamisten-Desinformations-Pornos teilt. Gute Zeiten für schlechte Menschen.

Natürlich wurde die populärste Software für all das von der US Navy entwickelt. Wie man in Hackerkreisen gerne munkelt, gibt es nichts, was die US-Regierung lieber tut, als die globalen Konkurrenten ihres militärisch-industriellen Überwachungskomplexes zum Narren zu halten. Was haben chinesische Dissidenten, freiheitsliebende Iraner und neuseeländische Freaks, die weiche Drogen übers Meer verschicken, sowie die mit unbeschränkten Mitteln ausgestattete Beschaffungsbehörde der nordkoreanischen Regierung gemeinsam? Sie alle benutzen The Onion Router, auch unter dem Namen Tor bekannt: ein problemlos herunterzuladendes Programm, das jeden einzelnen Klick unter Dutzenden von digitalen Zwischenstationen aus anonymen Servern begräbt. Tor ist wie eine Zwiebel, wenn man sich Zwiebeln als weltumspannende Netzwerke vorstellt: Schicht um Schicht komprimierte Verschleierung. Tor soll so manchem auch Tränen in die Augen treiben.

Anonymität ist die Theorie. In der Praxis könnten unbedarfte User genauso gut eine Website mit Klarnamen, Adresse und einer blinkenden GIF-Datei mit der Aufforderung ins Netz stellen: Bitte, NSA, nehmt mich ins Visier! Anonymität bedeutet nicht Sicherheit. Zwar weiß im Internet keiner, dass ich ein Hund bin; doch die Spur von knochenförmigen Hundekeksen, die zu meiner Haustür führt, erlaubt fundierte Vermutungen.

Fragen wir einfach Azi. Obwohl Mitglied der Hackerbruderschaft (sehr wenige Damen; üppiges und widerliches geschlechtsspezifisches Trollen; die Klobrille immer oben), präsentiert er sich unter einer Variante seines eigenen Namens. AZ. Die Leute halten es für ein Pseudonym, weil ein sicherheitsbewusster Spezialist, der noch ganz bei Trost ist, niemals, niemals online irgendetwas verwenden würde, das mit irgendeinem Aspekt seiner tatsächlichen Identität in Verbindung gebracht werden könnte. Doch bei Azi sind das eben zwei Drittel des Namens, den man ihm vor vierunddreißig Jahren im Süden von Südlondon gegeben hat, in jenem architektonischen Äquivalent eines Arschlochs namens East Croydon.

Je nach Stimmung, in der man Azi/AZ antrifft, stellt ein Username, der so dicht am echten Namen ist, entweder einen Doppelbluff von einzigartiger Gerissenheit, einen mit Stolz getragenen Orden, ein Symptom für Dummheit oder eine Mischung aus allen dreien dar. Azi charakterisiert sich üblicherweise selbst als einen hochfunktionalen Chaoten, als einen Mann genialer Ideen, aber nur begrenzt alltagstauglich.

 

Heute ist ein guter Tag, denn Azi sitzt an seinem Tisch und isst das Beste aus der Fastfood-Küche: ein halbes Hähnchen mit Pommes, welches in einer so scharfen Chilisoße schwimmt, dass Azis Gesichtsnerven taub werden. Dazu trinkt er kalten Kaffee und tut so, als wäre er ein Neonazi.

Er chattet gerade in einer geschlossenen Gruppe und präsentiert sich als neuer, doch beachtlich aktiver Unterstützer einer weltweiten politischen Bewegung namens Defiance. Widerstand. Trotz. Die Gruppe tritt für den Schutz abendländischer Lebensart vor der zunehmenden Islamisierung ein, während ihre Anhänger zuweilen Menschen mit nichtweißer Ideologie verprügeln und für gesellschaftliche Missstände die «multinationale Verschwörung verfolgter Minderheiten» verantwortlich machen.

Köder für Defiance-Mitglieder auszulegen, ist ein Nebenprojekt, an dem Azi schon seit geraumer Zeit arbeitet. Würde man ihn entsprechend bedrängen, würde er es als eine Obsession beschreiben, aber weil ihn niemand bedrängt, gibt er es als Hobby aus. Nazis stellen für ihn generell gut gekleidete Hiobsbotschaften dar. Smarte Neonazis mit auf Wählerstimmen zielenden strategischen Ambitionen und einer charismatischen deutschen Galionsfigur, die liebevoll Tommi genannt wird, sind für ihn eine besonders unangenehme Spezies.

Eine politische Figur, deren Name sogar von ihren Feinden in der kumpelhaften Koseform benutzt wird, verdient es nach Azis Einschätzung, gefürchtet zu werden, und dieser Deutsche ist schlimmer als jeder Brite im teuren Zwirn. Es gibt die realistische Chance, dass Tommi in der nächsten deutschen Regierung eine führende Rolle spielen könnte. Es sei denn natürlich, irgendein Whistleblower würde in den kommenden zwei Monaten detaillierte und unerhört kompromittierende Informationen über den Betreffenden verbreiten. Was das für einen Skandal gäbe!

Wie Azi sofort eingestehen würde, hat seine Operationsbasis nicht die geringste Ähnlichkeit mit der typischen Klause eines misanthropischen Superhirns. Von außen gleicht sie einer normalen Gartenhütte. Von innen sieht sie wie eine vollgestopfte Bruchbude aus, in die jemand vor langer Zeit einen übergroßen IKEA-Tisch und zwei Klappstühle gequetscht hat, dazu ein Haufen Secondhand-Computer-Equipment, und genau das hat Azi getan. Ein verstecktes Lautsprecherpaar spuckt Van Halen aus. Ausgeweidete Laptops, PCs und externe Festplatten liegen inmitten von Kabelgirlanden um drei große Bildschirme herum. Das einzige Zugeständnis an Komfort ist Kaffee. Aus einem Hario V60 Dripper auf einem winzigen Ecktischchen tropft gerade Union’s Revelation Blend. Das Kaffeearoma durchdringt den Raum und ist Azis Gegengift zu dem Mief aus Staub und Ozon der ununterbrochen laufenden Hardware.

Azi selbst gefällt sich in einem übergroßen Hoodie, kombiniert mit Sneakers und Jeans, deren Used-Look eher ihrem Alter als einem modischen Konzept geschuldet ist, und einem ungepflegten Dreitagebart. Man könnte ihn für zehn Jahre jünger und beinahe attraktiv halten, wenn er sich rasieren und sein Haar kunstvoller verstrubbeln würde. Dergleichen wird jedoch in absehbarer Zeit nicht geschehen. Was ihn anbelangt, so handelt es sich bei der materiellen Welt um eine großenteils bedauerliche Abfolge von Zufällen. Was für ihn zählt, ist das, was auf dem Bildschirm ist.

Ein Paradebeispiel für diese Lifestylephilosophie ist die Stehlampe, die Azi seit fünfzehn Jahren souverän ignoriert und deren zerlumpter Chintzschirm sich ermattet über seine Kaffeeanrichte senkt. Ein anderes ist die Tatsache, dass zwei der Personen, denen er sich am engsten verbunden fühlt – Hackerfreunde mit den Pseudonymen Milhon und Sigma –, sowohl männlich als auch weiblich sein können, zynische Teenager oder gelangweilte Generation-Xer, die irgendwo auf dem Globus sitzen, wo die englische Sprache und das Internet einander gefunden haben. Er hat einen Verdacht, dass beide weiblich sind, und zusätzlich den Verdacht, dass Sigma ein Faible für den rätselhaften AZ hat, doch ist er schlau genug, um zu wissen, dass dies eher eine Menge über ihn selbst, aber nur wenig über die Realität aussagt.

