Hier sind die Unzertrennlichen - Alessandro Piperno - E-Book

Hier sind die Unzertrennlichen E-Book

Alessandro Piperno

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Beschreibung

20 Jahre sind vergangen. Die Brüder Pontecorvo sind erwachsen. Doch was heißt das schon bei zwei so begnadeten Neurotikern. Wie kleine Papageienvögel sind sie unzertrennlich, auch wenn jeder nun sein eigenes Leben führt. Und während Filippo die Angst vor der eigenen Berühmtheit plagt, seit sein Comic über die Kinder in den Krisengebieten dieser Welt als Animationsfilm Furore macht, steht sein kleiner Bruder Samuel vor dem Ruin, weil er sich beim Handel mit Baumwolle verspekuliert hat. Und dann die Frauen, ach ja. Ebenso rasant wie beißend komisch erzählt Piperno, wie es erst zum Bruch der Unzertrennlichen und dann zu einer wahrhaft wunderbaren Versöhnung kommt. Ende gut, alles gut. Eine Familiensaga all'italiana: Ausgezeichnet mit dem Premio Strega, der höchsten literarischen Auszeichnung Italiens

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 540

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Alessandro Piperno

Hier sind die Unzertrennlichen

Im Feuer der Erinnerungen Roman

Aus dem Italienischen von Andreas Löhrer

Mit Illustrationen von Werther Dell' Edera

FISCHER E-Books

Inhalt

HIER SIND DIE UNZERTRENNLICHEN [...]Das Leben ist ein [...]ERSTER TEIL ES IST PASSIERT!ZWEITER TEIL DER HIMMELSPENDLERDRITTER TEIL 1986–2011:DAS FEUER DER ERINNERUNGVIERTER TEIL LETZTER AKTUNZERTRENNLICHAnmerkung zum TextDanksagung

HIER SIND DIE UNZERTRENNLICHEN

Für meinen Bruder Filippo

Das Leben ist ein Krankenhaus, in dem jeder Patient den Wunsch hat, sein Bett zu wechseln.

 

Charles Baudelaire

 

 

 

Jetzt, da ich einen Grand Slam gewonnen habe, weiß ich etwas, was nur wenigen Menschen auf der Welt zu wissen vergönnt ist. Kein Sieg fühlt sich so gut an, wie eine Niederlage schmerzen kann.

 

André Agassi

ERSTER TEILES IST PASSIERT!

Wer unermüdlich mit sich selbst verkehrt, begreift: sind die anderen dir ähnlich, dann kannst du den anderen eben nicht über den Weg trauen.

Immer wieder hatte Filippo Pontecorvo sich das gesagt. Deshalb war er gar nicht so überrascht, als seine Frau Anna ihm aus Rache den drastischsten Sexstreik aufzwang, den ihre merkwürdige Ehe jemals erlebt hatte; nachdem sie erfuhr, dass der Animationsfilm ihres Mannes – mit wenig Geld und ohne große Erwartungen gedreht – für die Quinzaine des Réalisateurs beim Festival von Cannes nominiert worden war. Leider linderte diese Erkenntnis seinen Kummer nicht: sie verstärkte ihn eher noch heimtückisch.

Seit anderthalb Monaten heizte Anna kämpferische Streikposten vor der gutlaufenden Fabrik ihrer Intimität an. Und für einen Typen wie Filippo, mit einem Faible für den stiefmütterlich behandelten ehelichen Sex, war das zwar eine echte Strafe, doch noch nie hatte ihn eine solche Sabotage so wütend gemacht wie an diesem Tag im Mai. Er stand im nachmittäglichen Halbdunkel des Schlafzimmers und stopfte seine Klamotten in den Militärsack für die Fahrt nach Cannes am nächsten Tag. Wer weiß, warum, aber ihm war so übel, als würde er sich auf einen Einsatz in Afghanistan vorbereiten.

Draußen regnete es in Strömen. Drinnen hatte Filippo das Gefühl, er würde ertrinken. Seit einigen Minuten versuchte er sich mit einem von ihm selbst ausgedachten Manöver zu trösten, das ebenso oft erprobt wie ineffektiv war. Es bestand darin, eine wohlwollende Bilanz seines Lebens zu ziehen: eine Bilanz, die zumindest bei dem, der sie absichtsvoll erstellte, Hektoliter eines grundlosen Optimismus hätte versprühen müssen.

Also, schauen wir mal: er war fast neununddreißig Jahre alt, ein gefährliches, aber ganz und gar kein schlechtes Alter. Er stand kurz davor, an einem wichtigen Trubel teilzunehmen. Er verfügte über eine beneidenswerte Anzahl von Tarnhosen, in Erinnerung an die einzige glänzende Erfahrung seines Lebens: Leutnant bei den Infanteristen in der Kaserne von Cesano.

Obwohl Filippo nach den antiquierten Normen seiner Mutter in seinem Leben fast nichts erreicht hatte, war er mit sich selbst nicht unzufrieden. Im Gegenteil, er glaubte, dass er dieser ganzen Trägheit erfolgreich eine gewisse Klasse aufgedrückt hatte.

Die Tochter eines Millionärs zu heiraten war ein meisterhafter Coup gewesen. Anna kümmerte sich mit dem gleichen unbestreitbaren Eifer um seinen Unterhalt, wie ihn seine Mutter einst an den Tag gelegt hatte. Es demütigte ihn zwar nicht allzu sehr, die Rolle des Ausgehaltenen zu spielen, aber es machte ihm trotzdem etwas aus, dass die meisten ihrer Bekannten die Verbindung zwischen Anna und ihm als eine Geldheirat abtaten. In Wahrheit hatte Filippo begonnen, Anna Cavalieri zu lieben, lange bevor er ihr begegnete. Und das war das Romantischste, was beiden passiert war.

Die Frauen: ein weiteres Kapitel, aus dem man Trost ziehen konnte. Filippo war kein Typ wie sein Bruder Samuel, der ganz kühl und wählerisch war. Einer von denen, die, um es im Bett zu bringen, einen Fünf-Sterne-Bungalow mit Meeresblick brauchen. Damit wir uns verstehen: nicht dass sie gewisse Themen nicht miteinander diskutiert hätten, aber sein kleiner Bruder hatte sich wohl viel zu viele Filme mit Fred Astaire und Gene Kelly reingezogen, als dass er gut vögeln konnte. Er selbst aber hielt sich auf diesem Gebiet ausgezeichnet: auch in der trostlosesten Umgebung und mit den unattraktivsten Partnerinnen.

Filippo vermied es – auf der Liste der Dinge-auf-die-er-stolz-sein-konnte –, seinen Abschluss in Medizin mitzuzählen, den er mit unsäglicher Mühe geschafft hatte, angestachelt durch eine Art dynastische Berufung: sein Vater war Kinderonkologe von internationalem Ruf gewesen, seine Mutter war seit Jahren die angesagteste Geriaterin in den Boccia-Kreisen rund um die Gated Community der Olgiata.

Er hütete sich außerdem, seine Zeit bei Ärzte ohne Grenzen in Bangladesh mit einzubeziehen, ein in jeder Hinsicht schmerzliches Abenteuer, auch wenn es ihm den Großteil des Materials für seinen Animationsfilm geliefert hatte.

Dafür wertete er seine verblüffende Fähigkeit umso höher, mit glücklicher Hand die Zeichnungen der großen verehrten Meister des Comic nachzumachen. Schließlich war die erste wirkliche Anerkennung in seinem Leben gerade diesem hochfliegenden Talent geschuldet. Wenn er nun seinen Sack für Cannes packte, dann weil sein Animationsfilm Gilles Jacob, dem legendären Chef des legendärsten Festivals der Welt, ganz gut gefallen hatte.

Er trat aus dem Zimmer. Lief über den Flur, der – im Jargon von Raffaele, dem Stararchitekten, der den Umbau des Hauses geplant hatte – den Nachtbereich vom Tagbereich trennte. Sein gebieterischer Schritt, mit dem er in Richtung Küche marschierte, sagte viel über die Verwegenheit seiner Ernährungsabsichten aus: einer von seinen Imbissen, der seine Unruhe besänftigte und die Neuronen wieder in Schwung brachte.

Die Küche war der einzige Ort im Haus, in den Filippo sich eingemischt hatte. Was er mit seiner Frau teilte, war das Desinteresse an materiellen Dingen: nichts repräsentierte dieses Paar schräger Exzentriker weniger als das Haus, in dem sie wohnten. Es ist nämlich so: sein Erwerb sowie der aufwendige Umbau waren eines der unvorhergesehenen und nicht so willkommenen Geschenke von Dottor Cavalieri, Annas Vater. Während Filippo das Geschenk mit seinem üblichen Fatalismus hingenommen hatte, war Anna kurz davor gewesen, es abzulehnen: Das Viertel (das jedes Jahr etwas exklusiver und etwas weniger intellektuell wurde) war von Schauspielerinnen verseucht, auf die er einen mörderischen Hass verspürte, und sie im Supermarkt zu treffen, versetzte ihn in Angst und Schrecken.

Die kleine Villa erhob sich in einer der abgeschiedensten Straßen von Monteverde. Ein eierlikörfarbenes Liberty-Schlösschen, zwar leicht affektiert, aber im Einklang mit dem Magnolienwäldchen, in das es eingebettet war. Obwohl der gute Raffaele vom Desinteresse seiner Auftraggeber am Innendesign frustriert war, hatte er alles getan, um den dreihundert Quadratmetern die japanische Feinheit zu verleihen, die wahrscheinlich besser zu beruflich erfolgreichen und sexuell charismatischen Singles gepasst hätte. Keine Vorhänge, helle Wände, mit Tatami belegte Fußböden, spärliches Mobiliar an der Grenze zur mönchischen Askese, ein 70-Zoll-Sony-Bildschirm, in einer Wand eingelassen, die mit den DVDs der Ehefrau und den Comic-Heften des Ehemanns ausgestattet war.