Insgesamt ist sein Leben gut, auch wenn sein eigentlicher Job als Penetrationstester immer weiter zugunsten des Köderns von Neonazis in den Hintergrund gerückt ist. Dreitausend ungelesene E-Mails lauern in Azis professionellem ProtonMail-Posteingang, und zwischen diesen wartet eine ungeduldige Anzahl von Betreffzeilen seines wichtigsten Auftraggebers. Azi hat begonnen, sie mit abstraktem Interesse zur Kenntnis zu nehmen, als wären sie ein Naturphänomen, dessen Wachstum zu stören unverzeihlich wäre.

 

Da wir das Jahr 2014 schreiben und Fanatiker jeglicher Couleur das Internet schon seit jenen Zeiten nutzen, als es noch keine Webbrowser gab, ist es ausgesprochen schwierig, Mitglieder von Gruppen wie Defiance zu dem Eingeständnis zu bringen, dass sie mit Dunkelhäutigen und – ja, warum auch nicht – Juden am liebsten kurzen Prozess machen und sie in ihre Heimatländer zurückführen würden und dass jeder, der ihnen darin nicht zustimmt, genauso entbehrlich ist. Stattdessen verbringen sie die meiste Zeit damit, sich gegenseitig zu ermahnen, den Anschein vernünftigen Argumentierens zu wahren, und lautstark öffentlich Klage darüber zu führen, dass die abgehobenen Eliten die berechtigten wirtschaftlichen Ängste anständiger Normalbürger nicht zur Kenntnis nähmen. Gewaltanwendung sei jedoch zu vermeiden, heißt es gleichzeitig, es sei denn, man könne dabei schlagkräftig und diskret vorgehen.

So hat Azi also viele Monate damit verbracht, sich mit ein paar nützlichen Idioten anzufreunden, von denen er annehmen kann, dass sie ihn über aktuelle Vorgänge auf dem Laufenden halten und ihn in ihrer Gruppenhierarchie nach oben weiterempfehlen, solange auch er sich als einer von jenen plump-vertraulichen Eiferern präsentiert, die gar nicht anders können, als im Freundeskreis kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Und ein Bonbon hat er ihnen zusätzlich noch anzubieten, die Garantie nämlich, dass er und kein anderer der Typ ist, den sie suchen, mit Waffen, Drogen und Darknet-Kontakten im Angebot – beziehungsweise, um genau zu sein: mit der meisterhaft hinausgezögerten Verheißung auf all das, denn es gibt gewisse rote Linien, die zu überschreiten nicht klug wäre, geschweige denn, daraus ein profitables Nebengeschäft zu machen.

Ab und zu nimmt er sich einen chiligebeizten Hähnchenhappen, verzieht das Gesicht ob der Schärfe und widmet sich wieder konzentriert der Präsentation eines Füllhorns verbotener Waren, das er einem der evangelikal angehauchten jungen Männer unter seinen Online-Bekannten präsentiert. Gareth, ein Neuzugang aus Blackpool, gibt an, in einem Wettbüro zu arbeiten und den ganzen Tag nichts weiter zu tun als mitzuverfolgen, wie zionistische Tarnorganisationen ausgesuchte Immobilien entlang der Hauptstraße auf- und wieder verkaufen. Gareth spricht auch über eine internationale Verschwörung von Pädophilen, die die Computer von Kindern übernehmen und deren Webcams benutzen, um sie zu Hause zu beobachten. Weil aber Azi von mindestens einem solchen realen Fall weiß, hat er beschlossen, diese spezielle Angelegenheit in jener Region seines Gehirns zu archivieren, die etikettiert ist mit: Nachgrübeln über solches Dreckszeug – ein andermal. Während der vergangenen Monate ist diese Ablage erschreckend voll geworden.

Was Gareth aus Blackpool betrifft, so ist Azi nicht Azi. Er ist ein weißer, umwerfend gut aussehender Mann namens Jim. Und die Geschichte über die Seinswerdung von Jim veranschaulicht die beiden wichtigsten Überlegungen in Azis Hackerphilosophie. Erstens muss man seinen Gegnern so viele Schritte voraus sein, dass man praktisch schon gewonnen hat, bevor sie einen Angriff überhaupt bemerken. Zweitens: Gleichgültig, welche Postulate oder Erwartungshaltungen es da draußen gibt, es ist deine Aufgabe, dagegen zu verstoßen. Du lügst, du betrügst, du bettelst, du borgst, du verwirrst und täuschst.

Der ethische Anspruch eines Hackers lautet: Du nimmst alles auseinander und setzt es dann auf deine Weise wieder zusammen. Du tust das aus Gründen der Schadenfreude, der reinen Neugierde, der Möglichkeit, andere dumm dastehen zu lassen und dich selbst clever zu fühlen. Und außerdem gibt es da einen Haufen Neonazis, die eifrig damit beschäftigt sind, die Welt zu einem schlechteren Ort zu machen, und die den größten Hack aller Zeiten verdienen – und zwar in Form einer derart umfassenden und bloßstellenden Packung rechtschaffener Wahrheit, dass ihre eigenen Mütter sie verstoßen.

Kapitel 2

Und so hat Azi seine Pläne umgesetzt:

Vor eineinhalb Jahren, Anfang 2013, stieß er auf ein totes Kind. In aller Regel bauen die besten Unwahrheiten auf einer Wahrheit auf, welche im vorliegenden Fall im Namen einer sehr jungen Person bestand, deren Daten von einem Grabstein in Tooting abgekupfert wurden.

James Denison starb am 8. Juli 1982 im Alter von zwei Jahren und zwei Tagen. Innigst geliebt und schmerzlich vermisst ruht er nun bei den Engeln. Wiedergeboren wurde er am 27. Januar 2013, rechtzeitig vor seinem dreiunddreißigsten Geburtstag, mit neuem Gesicht und neuer, rückwärts erzählter Biographie.

Wie erschafft man einen zweiunddreißigjährigen Mann aus dem Nichts? Als Erstes forderte Azi Sterbe- und Geburtsurkunde an. Ein bisschen Recherche – man siebt den Lebensschutt der Mutter durch und findet ihren Mädchennamen –, ein paar ausgesucht höfliche E-Mails und Briefe, und schon schickt einem das Standesamt alles zu. Azi hatte jetzt überzeugende Dokumente in der Hand, und damit begann die eigentliche Arbeit.

Basteln wir uns eine Story. Es ist April 1982, und auf einer Insel im Südatlantik, von der noch ein paar Wochen zuvor kein Mensch in Großbritannien gehört hat, bricht ein Krieg aus. Der argentinischen Invasion der Falklands wird mit einer aus verletztem Stolz und politischer Berechnung zusammengeschusterten Streitmacht begegnet, die zum Schluss einhundertsiebenundzwanzig Schiffe umfasst. Irgendwie haben die Briten bis zum 14. Juni die Oberhand gewonnen, und die Premierministerin sonnt sich im Glanz ihrer patriotischen Tat. Diese Einzelheiten sind wichtig. Bei Lügen, die man jahrelang erzählen wird, kommt es auf Akkuratesse an.

Jetzt ist es Ende Juni 1982. Ein kleiner Junge in Streatham, Südlondon, ist krank, sehr krank, und niemand glaubt an eine Besserung. Sein Papa ist schon seit über einem Jahr fort. Seine Mama, Putzfrau im St George’s Hospital, ist körperlich und seelisch mit ihren Kräften am Ende, und obwohl ihre eigene Mutter ihr aushilft, wo sie nur kann, wird sich die Situation nicht zum Guten wenden, weil sich kleine Jungen nicht von dieser speziellen Art von Krebs erholen.

Das tut er allerdings ins Azis neuer Biographie.

In Tooting wird eine kleine Kiste unter einem Stein begraben, zu der sich neun Jahre später eine größere mit der Mutter gesellen wird, was jedoch problemlos ignoriert werden kann. Das Leben geht weiter.