Keine einzige dieser stilistischen Entscheidungen war von Filippo diktiert oder unterstützt worden. Der einzige Raum, der ihm am Herzen lag, war nämlich die Küche. Aus Raffaeles Vorschlägen wurde ersichtlich, dass dieser sehr viel mehr am beißenden Farbton des Smeg-Kühlschranks als an dessen Fassungsvermögen interessiert war. Und das konnte Filippo nicht dulden. Was für ihn eine Küche zur Küche machte, war ein großer – aber was heißt groß? –, mitten im Raum platzierter riesiger Arbeitstisch, bei dem man Lust bekam, für ein ganzes Regiment zu kochen.

Und er hatte ihn bekommen.

Und genau diesen geliebten Arbeitstisch mit den Ausmaßen eines Exerzierplatzes bat Filippo nun, ihm zu helfen, seine Unzufriedenheit zu verscheuchen. Er war damit beschäftigt, ein Dutzend Crostini zuzubereiten. Den Backofen anzuheizen. Eine Handvoll Milchbrötchen zu halbieren. Er hatte sie auf eine Auflaufform gelegt, sie mit Tomaten, Mozzarella, Sardellenpaste, Öl, Pfeffer und Basilikum belegt. Ab und zu hängte er sich an den Hals eines Heineken. Er ließ das Radio laufen, um eine dieser Sendungen zu hören, in denen den ganzen Nachmittag über Fußball gesprochen wird.

Während er mit einer geschickten Bewegung die Auflaufform in den eingebauten Backofen schob, begriff Filippo, Cannes war daran schuld, dass es ihm so schlecht ging. Und dabei hatte er keine Mühe gescheut, damit diese Gelegenheit sein Selbstbild, das zu seiner Herausbildung ein ganzes Leben gebraucht hatte, nicht veränderte. Warum hätte er es denn auch verändern sollen? Herodes und seine Kinder – der Titel seines Films – war als anständiges Erstlingswerk nur eine plump verkleidete unzusammenhängende Chronik seiner Erfahrungen als humanitärer Mitarbeiter und Arzt bei Ärzte ohne Grenzen, garniert mit einer Reihe großartiger Lügengeschichten zur Eigenwerbung. Der Protagonist war ein Typ mit ungepflegtem Bart und Tarnhosen, die der Fitnessstudio-Version des Autors außerordentlich ähnelte: anstatt ein Arzt war er wohl eher ein Superheld, der tapfer kämpfte und versuchte, Ordnung in eine düstere, wahnsinnige Dritte Welt zu bringen, in der Gut und Böse sich mit comicmäßigem Manichäismus herausforderten. Auf der einen Seite unterernährte, misshandelte Kinder, auf der anderen Erwachsene, die Hunger verursachten.

Die tausend Abenteuer dieses außergewöhnlichen Superhelden wurden von seinen apokalyptischen, meiner Meinung nach etwas zu belehrenden Träumen unterbrochen, in denen haufenweise berühmte Kindermorde vorkamen: vom Mordversuch an Isaak bis zu den Märtyrern von Beslan. Zudem hatte Filippo diesen Film benutzt, um ironisch und ketzerisch von sich selbst zu erzählen: sogar sein Bruder und seine Mutter tauchten in einem zärtlichen Cameo auf.

Dies alles, um anzudeuten, er sollte besser ein paar Jahrzehnte warten, bevor er wieder etwas Interessantes hätte, über das er dozieren konnte. Und da das Vergnügen bei der Entwicklung dieses Erstlingswerkes quasi mit diesem verbraucht war, hatte Filippo nicht die Absicht, ein zweites zu produzieren, und auch kein drittes und so weiter … Der Gedanke, eine Laufbahn einzuschlagen, auf der die ersten Schritte ihn, zumindest für seinen Geschmack, diese ganze Mühe gekostet hatten, lockte ihn überhaupt nicht.

War es denn sinnvoll, das durch lange Trägheit eroberte Wohlbefinden mit dem Keim des Ehrgeizes zu infizieren? War es sinnvoll, nachdem er einen Grad an Weisheit erreicht hatte, den im Laufe der Jahrtausende viel tüchtigere Menschen als er nur herbeisehnen konnten, so viel Weisheit zum Teufel zu jagen?

Nein, das war es nicht.

Also hält man sich besser an das unvergängliche Wahlprogramm: keinen Stolz, keinen Ehrgeiz und vor allem keine Würde, die man verteidigen müsste. Im Grunde wiederholte er sich nur, es handelte sich um einen Animationsfilm für eine zweitrangige Sektion des Festivals. Unbedeutender Kram. Der keinem auffallen würde. Er würde nur hinfahren, um Spaß zu haben. Er würde auf Kosten des Produzenten Languste futtern, ein Tartar voller Worcester-Soße, wie er es mochte. Umsonst Filme à gogo von den besten Meistern des Globus. Ein Autogramm von Jodie Foster oder wenigstens von einem der Dardenne-Brüder. Und wenn du deine Karten richtig ausspielst, mein Junge, springt auch noch ein schöner Fick dabei raus. Die Croisette ist voller verhaltensgestörter Frauen, die zu allem bereit sind! Kurz und gut, auch in dieser Situation war Filippo erfolgreich, wo die meisten Menschen scheitern: darin, sich nicht allzu wichtig zu nehmen.

Schade, dass das Bemühen, auf Augenhöhe zu bringen, was ihm gerade passierte, im Verhalten von Anna einen erklärten Feind finden würde. Sie, die in den letzten Monaten, weit vor ihrem jüngsten Sexstreik, immer mehr Anlässe zum Streit gesucht und mit der nahenden Abreise ihres Mannes nach Cannes die tägliche Dosis an unmotivierter schlechter Laune und Boykottaktionen erhöht hatte.

Ihn schmerzte noch die Erinnerung an jenen Morgen, als Anna es gewagt hatte, ihn zu wecken. Bevor sie ins Fernsehstudio ging, um zum x-ten Mal in der schwachsinnigen TV-Serie zu spielen, war sie in sein Zimmer geplatzt (getrennte Schlafzimmer, schon immer), hatte ihm etwas nicht gerade Wohlriechendes unter die Nase gehalten und gebrüllt:

»Hier, so was habe ich ja noch nie gesehen!«

Aus dem Schlaf hochgeschreckt, fand Filippo wenige Zentimeter vor seiner Nase eine Kunstinstallation, wie man sie auf den Biennalen der halben Welt findet: ein Küchentablett, auf dessen Oberfläche nicht wirklich friedlich zusammenlebten: eine angeknabberte Parmesankruste, eine Bierflasche voller Zigarrenstummel und ein einsamer Adidas-Schuh, aus dem eine (übrigens leere) Packung Gentilini-Kekse hervorlugte. Was jeder für ein Werk der Pop-Art hätte halten können, das die neurotischen Störungen des Spätkapitalismus anprangerte, erkannte Filippo als die Reste einer langen Fernsehsession der vorigen Nacht wieder. In einer anderen Verfassung hätte er vielleicht dieses Meisterwerk ebenso locker für sich reklamiert wie Michelangelo die Urheberschaft an seinem David. Aber es ist nun mal so: am frühen Morgen, völlig überrumpelt, brutal aus dem Schlaf gerissen, war sein Sinn für Ästhetik noch zu betäubt, als dass er ihn dazu bewegen konnte, das Kunstwerk mit den prosaischen Augen seiner Ehefrau zu beurteilen. Jawohl, er musste es zugeben: aus der Sicht einer Frau ohne Phantasie und voller Groll waren diese Überreste wirklich ekelhaft. Aber nachdem er derartig geweckt worden war, wollte er ihr keinerlei Genugtuung gönnen. Er drehte den Kopf auf die andere Seite und schloss wieder die Augen. Ein Verhalten, das sie nur noch mehr in Rage brachte:

»Mein Vater hat nicht so viel Geld in dieses Haus gesteckt, damit du es mit diesen Schweinereien verschandelst.«

Es war das erste Mal seit ihrer Hochzeit, dass Anna es wagte, wenn auch indirekt, ihm ihr ökonomisches Ungleichgewicht vorzuwerfen. Es war das erste Mal, dass er sich ihretwegen wie ein Parasit fühlte. Zweifellos lag die Schuld ganz und gar bei Cannes. Der Witz war, dass Anna sich genau in dem Moment erlaubte, ihn zu erpressen, in dem die Welt ihm eine (wenn auch ferne) Möglichkeit geliefert hatte, sich von ihr zu emanzipieren.

Und dabei war sie es gewesen, verflucht nochmal, die ihn angetrieben hatte, aus seiner vagen Berufung zum Comiczeichner etwas zu machen. Sie war es, die ihm diese ganzen Vorträge hielt, dass ein menschliches Wesen nicht so leben konnte, wie er es tat: sich zu Hause verschanzen und nur essen, schlafen, Trash-Sendungen im Fernsehen gucken, und dazwischen seine gemächliche Hypochondrie kultivieren. Dass Menschen so nicht leben. Oder wenigstens alles versuchen, es zu vermeiden. Kurz gesagt, sie war es, die den richtigen Durchgang in der Mauer seiner sprichwörtlichen Nichtsnutzigkeit gefunden hatte.

»Ich verlange von dir ja nicht, dass du ein Matt Groening oder ein Alan Moore wirst«, hatte sie mal zu ihm gesagt. »Ich rate dir nur, Spaß zu haben. Wenn du sowieso nicht aufs Zeichnen verzichten kannst und seit deinem sechsten Lebensjahr nichts anderes machst, und Kenner schwören, dass du gut bist …«

Die Überzeugungsarbeit hatte sich nicht auf vage Ermutigungen beschränkt. Unter Einsatz ihres vom Vater geerbten Organisationstalentes und mit Hilfe ihres Seiltänzer-Agenten hatte Anna einen Produzenten aufgetrieben, der bereit war, in die Begabung ihres Mannes zu investieren.