Die 1980er Jahre sind nun voll im Gang. Gier ist gut, predigt Gordon Gekko, und James Denison geht zur Schule. Er kommt viel herum, besucht Lehranstalten, die längst geschlossen sind oder sich so verändert haben, dass man sie nicht wiedererkennt. Ein Account, der zu James’ funkelnagelneuer Gmail-Adresse gehört, bestückt Websites und Formulare mit einem Pfad, der sich von der Grundschule über die weiterführende Schule bis hin zu A-Levels in Kunst, Französisch und Mathematik schlängelt. Dazu gibt es, zur allgemeinen Überraschung, einen zusätzlichen Abschluss («noch gut») in Psychologie an der University of Birmingham, dokumentiert durch ein Zeugnis, das bei einem Onlinedienst gekauft wurde und mehr hermacht als ein echtes.

Nach dem Tod seines Vaters 1999 – jenes Vaters, zu dem es nie Kontakt gab und der sich in ein penibel recherchiertes Grab in Coventry getrunken hat – ist James eine Vollwaise an der Schwelle zur Volljährigkeit. Seine Studentenzeit verläuft unspektakulär. Die Zeit vergeht. Der Hype der Jahrtausendwende fällt in sich zusammen, die Unruhe in der Welt digitalisiert sich, und die allgegenwärtige Angst vor Terrorismus artikuliert sich in Endlosschleifen. James firmiert nun als Jim, und Jim beginnt, eine dichtere Datenspur zu hinterlassen: frühere Arbeitgeber, Wohnadressen, eine abgebrochene Laufbahn als Verkäufer von Bürobedarf. Er reist viel, nicht nur im Vereinigten Königreich, landet in großen Städten, die genügend Anonymität bieten. Er ist ein Niemand, aber ein Niemand, den man nachverfolgen kann.

Jim braucht lange, bis er Teil jener Revolution wird, die von den sozialen Netzwerken ausgeht, aber nachdem er es geschafft hat, ist er ein neuer Mann. Sein Gesicht ist wie für die Medien gemacht: Das sich lichtende Haar ist blond gebleicht, seine knochigen Wangen und das kantige Kinn hat Azi liebevoll aus Bilddatenbanken zusammengemischt. Jim sieht gut aus für sein Alter. Wenn man mit den TV-Serien der späten neunziger Jahre aufgewachsen ist und nicht allzu genau hinschaut, ähnelt er ein wenig Spike in Buffy. Attraktive Menschen erregen mehr Aufmerksamkeit, aber sie fordern auch unser Zutrauen und unseren Respekt ein, und mit großem Vergnügen schlägt Azi aus einem Teil dieser weißen männlichen Währung Kapital für seine eigenen Zwecke.

Auf Facebook hat Jim einhundertdreiundzwanzig Freunde, die ebenfalls nicht existieren. Sie diskutieren über Politik, Fußball, Essen, Musik. Es handelt sich um Bots, um Algorithmen, die sich gegenseitig angiften, einander folgen, liken und Fremdwörter nachplappern. Azi vermutet, dass man Bots und Menschen nur auf eine einzige Weise online unterscheiden kann, und zwar dadurch, dass Roboter tatsächlich auf das eingehen, was andere Roboter sagen. Die Lust der Bots auf unaufhörliches Geplänkel innerhalb von Zielgruppen stellt eine rundum erfolgreiche Strategie dar: Resonanzen ohne Lerneffekt, Wiederholungen ohne Verständnis, die Perfektion einer Echokammer, in der alles gesagt und nichts gehört wird.

Was Jim betrifft, so ist seine politische Einstellung in Richtung einer nationalistisch angehauchten Libertät umgeschlagen. Er hasst es, wenn sich Außenstehende in Angelegenheiten dieses Landes einmischen, von dem er keine Wertschätzung erfahren hat. Seine Einstellung gegenüber Frauen kann in drei Kategorien unterteilt werden: Da gibt es die, die er beschützen will, die, denen er eine Lektion erteilen möchte, und die, die man ordentlich rannehmen muss. Die Grenzen zwischen diesen Kategorien sind nicht besonders streng gezogen. Jim ist wütend auf nahezu alle, welche man als «die» etikettieren kann. Er ist der für Defiance maßgeschneiderte Kandidat.

Leibhaftige Menschen – verwandte Seelen – beginnen Jim zu folgen und ihn zu kontaktieren. Am 6. Juli 2013 gratulieren ihm mehr als sechzig Follower zum Geburtstag, von denen ein Viertel tatsächlich existiert. Hinter den Kulissen ist Azi damit beschäftigt, überraschende Details auszuarbeiten. Content ergießt sich in Facebook, Twitter, Instagram, Reddit und LinkedIn. Azi delegiert immer weniger an Bots und textet immer mehr selbst, wenn er in seine zweite Haut schlüpft.

Im August 2013 beginnt Jim, mit einer nicht zurückverfolgbaren Kreditkarte Bitcoins zu kaufen. Er arbeitet mit einem alten Laptop, auf dem das liebste Betriebssystem aller Hacker installiert ist: Kali Linux. Er hat eine falsche Adresse in einem leer stehenden Gebäude, wo seine Post in unregelmäßigen Abständen abgeholt wird. Er benutzt den Silk-Road-Marktplatz im Tor-Darknet, um die letzten Teile für sein persönliches Puzzle zu erwerben: Führerschein und Pass, auf ausreichend hohem Qualitätsniveau gefälscht, um dem Blick des Fachmanns standzuhalten. (Die Maschinen von Experten zu täuschen, ist eine andere Sache.)

Jim existiert. Die Welt sucht und findet ihn. Waffen, Drogen – er hat, was das Herz begehrt. Dafür braucht Jim eine umfassende Sachkenntnis, damit er zu der Person wird, die Azi für seine Zwecke braucht. Wenn man weiß, wo man im Dunklen suchen muss, ist alles einfach, weil es sich um einen Ort handelt, an dem Einvernehmen darüber besteht, dass jeder das Recht hat, alles zu kaufen, was er sich leisten kann. Eine Unze Marihuana, Caramello: 215 Dollar. Ein Gramm Kokain, kolumbianisches Fishscale: 97 Dollar. Ein Gramm MDMA, White Mitsubishi: 37 Dollar. Oxycontin im Zehnerpack: 248 Dollar. Eine Packung Adderall: geldbeutelfreundliche 6 Dollar. Alle Preise klar ausgewiesen zusammen mit dem täglichen Bitcoin-Kurs, den Verkäuferratings, den User-Beurteilungen und Feedbacks. Der Kapitalismus liebt ehrliche Märkte, und dieser ist einer der wenigen, den Amazon in absehbarer Zeit nicht kaputtmachen wird.

Andere Menschen chatten unter falschen Identitäten mit Jim stundenlang über Waffen, Hacks, Filme, Politik und darüber, wen sie am liebsten bumsen würden, mit detaillierten Angaben zu Zeitdauer und anatomischer Beschaffenheit des eingesetzten Tools. Jim und Azi spielen ihre Rollen, und Azi findet es verblüffend, was man alles von sich geben kann, wenn es aus dem Mund von jemand anderem kommt. Nutten und Schwuchteln und Arschlöcher, ficken und Fisting und Mord und Selbstmord; wichsen und weinen; Titten und Ärsche. Meme mit Cartoonfiguren, die Holocaustwitze reißen, ziehen ein jüngeres Publikum an. Azi hat sich anfänglich selbst für einen ziemlichen Zyniker gehalten, doch in jeder Korrespondenz lernt er neue Dinge kennen, die er bei anderen nicht besonders mag und bei sich selbst auch nicht.

An manchen Tagen fühlt es sich an, als hätte sich der Schmutz hinter seinen Augäpfeln eingenistet; dann sieht er sich mit Flecken besudelt, die keine Dusche wieder abkriegt. An anderen, schlechteren Tagen registriert er kaum die Diskrepanz zwischen Leben und Bildschirm.