Aber warum fiel ihr gerade jetzt – jetzt, da sie damit aufhören konnte, großzügig das Amt des Talent-Scouts und der Groupie-Ehefrau auszuüben, jetzt, da dank ihrer Begeisterung und Hingabe ein Hoffnungsschimmer zu sehen war, jetzt, da auch Cannes ihr recht gab – nichts Besseres ein, als in Sachen Sex die Rollläden herunterzulassen und jeden Vorwand aufzugreifen, um ihn zu beschimpfen?

Das mysteriöse Gegengewicht, das die eheliche Ausgeglichenheit regulieren soll! Drehe daran und du bist erledigt!

Im Grunde kann auch der großzügigste Mentor, wenn er sich vom Schüler ausgestochen fühlt, einen Wutanfall bekommen. Und, Leute, wir reden von Cannes! Einem Termin, den Filippo vielleicht von seinem bequemen Außenseitersessel aus gelassen behandeln kann. Der aber für eine kleine Schauspielerin wie seine Frau, die das Showbusiness seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr beackert, für eine hochgradige Revanchistin, die jeden Abend vor dem Einschlafen von einem Comeback phantasiert, das es ihr erlauben würde, locker jeden Erfolg zu übertreffen, den ihr Vater jemals errungen hatte, und den goldenen Käfig der TV-Serien hinter sich zu lassen … nun, für eine solche Tussi ist Cannes das Gelobte Land (steht Cannes denn nicht für Kanaan?).

Und dass er es beim ersten Versuch dorthin schafft, zwischen einem Gähnen, einem Imbiss und einem Schulterzucken, zwischen einer Zigarre, einem Averna mit Eis und einem Fick, kann ihre Demütigung und Wut nur noch steigern.

Aber seht ihn euch doch mal an – muss sich Anna gesagt haben, seitdem sie so schwierig geworden war –, er hockt da im Schatten, die ganzen Jahre, wie ein Gorilla im Zoo, und dann auch noch auf meine Kosten. Und jetzt, da Euer Gnaden sich herablässt, sich der Welt hinzugeben, da steht die Welt stramm. Niemand Geringeres als Gilles Jacob. Könnt ihr euch das vorstellen? Kaum zu glauben.

 

Es war fast zwanzig nach sieben am Abend und Anna war, jedenfalls für einen ängstlichen Typen wie Filippo, längst überfällig. In solchen Momenten spürte er, dass er seine Frau am meisten liebte: wenn sie sich verspätete.

Gerade als er die Crostini aus dem Backofen holen wollte, begehrte er Anna plötzlich mit der verzweifelten Verkommenheit, mit der Jugendliche den Sex herbeisehnen, von einer Unschuld geschlagen, von der sie sich, wenn man sie hört, nie befreien werden.

Mit welcher Nostalgie dachte er an das erste Mal zurück, als er sie (zumindest live) gesehen hatte: an einem Gate auf dem Frankfurter Flughafen saß sie auf dem Boden, die Beine überkreuzt wie eine kleine Indianerin. Der mit Schnee vermischte Wind blies hinter der großen Glasfront mit dem Blick auf die Landebahnen so heftig wie im Film. Dem Bade-Outfit nach konnte man leicht zu dem Schluss kommen, dass sie auf dem Rückweg von einer exotischen Reise war. Noch bevor Filippo sie erkannte, war er überrascht vom Gefühl der Unzulänglichkeit, den jeder Quadratmillimeter ihres Körpers ausstrahlte. Lange seidige Haare wie eine Polynesierin, gebräunte pulsierende Schläfen, teilweise verdeckt von den Bügeln einer Sonnenbrille, lange, schlanke Affenarme, gelbe Flipflops wie eine gepflegte Hippiefrau, aus denen leicht eingezogene vergoldete Zehen hervorschauten. Filippo erinnert sich nach so langer Zeit immer noch gerührt an jedes Detail. So wie er sich auch an den Moment erinnert, an dem seine Bewunderung als Kenner von der Verwunderung verdrängt wurde, etwas Vertrautes und zugleich Exotisches vor sich zu haben.

Dieses Mädchen hatte er doch schon einmal gesehen. Er wusste nicht, wer sie war, wie sie hieß. Er konnte sich auch nicht vorstellen, der neurotischen Tochter eines Multimillionärs gegenüberzustehen, die sich seit kurzem in die märchenhafte Welt des Fernsehfilms aufgemacht hatte. Ihm war klar, dass es keinen schlimmeren Annäherungsversuch gab, als einer Frau zu sagen, man habe sie schon einmal gesehen, auch nicht, wenn er sicher war, dass er sie tatsächlich schon einmal gesehen hatte.

Dann brachte ihn etwas auf die richtige Fährte. Filippo erkannte in der kleinen Frau Sitting Bull die Gesichtszüge einer ungelenken Tänzerin. Mensch, wo hatte er sie nur gesehen? Bis endlich die Offenbarung kam. Sie hatte als Sängerin und Tänzerin bei »Das ist nicht die RAI« teilgenommen, einer Sendung mit jungen Mädchen und alten Säcken, die Anfang der neunziger Jahre sehr populär gewesen war. Für Filippo Pontecorvo handelte es sich um eine der gelungensten Kultursendungen in der Geschichte des italienischen Fernsehens. Eine Vorahnung, die wie alle genialen Einfälle den Charme des Wesentlichen ausstrahlte.

Die Idee bestand darin, in einem riesigen Fernsehstudio eine herrlich übertriebene Anzahl von jungen Mädchen zwischen dreizehn und achtzehn Jahren zu versammeln. Und zwar nachdem man sich versichert hatte, dass die Genannten über keinerlei Talent und keinerlei Begabung verfügten: nicht zum Singen und noch weniger zum Tanzen und zum Schauspielern. Das Einzige, was von ihnen verlangt wurde, war süß und aufreizend vor der Fernsehkamera zu agieren. Und darin waren sie wirklich konkurrenzlos.

Filippo erinnerte sich an ihre Namen: Miriana, Teresa, Pamela, das sagenhafte Paar Antonella-Ilaria … Er erinnerte sich an ihre fehlerhafte Aussprache, ihren unsicheren, tapsigen Gang (oh, die erhabene Sinnlichkeit des Unvollkommenen!). Er erinnerte sich an ihr hysterisches Geflenne. Ihre Sätze ohne jede Logik. Ihr falsches komplizenhaftes Lächeln vor der Kamera, das eine viel menschlichere Konkurrenzhaltung erahnen ließ, ungeduldig, sich in Gesten von unvorstellbarer Gemeinheit und Boshaftigkeit zu äußern, hinter der geschmückten Scharade der Fernsehheuchelei.

Was für ein Traum! Was für Zeiten!

Und da – im Kontext des sinnlichen orientalischen Paradieses, das man den Zuschauern jeden Tag gleich nach dem Mittagessen servierte – hatte Filippo seine zukünftige Ehefrau, damals kaum fünfzehn Jahre alt, im Badeanzug zum ersten Mal gesehen.

Eine Sekunde, nachdem er sie erkannt hatte, blickte Filippo sich mit der Vorsicht eines Raubtiers um, ob in der Umgebung, in der Menge der Transitreisenden, womöglich der Schatten eines Begleiters drohte. Das schien nicht der Fall zu sein.

Das Schauspiel, das die Natur hinter den Glasscheiben darbot, flößte einem einen biblischen Schrecken ein. Es war Viertel vor drei nachmittags, dabei schien es finsterste Nacht zu sein. Man konnte nichts sehen außer der Schnauze der MD80, in die sie eine knappe Stunde später steigen sollten, und die immer mehr das Aussehen eines verblüfften Delfins hatte, der einen aus einem Aquarium heraus anblickt. Es war mehr als wahrscheinlich, dass man sie nicht starten ließ. Dass an diesem Tag kein einziges Flugzeug vom Frankfurter Flughafen abheben würde.

Vielleicht war das der Grund, warum die kleine Polynesierin immer unruhiger wurde. Sie stand auf, setzte sich wieder hin, wechselte ständig ihre Position. Ließ ihre Flipflops von den Füßen gleiten. Traktierte einen silbernen Ring am Zeigefinger. Und vor allem hantierte sie hartnäckig mit ihrem Handy. Schaltete es aus und wieder an. Öffnete es, holte die SIM-Karte heraus, rieb sie an ihrem T-Shirt, steckte sie wieder rein. Nichts zu machen: es funktionierte nicht. Und darauf hatte er gewartet:

»Probieren Sie es mal mit meinem.«

Das war Filippos Auftritt, er hielt ihr ein klappriges Nokia hin.

Sie packte ihre dunkle Brille an den Bügeln und ließ sie ein paar Millimeter nach vorne auf die Nase rutschen, um ihn mit den schwärzesten und misstrauischsten Augen zu taxieren, die sich jemals auf ihn gerichtet hatten.

Man kennt die Wirkung, die man auf Männer ausübt, nur zu gut: war es das, was diese Augen so vorsichtig machte? An einem öffentlichen Ort angesprochen zu werden, war für sie schließlich an der Tagesordnung. Aber dieser Typ musste wirklich verzweifelt sein. Es war Silvester. Alle waren aufgeregt beim Gedanken, in der Neujahrsnacht in einer überfüllten Halle campieren zu müssen. Und er stellte sich hin und machte auf Kavalier?

»Keine Sorge. Das macht er immer, aber dann lässt er mich doch nie im Stich. Vielen Dank«, sagte sie in Anspielung auf ihr eigenes Handy mit Worten, die auf einen Freund gepasst hätten.

Und Filippo hatte begriffen. Das einzig Richtige, was er tun konnte, war zugleich das am wenigstens Kühne: einen Gang zurück. Er ging wieder an seinen Platz, wobei er sich kategorisch verbot, das Einzige auf der Welt zu betrachten, was ihn in diesem Moment interessierte. Gerade als es ihm gelungen war, dem Mädchen keine kurzen Blicke zuzuwerfen, hörte er, wie ihn eine zerknirschte Stimme von hinten überfiel:

»Ich will nichts gesagt haben. Dieses Mal hat er mich im Stich gelassen. Wenn dein Angebot noch gilt … Ich sollte abgeholt werden, aber ich kann nicht telefonieren.«

Filippo hatte freudig bemerkt, wie sie inzwischen vom »Sie« zum »Du« übergegangen war. Ohne sich bitten zu lassen, holte er das nur wenige Minuten zuvor abgelehnte Handy aus seiner Hosentasche. Mit der gierigen Bewegung einer Drogensüchtigen, die auf dem Trockenen sitzt, riss sie es ihm aus den Händen. Sie ging ein paar Schritte beiseite. Mit beeindruckender Schnelligkeit wählte sie die Nummer. Und ein weiteres Mal bot sie den Passagieren des Flugs AZ1459 Frankfurt-Rom eine anschauliche Demonstration ihres labilen Gemütszustands. Sie fing an, in der Nähe eines mit einem kümmerlichen Weihnachtsbäumchen geschmückten American Express-Stands auf und ab zu gehen. Wie ein Jude beim Gebet ließ sie ihren Kopf hin- und herschaukeln. Sie wurde extrem laut und ebenso schwindelerregend wieder leise. Es war offensichtlich, dass der Jemand, der sie abholen sollte, sie anbrüllte. Sie jammerte, sie rechtfertigte sich nämlich wie ein achtjähriges Kind. Aber gleichzeitig ließ sie ihren Charakter aufscheinen, tapfer wie ein Profiboxer griff sie an und steckte ein. Das alles, dem Anschein nach, mit einem hohen Aufwand an physischer und emotionaler Kraft. Ab und zu warf die kleine Polynesierin, weil sie sich offenbar schuldig fühlte, ihrem Wohltäter einen Blick zu und hob den Zeigefinger, als wollte sie sagen: »Entschuldige, gib mir noch eine Sekunde …«

An Sekunden waren schon etliche verstrichen, bevor sie wiederauftauchte und ihm mit schuldbewusster Miene sein Handy zurückgab.

»Ich fürchte, ich habe die Batterie aufgebraucht.«

»Ich habe ein Ladegerät in der Tasche.«

»Fliegst du auch nach Rom?«

»Wenn es so weitergeht, fliege ich nirgendwohin.«

»Ich wohl auch nicht.«

»Warst du deswegen am Telefon so aufgeregt?«

»Mein Vater. Er ist immer so. Manchmal glaube ich, ihn interessiert einzig und allein, mich blöd dastehen zu lassen.«

»Was hast du denn Schlimmes getan?«

»Was weiß ich. Einen Moment lang habe ich befürchtet, er wollte mir sogar die Schuld an diesem grässlichen Unwetter geben.«

»Wenigstens weiß ich jetzt, auf wen ich böse sein muss.«

»Weißt du, er ist der vorbildliche Typ, der nie Fehler macht. Er ist nur unterwegs, wenn die Sonne scheint.«

»Ist er oft unterwegs?«

»Sehr oft.«

»Was macht denn dein Vater?«

»Geld.«

»Eine schöne Arbeit!«

»Viel Geld zu machen ist das, was er am besten kann, außer mir Vorwürfe zu machen und sich um die Wettervorhersage zu kümmern.«

»Das klingt doch nach drei ausgezeichneten Beschäftigungen.«

»Eher nicht. Das Problem ist, dass das Selbstvertrauen, das ihm die Kohle gibt, für die in seiner Umgebung richtig nervig sein kann.«

»Eine interessante Theorie. Die übrigens erklärt, warum ich prozacabhängig bin«, sagte er, um der Unterhaltung einen Kick zu geben.

»Wieso?«

»Weil ich keinen Cent habe.«

»Wirklich?«

Jetzt, da sie ihre Brille abgenommen und in den Ausschnitt gehängt hatte – sozusagen ihre Augen entblößte –, fragte sich Filippo, ob die Gläser nicht ausdrücklich dazu da waren, die störende Aufrichtigkeit ihres Blicks zu schützen. Augen, die mit der Präzision eines Seismographen wohl nur dazu dienten, damit man in Echtzeit jeden unmerklichen psychischen Erdrutsch registrieren konnte. Jetzt zum Beispiel äußerten sie etwas auf der Kippe zwischen Freude, Empathie und Anteilnahme.

»Was wirklich?«

»Bist du wirklich prozacabhängig?«

»Sehe ich aus wie einer, der über so was Witze macht?«

»Was weiß ich, was für ein Typ du bist? Ich habe dich doch gerade erst kennengelernt … Also, du ziehst dir Prozac rein, richtig?«

»Nicht nur Prozac. Siehst du diese Tasche? Das ist eine Apotheke. Antidepressiva, Stimmungsaufheller … Ein geregeltes Leben nach den harmonischen aktiven Prinzipien der Pharmakologie. Die Glückspillen. Ich weiß nicht, wie die Leute ohne so was leben können?«

»Weißt du, dass du komisch redest?«

»Nervt dich das?«

»Nein, im Gegenteil, es amüsiert mich. Aber es wirkt komisch, aufgeregt.«

»Sei mir nicht böse. Das ist wegen dem Prozac.«

»Mensch, du verarschst mich. Du siehst nicht wie ein Prozac-Süchtiger aus.«

»Und du siehst nicht aus wie eine, die weiß, wie Prozac-Süchtige aussehen.«

»Du weißt gar nicht, wie falsch du liegst … Jedenfalls scheinen Militärhosen nicht zu deiner Rolle zu passen. Wenn ich dir das so sagen darf.«

»Jetzt liegst du aber falsch. Prozac ist universell, demokratisch. Es schafft überall Anhänger, sogar bei viel erfolgreicheren Leuten als mir. Sylvester Stallone soll nicht darauf verzichten können.«

»Warum begreif ich nie, ob du es ernst meinst?«

»Ich schwör’s dir, ich habe gerade im Flugzeug ein Interview mit ihm gelesen, in der Zeitschrift der Lufthansa. Eine seriöse deutsche Zeitschrift. Die lügen nie. Stallone steigt wohl in kein Flugzeug ohne seine Pastillen. So nennt er sie: ›meine Pastillen‹. Findest du das nicht süß für einen Mann wie ihn? Du glaubst, er ist bis oben hin voll mit Steroiden und Anabolika, dabei ist er prozacabhängig. Weißt du, das ist eine wirkliche Hilfe für Leute wie mich, zu wissen, auch in den höheren Kreisen …«

Natürlich gab es kein Interview, in dem Sylvester Stallone irgendeine Abhängigkeit gestanden hätte. Aber mit Sicherheit machte Filippo gerade eine schwere Zeit durch.

Die besondere Virulenz des x-ten Anfalls von Hypochondrie hatte ihn ein paar Wochen zuvor dazu getrieben, in ein Flugzeug zu steigen, nach Tel Aviv zu fliegen und sich bei Josuah Pacifici zu Hause einzunisten, einem Cousin mütterlicherseits, den er kaum kannte. Was für ein Typ, dieser Josuah! Er verfügte über unbegrenzte Energiereserven. Tagsüber arbeitete er als Reiseführer für vermögende amerikanische Juden und abends als DJ in einem Strandlokal. Für Filippo war es eine Freude, sich von Josuahs hyperkinetischer Lebendigkeit mitreißen zu lassen. So wie es auch aufbauend war, eine israelische Erfahrung von innen heraus zu erleben. Er hatte vor Ort festgestellt, wie die Tatsache, jeden Morgen in einem Land aufzuwachen, das von einem auf den anderen Moment von einer Atombombe vernichtet werden könnte, sofort die eigene Sichtweise verändert: angesichts der atomaren Gefahr verblasst sogar eine selbstdiagnostizierte tödliche Krankheit. Leider brauchte er nur in Frankfurt anzukommen, damit der im Lande der Propheten erworbene wohltuende Fatalismus zum Teufel ging.

In diesem Augenblick wurde eine weitere beträchtliche Verspätung angekündigt, was alle wartenden Passagiere aufregte und das Mädchen deprimierte.

»Es ist immer dasselbe. Das ist mein typisches Pech. Denk dir: ich habe mich mit meinem Freund gestritten, ich habe ihn in Argentinien sitzenlassen, obwohl er mir hinterherrief, wenn ich jetzt gehen würde, wolle er mich nie mehr sehen … und das nur, um Silvester mit meinem Vater zu feiern. Ich habe noch nie Silvester ohne ihn gefeiert. Etwas sagt mir, wenn ich Silvester nicht mit ihm feiere, könnte etwas Furchtbares passieren! Ich habe den siebten Sinn. Manche Dinge spüre ich in mir fließen …«

Filippo sagte nichts. Er ließ sie weiterfaseln und erwog die unzweifelhaft romantischen Anregungen, die sich einem boten, wenn man in der Silvesternacht mit einem ebenso attraktiven wie nervösen Mädchen auf einem Flughafen festsaß.

»Kann ich dich zum letzten Mal um dein Handy bitten?«, fragte sie ihn immer besorgter.

Da hatte Filippo ein weiteres Mal die Gelegenheit, eine Szene zu erleben, in der sie aus der Fassung geriet. Sie sprach in einem übertrieben aufgeregten Ton, als wäre es das letzte Telefonat ihres Lebens. Zum Glück hatte sich dieses Mal, nachdem sie aufgelegt hatte, ihre Laune entscheidend gebessert. Ihr Vater hatte sie beruhigt. Er hatte ihr geraten, sich einen Schlafplatz zu suchen. Sicherlich verfügte der Frankfurter Flughafen über einen Hotelservice. Filippo und sie klapperten die Hotels in der Nähe ab und natürlich waren sie alle ausgebucht. Gegen sieben Uhr abends machten sie sich wieder auf den Weg zum Gate. Der Flughafen sah aus wie ein Biwak. Die Leute, die sich inzwischen damit abgefunden hatten, die Silvesternacht hier zu verbringen, feierten mit ein paar behelfsmäßigen Flaschen aus dem Duty-free-Shop.