Es ist September 2013. Jim behauptet jetzt, er wolle ein paar Sachen kaufen und verkaufen. Sein Image wird immer seriöser, gestützt durch sorgfältig aufeinander abgestimmte Aktionen und Indizien. Er wird vertrauenswürdig – und Vertrauen ist die Super-App, wenn es um die Technologie des einundzwanzigsten Jahrhunderts geht. Jedes Skriptkid kann eine Maschine hacken. Man kann sich Erpressungssoftware herunterladen und sie aktivieren, wofür es nur wenig mehr als eine Suchmaschine und eine menschenverachtende Einstellung braucht. Azi hingegen hackt sich in Bewusstsein, Vertrauen und Glauben von Jims Followern. Er hält die Welt zum Narren und bringt sie dazu, dass sie ihm ihre Geheimnisse ins Ohr flüstert.

Oktober, November, Dezember, ein neues Jahr beginnt. Das Gesicht mit der ansehnlichen Kinnpartie in gefälschtem Pass und Führerschein ist leichter zu finden und glaubhafter als Azis eigenes. Jim hat Freunde auf Facebook, bekommt Likes auf Instagram und Einträge bei LinkedIn – Orte, an denen Azi nicht existiert. Er selbst ist ein Schatten und lebt in sicherer Distanz zum Rauschen im Netz.

Die Welt schenkt wenigen Dingen ein größeres Vertrauen als dem äußeren Schein. Und das ist auch gut so, weil Azi auf ihre Ignoranz baut. Jim ist groß, weiß und berauscht von der Überlegenheit seiner Rasse. Azi ist hellbraun, schlank und joggt in den meisten Nächten so lange seine Runden, bis sich sein Geist beruhigt hat und er schlafen kann. Wenn Azi nachts um zwei loszieht, beschleunigen die Leute entweder ihre Schritte, um ihm aus dem Weg zu gehen, oder fragen, ob er Drogen verkauft. Wenn Jim in den sozialen Medien zeigt, was er draufhat, reißen sich normale unbescholtene Bürger darum, ihm zu applaudieren. Jim und er: Sie sind das perfekte Team fürs einundzwanzigste Jahrhundert.

 

Was ich suche, heißt es in einem anrührenden Text von Gareth aus Blackpool, ist eine dicke asiatische tussi die mich in ihr gesicht kommen lässt. Jim hat Mitleid mit dem jungen Mann. Azi flucht leise, zerkaut einen letzten emotionslosen Bissen Hähnchen und versucht, die Konversation auf eher praktische Angelegenheiten zu richten. Haste gesehen, was ich geschrieben habe?

Azi weiß, dass Gareth es gesehen hat. Alle haben es gesehen, denn nach den Maßstäben dieser Gruppe handelt es sich um ein Meisterwerk, das sich nicht vor Don Quijote, Krieg und Frieden oder Sakrileg zu verstecken braucht. Es ist eine Rhapsodie über die strahlend weiße Zukunft, die ihnen allen bevorsteht, wenn Defiance erst einmal ihre Macht ausspielt.

Gareth wird kurz ernsthaft. Du bist der mann Jim der für die richtige sache eintritt. Azi kann die Tränen patriotischen Stolzes förmlich sehen, wie sie Gareth über die Wangen rinnen, und bemüht sich um einen angemessen feierlichen Ton. Einer muss ja sagen was Sache ist lol, einer muss die Wahrheit sagen über die schwulen Judenschniggel. Azi starrt auf den Bildschirm und stellt angeekelt fest, dass er ziemlich stolz auf seinen Essay ist. Er hat vierhundert Wörter nur dürftig verschlüsselter faschistischer Schmähungen verfasst und sich dabei von einem bekannten Stilratgeber für weiße Rassisten inspirieren lassen, in dem sich solche Perlen fanden wie: «Eine Vielzahl an Feinden kann verwirrend sein, also machen wir es nicht unnötig kompliziert und geben einfach den Juden die Schuld», oder auch die: «Es ist in Ordnung zu sagen, dass feministische jüdische Schlampen eine Vergewaltigung dringend nötig haben, solange du nicht damit drohst, es selbst zu machen.» Jims abschließende Betrachtungen zu traditionellen christlichen Werten fanden besonders großen Anklang beim harten Kern der britischen Defiance-Vorposten.

Azi atmet tief durch, tippt ein zärtliches Lebewohl – bis später alter Wichser lol – und loggt sich aus. Bald ist es so weit. Gareth und andere haben Jim in ihrem Umfeld bekanntgemacht und diskrete Empfehlungen gegeben. Jims Angaben lassen sich alle seriös verifizieren, und den älteren Mitgliedern der Organisation ist aufgefallen, dass er informationstechnische Kompetenzen hat, dass er an gewisse Sachen herankommt und dass es auf der Welt eine Menge Probleme gibt, die er nicht auf die liebenswürdige Art lösen möchte. Er hat ihnen Scans seiner Dokumente geschickt, seine Biographie sowie getürkte Bilder seiner Teilnahme an Demonstrationen. Er ist sauber und authentisch.

Noch ein paar Wochen. Mehr braucht Azi nicht. So lange muss er noch weitermachen.

Kapitel 3

Genau wie Bergsteiger nehmen Hacker Herausforderungen deshalb an, weil sie da sind. Je steiler der Weg zum Ziel, desto besser, und wenn man als Erster sein Fähnchen auf dem Gipfel hissen kann, hat man einen zusätzlichen Prestigegewinn. Azi hat schon mehrmals etwas als Erster geschafft, doch sein persönliches Highlight bleibt das Casino, das er und Milhon auf dem Umweg über ein Aquarium so sensationell geknackt hatten.

Milhons Spezialgebiet ist Glücksspieltechnologie. Sie hat Azi mehr über die systemimmanenten Unberechenbarkeiten dieser Branche erzählt, als er überhaupt wissen wollte, und sie ist es gewesen, die das Zielobjekt vorgegeben hatte. Er aber ist es gewesen, der sich auf die Schwachstelle konzentrierte, auf eine, die nicht von einem der üblichen Vektoren veralteter Software herrührte, von unzufriedenem Personal oder Nachlässigkeiten bei Netzaktivitäten, sondern vom unstillbaren Bedürfnis des Casinos nach neuen spektakulären Attraktionen.

Besagtes Aquarium war besonders spektakulär. Fünfzigtausend Liter Wasser bildeten das Habitat nicht nur für fünfhundert exotische Fische, darunter auch zwei Hammerhaie, sondern außerdem für eine Menge sorgfältig gezüchteter Korallen und das Wrack eines Piratenschiffs. Diese Wasserwelt rahmte den Casinoeingang mit leuchtendem Blau ein und löste beim Besucher jenes kindliche Staunen aus, dessen Zweck es ist, Spaß daran zu haben, haufenweise Geld zu verlieren. Das Aquarium war auch mit Sensoren zur Überwachung der Wasserdaten bestückt, die – wie Azi hocherfreut feststellte – ungefähr zehn Jahre hinter dem allerneuesten Standard jeder x-beliebigen Sicherheitstechnik herhinkten.

Offenbar war weder denjenigen, die solch ein riesengroßes und unfassbar protziges Aquarium herstellten, noch jenen, die es kauften, der Gedanke gekommen, dass irgendjemand ihr System attackieren oder dass es vielleicht keine gute Idee sein könnte, die Wassersensoren über einen mit dem Hauptnetz des Casinos verbundenen Computer zu steuern. Es war eine unverschlossene Tür, die man nur aufzudrücken brauchte.

Von der Geborgenheit seiner Hütte aus schlich sich Azi in Gestalt eines kritischen Sauerstoffwertes in die winzigen Hirne der Sensoren und von dort ins gesamte System. Er und Milhon arbeiteten die ganze Nacht hindurch und diskutierten dabei über den verdienten Denkzettel, den sie dem Casino verpassen wollten, ohne dabei aber krass kriminell zu werden. Am nächsten Morgen wurden dann die Besucher auf allen Bildschirmen im Gebäude darauf hingewiesen, dass es fürs heutige Glücksspiel eine Geld-zurück-Garantie und zwei kostenlose Fische gebe. Internetforen und Boards rund um den Globus jubelten und kannten wochenlang kein anderes Thema als AZs jüngsten Triumph.