Seitdem sich Anna (ja, so sagte sie, sei ihr Name) damit abgefunden hatte, nicht zu fliegen, und sich deswegen nicht mehr aufregte, fing sie sogar an, ununterbrochen von ihrem Vater zu erzählen, vom krankhaften Verhältnis, das sie mit diesem charismatischen und erstaunlich wohlhabenden Mann verband. Wer weiß, ob vom Konkurrenzwillen angetrieben oder dem Trost, einen Anhänger desselben Clans vor sich zu haben, redete Anna über alle Mittel, die sie im Laufe ihres jungen Lebens schon hatte schlucken müssen, und wie sie, im Gegensatz zu ihrem Schicksalsgefährten, diese Medikamente hasste. Sie sprach sogar über ihre Aufenthalte in der Psychiatrie. Sie schien es zu genießen, diesem zufälligen Gesprächspartner gegenüber keine Einzelheit auszulassen. Filippo fragte sich, ob sie sich so verhielt, weil sie sicher war, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Ob er die Rolle des klassischen Unbekannten spielte, dem man im Zugabteil begegnet und das größte Geheimnis seines Lebens offenbart.

Ab und zu richtete Anna, mitten im Schwall intimer Geständnisse, ein paar Fragen an ihn. Filippo antwortete kurz. Anna war besonders froh, als sie hörte, dass er noch bei seiner Mutter wohnte. Sie war von Männern umgeben, die nach Unabhängigkeit und Emanzipation von ihrer Herkunftsfamilie strebten: Hier war nun einer, der sich nicht schämte, seine Mutter ebenso liebzuhaben, wie sie, Anna, ihren Vater liebhatte. Filippo musste feststellen: es gab nichts, das er von sich erzählte, was sie sich nicht sofort aneignete, um gleich dazu eine Anekdote zu erzählen, die sie betraf. Es handelte sich um eine wirklich nervtötende dialektische Vorgehensweise, doch war das wichtig? Sie war doch so schön.

Um Mitternacht stießen sie, in einer kleinen Ecke neben dem American-Express-Stand auf dem Boden sitzend, mit zwei Flaschen Bier an. Draußen zeigte das Unwetter keine Anzeichen, sich zu beruhigen. Drinnen war die Luft warm und köstlich verbraucht. Schließlich schlummerte Anna ein. Also begnügte sich Filippo, da er nicht tun konnte, was er zu tun versucht hätte, wenn sie in einem Hotelzimmer gewesen wären, damit, aus seiner Tasche Blätter und Stifte herauszuholen. Und er fing an, sie im Profil, von vorne, in Dreiviertel- und in Ganzkörperansicht zu zeichnen. Dabei lächelte er mit traurigem Blick und düsterer Miene. Die ganze Nacht über tat er nichts anderes, und dann war es an ihm, einzuschlafen.

Als Filippo im Morgengrauen plötzlich aufwachte, erwarteten ihn zwei unerwartete Dinge. Eine schöne Sonne, die ihre warmen winterlichen Strahlen auf die ganz mit Schnee bedeckten Pisten richtete. Und Anna, die seine Zeichnungen durchblätterte. Einen Moment lang fürchtete Filippo, sie sei wütend. Sie würde von ihm eine Erklärung verlangen für das, was man als Vorspiel zum Stalking bezeichnen könnte. Doch er merkte gleich, dass Anna ebenso strahlte wie das Licht dort draußen. Sofort begann sie sich bei ihm zu bedanken. Sie sagte ihm immer wieder, es sei das liebevollste Geschenk, das sie jemals bekommen habe.

Sieben Jahre waren seit ihrem ersten gemeinsamen Aufwachen und diesem ganzen gegenseitigen Getue vergangen. Seitdem war einiges geschehen. Jetzt wusste Filippo mehr von Anna, als er wissen wollte. Und doch dachte er gern an diese Zeichnungen zurück. Durch sie hatte Anna ihn geliebt, wie sie ihn nie wieder lieben konnte. Und nun wusste Filippo auch warum: Nichts hatte bis zu jenem Moment Annas Narzissmus so besänftigt wie die Begegnung mit ihrem ergebenen persönlichen Porträtzeichner. Schließlich war es dann auch nicht so seltsam, dass sie diesen Porträtzeichner heiratete.

 

Wo steckte sie bloß? Es war schon halb acht.

Der Regen ergoss sich so heftig, dass er die knarrenden Zweige der Magnolie nach unten bog. Die Sirene eines fernen, vom Gewitter ausgelösten Alarms dröhnte immer schriller. Durch das halbgeöffnete Fenster zogen feuchte Schwaden mit einem Duft nach verletztem Frühling herein.

Zunehmend besorgt versuchte Filippo Anna auf ihrem Handy anzurufen. Nichts. Ausgeschaltet.

Genau in diesem Moment klingelte das Haustelefon. Filippo war sich sicher, dass sie es wäre. Es war Rachel, seine Mutter. Die wohl ein gewisses Talent hatte, ihre Söhne genau dann anzurufen, wenn diese ungeduldig einen Anruf von jemand anderem erwarteten. Gewöhnlich verwandelte sich die Enttäuschung über diese pünktliche mütterliche Ungelegenheit beim jeweiligen Sohn in den legitimen Wunsch, sie umzubringen oder wenigstens schlecht zu behandeln.

»Schatz?«

»Mama, was gibt’s?«

»Ich wollte nur wissen, ob ich dich morgen früh zum Flughafen bringen soll.«

»Nein, danke. Mein Flugzeug geht um acht. Ich muss eine Stunde vorher da sein. Um mich hinzubringen, müsstest du heute Nacht hier draußen kampieren.«

»Das macht mir aber nichts aus. Um diese Uhrzeit ist doch keiner unterwegs.«

»Aber mir macht es was aus. Ich will nicht, dass du wegen mir am frühen Morgen aufstehen musst.«

»Ich stehe gern am frühen Morgen auf.«

»Mama, ich bitte dich …«

»Bringt Anna dich hin?«

»Du weißt doch, dass Anna nicht gern allein vom Flughafen zurückfährt.«

»Warum denn nicht?«

»Warum haben Rotkehlchen eine rote Kehle? Anna ist halt so …«

»In Ordnung, aber deswegen brauchst du dich nicht aufzuregen. Also, wie kommst du hin?«

»Was weiß ich, ich nehme ein Taxi.«

»Hast du Geld verdient?«

Filippo wusste schon, bevor er das Wort »Taxi« aussprach, dass dies bei Rachel eine empörte Reaktion auslösen würde. Aber ihm war eben auf die Schnelle nichts anderes eingefallen. Das Taxi stand auf der schwarzen Liste überflüssiger und verbotener Genussmittel, auf der auch andere Artikel standen wie Getränke und Erdnüsse aus der Minibar eines Hotels oder Popcorn und Eiskonfekt, die in der Pause im Kino verkauft werden.

Wenn Filippo dem Impuls nachgab, seine Mutter wie ein Pennäler anzulügen, dann wegen der Gehirnwäsche in seiner Kindheit:

»Das Taxi zahle nicht ich, sondern die Produktionsfirma.«

»Und die haben Geld, um es aus dem Fenster zu werfen?«

»Mensch, Mama, denk doch auch mal an die Taxifahrer. Wir sprechen doch nicht vom Aga Khan. Die müssen sich doch auch über Wasser halten?

»Und der Koffer?«

»Was ist mit dem Koffer?«

»Hast du den schon gepackt?«

»Ich war gerade dabei.«

»Vergiss die Packung Buscopan nicht. Es fehlt nur noch, dass …«

»Hör mal, Mama, ich muss jetzt los.«

»Was ziehst du für den Gala-Abend an?«

»Was für einen Gala-Abend?«

»Ich habe gelesen, es gibt einen Gala-Abend.«

»Für wen hältst du mich? Für Sean Penn? Niemand hat mich zu irgendeinem Gala-Abend eingeladen. Ich geh da hin, quatsch meinen Scheiß und fahre wieder zurück.«

»Fühlst du dich eigentlich erwachsener, wenn du Schimpfwörter benutzt?«

»Ich fühle mich immer dann erwachsener, wenn wir mindestens zwei Tage am Stück nichts voneinander hören …«

»Nimm wenigstens eine Krawatte und die Mokassins mit … Man weiß ja nie.«

»Ich weiß, am liebsten hättest du mich so herausgeputzt wie die kleine Schwuchtel.«

»Weißt du, ich mag es nicht, wenn du ihn so nennst. Apropos, hast du mit ihm telefoniert?«

»Mit wem? Der kleinen Schwuchtel?«

»Ich habe dir gesagt, du sollst ihn nicht so nennen … Das Einzige, was ich nicht ertragen könnte, wenn ich tot bin, ist dass ihr beide euch nicht versteht. Wenn ich nicht mehr da bin, und ihr fangt an zu streiten wie die Kinder des Notars, dann komme ich nachts und ziehe euch an den Füßen …«

»Na, da gab es ja schon eine schöne Beute aufzuteilen. Bei dir geraten wir wahrscheinlich eher an die Falsche. Es hat ja keinen Sinn, sich wegen Kleingeld in die Haare zu kriegen.«

Auf diesen Kommentar folgte eine kurze Stille. War Rachel beleidigt?