Das war im Jahr 2012, in der Frühzeit des Internets der Dinge und bevor Cyberkriminelle begannen, sich in Hunderttausende schutzloser Geräte einzuhacken. Zu dieser Zeit ist – dank der Annahme, alles und jedes übers Internet zu vernetzen, sei eine gute Idee – die Welt eine Wüstenei von nur mangelhaft geschützten «smarten» Geräten, darunter Fernseher, Duschen, Kühlschränke, Waschmaschinen, Drucker, Steckdosen und Kinderspielzeug. Wenn es um diese spezielle Vision von Zukunft geht, hat Azi für sich eine Faustregel parat: Leute, die einen mit dem Internet vernetzten Kühlschrank als etwas anderes bezeichnen denn als überflüssigen Schandfleck in der technologischen Landschaft, reden Scheiße.

Azi weiß nicht so recht, ob er in den letzten paar Jahren zynischer geworden ist oder einfach nur die Dinge klarer sieht, die ihn wütend machen: die Mächtigen, die gnadenlos den Ohnmächtigen buchstäblich die Luft abdrehen; Konzerne, die aus allem Kapital schlagen, was sie in die Finger kriegen; die raffgierige Gentrifizierung in London, die es nicht einmal fertigbringt, Croydons Stadtzentrum durch mehr zu bereichern als durch die Auswahl zwischen Starbucks und Costa. Was Azi aber sicher weiß, ist, dass er Herausforderungen liebt und dass eine mit dem zusätzlichen Bonus, die Kreise rassistischer weißer Vollidioten zu stören, nahezu unwiderstehlich ist.

Die Neonazis zeigen weiterhin die Bereitschaft, ihm die Privilegien eines Administrators zu gewähren, doch bis es tatsächlich so weit ist, herrscht Ruhe an der weißen Westfront, von den Spötteleien abgesehen, die sein Alter Ego mehrmals wöchentlich posten muss.

Dann kommt aus heiterem Himmel eine neue Anfrage herein. Und sie kommt von einer vertrauten Quelle.

Hey AZ, Challenge gefällig? Mir aus der Patsche zu helfen?

Azi lächelt. Sigma ist immer eine willkommene Ablenkung.

Dir immer, Sigma. Zeit, unsere Capes umzuhängen, DDoS gegen Ungerechtigkeit?

Diesmal nicht. Brauch nen ernsthaften Gefallen. Vorwarnung: Es wird finster werden. OK für mich, wenn du nicht mitziehst.

AZ und Sigma pflegen ihren Kontakt seit mehr oder weniger einem Jahr, doch fühlt es sich länger an. Online ist die Zeit eine andere. Intensität zählt mehr als Dauer, und sie haben eine Menge zusammen gemacht: Serverblockaden herbeigeführt und abgewehrt; Spammer und Botnet-Hirten abgeschossen; Bürgerproteste unterstützt; Kinderpornographen an den Pranger gestellt; popkulturelle Anspielungen ausgetauscht. Soweit er überhaupt jemandem traut, hält er Sigma für so authentisch, wie es ihre Aktivitäten nahelegen. Er hält sie für erfahren, verlässlich, idealistisch bis an die Grenze zum Fanatismus. Und nie würde sie sagen, dass sie in Schwierigkeiten steckt, wenn es nicht wirklich so wäre. Er zögert nur lange genug, um ernsthaft zu erscheinen.

Für dich klar. Ich zieh mit. Schick’s rüber. So schlimm wird es schon nicht sein, oder?

Die letzte Frage ist tapferes Getue, weil beide wissen, dass es darauf nur eine ehrliche Antwort gibt. Gleichgültig, wie schlimm man sich etwas vorstellt, da draußen gibt es immer etwas noch Schlimmeres. Wenn die Leute der Ansicht sind, dass sie mit allem durchkommen, werden sie auch versuchen, mit allem durchzukommen. So läuft das nun mal.

Du willst es nicht anders. Das hier ist eine Hiobsbotschaft für die Welt, aber eine noch schlimmere für mich. Brauch nicht zu lang.

Azi atmet tief durch, gießt sich frischen Kaffee ein und fährt mit seinem Cursor über den Link, den Sigma soeben geschickt hat. Draußen vor dem einzigen Fenster seiner Hütte wird, von ihm unbemerkt, das letzte Licht der Abenddämmerung von der Dunkelheit verschluckt.

 

Sigmas Recherche sicher zu überprüfen, bedeutet, dass er in eine virtuelle Maschine schlüpfen muss, in einen simulierten Computer, der innerhalb des echten läuft, zwar mit identischer Software, doch ohne Zugang zu irgendetwas, das attackiert oder infiltriert werden könnte. Azi stellt sich das immer so vor, als würde man jemanden in ein Gefängnis stecken, das, wenn der Betreffende schläft, genauso aussieht wie das eigene Haus, und solange man nicht versucht, ein Fenster zu öffnen, gibt es keine Möglichkeit, einen Unterschied festzustellen.

Ein Dutzend Dateien entpacken sich, weitaus weniger, als von ihm erwartet. Als Erstes erscheint ein von Sigma erstelltes Textfile, das vermutlich ihr Fazit enthält. Azi will es als Letztes lesen. Er will sich erst mal selbst einen Eindruck verschaffen.

Das nächste File entpuppt sich als ein PDF der Ramadan-Sonderausgabe eines Propagandamagazins des Islamischen Staats. In Anbetracht seines Themas ist es von schockierender Harmlosigkeit, die Aufmachung ein uninspiriertes Hochglanzformat, der Ton penetrant missionierend. Die Artikel wechseln zwischen Koranstellen zur Rechtfertigung des Dschihad, heroischen Porträts einzelner Kämpfer und idyllischen Bildern vom Alltag im Islamischen Staat – alles recht fad, wenn man die Mordaufrufe ignoriert.

Weitaus unterhaltsamer sind die nächsten fünf Files: E-Mail- und Message-Protokolle mit frustrierten Korrespondenzen zwischen den Redakteuren des Magazins und ihren Vorgesetzten. Nachdem er sich durch die Hälfte einer besonders wütenden und mehrsprachigen Diskussion über das Bildungsniveau der Leserschaft gearbeitet hat (schreibt einfacher, viele der ausländischen Brüder sind Schwachköpfe), begreift Azi, womit er es zu tun hat.

Die Files gehören zu einem bekannten Speicherauszug mit Dokumenten, der Mitte 2013 aus dem Innern des Islamischen Staats geleakt worden war. Man ging damals davon aus, dass die Dokumente von einem desillusionierten Insider stammten. Sie wurden zunächst von diversen Sicherheitsdiensten (und all den neugierigen freischaffenden Experten auf diesem Gebiet) im Hinblick auf Enthüllungen analysiert, bevor sie abschließend als unbedeutende Informationen eingestuft wurden, die bestenfalls zur Erstellung sarkastischer Meme über interne Querelen einer Terrororganisation taugten. Azi hatte sich selbst ein paar davon angesehen und war fasziniert gewesen, welche Details man mit Hilfe der Versionshistorien von MS Word erschließen konnte. Danach widmete er sich wieder Jim, den Neonazis und dem schrittweisen Abbau bezahlter Arbeit.

Die letzten Files aus Sigmas Sammlung sind jedoch andersgeartet. Zuerst erkennt Azi nicht, warum sie für irgendjemanden interessant sein sollten. Sein Bildschirm zeigt nichts als unverständlichen Datenschrott, vermutlich verschlüsselt, gefolgt von einer kurzen, durch Kommas getrennten Auflistung von Namen und Zahlen. Sardar Kerr, 475000. Mahmud Harrison, 850000. Ziad Hussein, 1255000. Und so weiter. Warum kommen ihm manche von denen bekannt vor?