»Ich glaube, deinem Bruder geht es gerade nicht besonders.«

»In welchem Sinn?«

»Ach, ich weiß nicht. Er ist dauernd nervös. Willst du nicht versuchen, mit ihm zu reden? Wenn du ihn anrufst, freut er sich. Er sagt, du rufst ihn nie an …«

Während Rachel versuchte, ihm subtil die tägliche Dosis an Schuldgefühl zu injizieren (es war nämlich sehr unwahrscheinlich, dass Semi sich über eine, übrigens ganz und gar unzutreffende telefonische Vernachlässigung vonseiten seines großen Bruders beschwert hätte), wurde Filippos Aufmerksamkeit vom unverwechselbaren Schlüsselklappern an der Haustür abgelenkt.

»Mama, entschuldige, Anna ist da. Wir telefonieren morgen.«

»Ja, denk dran, mir eine Nachricht zu schicken, wenn du gelandet bist.«

»Mama, bis morgen.«

Er sah wieder auf die Uhr. Anderthalb Stunden Verspätung. Filippo ging ihr entgegen, in der einen Hand das Bier und in der anderen das letzte angeknabberte Crostino, das seinen Fressanfall überlebt hatte. Er wusste, er hätte dem Impuls widerstehen sollen, ihr Vorwürfe zu machen und auch, sie nach dem Grund für eine so gedankenlose Verspätung zu fragen. Als sie schließlich vor ihm stand, war er wie vom Schlag getroffen.

Vor dem Eingang stand eine tragische Heldin. Ich bitte euch, denkt nicht an Medea oder Klytämnestra, sondern an eine zeitgenössischere Figur, halb traurige Zigeunerin, die an der Ampel um Almosen bettelt, halb maghrebinische Jugendliche, die ganz knapp einen Schiffbruch überlebt hat.

Nicht einmal im Film, als reumütige Tochter des Camorra-Chefs, hatte Anna eine ähnliche dramatische Intensität erreicht. Ihre langen schwarzen Haare tropften wie eine Regenrinne, aber sie schien sich nicht darum zu kümmern. Sie stand da, katatonisch, als wäre sie Zeugin eines Mordes gewesen. Was war mit ihr passiert? Filippo schluckte mühsam zusammen mit dem letzten Stück Crostino einen seiner kleinen Kommentare hinunter. Wie anstrengend war es doch, mit dem leidenden Komödiantentum seiner Frau konfrontiert zu sein. Ab und zu den Flugdrachen ihrer neurotischen Übertreibungen zu besteigen, konnte zwar eine anregende Erfahrung sein, manchmal sogar fröhlich waghalsig, das aber den lieben langen Tag zu erleben, war auf Dauer einfach nicht auszuhalten.

»Darf man erfahren, wo du warst?«, war das Freundlichste, was er sie fragen konnte.

»Ich habe mich mit Piero zerstritten.«

Anna überließ es dem Gewitter, ihre Worte mit einem fernen Donnergrollen zu kommentieren. Und gleich darauf sagte sie noch: »Dieses Mal endgültig.«

Es war das dritte Mal in den letzten Wochen, dass sich Anna »endgültig« mit Piero Benvenuti zerstritten hatte. Ihrem Agenten. Und nicht nur ihrem, sondern auch dem von einem Haufen anderer Entertainer, die von ihm pompös als »Künstler« bezeichnet wurden, obwohl kein Einziger von ihnen jemals einen Pinsel in die Hand genommen hatte.

Piero war eine verwirrende und vor allem amüsante Mischung aus Zynismus und Sentimentalität. Ein talentierter Vertreter von Schauspielern ohne Talent. Einer, der sich hartnäckig für seine Klienten verausgabte, damit sie die günstigsten Verträge und die populärsten Rollen bekamen, der aber durch ein unheilbares Defizit an Empathie kaum begriff, welche besondere Richtung die Geltungssucht bei jedem von ihnen jeweils einschlug.

Früher oder später kommt nämlich immer der Moment, an dem der überbezahlte Quizmaster in sich die Leidenschaft für das Schauspielern entdeckt. Oder an dem das kleine, für seine majestätische Ungelenkigkeit bekannte Starlet sich vom Dämon des Tanzes versuchen lässt … Warum beschließen bloß alle in dieser blöden Welt – in der Piero sich für eine Art Flaschengeist hält – etwas sein zu wollen, was sie nicht sind? Die chronische Unzufriedenheit seiner Künstler ist nicht weniger mysteriös und ärgerlich als die Undankbarkeit, die früher oder später alle gegenüber dem Schicksal, und vor allem gegenüber diesem fleißigen, schöpferischen und dennoch nicht allmächtigen Flaschengeist zeigen. Und obwohl Piero sich mit dem tröstlichen Gedanken abgefunden hat, dass die ständige Unzufriedenheit das besondere Laster der Künstler ist (eine Art romantische Deformation, ohne die sie keine wären), leidet er trotzdem jedes Mal, wenn einer seiner Klienten wieder seine Frustration als verkanntes Genie an ihm auslässt.

An jenem Nachmittag musste Piero ziemlich gelitten haben, wenn man den Tenor der Vorwürfe bedenkt, mit denen ihn Anna sicherlich überhäuft hatte. Seit Wochen erlebte Filippo das Schauspiel, wie die Wut seiner Frau auf ihren Agenten ständig zunahm. Je mehr Anna offenbar bewusst wurde, was Piero für Filippo alles hatte erreichen können und für sie nicht, desto wütender wurde sie.

Und dabei war zwischen ihr und Piero sofort eine Liebesromanze entstanden. Ihre geschäftliche Zusammenarbeit war ungefähr ein Jahr alt, als Filippo und Anna in den Hafen der Ehe einliefen. Hätte Filippo nicht schon damals einen guten Einblick in die psychischen Prozesse und die daraus folgenden Verhaltensweisen seiner zukünftigen Ehefrau besessen, hätte er sogar um ihre bevorstehende Ehe fürchten müssen. Nichts Außergewöhnliches. So funktionierte Anna eben. Auf einmal verliebte sie sich in irgendwen. Und die dramatische Intensität, mit der sie es jedes Mal wieder tun konnte, war verblüffend. Damals war ihr neuer Agent Piero an der Reihe gewesen. Dass es auf der Welt einen Mann gab, dessen Interessen so magisch mit ihren eigenen übereinstimmten, reichte aus, um ihr vorzugaukeln, in diesem Tränental könnte sich die vollkommene Verbindung, von der Platon spricht, vollziehen.

Mindestens drei Stunden lang telefonierte sie täglich mit ihm. Es gab nichts, was sie ihm verheimlichte, und von Piero verlangte sie eine ebenso schamlose Transparenz. Und Piero, der die Skrupel seines Berufsethos und auch die vom gesunden Menschenverstand gebotene Vorsicht vernachlässigte, hatte ihr schließlich seine ehelichen Mängel anvertraut. Seine Frau Carla erregte ihn nicht mehr. Sie war wie eine Schwester geworden. Eine furchtbar eifersüchtige Schwester übrigens …

Der arme Piero, wie hätte er sich auch vorstellen können, dass seine streng privaten Geständnisse von Anna bei den absurdesten geselligen Gelegenheiten weiterverbreitet wurden? Und doch: seine Bettkatastrophen mit seiner Frau waren zu Annas Lieblingsthema geworden und zudem noch ein Vorwand, der es ihr erlaubte, bei den langen Mahlzeiten mit ihren Freunden nicht nur das Essen nicht anzurühren, sondern nicht einmal die Gabel in die Hand zu nehmen.

Man saß kaum am Tisch, da begann sie mit ihrer Leier: »Denkt einmal, Piero, mein Agent …« Nachdem sie das Problem ausgebreitet hatte, erwartete sie von jedem einen Kommentar, der ebenso deftig war wie der Schinken, den sie nicht anrühren konnte.

Also, sollte Piero dieses Weib ziehen lassen oder behalten? Anna war, wie es der Zufall will, für die Trennung. Und sie war tendenziell unangenehm berührt, wenn jemand, der Piero übrigens noch nie gesehen hatte, zu ihr sagte, es sei besser, die Nase nicht in gewisse Privatangelegenheiten zu stecken, und jedenfalls heilsam, für die Integrität alter bewährter Paare zu optieren.

Die Gründe, warum Filippo dies alles duldete, waren nicht so komplex. Zunächst erleichterten Annas Eskapaden ihm das Leben, weil sie dazu neigte, ihren neuen Favoriten zu ihrem bevorzugten Vertrauten zu machen. Filippo war sich sicher, hätte es den wirksamen sanitären Vorhang in Form des jeweiligen Intimfreunds nicht gegeben, seine Haltung als zerstreuter und hedonistischer Ehemann wäre ernsthaft in Gefahr geraten. Dann war da noch die übliche Frage von Würde und Anstand. Filippo betrachtete sich gern als jemand, den gewisse Dinge nicht interessieren. Den jeweiligen Tischgästen kam der Gedanke, Anna habe ein Verhältnis mit dem geheimnisvollen Mann, von dem sie unaufhörlich sprach? Er, der still und beiseite aß, spielte die Rolle des fröhlichen Gehörnten? Ihre Sache! Filippo wäre auf große Schwierigkeiten gestoßen, hätte er versucht, der Horde von Philistern, mit denen seine Frau ihn zwang zu Abend zu essen, zu erklären, wie aufregend er es fand, sich mit dem lebhaften Bild eines hageren, nervösen Mannes wie Piero zu unterhalten, der Anna vögelte.