Nach einer Minute weiß er es: Sie wurden alle in dem Magazin porträtiert, durch das er sich vorhin gescrollt hatte – tote Kämpfer, Scharfschützen, Selbstmordattentäter, die man als Vorbilder für andere ausgewählt hat. Insgesamt stehen auf dieser Liste fünfzig Namen. Er prüft noch einmal nach und wechselt in rascher Folge zwischen Suchfeldern hin und her. Jeder von ihnen starb irgendwann im vergangenen Jahr, und jeder Name wird von einer sechs- oder siebenstelligen Zahl begleitet.

Azi arbeitet schneller, weil er weiß, dass die Zeit knapp werden könnte, und öffnet die letzten Dateien. Diese sind wieder anders. Sie sehen amtlich aus und wie aus unterschiedlichen Quellen zusammengestellt: aus Wählerverzeichnissen, Telefonbüchern, Staatsarchiven. Hier musste es sich um etwas handeln, das Sigma über viele Wochen hinweg selbst zusammengestellt hat. Warum?

Intuitiv holt sich Azi ein neues Suchfeld auf den Schirm und beginnt zu tippen. Sardar Kerr. Mahmud Harrison. Für jeden Namen gibt es mehrere Treffer, verknüpft mit seitenweise Dokumentationen: Fotos, Kontaktdaten, aktuelle Links. Sigma hat Scans von Sachen in die Finger bekommen, die nicht einfach so herumliegen, und hat sie akribisch mit Querverweisen zu ihren vorhergehenden Recherchen versehen. Französische und deutsche Pässe, Namen, Adressen. Zwar sind die Namen auf den amtlichen Dokumenten andere, doch die Gesichter sind dieselben, und während sich Azi alles besieht, werden ihm schließlich die Zusammenhänge klar.

Fünfzig islamische Märtyrer sind aus ihren Gräbern auferstanden. Über ihre Tode wurde damals weltweit berichtet. Doch Sigmas Schlussfolgerung, die er sich zu eigen machen soll, lautet, dass es sich bei den angeblichen Todesfällen um Inszenierungen gehandelt hat und dass die angeblichen Märtyrer in aller Stille ins Herz Europas implantiert worden sind. Es ist grotesk, doch Sigma liefert die Links und die Bezüge zu ihren Beweisstücken in behördlichen Datenbanken und Wählerverzeichnissen – Material, das sogar seinem von ihm selbst virtuos designten Alter Ego Jim nicht zur Verfügung steht. Azi gibt einige der neuen Namen in unterschiedliche offizielle Websites ein, jeweils nur einen. Sie sind echt.

Er hält inne. Möglicherweise hat sie ja das, was er sieht, irgendwie gefakt. Doch was hätte sie davon? Und was ist mit den Zahlenreihen neben jedem Namen? Sie können nur eines bedeuten: Geld. Doch selbst tadellos gefälschte Pässe und Identitäten werden eher mit Zehntausenden als mit Hunderttausenden von Dollar gehandelt. Für welche Art von operativen Vorteilen würde eine Terrororganisation bereitwillig so viel Geld pro Person zahlen, und wie können selbst die allerbesten Fälschungen an die biometrischen Daten angepasst werden, die heutzutage automatisch mit jeder realen Identität verknüpft sind?

Falls alles, was Sigma ihm geschickt hat, das ist, was es zu sein scheint, dann sind die fünfzig Fake-Identitäten faktisch echt und nicht als Fakes zu erkennen. Der Islamische Staat sollte keinen Zugriff auf eine so ausgefeilte Fälschungstechnik haben. Niemand sollte das, weil es bedeutet, dass einige der sichersten und sensibelsten Systeme der Welt kompromittiert und die Ergebnisse auf dem schwärzesten aller Schwarzmärkte verkauft worden sind. Und kein Mensch hat irgendetwas bemerkt.

Zum Schluss öffnet Azi die Datei, die Sigma selbst erstellt hat. Sie umfasst nur wenige Zeilen, aber sie lässt ihn auf seinem Stuhl zusammensinken.

Die Namen, das Geld, die Sache, um die es geht. Siehst du, was ich sehe? Sie sind hinter mir her. Ich weiß nicht, wem ich trauen kann, AZ. Sie sind mir dicht auf den Fersen. Es ist Gomorrha, da bin ich mir sicher.

Gomorrha. Ein Name, der gerüchteweise in den Tiefen der abgedrehtesten Foren kursiert, ein Ort, den aufzusuchen sich die allerkränksten Typen erträumen. Eine Pointe in Witzeleien über das Zeug, das einem kein Darknet verkaufen würde. Jeder weiß, was in Sodom los war, aber was haben sie in Gomorrha getrieben? Schwefel und Feuer regneten vom Himmel herab. Qualm stieg von der Erde auf wie der Qualm aus einem Schmelzofen. Das sind die letzten Worte der Bibel in dieser Angelegenheit, doch über das da draußen in der Finsternis gibt es viel mehr zu sagen. Ein Marktplatz für gemarterte Seelen, für Leben und Tod. Der einzige Ort, den Azi und Sigma kennen, von dem aus das, was sie gefunden hat, an eine Terrororganisation verkauft worden sein könnte.

Eine Stunde ist verstrichen, seit er Sigmas Dateien geöffnet hat. Sein Kaffee ist kalt, die nächtliche Stadt präsentiert sich als gedämpfte Geräuschkulisse von Autos, Zügen, Stimmen und Sirenen. Der Bildschirm wartet auf Azis Antwort.

Okay, ich sehe es auch. Ich sehe, wie du vorgegangen bist. Wie kannst du dir sicher sein? Woher stammt die Liste – der Link, der alles zusammenhält? Wer sagt, dass es nicht Fiktion ist, Desinformation, das Werk eines Scherzbolds?

Sigma antwortet sofort.

Ich weiß nicht, ob ich dir das sagen soll. Noch nicht, erst wenn du weißt, womit du es zu tun hast. Ich bin auf der Flucht.

Oh, shit. Echt jetzt?

Aufgeflogen. Ich schreib dir über ein offenes WLAN.

Wie schlimm ist es?

Ich lebe, also wissen sie noch nicht, wo ich gerade bin. Ich wollte, dass du das alles siehst, AZ. Frage: Kann ich dir trauen?

Du weißt, dass ich sauber bin.

Weiß ich, AZ. Aber es ist mein Leben, das bin *ich*, worüber wir reden. Also frage ich dich: Kann ich *dir*trauen? Weil ich glaube, dass ich ziemlich bald einen echten Freund brauche. Offscreen. Ich möchte dich treffen.

Azi antwortet nicht. Solche Chats sollte er nicht führen, nicht wenn ihm sein Leben lieb ist. Ab einem bestimmten Punkt gibt es so etwas wie Vertrauen nicht mehr. Und dies ist jetzt der Punkt. Er hat eine vage Ahnung, dass Sigma eine Britin ist, genau wie sie zu glauben scheint, dass er ein Brite ist. Aber ihm ist zugleich klar, dass «sie» genauso gut ein verschwitzter Kerl sein könnte, der gerade in seiner Unterwäsche dasitzt und Doritos mampft, während er versucht, AZs Psyche anzuzapfen – was nur eine von zehntausend Möglichkeiten wäre, von denen Azi – anders als im wirklichen Leben – keine einzige ausschließen kann.

Er blickt hinab auf seine Hände, lässt sich einen Augenblick Zeit, um seine Antwort zu tippen, zu löschen und neu zu tippen. Er versucht, sich nicht vorzustellen, was ihr alles zustoßen könnte.

Wenn ich helfen kann, tu ich’s. Aber keine Namen, keine Einzelheiten. Kein Treffen. Wenn du die Sache offscreen angehst, bin ich kein Held.

Pause ihrerseits.

Tschüs, AZ. Mehr kann ich nicht erwarten. Pass auf dich auf. Gib Bescheid, falls du deine Meinung änderst. Muss losrennen, in echt.

Azi atmet aus. Er könnte anfangen zu graben. Es reizt ihn, seine Nase dort hineinzustecken, wo sie nicht hingehört. Sigma hat seine Hilfe verdient, und er möchte ihr vertrauen, möchte ihr dorthin folgen, wohin ihre gemeinsame Verbindung sie führt. Doch er hat Regeln, und sie zu befolgen, ist der einzige Weg, um sich zu schützen. Sichere alles ab, trau niemandem. Notfalls guck dir ein paar alte Episoden von Akte X an, um dich wieder einzukriegen.

Ob wahr, unwahr oder irgendwo dazwischen: Die Sache ist in jedem Fall riskant, ganz zu schweigen von der ernstzunehmenden Aussicht auf die Gefahr für Leib und Leben. Azi Bello lässt einen einsamen Finger über der Tastatur schweben, hält inne und klickt. Sigmas Botschaften verschwinden.

Fünf Minuten verstreichen. Er nimmt einen neuen Filter, füllt ihn mit Kaffeepulver und übergießt ihn mit frisch gekochtem Wasser, loggt sich als Jim ein und denkt über ein letztes Update des Tages nach – vielleicht eine schwulenfeindliche Schimpfkanonade zur Abwechslung.

Dann klopft jemand dreimal an die Tür seiner Gartenhütte.

Kapitel 4

Azi knallt den Deckel eines von mehreren Laptops zu, die ständig parallel zu seinen anderen Systemen laufen. Dieser spezielle fungiert als einer der Killschalter, die er installiert hat, um alle Komponenten seiner Netzwerke zu schließen und zu verschlüsseln. Die Bildschirme auf seinem Tisch leeren sich. Eine im ganzen Raum verstreute Anzahl verschiedener Telefone und Tablets geben Geräusche ab und verstummen dann. Sogar die Musik bricht ab.

Gleichzeitig wirbelt er, deutlich weniger effizient, aber so nachdrücklich auf seinem Sitz herum, dass er einen zentrifugalen Schwall aus kaltem Kaffee quer durch die Hütte schickt. Die misst nur drei mal zwei Meter, und auf jedem Zentimeter Fläche, der nicht der Kaffeezubereitung dient, stapelt sich Elektronikmüll, weshalb sein Drehschwenk ungeschützt umherliegende Schaltkreise im Wert von mehreren hundert Pfund ruiniert. Allerdings stellt das für ihn momentan nicht das drängendste Problem dar, denn er ist zu sehr damit beschäftigt, die schick gekleidete Frau anzustarren, die in der nunmehr geöffneten Tür steht und ihn mit verschränkten Armen betrachtet, als wäre er ein Tier in einem Streichelzoo.

«Ich habe es denen gesagt, dass du deinen Kaffee verschütten würdest, Azi. Aber das hier ist eine echte Schweinerei.»

Sie hat die Art von wohlmodulierter Aussprache und glatter Kurzhaarfrisur, die Azi mit jenen Moderatorinnen assoziiert, die mit den Nachrichten zugleich unterschwellig die drohende Botschaft übermitteln: Denk nicht mal im Traum daran, dich mit mir anzulegen. Eindeutig vonnöten ist jetzt eine Demonstration, dass er auf eine derartige Situation vorbereitet ist und adäquat mit ihr umgehen kann. Ebenso eindeutig ist, dass er dazu weder die Mittel noch den Willen hat.

«Wer sind Sie? Was machen Sie in meinem Haus? Ich meine, in meiner Hütte. Ich meine –»

Azi macht Anstalten aufzustehen, sucht nach Worten, die jedoch in seiner Kehle zu Grunzlauten zermanscht werden, fällt anschließend als Herr der Situation die souveräne Entscheidung, sich wieder hinzusetzen und die Augen zu schließen, in der Hoffnung, die Dinge entwickeln sich zur Normalität zurück, sobald er die Welt eine Weile nicht mehr sieht. Dummerweise kann er noch hören.

«Azi Bello, es ist mir ein Vergnügen, dich endlich kennenzulernen. Ganz ehrlich: Wir lieben deine Arbeit. Die Sache mit dem Aquarium und jetzt die Infiltration des jungen Gemüses bei den Neonazis. Doch du bist an einem Punkt angelangt, wo du aktiv intervenieren musst, denn die Anfrage, die man dir vorhin geschickt hat, ist von sehr speziellem Interesse für mich und meine Kollegen.»

Azi fährt sich mit einer Hand durchs Haar und schluckt schwer.

«Und für welche Behörde genau arbeiten Sie?»

Schon während er die Frage formuliert, meint er, die Antwort zu kennen. Es gibt nicht vieles, was einem Hacker ein derartiges Maß an Aufmerksamkeit einbringt, und im Moment ist er nicht mit irgendetwas Spektakulärem beschäftigt. Ausgenommen seine derzeitigen Recherchen, für die eine Abteilung, die mit «T» anfängt, zuständig wäre.

Sein System ist geschützt, da ist er sich sicher. Was bedeutet, dass man ihn auf eine andere Weise beobachtet hat. Und das schon eine ganze Weile. Doch hat er zum Komplex «Terrorismus» das erste Mal etwas von Sigma gehört, und zwar gerade eben, weshalb sie ihn wegen ihr unter Beobachtung gestellt haben mussten. Und das legt die Vermutung nahe, dass gerade jetzt mehrere seiner Worst-Case-Szenarien parallel ablaufen.

Azis Gedanken und Puls rasen inzwischen. Hat Sigma nicht angedeutet, dass sie vor Leuten auf der Flucht sei, denen der Sinn nach Gewalt stehe? Könnte dann dieser Angriff auf seine Festung der Einsamkeit eventuell gar nichts mit irgendeinem Beamtenapparat, sondern vielmehr mit höflichen und wortgewandten Profis der Verhör-, Folter- und Leichenbeseitigungsbranche zu tun haben? Angesichts dieser Erkenntnis scheinen ein paar wenige, wohl überlegte Worte unbedingt aus seinem Mund dringen zu wollen …

«Oh fuck, oh fuck, oh fuck, bitte bringt mich nicht um. Ich weiß nichts, ich schwör’s! Ich meine, ich erzähl euch alles, was ich weiß. Was nicht viel ist. Oh Scheiße. Ich werde gleich sterben, stimmt’s? In meiner eigenen Hütte!»

«Nein, nicht unbedingt.»

«Aber das würden Sie doch auch sagen, wenn Sie vorhätten, mich gleich umzubringen, oder?»

Die Frau seufzt, atmet kurz durch, klappt dann flink Azis Reservestuhl auf, setzt sich vor ihn und verschränkt die Knöchel, als wäre sie die Herzogin von Cambridge, die eine Parade von Veteranen und Schulkindern abnimmt. Ihr Gesicht ist sehr dicht vor seinem, was aber, angesichts der räumlichen Enge, sowohl der Notwendigkeit als auch einer Absicht geschuldet sein kann.

«Azi Bello, du hältst jetzt mal den Mund und hörst stattdessen zu. Du hast Mist gebaut, und ich bin hier, um dir zu sagen, was als Nächstes passiert. Denk nicht mal andeutungsweise daran, diskutieren, ausreißen oder etwas anderes tun zu wollen, als eine deutlich erkennbare und folgsame Bereitschaft zur Teilnahme an dieser Unterhaltung zu signalisieren.»

Mangels Alternativen tut Azi, wie ihm geheißen. Die Frau lächelt. Es ist kein freundliches Lächeln, aber auch kein eindeutig mordlustiges. Er lächelt zurück. Er riecht den Kaffee, der auf seiner Kleidung trocknet. Warum riecht Kaffee so gut, wenn man ihn kocht, und später so entsetzlich? Ist sie von dem Geruch genauso angewidert wie er? Sollte er ihr eine Tasse anbieten? Vielleicht versucht er gerade nur sehr, sehr angestrengt, nicht über das nachzudenken, was vorgeht.

«Mein Name ist Anna. Da wir nun friedlich beisammensitzen, werden diejenigen, die uns in einem Transporter nicht weit von hier beobachten, ein klein wenig entspannter sein. Das werden sie so lange bleiben, wie du hier nur sitzt, nickst und zuhörst. Hast du verstanden?»

Azi sitzt, nickt und hört zu. Denk nach, flüstert sein Gehirn. Denk nach. Denk nach. Du hast einen Schock, du bist panisch. Reiß dich zusammen. Atme, entspann dich. Such Blickkontakt. Sag was. Er macht eine Bewegung, um seinen Kaffee zu trinken, erinnert sich dann aber, dass er ihn vorhin im ganzen Raum verteilt hat. Also nuckelt er stattdessen am Rand seiner leeren Tasse.

«Ich versteh dich ja», sagt Anna. «Du überlegst, was ich alles weiß und warum ich hier bin. Was du sagen kannst, ohne dir dein Grab noch tiefer zu graben.»

Er windet sich, und sie seufzt erneut.

«Ich habe mich unangemessen ausgedrückt. Niemand bringt irgendjemanden um – jedenfalls nicht, solange ich hier bin. Du hast keine Ahnung, welches Glück du hast, dass diese Unterredung in einer solch kongenialen Umgebung stattfindet. Ich bin noch nicht einmal hier, um dich festzunehmen. Ich bin hier, weil du etwas für mich tun wirst.»

«Okay. Klar. Möchtest du einen Kaffee? Ich hatte gerade welchen gekocht, als du – äh – geklopft hast.»

«Sehr nett. Bleib sitzen, ich gieß mir selbst welchen ein.»

Sie dreht sich um und gießt sich ein, ohne vom Stuhl aufzustehen. Ihre Bewegungen sind geschmeidig und unangestrengt, als würde sie sich in der Hütte bestens auskennen. Was sie wahrscheinlich auch tut. Mit stockender Stimme versucht Azi herauszufinden, welche grundstürzenden Offenbarungen zusammen mit dieser Frau in seine Hütte spaziert sind.

«Wie habt ihr mich gefunden?»

«Die Frage kommt immer als erste. Die Antwort ist immer die gleiche. Ich werde den Teufel tun und es dir sagen. Wir kennen AZ schon seit Jahren, aber worauf es uns ankam, waren die Connections. Die zwischen AZ und Sigma. Zwischen AZ und Azi Bello. Ich gestehe, dass dieser Teil nicht einfach war, dank deiner bewundernswürdigen Professionalität. Aber –»

«Aber?»

«Clevere Menschen sind immer auch dumm, auf ihre eigene Weise. Deine sentimentale Anhänglichkeit hat dich hochgehen lassen. Das Haus, der Garten, die Hütte. Wir haben uns ein wenig altmodische Überwachung erlaubt. Angesichts der Tatsache, dass du bei deiner physischen Sicherheit so amateurhaft vorgehst, wie du im digitalen Bereich gut bist, haben wir uns für zwei hochauflösende Lochkameras in deinem Dach entschieden. Hat prima funktioniert.» Wieder dieses Lächeln.

«In meinem Dach.» Azi blickt nach oben, als würde ihm die korrekte analoge Identifizierung des Begriffs «Dach» bei Anna Pluspunkte einbringen.

«Ja, in deinem Dach. Direkt über deinem Tisch. Warum sollte man ein gut geschütztes Informationssystem attackieren, wenn man jeden Mausklick und Tastendruck des Betreffenden aufzeichnen kann?» Sie hebt die Schultern.

«Tja, da hätte ich wohl dran denken sollen.»

«Richtig. Wir haben alles von dir – protokolliert, aufgelistet, reproduziert. Alle deinen kleinen Geheimnisse.»

In Annas Stimme schwingt ein kaum unterdrücktes Lachen mit, und Azis Verstand sackt in seine Magengrube, hält dort inne und flüstert: Zwar bist du im Moment so was von am Arsch, aber mach dir nichts draus, ich bin gleich wieder zurück mit einem raffinierten Plan, sobald ich mit der äußerst ernst zu nehmenden Aufgabe fertig bin, dafür zu sorgen, dass du dir nicht in die Hosen scheißt.

«Wir wissen alles über dich, Azi, oder zumindest alles, was wir wissen müssen. Das meiste davon ist gut, vieles bereitet uns ein wenig Kopfzerbrechen. Und ein paar Sachen – du wirst bestimmt wissen, welche – sind so beeindruckend, dass wir es uns nicht leisten können, dich Justitias warmer Umarmung zu überlassen, selbst wenn wir das wollten. Wenngleich auf beiden Seiten des Atlantiks gewisse Freunde von uns entzückt wären, wenn wir es täten.»

Schneller als erwartet kehrt sein Verstand mit zusammenhängenden Sätzen zurück.

«Okay. Ich versuch mal, das Ganze zu kapieren. Ihr werdet mich nicht einsperren. Du sitzt hier und trinkst Kaffee, obwohl du mich genauso gut als verschnürtes Bündel hinten in einen fensterlosen Transporter verfrachten lassen könntest. Also muss es sich um einen ziemlich wichtigen Deal handeln.»

Azi bricht mittendrin ab. Er stellt fest, dass zu wissen, was andere nicht tun, kein guter Ratgeber für das ist, was tatsächlich geschehen wird.

«Was wollt ihr von mir? Warum ist Sigma so wichtig für euch?»

«Es gibt gewisse Dinge, die ich dir sagen kann, und andere eben nicht. Verschwende bitte meine Zeit nicht mit dem Versuch, etwas über die zweite Kategorie herauszufinden. Jawohl, wir sind an der Person, die sich Sigma nennt, sehr interessiert. Wir haben schon seit Monaten gehofft, dass sie letztendlich zu dir kommen wird und dich um Hilfe bittet. Leider hast du ihr gesagt, dass du nicht bereit bist, von deiner Tastatur aufzustehen. Aber keine Sorge, wir werden das ändern.»

«Wie bitte?»

«Du wirst Sigma eine Nachricht schicken. Und zwar umgehend. Und ihr sagen, dass du dich mit ihr treffen willst.»

Das ist so jenseits von allem, was Azi erwartet hätte, dass er kurzzeitig vergisst, fürchterlich Angst zu haben.

«Warum sollte ich das tun? Warum wollt ihr, dass ich das tue?»

«Erinnerst du dich, was ich dir gerade zum Thema Fragenstellen gesagt habe? Ich mach’s jetzt mal schön einfach für dich. Diese junge Frau – und jawohl, sie ist eine Frau – ist für uns extrem wichtig, und es ist unsere Absicht, dich zu benutzen, um sie ein wenig besser kennenzulernen. Du bist ein wichtiger Aktivposten für uns, ein wertvoller Agent. Wie fühlt sich das an?»

«Wie Gomorrha. Darum geht es doch nur.»

«Ich will das Wort nie wieder aus deinem Mund hören. Nie wieder. Du hast keine Vorstellung, womit du es zu tun hast. Wenn die an meiner Stelle hier säßen, hättest du nur noch Minuten zu leben. Und glaub mir: Fröhliche Minuten wären das nicht. Munira Khan. So heißt sie. Das wird sie dir sicher noch sagen. Sie wird immer verzweifelter, und du wirst das einzig Gute sein, das ihr seit langem begegnet ist. Mehr brauchst du einstweilen nicht zu wissen.»

«Nein. Kommt nicht in Frage. Ich spiele nicht den Lockvogel.» Erst als ihm dieser Satz entfährt, wird ihm klar, welch entschiedene Meinung er zu diesem Thema hat. Wer auch immer Sigma ist: Sie verdient einen besseren Freund als ihn, auch wenn es bei ihm um hehre moralische Ansprüche eher dürftig bestellt ist. Anna schaut ihn unverwandt an, wechselt dann den Tonfall und redet ihm fast konspirativ zu.