Das Techtelmechtel zwischen Anna und ihrem Agenten fiel mit einem Todesfall zusammen: dem plötzlichen Tod von Signora Benvenuti, Pieros heißgeliebter Mama. Obwohl Anna die betreffende Frau nur einmal gesehen und auch nicht sonderlich sympathisch gefunden hatte, war sie untröstlich gewesen. Bei der Beerdigung, zwischen den Bänken einer malerischen kleinen Kirche an einer Piazza der Isola di Ponza, an einem dieser Februartage, die von einem Himmel verdüstert wurden, der möglicherweise noch stürmischer als das Meer war, hatten viele Trauergäste geglaubt, Piero sei nicht das einzige Kind und das attraktive Mädchen, das in der zweiten Reihe in Ohnmacht fiel, eine vom Schmerz gezeichnete, geheime Schwester. Es wäre schwierig gewesen, den unschuldigen Insulanern zu erklären, dass Anna Cavalieri den Tod jedes beliebigen Elternteils mit einer solchen Intensität erlebte, als Generalprobe der drohenden Katastrophe, die ihr früher oder später auch ihren Vater nehmen würde. Filippo wusste genau, dass man, um das Verhalten seiner Frau zu begreifen, den Faktor Exhibitionismus – der im Leben jedes professionellen Schauspielers so relevant ist, und also auch in ihrem – richtig einschätzen musste. Die Botschaft, die Anna in die Welt schicken wollte, war: welches Drama auch gespielt würde, sie war am meisten dazu berufen, sich darin als schmerzvolle Protagonistin zu fühlen.

Es war kein Zufall, dass ihr Hass auf Pieros Frau gerade in den Tagen nach der Beerdigung seinen Gipfel erreicht hatte. Anna fand die Art, wie Carla die Abschnitte aus dem Evangelium vorgelesen hatte und dabei so tat, als könne sie vor Verzweiflung nicht weitersprechen, wirklich unerhört. Dabei hatte Piero ihr einmal erzählt, Carla habe ihre Schwiegermutter nie ausstehen können. Und jedes Mal, wenn er seine Mutter besuchte, regte sich seine Frau auf. Also, und warum erlaubte sie sich dann, die Schmerzensreiche zu spielen?

Filippo konnte seine Frau nur entsetzt anschauen: wie war es möglich, dass Anna Carla beschuldigte, eine gekünstelte Haltung zu zeigen, wo sie doch genau das Gleiche tat? Ganz zu schweigen davon, dass Carla ein größeres Recht darauf hatte! Aber auch bei dieser Gelegenheit hatte Filippo es vorgezogen zu schweigen.

Bis Piero schließlich, wie alle seine Vorgänger, bei seiner äußerst anspruchsvollen Gefährtin einen Einbruch an Größe erlitt. Als Anna den Grad an Untreue ermessen konnte, den sich nur ein berühmter Agent so schamlos hätte erlauben können, und als sie andererseits begriffen hatte, dass Piero seine Ehefrau nie verlassen würde, begann sie (es erübrigt sich zu sagen öffentlich) schlecht über ihn zu reden. Nach so viel liebevoller Schmeichelei, nach so vielen Lobreden brach nun die Enttäuschung über sie herein.

Und wenn man bedenkt, dass sie ihn gewarnt hatte: würde er bei einer solchen Frau bleiben, dann würde er gefühllos werden. Und sieh ihn dir jetzt nur einmal an: wie oberflächlich, wie vulgär! Nur ihre Zuneigung zu Piero hinderte sie daran, den Agenten zu wechseln. Obwohl die letzte Brut an Starlets, die er leichtsinnigerweise übernommen hatte, sie wirklich in die Krise gestürzt hatte. Der Gedanke, zum gleichen Stall amateurhafter Tussis zu gehören, also, das war für sie eine solche Demütigung. Und doch hatte sie sich erfolgreich daran gewöhnt. Die Dinge hätten sich nie überstürzt, wenn Piero sich die Lage seines absurdesten aller neuen Klienten nicht so sehr zu Herzen genommen hätte …

Denn wie soll man Pieros Arbeit in Sachen Filippo bezeichnen, wenn nicht als unbezahlbar? Er war der Erste gewesen, dem Anna eine Kostprobe des riesigen, zusammenhanglosen und manischen künstlerischen Materials unterbreitet hatte, das ihr Mann im Laufe seines Lebens angehäuft hatte. Sie hatte es ihm eines Abends nach dem Essen in die Hand gedrückt. Piero war Gast bei einem ihrer Sommerfeste auf der Terrasse gewesen, bei denen Anna sich gern mit ihren exzentrischen Freunden und renommierten Feinden umgab. Feste, die nur dann ein Erfolg waren, wenn Filippo, von einem plötzlichen Entgegenkommen getrieben, sich dazu bequemte, unvergessliche Festessen zuzubereiten. Also, am betreffenden Abend hatte sich der Chef wieder einmal selbst übertroffen.

Während die Gäste nach dem Abendessen langsam verschwinden, steckt Anna Piero die Mappe in die Hände.

»Die sind von Filippo. Wirf doch bitte mal einen Blick darauf. Das Zeug ist gut.«

Piero muss lachen. Nicht nur, weil er besoffen, satt und breit ist, sondern weil seine exklusiven Prinzipien ihn nicht daran zweifeln lassen, dass der Koch, Förderer wunderbarer Festmahle, von Gottvater mit noch einem weiteren Talent als dem kulinarischen begabt sein kann. Das haben wir’s: jemand, der solche Spaghetti mit roten Krebsen und Fischrogen kochen kann, sollte nach nichts anderem streben. Und das ist auch der Grund, warum Piero, als er von Anna die Mappe mit den Entwürfen entgegennimmt, es sich nicht verkneifen kann, seine würdevolle Überheblichkeit zu zeigen, die man üblicherweise der Bande von Dilettanten vorbehält, die sehr oft mit einem seiner Künstler verwandt sind und sich irgendwann an ihn wenden, um ein Rampenlicht zu bekommen, das sie letztendlich nicht verdienen.

Was Piero nicht wissen kann, ist, dass Filippo in dieser Angelegenheit genauso denkt wie er. Und auch nicht, dass Filippo, obwohl er schon sein ganzes Leben lang zeichnet, obwohl er aufs Zeichnen nicht verzichten kann, nicht einen einzigen Moment geglaubt hat, seine Comics könnten irgendeinem anderen Herrn von Nutzen sein als ihrem Schöpfer. Aber was Piero vor allem nicht wissen kann, ist, dass die Initiative, ihm diese Zeichnungen zukommen zu lassen, nicht von ihrem Urheber ausging. Der schon seit drei Stunden in seinem einsamen kleinen Zimmer schläft und es bereut, für diese ganzen Arschlöcher gekocht zu haben. (Mein Gott, wie ihn die Freunde seiner Frau doch anöden!) Es ist Annas Initiative. Eine riskante Initiative. Eine regelrechte Vergewaltigung. Vielleicht die einzige Tat, die den gelassensten Ehemann der Welt dazu bringen könnte, wirklich aus der Fassung zu geraten.

Die achtundvierzig Stunden, die Piero brauchte, um sich von dem zu entgiften, was er im Körper hatte, reichten aus, um seine Meinung über Filippo und seine Werke zu revidieren, und zwar mit einer der spektakulärsten Kehrtwendungen.

»Meine Liebe, dein Mann ist ein Genie!«, sagte er zu Anna, nachdem er die letzten Stunden damit verbracht hatte, Filippos »Meisterwerke« durchzusehen. Damit wir uns verstehen, er hatte davon keine Ahnung. Um Himmels willen, er hatte seit seinem vierzehnten Lebensjahr keine Comics mehr gelesen. Er hatte auf diesem Gebiet keine Erfahrung. Was er wusste, war, dass er nicht aufhören konnte, sie anzusehen. Sie brachten ihn zum Lachen und sie brachten ihn zum Weinen, sie empörten ihn und sie faszinierten ihn. Und wer hätte gedacht, dass der Muskelprotz im weißen T-Shirt und den Militärhosen so witzig sein konnte? Dass der griesgrämige Mensch, über den man nur seines Talents wegen spricht, mit dem es ihm gelungen war, eine der prächtigsten Partien weit und breit an Land zu ziehen, und wegen seines Hackbratens mit Bohnen, dass der so viele Abenteuer erlebt haben konnte?

»War dein Mann wirklich an diesen ganzen Orten? Wie hat er es geschafft, so viel zu sehen? In Afrika, in Australien … Und dann diese ganzen Kinder … wie er diese Kinder gezeichnet hat? Mein Schatz, diese Kinder zerreißen einem das Herz wie Bambi, mehr noch als Bambi! Ist dir das klar? Hier ist schon alles drin, eine stimmige Geschichte, ein Roman!«

Ja, Piero wusste noch nicht genau, wie er es anstellen sollte, Filippos Zeichnungen zu fördern, aber in einem war er sich sicher: etwas würde er schon tun.

Und natürlich hatte er auch etwas getan.

Er hatte sich Hals über Kopf hineingestürzt und seitdem unaufhörlich neue Ideen entwickelt, um Filippo und seinen Werken wenigstens teilweise ein immer breiteres Publikum zu verschaffen. Nur um es klarzustellen, es war Piero, der die Intuition hatte, einen Film daraus zu machen. (»Mein Lieber, die Graphic Novel stinkt auf einen Kilometer nach Misserfolg!«) Warum sollte man sich mit einer Graphic Novel für picklige Wichser zufriedengeben, wenn dieser Kram das Zeug zu einem Film hatte?

Mit seiner Erfahrung war es Piero nicht schwergefallen, die Einwände seines neuen Klienten abzuwehren, der sich zunächst mühsam von der Wut auf seine Frau erholt hatte, die schuld war, ihm die Zeichnungen entwendet und einem Unbekannten ausgehändigt zu haben. Und der dann keine Gelegenheit ausließ, dem Agenten seine Furcht zu bekennen, einem solchen Unternehmen nicht gewachsen zu sein. Piero war der richtige Mensch, um Stück für Stück die Unsicherheiten seines störrischen Schützlings abzubauen. Seine Bescheidenheit ehre ihn, sagte er ihm bei den langen Telefongesprächen immer wieder. Sie sei ein Anzeichen von Ernsthaftigkeit, der Fähigkeit, die Kontrolle nicht zu verlieren, nicht größenwahnsinnig zu werden, aber auch ein Zeichen seiner künstlerischen Reife … Und so weiter.

Pieros Rhetorik, seine Redegewandtheit, seine so ansteckend optimistische, gerissene Begeisterung, die jede noch so rosige Prognose übertraf, hatte schließlich auch den zynischen Filippo für sich eingenommen. Der mit der Zeit gelernt hatte, sich selbst die Leichtgläubigkeit und Eitelkeit zu verzeihen, die er anderen nie verziehen hätte, und schließlich Vertrauen fasste.

Alles Weitere war nur die Geschichte der letzten Monate, die am nächsten Tag ihren Gipfel erreichen würde (worauf wahrscheinlich der Niedergang folgte) in der Präsentation von Herodes und seine Kinder, dem ersten Animationsfilm dieses völlig unbekannten Filippo Pontecorvo bei der Quinzaine des Réalisateurs.

Schade nur, dass in dieser ganzen Zeit die große Unterstützerin des verrückten Projekts, die erste schöpferische Promoterin ihres Ehemanns, es hinbekommen hatte, nervös zu werden. Die beiden einzigen Dinge, an die Anna noch denken konnte, waren die phantastische Aufopferung, mit der sich Piero für ihren Ehemann eingesetzt hatte, und die übliche Behandlung, die er ihr vorbehielt.

 

»Warum hast du denn kein Taxi genommen?«, fragte Filippo, um den Moment, in dem sie ihm den Anlass für ihren Streit mit Piero verraten würde, so weit wie möglich hinauszuzögern.

»Ich habe ja eins genommen. Aber dann war ich hier unten und habe mit Piero diskutiert und nicht gemerkt, dass es regnet.«

»Wie kannst du nicht gemerkt haben, dass es regnet? Sieh dich doch an, du bist …«

»Ich habe mir für nächstes Jahr auch so einen vorgenommen …«

Sicherlich meinte Anna einen Film, aber sie war so durcheinander, dass sie es nicht einmal aussprechen konnte.

»Seit Jahren sage ich ihm schon, ich will mit diesem Mist Schluss machen. Ich verdiene eine ernsthafte Rolle in einem ernsthaften Film mit einem ernsthaften Produzenten.«

»Entschuldige, wenn du es dieses Mal nicht machen willst, dann mach es einfach nicht.«

»Du hast ja leicht reden. Unser Künstler weiß, wie er seine Integrität bewahrt. Erklärst du mir bitte, wie wir uns über Wasser halten sollen, wenn auch ich aufhöre zu arbeiten und dafür künstlerische Gründe vorbringe?«

Wenn Filippo nicht gegen Grundsatzfragen allergisch wäre, hätte er sogar beleidigt sein können. Aber das Einzige, was er tun konnte, war zu ihr hinzugehen, ihr das nasse, schon fast nicht mehr funktionierende Mobiltelefon aus der Hand zu nehmen und festzustellen, dass Anna kochend heiße Hände hatte.

»Mein Gott, du glühst ja vor Hitze.«

»Ich glaube, ich habe Fieber.«

Das Melodram sah immer mehr nach neunzehntem  Jahrhundert aus. Da stand sie, die bleiche, abgemagerte, verstörte, jetzt auch noch fiebernde Heldin. Und nun sagt es schon, Götter im Himmel, wenn ihr nichts anderes wollt, als dass der arme abstinente Mann das tut, woran er in seinem Leben noch nie gedacht hatte: seine Frau mit Gewalt zu nehmen. Im Ernst? Hatte er noch nie daran gedacht? Ehrlich gesagt hatte er natürlich schon daran gedacht. In der Form reiner Phantasterei beim Onanieren, aber nicht nur: manchmal auch, wenn sie miteinander vögelten. Was konnte er auch machen, wenn Annas extrem schlanke Handgelenke, ihre unheimlich schmalen Füße, jeder Quadratmillimeter ihres Körpers, der jedenfalls für den, der Ohren hat zu hören, ständig einen Alarmschrei ausstieß, um gegen die eigene Zartheit zu protestieren, auf ihn viel stärker wirkten als jedes Viagra oder Cialis! Und was konnte er dafür, vor allem an diesem Abend, wenn wirklich alles an der tropfnassen Pocahontas vor der Eingangstür, die vor Kälte und Groll zitterte, für Filippo eine unerträgliche sexuelle Provokation und eine Aufforderung an seine Brutalität darstellte, sich gehenzulassen?

»Los, komm her. Zieh dich aus, trockne dich ab, geh ins Bett, und ich mache dir inzwischen etwas Heißes.«

»Nein, lass mich in Ruhe«, platzte sie vor Widerwillen zuckend heraus. »Ich will einen Moment hier allein sein.«

Ohne sich um die Wasserspur auf dem Boden zu kümmern, schleppte sie sich lautlos zu einem der sündhaft teuren Sofas von der Farbe piemontesischer Nüsse, bei denen sich der Architekt, bevor er sie auswählte, davon überzeugt hatte, dass sie im richtigen Maße unbequem waren. Und ließ sich fallen. Die Spannung im Wohnzimmer war absolut gegenläufig zum Gewitter draußen, das plötzlich nachgelassen hatte. Ja, es war, als habe seine Frau das Gewitter mit ins Haus gebracht.

Nachdem sich Anna aufs Sofa geworfen hatte, zog sie unaufhörlich ihre klitschnasse Ferse aus den Flipflops und steckte sie dann blitzschnell wieder hinein. Sie packte ein langes Haarbüschel und wrang es aus, als würde sie für Degas Modell stehen. Filippo wusste, dass dieses Schweigen nicht ihre Art war. Sie war nicht gerne still. Oder genauer gesagt, sie konnte es nicht. Noch einen Moment und sie würde sich in ihrem Zimmer verschanzen, wo sie einer Reihe von Telefongesprächen mit der Handvoll Vertrauten freien Lauf ließ, die sie gewöhnlich belästigte und mit allem vollschwallte, was in ihrem Leben nicht funktionierte.

Doch an diesem Abend nicht, er würde es nicht erlauben, dass sie jetzt wegging. Er war sich dessen so sicher, dass er sogar bereit war, ihr zuzuhören.

»Dann erklär mir mal: Was passt dir nicht an diesem neuen Vorschlag?«

»Das interessiert dich ja sowieso nicht.«

»Natürlich interessiert es mich.«

»Nein, du bist sofort gelangweilt. Du fängst zu gähnen an, und das kann ich nicht ertragen.«

»Ich verspreche dir, dieses Mal gähne ich nicht.«

Filippo merkte ziemlich schnell, wie schwer es war, bestimmte Versprechen zu halten. Seit ein paar Minuten redete Anna und reihte mit einer gewissen Erregung eine Sache an die andere, und er konnte schon nicht mehr. Dieses Mal war es nicht einfach langweilig, sondern auch deprimierend. Es gab nichts in Annas weinerlicher Abhandlung über die Vertragsbrüchigkeit ihres Agenten, was in seinen Ohren nicht dermaßen böse klang: »Ich kann es nicht glauben, dass du nach Cannes fährst. Nein, ich kann einfach den Gedanken nicht akzeptieren, dass du das machst, wonach ich mich seit langem sehne. Nein, ich kann nicht glauben, dass das durch meinen Agenten passiert.«

Was für eine Katastrophe.

Da kämpfst du dein ganzes Leben, um zu vermeiden, dass dir bestimmte Dinge passieren. Du überlässt dich jahrelang der Vergeblichkeit, nur damit du dich nicht eines Tages in der schäbigen Grausamkeit der menschlichen Konkurrenz wiederfindest. Dann, kaum hängst du dich ein wenig rein, rebelliert auch noch deine Frau gegen dich. Das Komische daran ist, dass sie dich nicht hasst für das, was du erreicht hast. Sondern für das, was du erreichen könntest. Wegen der Gelegenheit, die du dir geschaffen hast. Und gut, du hast nicht viele Verdienste. Du bist so ehrlich, es zuzugeben. Diese Zeichnungen sind nicht schlecht, aber nicht übertreiben … Jedenfalls verdienst du das alles nicht weniger als andere Menschen, die sich sehr viel mehr aufspielen als du!

So kam es, dass Filippo nach einigen Minuten, in denen er wie ein Psychoanalytiker genickt hatte, der es mit seinem unbeherrschtesten Patienten zu tun hatte, das tat, was er in fünf Jahren Ehe und einem Jahr Verlobungszeit nie für möglich gehalten hätte: er stürzte sich auf sie. Und das tat er mit der Energie eines erregten Mannes, der böse Absichten gegenüber einer kaum mehr als wehrlosen Frau hegt.

Er tat es nicht nur, weil er es für das Beste hielt, was er tun konnte, sondern weil er das Gefühl hatte, nicht anders zu können. Er tat es, um ihr das Maul zu stopfen, damit sie das Thema wechselte. Er hatte genug von ihrer Kleinlichkeit, und er fand es wirklich gemein, dass sie ihn wegen eines Erfolges hasste, den er noch gar nicht erreicht hatte. Er tat es, weil er es schon seit Monaten zu tun wünschte. Er tat es, weil sie noch nie so begehrenswert gewesen war. Er tat es, weil sie Fieber hatte und er sich vorstellte, wie dieses zarte Äffchen in den nächsten Tagen vor Erschöpfung in Ohnmacht fallen würde: glühend heißer Hals, Geruch nach Medikamenten und Aniskeksen, zerwühlte Laken, abgestandener Schweiß … Er tat es, weil er einen Moment lang spürte, was dem bestialischsten Vergewaltiger durch den Kopf geht.

Doch vor allem tat er es auf eigenes Risiko und Gefahr, und natürlich ohne irgendeine Illusion zu hegen, dass sein Unterfangen von Erfolg gekrönt wäre. Tatsächlich war es ein völliges Fiasko, so wie auch die Sanktion auf dem Fuße folgte, klar und empört: