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Manchmal sind alle auf der Suche, hoffen und agieren, stampfen mit dem Fuß auf oder begeben sich in abwegige Situationen. Im Midlife-Alter Festgefahren? Aber worin? Professor Viktor Schlegel will seinen Wasserstoff-Akku in die Welt hinaustragen. Im Biotop der Unterstützer ist Entschlossenheit genauso an der Tagesordnung wie vorsichtiges Herantasten. Ungewissheiten wabern durch das Neuland, das Viktor und seine Frau Isabel betreten. Eine alte Freundin öffnet Türen, professionelle Mitstreiter ebnen Wege. Isabel war verzagt, gewinnt neuen Schwung bis hin in ein neues Verliebtsein. Dennoch bleibt vieles fragwürdig. Auf Mallorca soll sich alles finden? Zugehörigkeit, Erfolg, Bestätigung. Doch so einfach ist es nicht. Um die neue Akku-Welt züngeln kriminelle Energien. Oder waren sie schon vorher da? Kriminalhauptkommissar Axel Hoppe will sich darum aber nicht kümmern. Schließlich hat er genug mit sich selbst, seinem Umzug nach Frankfurt und diesem alten Mallorca-Fall zu tun.
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Seitenzahl: 387
Veröffentlichungsjahr: 2020
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von Katja Darssen
Impressum
Texte: © Copyright by Katja DarssenUmschlag: © Copyright by Robert Tomalak
published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de
Die Energie kann als Ursache für alle Veränderungen in der Welt angesehen werden. Werner Heisenberg
Axel Hoppe saß in einem A320, biss in sein Hühnerwrap und flog wie eine Eintagsfliege über die 3000er hinweg. Eine andere Eintagsfliege war ums Leben gekommen und deshalb war er nun unterwegs. Dienstreise. Ein Journalist war von einer Jacht ins Meer gestürzt und ertrunken. Eine Frau war alleine auf dem Boot zurückgeblieben. Frau, Mann, Boot – alles deutsch. Deshalb holten die Kollegen der Policía nacional vorsichtshalber einen Bullen aus Deutschland hinzu. An Bord des Bootes sähe es nach einer ziemlichen Orgie aus, hatten die Spanier berichtet. Außerdem hatten sie 50.000 Euro im Gepäck des jungen Mannes gefunden.
Eine Dame in Blau mit Tüchlein um den Hals und streng zusammengebundenem Haar unterbrach die Gedanken des Kriminalhauptkommissars Hoppe. Er gab ihr den geleerten Kaffeebecher zurück, klemmte sein Tischchen an der Lehne vor ihm fest und machte es sich ein wenig bequem. Etwas eingedöst durchforstete er den Fall noch einmal. Eine wohlhabende verheiratete Frau hatte diesen jungen Mann also zu sich gerufen. Robert Vleih hieß er, Journalist. Einige Magazine druckten regelmäßig etwas von ihm, einen etwas reißerischen Blog betrieb er selbst. Stories über Ein-Euro-Jobber, die am Bau der neuen Universitätsbibliothek beteiligt waren oder über Staatssekretäre aus dem Bildungsministerium, die eine Kette für Nachhilfeunterricht besaßen, waren nicht schlecht. Der Journalist hatte auch einen Kriminalroman angekündigt. Irgendwie hatte er ein bisschen auf jeder Hochzeit getanzt.
Ein leises Bing drängte sich in Hoppes Gedanken. Er öffnete die Augen und sah, dass die kleinen Anschnallzeichen bereits leuchteten. Nachdem er die beiden Gurtenden ineinander geklickt hatte, blickte er aus dem Flugzeugfenster. Unter ihm lag das Meer wie ein riesiger schwarzer Teppich und er schaute so lange darauf, bis aus dem Schwarz allmählich Blau wurde. Schiffe konnte er jetzt deutlich erkennen. Auch ein Strand war klar auszumachen. Im Bauch des Flugzeugs rumpelte es. Die Räder wurden herausgeklappt. Unten tauchte eine Marina als exaktes Viereck auf. Schroffe Kliffküsten, manchmal ein Haus. Jetzt erkannte er die sagenhafte Bucht, an der entlang sich die Häuser der Inselhauptstadt bis weit hinein in eine dunkelgrüne Hügellandschaft abzeichneten. Die Stadt war mit dem Meer über etliche Kilometer Hafenanlage verbunden, in der abertausende Jachten, etliche Kreuzfahrtliner und Frachter lagen. Auf Reede warteten ebenfalls viele Schiffe. Die Bucht quoll über. Axel erinnerte sich, dass auch ein Fischereihafen mit kleinen Holzbooten, dem Gewirr aus zum Trocknen ausgelegter Netze und den typischen hellblauen Plastikkisten dort unten durchaus mithalten konnte. Dieses ausladende Zusammenspiel zwischen Land und Meer bewachte, so schien es, die Jahrhunderte alte Kathedrale an einem Ende der Stadt. Und schon wanderten Axels Gedanken zwanzig Jahre zurück, als er mit Kathrin zum ersten Mal hier gewesen war. Sie hatten das Wahrzeichen der Stadt erklommen, waren durch das Gassenlabyrinth der Altstadt gelaufen und immerzu hatte Kathrin nach den verborgenen Stadtpalästen mit ihren Innenhöfen und schattigen Loggien Ausschau gehalten. Mit den Fingerspitzen hatte sie über jedes einzelne Holztor der städtischen Oasen gestrichen und sehnsüchtig zu jedem der winzigen Balkone emporgeschaut.
Das Flugzeug flog eine Kurve und weg war alles. Wie die Zeit vergeht, dachte er. Jetzt fliege ich nach etlichen Jahren für eine unerfreuliche Routineangelegenheit hierher. Vielleicht sollten wir noch einmal gemeinsam wiederkommen. Ob Michel sich noch für Urlaub mit seinen Eltern interessierte? Wahrscheinlich nicht, wenn er sogar bald alleine wohnen wird. Sah Axel jetzt aus dem ovalen Fenster, waren da nur noch karge Wiesen, kleine Feldsteinmauern und die verwitterten Windmühlen auf ihren dicken, steinernen Stumpen. Er merkte, dass er sentimental geworden war, nicht nur wegen der alten Erinnerungen. Er hatte sich zu einem Austauschjahr in Frankfurt am Main überreden lassen und nachdem das geklärt war, wurde er von den richtigen Fällen nach und nach abgezogen. Nur noch so etwas wie diese Protokollierung hier vor Ort blieb kurz vor seinem Weggang für ihn übrig. Fakten einsammeln und wieder nach Hause. Berlin-Palma war schließlich keine große Sache. Er holte tief Luft. So hatte dieser Robert Vleih das sicher auch gesehen. Aber musste es ausgerechnet eine verheiratete Frau und diese Jacht mit Polstermöbeln an Deck sein? Hatte dieser Schreiber nicht mehr Phantasie? War der am Ende doch nur ein mit Taschengeld ausgestatteter Bohemien, der sich verhoben hatte? Habe ich mich verhoben?, fragte sich Axel. Immerhin stand in einigen Wochen der Wechsel nach Frankfurt an. Wie es dazu nur kommen konnte!
Am Gepäckband schaltete Axel sein Mobiltelefon ein. „Lieber Kunde, willkommen in Spanien! Sie surfen, simsen und telefonieren im EU-Ausland ohne Aufpreis wie zuhause.“ Sonst nichts. Er stellte sich ein wenig abseits und beäugte die wartende Menschenmenge. Ziemlich entspannt schienen die meisten zu sein. Wanderschuhe, Flipflop, Sneakers. Und der da? War das nicht dieses Schlagersternchen? Job oder privat? Und ich? Ein richtiger Job mit Mannschaft und Verantwortung ist das hier auch nicht. Heute hier, morgen dort und irgendwann eben Frankfurt. Karriere hin oder her. Ob das die richtige Entscheidung war? Wer will denn unbedingt Oberkommissar oder Polizeirat werden, wenn man dafür wie ein Schüler verschickt werden muss? In knapp drei Monaten ist es soweit. Der erste Koffer rumpelte durch die schwarzen Gummilappen. Eine Reisetasche, wieder ein Koffer, eine Sporttasche. Augenblicklich gerieten die Leute in Bewegung. Auch Axel erblickte sein Gepäck, nahm es vom Band und ging.
In der Ankunftshalle des Flughafens fand er den Mann, der „Axel Hoppe“ auf einem Pappschild geschrieben vor sich hielt. Er ging auf ihn zu. „Buenos Dias. Yo soy …“ Das hatte er gestern Abend noch trainiert.
Der Mann lächelte und gab ihm die Hand. „Sehr erfreut und herzlich Willkommen. Ich bin Javier Torres.“ Er deutete auf den Ausgang, auf den sie gemeinsam zusteuerten. Auf dem Weg zum Parkhaus besprach der Kollege der Policia nacional die nächsten zwei Tage. „Wir haben für sie ein Zimmer in Port d’ Andratx besorgt. Dann sind sie gleich vor Ort.“
„Danke. Gracias!“ Ach verflixt. Das bisschen Gracias kann ich lassen.
„Ist es Ihnen recht, wenn wir gleich raus zur Jacht fahren, bevor wir diese Frau Schmidt aufsuchen?“
„Natürlich, dafür bin ich gekommen.“
„Ich glaube, dass wir da den üblichen Fall von Überschwänglichkeit und deren Folgen haben.“
Sie hielten Schritt mit den vielen Fluggästen.
„Üblich?“
Er erhielt keine Antwort. Stattdessen wies sein Kollege auf das Parkhaus, auf das sie zuliefen. Hoppe war es recht, dass sie im Moment nicht viel sprachen. Die Wärme und das Licht überwältigten ihn. Im Parkhaus stand auf dem ersten Platz gleich hinter der Schranke ein Seat Toledo. Torres öffnete den Kofferraum, nahm zwei Wasserflaschen heraus und reichte ihm eine davon.
Bald darauf hatten sie den Flughafen hinter sich gelassen und fuhren auf der von üppigen Oleandersträuchern gesäumten Autobahn durch flaches Land. Kleine Olivenbaumplantagen, Schafe unter Johannesbrotbäumen rechts und links der Strecke.
„Möchten Sie kurz ins Hotel?“, fragte der spanische Kollege.
„Das ist nicht nötig. Wir können gleich zum Boot und zum Fundort des Toten fahren.“
Torres schaute herüber und nickte. „Wissen Sie, wir haben hier manche Male solche Angelegenheiten. Es muss alles schnell gehen. Sonst kommen Fotografen hinaus aufs Meer, schnüffeln herum, suchen die Frau in ihrem Haus auf. Am Ende haben wir eine Sensation, die unterhält, aber die Urlauber auch verschreckt.“
„Ich sehe nicht, dass es sich um Prominenz handelt.“
„Das Boot weist eine Größe auf, ab der man nachfragt, wem es gehört.“
Hoppe dachte einen Augenblick nach. „Gibt es Besatzungsmitglieder?“
„Die wurden an dem Abend nach dem Ankern im Beiboot weggeschickt.“
Torres lenkte den Seat von der Autobahn herunter. Augenblicklich passierten sie Hotels, Appartementhäuser, Cafés, Boutiquen, Restaurants und Läden, vor deren Eingängen Strandutensilien und Nippes auf Haken und Kleiderstangen angepriesen wurden. Menschen schlenderten die Straßen entlang, aßen Eis, waren unterwegs Richtung Wasser, das zwischen den Häusern immer wieder zu sehen war.
„Wir fanden es von der Dame übrigens gewagt, die Besatzung fortzuschicken“, sagte Torres.
Sie hatten den Ort und seine Urlauber hinter sich gelassen.
„Vielleicht kann sie das Boot auch alleine fahren“, überlegte Hoppe laut.
„Kann sie nicht.“
„Haben Sie sie gefragt?“
„Muss ich nicht. Sie werden sehen.“
Hoppe ließ die Aussage auf sich wirken, schaute durch die Windschutzscheibe auf weite Flächen aus grünbraunen Wiesen, die von niedrigen Steinmauern durchzogen und mit Bäumen bepflanzt waren.
In die entstandene Sprachlosigkeit hinein fragte Torres: „Kennen Sie die Gegend?“
„Ich war einmal hier. Vor etlichen Jahren.“
Jetzt sprach er aus, worüber er vor einigen Minuten im Flugzeug nachgedacht hatte. Warum war er mit Kathrin und auch mit Michel nicht öfter durch die Straßen von Palma gestreift oder in der Tramuntana gewandert?
„Ich fahre für sie einen kleinen Umweg“, sagte sein ortsansässiger Kollege.
Kurz darauf fuhren sie auf einer schattigen Straße, die sich durch waldreiches Gebiet schlängelte. Von hier aus schienen die Berge zum Greifen nahe genauso wie das Meer. Die mediterrane Vegetation stimmte eine Andersartigkeit an, von der man glaubte, dass sie das Leben leicht machen würde. Axel räusperte sich. Der Mann neben ihm sah ihn wissend an und fuhr.
Keiner der beiden sagte etwas, als sie von einer Anhöhe auf eine Hafenbucht hinunterblickten, deren Gediegenheit Axel bis hinauf ins Auto spürte. Umrandet von bewaldeten Hügeln, in deren Grün Farbflecke verschiedenster Domizile auftauchten, lag dort unten also Port d’ Andratx. Eine Bucht, in deren Meerwasser die Jachten ruhig lagen. Eine Bucht, die Geborgenheit und große Erwartungen gleichermaßen versprach. Der Seat nahm die letzten Kurven, enterte den Ort, durchkreuzte enge Straßen und Axel nahm sich vor, ein bisschen zuversichtlicher auf die kommende Zeit zu blicken.
„Es war schön gestern Abend, nicht wahr?“
Viktor drehte sich zu seiner Frau um. „Hab ich dich aufgeweckt?“ Er hatte bis eben in seinem Bücher-Zeitschriftenstapel nach einem Bericht des Brennstoffzellen-Forums gesucht.
Isabel räkelte sich unter ihrer Decke. „Nicht wirklich.“
Er fläzte sich quer übers Bett. „Ich wollte nach dem Kino eigentlich gehen, dachte ihr wärt gerne allein was trinken gegangen.“
„Warum?“
„Sarah ist deine alte Freundin.“
„Und deine.“ Isabel hatte sich auf die Seite gedreht und stütze ihren Kopf auf eine Hand.
„Sarah hat sich verändert“, sagte er. Gestern Abend hatte er sie nach etlichen Jahren wiedergesehen.
„Zwanzig Jahre gehen an niemandem spurlos vorüber.“ Seine Frau Isabel stieß einen dramatischen Seufzer aus.
Viktor lächelte sie an. „Sarah ist ein wenig reserviert geworden. Oder einfältig. Ich frage mich, ob sie das wirklich war, die damals mit dir in diesem Loch gehaust hat?“
„Erinnere dich lieber an deine Bude.“
„Immerzu denke ich daran.“ Viktor küsste sie. „Es war der Beginn von uns beiden.“ Seine Hände schoben die Decke beiseite. Er hielt ihre Hände, küsste seine Frau, strich über ihren Hals. Er wollte sie. Jetzt. Am Morgen war Isabel unwiderstehlich. Sie sah ihn aus ihren dunkelgrünen Augen an und Fältchen formten sich dabei zu zarten Halbmonden um ihre Mundwinkel. Isabel zog Viktor zu sich heran.
Später spielte er mit einer Strähne ihrer kräftigen dunklen Haare, während sie ihren Kopf auf ihn bettete und mit den Fingern an seinen Beinen entlangstreichelte.
„Ich liebe dich“, sagte sie in die Luft hinein.
„Und ich dich erst.“
Isabel erhob sich, legte ihre Hände auf seinen muskulösen Oberkörper, glitt mit dem Kopf hinunter über Viktors Bauch, weiter hinunter. Sie liebkoste, küsste und stand auf. Er aalte sich. „Wo war eigentlich dieser Rüdiger gestern Abend?“
„Ein Alarm wurde bei einem seiner Kunden ausgelöst. Dann rufen die manchmal den Chef an, hat mir Sarah erklärt.“
„Statt der Polizei?“ Er sah es vor sich, wie Isabel mit den Augen rollte und den Mund verzog. Sogar wenn sie mit dem Rücken zu ihm stand, konnte er ihre Mimik erahnen.
Auch sie brauchte sich nicht umdrehen, um seine Gedanken irgendwo im Gesicht abzulesen. Eine Sicherheitsfirma, deren Leute nachts mit scharfen Waffen am Gürtel zu einem Gewerbehof mit schmierigen Baracken hinter Maschendrahtzaun unterwegs waren. So stellt sich Viktor das vor. Das wusste sie genau. Hat er deshalb abfällig über Sarah gesprochen? Sie blickte in den kleinen Garten, der zu den Gründerzeitvillen ihres Wohnviertels typischerweise dazugehörte. Im vergangenen Jahr hatte die Hausverwaltung ein paar Mandelbäume in großen Pflanzkübeln entlang des Weges zur Remise aufstellen lassen. Doch jetzt waren die Kübel in einen Winterschutz gehüllt. Isabel drehte sich um. Viktor lag auf dem Bett. Kopf und Arme streckte er gen Bücherstapel. „Gehst du heute Nachmittag noch in den Club?“, fragte sie.
„Ja, ich fahre mit dem Rad.“
„Und der Rückweg? Bist Du dann nicht zu kaputt?“
„Ich trainiere nicht. Heute hat mein Kinder-Achter einen Wettkampf.“
„Dann komme ich später nach. Die Jungs sind so niedlich.“
„Wenn du deine schrecklich grüne Jacke anziehst, sehe ich auch gleich, wenn du da bist.“
„Die Farbe ist In!“, sagte sie und wollte ihm im Vorbeigehen eine Kopfnuss verpassen.
Im rechten Moment aber hielt Viktor sie fest, um Schmeicheleien in ihr Ohr zu flüstern. Bis er behutsam „Lass uns gehen“ sagte.
Hand in Hand spazierten sie an jedem Sonntag durch den Park, liefen an einem absurd kleinen Weiher und am Holzhausenschlösschen vorbei.
„Heute will ich durchs Tor schreiten“, sagte Isabel und zog ihn in die sehr kurze Kastanienallee.
Mit dem Schlösschen im Rücken gingen sie also durch ein erhabenes, gusseisernes Tor, das stets offenstand. Ein I-Tüpfel an Schönheit an der Grenze zu ihrem Refugium, das Viktor nie ganz unbeeindruckt ließ. Er liebte Wohlstand ohne Krach.
Auf dem „Oeder Weg“ allerdings liefen sie dem geräuschvolleren Leben entgegen. Schließlich wollte niemand mehr auf ein Frühstück in einem gut besuchten Café mit dem Getöse des Kaffeemahlens im Hintergrund verzichten. In ihrem Stammlokal reichte der junge Mann hinter dem Tresen Isabel die Sonntagszeitung, nachdem er ihnen ein ‚Morgen’ gewünscht hatte. Die Kellnerin sah von ihrem Tablett auf und lächelte zur Begrüßung. Der kleine Tisch am Fenster war frei. Viktor half Isabel aus dem Mantel, ging zu den Garderobenhaken und blieb dort vielleicht eine Sekunde länger als nötig stehen. Er sah Isabel an, sah sie aus dem Fenster blicken, sah sie eine Haarsträhne hinters Ohr klemmen. Huschte da ein Lächeln über ihre Lippen? Er ging zu ihrem Tisch, drücke ihr einen Kuss auf den Mund und setzte sich. Sie nahm eine seiner Hände und ließ sie auch dann nicht los, als die Kellnerin nach ihren Frühstückswünschen fragte.
„Ich nehme diesmal ein Spiegelei, kein gekochtes“, sagte Isabel. „Und vielleicht noch einen Obstsalat. Nein, doch nicht. Nicht im November. Also nur die Spiegeleier und sonst wie letzte Woche und vorletzte Woche und vorvorletzte Woche.“ Die Frauen lachten.
„Und du, Viktor?“, fragte die Kellnerin.
„Für mich bitte alles wie immer.“ Er lehnte sich zurück und Isa begann, die Zeitung für sie beide aufzuteilen.
„Bald wirst du hier groß erwähnt sein“, sagte sie.
„Nicht ich. Der Wasserstoff-Akku!“ Natürlich wusste er, dass Isabel auf seinen Vorstandsposten bei der EnVer hinauswollte.
Isabel schüttelte ein wenig den Kopf und gab ihm den Sportteil rüber. „Du kannst auch Politik haben, ich fange mit Rhein-Main an.“
Die Kellnerin kam voll beladen wieder. Sie schob die Vase mit dem Herbstlaub ein Stück beiseite, stellte ein Stövchen auf und leerte ihr Tablett. In einer Hand seine halbe Zeitung haltend half Viktor der Kellnerin mit flüchtigen Handgriffen. Eine Kanne Assamtee, eine Tasse mexikanischen Kaffees, ein Korb Brötchen, zwei Teller, eine Tasse. „Den Rest bringe ich euch gleich“, sagte die junge Frau.
Isabel lächelte Viktor an. Er sah zu seiner Frau hinüber. Das hier war ihr Sonntagmorgen.
Einen Augenblick lang blieb Axel stehen, um die Stahlträger zu betrachten. Er bemerkte dunkelblaue Eisenrosetten, die in das altertümliche Geflecht eingearbeitet waren und fragte sich, ob diese Konstruktion tatsächlich das Glasdach trug. Aus dem ICE stiegen immer noch Leute aus, andere drängten hinein. Knarzend dröhnende Lautsprecheransagen kommandierten die Herde. So unangenehm war es ihm auf keinem Bahnhof je aufgefallen. Widerwillig gab auch er sich dem Strom der Reisenden hin und eilte mit ihnen auf schwarzem Granit in nur eine Richtung. Er hatte keine Wahl. Sackbahnhof. Am Querbahnsteig war es unerträglich voll und augenblicklich war er in seiner Annahme bestätigt, sich etwas aufgehalst zu haben, das er nicht wollte. Menschen liefen, aßen, trugen, zogen, telefonierten. Im Zug war es noch friedlich gewesen. Doch jetzt sah niemand entspannt aus, trotzdem einige Leute dampfende Becher in den Händen oder kleine Kinder neben sich hatten. Nie hatte Axel diese Art von Mobilität vermisst. Muss ich jetzt noch einmal so tun, als wäre ich einer von denen? In einer fremden Stadt mit einer Adresse und Wegbeschreibung im Kopf? Das ist etwas für 18-Jährige! Michel sollte so etwas durchziehen. Nicht ich!
Laut Kathrin sollte er mit der Straßenbahn Nummer 16 genau vor dem Bahnhof abfahren. Er folgte den Schildern und gelangte in eine Bahnhofshalle. Nein, in eine Kathedrale! Dort ließ er die Dimensionen auf sich wirken. Der typische Blumenladen, eine Krombacher-Sportsbar und ein Starbucks wirkten in der dunklen Halle komplett verloren. Er legte den Kopf in den Nacken. Die Wände sind bestimmt über zehn Meter hoch, überschlug er. Eine runde Bahnhofsuhr inmitten verzierter Sandsteinornamente zeigte viel zu verspielt die Zeit an. Darüber Fenster aus unendlich vielen Glasrechtecken. Dennoch blieb es hier drinnen dunkel. Aber da! Da oben unter der Decke hängt doch jemand. Was tut der da? Will der im Bergsteigergeschirr diese Scheiben putzen? Axel schaute nicht als einziger nach dem Mann mit dem leuchtend gelben, und wie es schien, riesigen Putzlappen. Jetzt! Achtung!, wollte er rufen. Der Bergsteigerputzmann ließ den Lappen von dort oben fallen. „BrueCklean – wir putzen hoch oben!“ Das kann doch nicht wahr sein! Er war auf einen Werbegag hereingefallen. Das war kein Putzlappen, sondern ein Banner.
Axel stieß eine der simplen Glastüren an der Bahnhofsfront auf und erblickte das, was er von Frankfurt kannte: Bürotürme, Bürotürme, Bürotürme. Hier direkt vor ihm aber das Bahnhofsgewusel aus Taxistand und dreckigem Vorplatz. Als Insel konnte er die Haltestelle mit langen Wetterunterständen, Geländern und Fahrkartenautomaten nicht verfehlen. Dorthin stellte er sich. Axel Hoppe, Austauschschüler! „Axel soll mal hübsch mitgehen und danach den Höheren Dienst antreten.“ In seinem Lebenslauf fehlte noch die Erfahrung in einer anderen Behörde. Er hätte darauf verzichtet, auch auf den Höheren Dienst. Hatte sein Chef ihm oder Kathrin einen Gefallen getan? Wenn man an einem Sonntag im nasskalten November in einer x-beliebigen Stadt auf die Straßenbahn wartet, dabei an seine Frau, die gerade in Südamerika ist und an seinen Sohn, der allein zu Hause und auch weit weg ist, denkt, dann macht man also gerade Karriere? In Wirklichkeit bin ich doch nur zwischengeparkt bis eine Planstelle für einen Polizeirat frei wird. Ausgerechnet in einem Jahr soll das sein? Als ob ich nach fast dreißig Dienstjahren noch einmal etwas beweisen müsste. In einer anderen Behörde durchzuhalten, stellt also so eine Art Feuerprobe dar. Darüber konnte er nur den Kopf schütteln.
Eine türkisfarbene Straßenbahn ratterte heran. ‚16. Offenbach Stadtgrenze‘, las er. Na wenigstens! Er setzte sich auf einen Fensterplatz.
„Du wirst sehen, das wird für uns beide noch einmal ein ganz neues Leben“, hatte Kathrin gesagt. War ein neues Leben so nötig? Und wenn ich es nicht sehe? Die Straßenbahn zuckelte über den Main und spätestens hier musste er über seinen Griesgram lächeln. Dieser Fluss ist ganz schön breit. Nun hatte er doch etwas gesehen.
Gleich darauf fuhr die Straßenbahn in eine Gegend, von der er ahnte, dass sie Kathrin nicht zufällig gewählt hatte. Gartenstraße. Schweizer Straße. Schaufenster, Treppchen zu Ladeneingängen, Bäume am Straßenrand. Schwanthaler Straße. Aussteigen! Ganz einsam kam er sich hier nicht mehr vor. Er sah die Straße hinunter, an deren Ende wieder die Wolkenkratzer hervorragten. Kathrin war beleidigt gewesen, weil er nie mitgekommen war, um die Wohnung auszusuchen. Er hatte den Aufwand einfach nicht verstanden. „Ein Jahr kann ich jeder Behausung durchbringen“, hatte er erwidert. Axel lief los, orientierte sich und fand die Gutzkowstraße. In dem Café an seiner Straßenkreuzung war einiges los. Wahrscheinlich noch Frühstücksgäste, von denen einige in Mänteln und Schals eingemummelt draußen rauchten. Vielleicht hätte ich vorher schon einmal mitkommen müssen. Einen sogenannten Liebesbeweis erbringen. Er atmete laut aus. Das mache ich doch! Für ein verdammtes ganzes Jahr! Mit fast 50. Warum sprachen immer alle von neuen Erfahrungen? Warum soll man ständig seine Gewohnheiten ändern? Und muss man seinen Sohn, nur weil er jetzt 18 ist, gleich alleine lassen?
Gutzkowstraße Nummer 62. Aus seiner Jackentasche holte er einen Schlüssel für eine fremde Haustür hervor. Er hatte keine Ahnung, was ihn dahinter erwartete. Ein Treppenhaus, in dem es nach Kaffee roch. Zwei Etagen musste er nehmen. Links. Hoppe. Er schloss auf und setzte vorsichtig einen Fuß über die Schwelle. Kathrins Schuhe standen auf Holzdielen. Behutsam schloss er die Tür hinter sich. An der Wand hing ein Schal an einem dicken Nagel. Ein weiterer daneben war leer. Sie hat einen Nagel für meine Jacke eingeschlagen? Eine Glühbirne baumelte über ihm. Axel machte ein paar Schritte, das Holz knarrte. „Dann wollen wir mal“, murmelte er vor sich hin.
Die Zimmertüren waren angelehnt. Rechts Küche und Bad. Auf der anderen Seite ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer; beide durch eine Flügeltür miteinander verbunden. Klein, aber … Fein? Mein? Nein, das ist sicher ein falscher Eindruck. Eine Runde rum. Das war schnell erledigt. Und noch eine, jetzt gemächlicher. Die Türklinken quietschten. Die Tür zum Bad klemmte. Er brachte seine Tasche ins Schlafzimmer, für das Kathrin ein Bett gekauft hatte. Es stand nagelneu und unbekannt an der Wand gegenüber der schmalen Balkontür. Im alten Einbauschrank war ein Fach frei. Darin ein Zettel. ‚Es wird kuschelig. Hier ist ein leeres Fach für Dich. Bis Mittwoch, ich liebe Dich. K.‘ Er nahm die Notiz, faltete sie und steckte sie in die Hosentasche. Jeans, Pullover, Socken, Unterhosen und T-Shirts legte er in das geräumige Fach. Hemden, zwei Anzüge, ein Sakko hing er auf Bügel. Die Schuhe brachte er in den Flur, um sie neben Kathrins aufzureihen. ‚… ich liebe Dich.‘ Er fühlte nach dem Zettel und schüttelte den Kopf. Seine Jacke hatte er vorhin auf den Boden gelegt. Jetzt hob er sie auf, um sie am freien Nagel aufzuhängen. Ob der hält?
Im Bad, einem kleinen Raum mit schmaler Fensterluke, erinnerte nichts an sein Zuhause. Handtücher lagen auf dem Badewannenrand, ein kleiner Teppich lag auf dem Boden. Am Waschbecken drehte er einen etwas altertümlichen Wasserhahn auf. Er wusch sich Hände und Gesicht. Die Seife roch ungewohnt. Das Meiste hier drinnen stammt bestimmt aus den Läden unten in der Straße, dachte er und sah Kathrin vor sich, wie sie am Morgen in eines der Cafés geht, später durch die Läden streift und Zeugs für die Wohnung kauft. Hatte sie gar keine Sehnsucht nach ihnen gehabt? Nach ihrem Mann und ihrem Sohn?
Er ging in den Flur und kramte in seiner Jacke nach dem Handy. Der Nagel rutschte aus der Wand. „Verflixt!“ Axel hob ihn auf und fummelte ihn wieder in das Loch zurück, legte seine Jacke aber erst einmal wieder auf den Boden. Mit dem Telefon in der Hand stapfte er in die Küche. Michel hatte heute ein Turnier. Soll ich anrufen? Er zögerte. Er ist 18! Sonst rufe ich auch nicht an. Er zog an der Kühlschranktür. Noch einmal ein Zettel. ‚Wie gefällt Dir unser Nest? Ich habe es für Dich und mich ausgesucht. In Liebe K.‘ Axel nahm den Zettel, eine Cola, einen Käse, Butter und eine eingeschweißte Salami aus dem Kühlschrank. Er legte alles auf den Tisch. Brot? Fehlanzeige. Michel? Nein, nicht jetzt.
Er legte das Essen zurück in den Kühlschrank. Dieses ‚Nest‘ kam ihm komisch vor.
Axel hob seine Jacke im Flur vom Boden auf und zog sie im Hausflur an. Unten bog er in die Schweizer Straße ab. Die Cafés waren leerer geworden. Nur wenige Leute waren unterwegs. Immer wieder ließ er seine Blicke streifen. Etliche Bäcker, Bistros, ein Pilatesstudio, Boutiquen, drei Apotheken, ein Schreibwarenladen, schon die zweite Drogerie, ein Tierarzt, Anwaltskanzleien. Alles leer, verriegelt, zugestellt. Sonntag. Am Ende der Straße trat er aus dem Schatten der Häuserreihen heraus. Dahinter der Main! Eine Straße musste er überqueren. Halt! Erst ein paar Autos vorbeilassen. Und den Kleinbus. Voll besetzt. Lustig sehen die Insassen aber nicht aus in ihren gelben Shirts. Niemand schaute fröhlich aus den Fenstern des Fahrzeugs in die Stadt hinein. Hier, wo sie doch ganz gut aussah. Axel überquerte die Straße und betrat eine steinerne Brücke, auf der er die andere Seite der Stadt erreichen wollte. Er blickte hinunter auf den Fluss, dessen Ufer bevölkert war wie eine Ameisenstraße. Hier sind also all die Menschen. Die nächste Brücke hatte einen filigranen eisernen Überbau und weit hinter ihr ragte der steile Zahn der EZB in den Himmel. Am anderen Ende seiner Brücke funkelten hohe Bürotürme, wie er es erwartet hatte. Doch genau hier unter ihm gab es Wege und Wiesen. Warum stehen vor dem Schiffchen so viele Leute? Die kommen ja mit einem Döner wieder! Er ging zurück, nahm dicke ausgetretene Stufen hinunter zum Ufer und lief geradewegs zu diesem Dönerkahn.
Endlich lag das Brot warm in seinen Händen. Er biss hinein und sah dabei zu den Platanen hinauf.
„Entschuldigung, Entschuldigung“, hörte er jemanden rufen.
Im gleichen Moment klebten ein Fahrrad und eine Frau an ihm. Gerade so konnte er zupacken, damit sie nicht hinschlug. Sein Essen aber fiel genau wie das Fahrrad. Seine Hand hatte sich in einem neongrünen Arm festgekrallt. Als er an diesem Arm entlangblickte, schaute er in dunkelgrüne Augen einer Frau, die ihre Lider exakt umrandet und Lippenstift aufgetragen hatte. Viele kleine Falten entstanden als sie ihn entschuldigend anlächelte. Mit ihrer freien Hand wischte sie eine dunkelbraune Haarsträhne von der Wange. „Danke, es geht schon. Wie sieht es mit Ihnen aus?“ Erschrocken sah sie an ihm hinunter und wieder auf.
Axel bückte sich nach dem Fahrrad und dem Döner. Sie folgte ihm. Im Hocken begegneten sich ihre Blicke abermals. Warum konnte er nicht fluchen? Da hockte diese ungelenke, rücksichtslose Frau mit diesen dunkel-dunkelgrünen Augen und sagte: „Ich war so in Gedanken und ich kann wohl nicht so gut bremsen.“
„Weiß ich schon“ sagte er und das war wohl das Schroffste, was er ihr gegenüber herausbringen würde.
Er hob das Fahrrad auf. Sie sammelte das Brot und ein paar der Fleischbrocken ein und warf alles in den Papierkorb. „Ich hole Ihnen einen neuen.“
„Lassen Sie doch.“
„Halten Sie mein Fahrrad fest?“ Und weg war sie.
Sie konnte nicht gut Fahrrad fahren? Er schob ein Rose Black Lava von der Unfallstelle Richtung Bank. Wahrscheinlich brauchte solch eine Frau mindestens solch ein Teil.
„Ich heiße übrigens Isabel Schlegel“, sagte sie, nachdem sie mit einem neuen Döner zurückgekommen war.
„Axel Hoppe, Kri … Kriege ich nicht alle Tage, solch einen Service. Danke.“ Da hielt er sich nun unbeholfen an diesem Stück Fladenbrot fest. Was soll ich denn jetzt damit? Etwa vor ihr sitzen und essen?
„Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer für den Fall, dass Sie doch eine kleine Verletzung davongetragen haben.“ Ihre Augen reflektierten mindestens zehn verschiedene Nuancen von Grün.
„Sind Sie Krankenschwester oder Ärztin?“
„Nein, nur falls Sie noch etwas geltend machen möchten.“
„Unsinn! Aber Ihre Telefonnummer nehme ich.“
Da waren sie wieder, die Fältchen. Sie holte ihr Telefon aus dieser giftgrünen Jacke, die gar nicht hässlich an ihr war. Macht sie vielleicht ein wenig jünger, dachte er.
„Kann es losgehen?“, fragte sie und hielt ihr Telefon bereit. „Ich kann Sie auch kurz anrufen und Sie speichern nur noch meinen Namen dazu.“
„Ja, ja“, stammelte er und klopfte seine Jacke nach dem Handy ab, dabei sagte er seine Telefonnummer auf. Das Telefon schnarrte und vibrierte. Jetzt wusste er auch, in welcher Tasche es steckte. Axel nahm das Essen in die linke Hand und kramte umständlich das Smartphone heraus. Schaute auf ‚Verpasste Anrufe‘. „Und Ihr Name ist Isabel Schlegel?“
„Genau.“
Er begann mit dem Daumen zu tippen. S c h l e g e l I s …
„Entschuldigung noch einmal. Ich muss weiter.“
„Fahren Sie vorsichtig!“
Sie drehte sich um, winkte noch einmal mit einem Hauch von irgendetwas, das ihm so noch nicht begegnet war. Auf keinen Fall auf einem Fahrrad.
‚Ich sprüh 's auf jede Wand. Neue Männer braucht das Land.‘ Der Song erfasste das Haus und der Hausherr ließ sich am Montag punkt fünf Uhr dreißig von der Musik zum Aufstehen motivieren. Zielstrebig und mit einer gewissen Vorfreude auf den Tag stieg Stephan Brückner die Stufen vom Schlafzimmer in den Loungebereich der Küche hinab. Ein eisgrauer Weimaranerrüde wartete schwanzwedelnd am Ende der Treppe seitdem das Lied den Tagesbeginn angekündigt hatte. Der Hund verließ sich längst darauf, gleich gestreichelt, gefüttert und ausgeführt zu werden.
„Na mein Guter.“ Stephan Brückner war schon da. Er war schon neu! Er kraulte das winselnde Tier und öffnete den gut sortierten Hundeschrank, um einen Knochen herauszulegen. Nachdem er den Hund versorgt hatte, ging Brückner ins Schlafzimmer zurück und schaltete eine Lampe an. Für die erste Etappe des Tages nahm er wie immer eine Cordhose und den Jägerpullover aus der Ankleide. Wenn mich Yvonne jetzt sehen könnte! Schade, dass sie immer so lange schlafen muss. Noch nicht einmal die Musik weckt sie auf.
Er verließ das Schlafzimmer wieder, diesmal zur anderen Tür auf die Galerie hinaus. Über eine ausladende Treppe gelangte er in die Eingangshalle, wo ihm sein Hund Lotus sogleich um die Beine schwänzelte. Brückner nahm die groben Lederstiefel und die braune Jacke aus der Garderobe, per Fernbedienung schaltete er die Musik aus, öffnete die Haustür und ließ den Hund vorpreschen. Einen Augenblick noch blieb er selbst zwischen den Säulen vor dem Hauseingang stehen. Ihm allein gehörten der Morgen, der Park vor seinem Haus und der Wald. Dafür muss man schon früh aufstehen! Brückner hauchte in die Hände und stiefelte zu seinem Hund.
Nur ein schmaler Kiesweg markierte vor seinem Grundstück die Grenze zum Wald. Lotus rannte voraus, sah nach seinem Herrchen, war verschwunden und kam erneut aus dem Wald gerannt. Irgendwann würde der Hund bei Fuß folgen. Doch erst einmal durfte er sich austoben. Der Waldboden war hart gefroren, die kalte Morgenluft kratzte an seinem Gesicht.
„Platz“, sagte Brückner punkt 7:30 Uhr auf den Stufen der Eingangsveranda. Er holte eine Schale Hundefutter aus der Küche. Lotus erhielt sein Frühstück stets hier draußen hinter den Säulen. Während der Hund fraß, stellte Brückner drinnen die Espressomaschine an, schnitt zwei Orangen auf, jagte sie durch die Saftpresse und ging nach oben. Er ließ seine Waldsachen zu Boden fallen und betrat das Badezimmer, einen Raum aus Marmor, Holz und Glas. Vor dem wandhohen Spiegel posierte er kurz. Von wegen Baumstamm, Herkules! Gut gelaunt stellte er sich unter die Dusche. Das Wasser prasselte aus einem tellergroßen Duschkopf, das Shampoo roch nach Moschus. Die Termine für den heutigen Tag? Zu allererst ein spaßiges Treffen bei der EnVer. Der Energieriese hatte zu seiner alljährlichen Lieferantenkonferenz eingeladen. In Gedanken entschied er sich für das neue rosafarbene Hemd und seinen braunen Anzug. Maßgefertigt. Das hatte Yvonne irgendwann einmal empfohlen. Davon verstand sie was. Seitdem jemand die Dinger für ihn anfertigte, saßen die Jacken perfekt. Er überlegte, ob eine Krawatte heute sein musste. Doch damit fühlte er sich nie richtig wohl. Ich, der Kumpel Putzmann! Damit arrangierten sich alle immer gerne. Rasieren, Zähneputzen, Aftershave. Abschließend kämmte er seine Haare und strich dabei mit der Hand den Kammspuren nach, um kleine Defizite zu kaschieren. Am Ende war er wie stets zufrieden.
Yvonne war nicht mehr im Bett, sondern auf der Kinderseite der Galerie. Brückner zog sich an. Seinen Orangensaft trank er in einem Zug und kippte den Espresso hinterher. Ein letzter Blick in den Spiegel der Halle, er liebte dieses Wort, dann rief er nach oben: „Einen schönen Tag wünsche ich meinen Prinzessinnen.“ Er ließ die schwere Eingangstür hinter sich zuschlagen. Draußen kraulte er noch einmal Lotus, während sich das Tor des Grundstückes öffnete. Die Zeitschaltuhr war auf 8:15 eingestellt. Am Auto besah er sich kurz im Lack. Heute werde ich den F&E-Mann der EnVer kennenlernen. Frisches Blut im Vorstand seines alten Kunden. Das riesige Forschungszentrum stand nicht mehr zur Disposition. Auch das werde ich putzen. Zu einem sauberen Preis! Er schmunzelte über seinen kleinen Witz und die schwarze G-Klasse passierte die Lichtschranke, bevor sich das Tor der Taunusvilla wieder schloss.
25 Kilometer von Brückners Morgenritual entfernt horchte Axel Hoppe seit 5 Uhr in die Dunkelheit hinein. Ohne Eile und allein in einer Wohnung aufzuwachen hatte er etliche Jahre nicht mehr erlebt. Warum er das nun noch einmal machte? Ganz sicher war er sich nicht und Lust darauf hatte er auch keine. Doch im dunklen Zimmer wach zu liegen, half nicht bei der Suche nach einer Antwort. Also tastete er irgendwann nach dem Lichtschalter einer kleinen Lampe, die auf dem Fußboden neben dem Bett stand, und schlurfte über den Flur ins Bad. Danach bediente er sich von dem Haufen, den er gestern in den alten Einbauschrank hineingestapelt hatte. Bei der Gelegenheit schob er Kathrins Briefchen sorgfältig unter die weißen T-Shirts und schloss den Schrank.
Im Flur zog er Schuhe an. Eine Dienstpistole hatte er hier in Frankfurt noch nicht erhalten. Also war er jetzt fertig. Ein heißer Kakao wäre nicht schlecht gewesen. Aber in dieser Wohnung gab es weder Milch noch Kakaopulver. Michel fehlte. Sein Sohn war 600 Kilometer weit weg. Hoffentlich schlief er noch. Und wenn er aufwacht? Würde es ihm gefallen, ebenfalls alleine zu sein? Los Alter, raus mit dir, ermahnte er sich. Er nahm die Jacke vom Nagel. Mist! Es klirrte leise auf den Dielen. Er bückte sich, suchte den Boden nach dem Nagel ab, hob ihn auf und steckte ihn in das ausgebröselte Loch zurück. Das hält bald gar nicht mehr, dachte er kurz und drehte sich um, stülpte sich eine Mütze über, die hielt den Kopf zusammen, griff nach den Hausschlüsseln und verließ die Wohnung.
Um 8:30 Uhr sollte er in der Adickesallee sein, wo Berge harmloser Akten auf einem verstaubten Schreibtisch in irgendeiner Ecke auf ihn, den Austauschschüler, warten würden. Hoppe sah die nächsten Wochen ganz klar vor sich. Erst unten vor dem Haus seiner Nummer 62 hielt er kurz inne. Rasend schnell hatte er vor irgendetwas die Flucht ergriffen. Viel zu früh war er nun unterwegs. Der Morgen dämmerte erst schwach. Er entschied sich, ein oder zwei Stationen zu laufen und später in die U-Bahn einzusteigen. Die leere Schweizer Straße hatte er schnell hinter sich gebracht. Auf der Untermainbrücke hielt er an, schaute zum Fluss und zum Uferweg hinunter. Wie von selbst nahm er die Stufen hinab. Niemand war hier im Zwielicht des Novembermorgens. Das Wasser bewegte sich kaum. Der Schiffsverkehr hatte noch nicht eingesetzt. Axel ging ein paar Schritte. Zwei Enten schwammen unaufgeregt. Neben dem Dönerschiffchen, das hier also festgemacht war, blieb er stehen. Er tastete nach seinem Telefon, umfasste es in der Jackentasche. Er betrachtete ein paar Lichtpunkte auf der anderen Uferseite. Die Bürotürme täuschten mit ihrer Beleuchtung Geschäftigkeit vor, die zu dieser Tageszeit dort gar nicht vorherrschen konnte. Habe ich etwa einen Kloß im Hals? Er räusperte sich und zog langsam das Telefon aus der Jacke. Wie spät ist es jetzt bei Kathrin? „Hallo. Bist noch wach? Schön. Hier ist alles prima. Und bei dir? Das ist doch gut für dich. Bin ein bisschen durch die Stadt gelaufen. Natürlich habe ich die gefunden. Ich dich auch.“ Kurzes Telefonat, beendet!
Nach oben nahm er drei Stufen auf einmal. Ohne sich umzusehen ging er dem Ende der Brücke entgegen. Die Stadt lag praktisch vor ihm. Auf der anderen Mainseite schaute er noch einmal auf dem Stadtplan seines Telefons nach. Seine Hände zitterten ein wenig, was er so noch nicht erlebt hatte. „Jetzt also die Friedensstraße“, murmelte er vor sich hin. Der Straßenname stimmte ihn milde. Komm runter Alter, ermahnte er sich nun schon zum zweiten Mal heute Morgen und ging auf die Turmfront zu. Gestern hatten die Wolkenkratzer geglitzert. Heute Morgen bildeten sie dunkle Schluchten. Kein Mensch war unterwegs. Hinter großen Schaufenstern stellten Geschäfte Hochglanzkleiderschränke, Stühle, die nicht zum Hinsetzen einluden oder halb fertig genähte Anzüge aus. Tapfer marschierte er daran vorbei. Auf einem Straßenschild wurde die Alte Oper ausgewiesen. Doch heute musste er durch die Kaiserstraße bis zur U-Bahnstation Hauptwache. Er ließ sein Telefon langsam zurück in die Tasche gleiten. In der Kaiserstraße hantierten ein paar LKW-Fahrer an Laderampen und schoben Unmengen Kartonagen, Paletten oder Drahtkörbe in Geschäfte und Cafés hinein. Bald trat er auf einen zugigen Platz. Noch einmal zog er den Handy-Stadtplan hervor. Sollte ich schnell zur Paulskirche schauen? Um halb sieben? Ob Michel noch schlief? Kathrin würde bald schlafen gehen. Wenn das so weitergeht, werde ich nicht lange mitmachen. ‚Hauptwache‘ las er an dem U-Bahn-Schild. Michel sei groß und nun wäre sie wieder dran, hatte Kathrin gesagt. Und ich hatte gedacht, die Sache mit Frankfurt wäre ein Spaß gewesen. Er hauchte in die Hände. Wohin muss ich jetzt? ‚Eschersheimer Landstraße‘, verglich er noch einmal mit dem Bildchen auf dem Telefon. Der Straße werde ich einfach stur geradeaus folgen. Von 6:30 Uhr bis 8:30 Uhr werde ich das wohl auch zu Fuß schaffen!
Im Polizeipräsidium angelangt erkundigte er sich nach der Kantine, wo er sich zum ersten Mal an diesem Morgen ein wenig entspannte. Mit großem Appetit schaute er auf die Brötchen mit Käse, Ei, Salami, die Brezeln mit Frischkäse, Joghurt und Säfte in den typischen Glastheken. Er nahm mehrere Brötchenhälften, zapfte sich einen Pott Kaffee, stellte ein Kakaopäckchen hinzu und tauchte mit seinem beladenen Tablett in einer Sitzecke neben einem Ficus Benjamin ab. Hier zog er seine Jacke aus, nahm das Telefon aus der Tasche, trank einen Schluck Kaffee und streifte dabei über die Namensliste auf dem Display. Bei ‚Michel‘ hielt er an, drückte auf das Hörersymbol. „Michel. Ich weiß, dass du auf dem Weg bist. Wie ist es? Cool? Verstehe. Du kannst ja im Bistro Eurer Schule essen. Das mache ich auch gerade. Nein, nicht in Eurer Schule. Die Wohnung? Hat deine Mutter gut gemacht. Ja, verstehe. Ich rufe heute Nachmittag nochmal an. Halt die Ohren steif.“ Er nahm einen großen Schluck Kaffee. Scheiße, war der heiß. Tränen schossen ihm in die Augen.
Er öffnete das Päckchen Kakao, das ihn an einen Schulausflug erinnerte. Das Salamibrötchen schmeckte. Wieder nahm er das Telefon zur Hand. „Hallo Silvia. Danke der Nachfrage. Es ist ja nur für ein Jahr. Theo soll mich nachher anrufen. Okay. Danke!“ Seine Berliner Kollegen verloren wie er selbst nicht viele Worte. Er aß sein Frühstück auf, trank Kaffee und Kakao aus, griff sich seine Jacke und trat aus der Kantine heraus auf einen langen Gang im Frankfurter Polizeipräsidium.
Wegweiser zeigten an, dass alles was sich mit Schwerer und Organisierter Kriminalität befasste, in der dritten Etage angesiedelt war. Eine Doppeltür aus Sicherheitsglas, neben der ‚Kapital- und Eigentumsdelikte‘ auf einen schmalen Alustreifen gedruckt war, drückte er mit der flachen Hand auf und stand in einem Großraumbüro.
„Guten Morgen! Sie sind sicher der Herr Hoppe“, sagte eine Dame und trat hinter ihrem großen Bürotresen hervor, um mit ausgesteckter Hand auf ihn zuzukommen.
Immer noch im Zwielicht des Morgens kam Viktor aus dem Bad. Ein Handtuch hatte er sich um die Hüften gebunden, mit einem anderen rubbelte er sich die Haare trocken. „Ich fahre heute nicht mit deiner Bahn mit. Will eher ins Büro“, gab er unter dem Handtuch von sich.
„Schade.“ Isabel schmollte.
Viktor nahm sein Handtuch vom Kopf und gab ihr einen Kuss.
„Bald wirst du wohl von einer Limousine abgeholt werden.“ Sie wollte ihn auf den Arm nehmen. Sicherlich, um sich selbst wach zu machen.
„Dann würden wir erst einmal dich an deiner Meier’s Business School absetzen.“
„Das macht es dort auch nicht besser. Warum gehst du heute so früh?“
„Muss noch ein paar Zahlen für diesen Verein dezentraler Energieversorger checken.“
„Bist du sicher, dass das im Sinne deiner Kollegen ist?“
„Aber wir müssen mit denen reden.“
„Riskiere bitte nichts. Du lebst nicht auf dem Mond.“
Das Grün in Isabels Augen funkelte ihm aufmerksam entgegen.
„Das wäre auch ganz schön einsam.“
„Du bist jetzt mal dran. Nimm es dir doch einfach.“
Worum macht sie sich Sorgen? „Das mache ich doch.“ Er nahm während des Gesprächs ein weißes Hemd aus dem Schrank und einen seiner immer gleichen dunkelblauen, dreiteiligen Anzüge, dazu eine dezente Krawatte. Fertig!
In der Küche trank Viktor ein Glas Wasser, ging noch einmal zurück zu Isa. „Auf Wiedersehen Frau Armstrong, bis heute Abend.“
Vor dem Haus hatte so früh am Morgen noch niemand sein Auto bewegt. Sie parkten dicht hintereinander zu beiden Seiten der Straße. Am Kiosk auf dem Mittelstreifen hatten sich die üblichen Verdächtigen schon eingefunden. Für die Frau, die Morgen für Morgen ihre zwei Chihuahua-Hündchen ausführte, war es heute noch zu früh. Mit den Händen in den Jackentaschen lief Viktor zur U-Bahn-Haltestelle. Beim Bäcker standen die Türen weit offen. Er konnte die gefüllten Regale und die Lämpchen an der riesigen Kaffeemaschine sehen, bevor er zur U-Bahn hinunterging. Wenn der Wasserstoff-Akku oft genug eingesetzt wird, können wir bald ein paar Leitungen abbauen. Und das war nur ein Nebeneffekt. Wichtiger war es, mit Sonne oder Wind, an jedem Ort etwas anfangen zu können. Die U-Bahn fuhr heran. Sitzplätze gab es so früh zur Genüge. In Gedanken versunken setzte er sich. Natürlich hängen wir noch am Tropf der herkömmlichen Energieerzeugung. Die EnVer ist ja auch ein ganz normaler Stromriese. War! Doch nun hatten sie sich entschieden. Wir haben uns entschieden! Zuversichtlich stieg er am Europaviertel aus. Europa und dann Viertel, ging es ihm jedes Mal durch den Kopf. Warum müssen die großen Ideen immer klein gemacht werden?, fragte er sich oft. Auf zugigen Straßen lief Viktor an moderner Architektur vorbei. Allein das EnVer-Haus stand altehrwürdig im neuen Quartier.
Die Flure waren hell erleuchtet, doch nur der Empfang war wirklich schon besetzt. Im Vorzimmer seines Büros schaltete Viktor das Licht an, legte seine Jacke auf einem Sessel ab und ging an die Aktenschränke. Mit dem Ordner ‚Dez. Versorgung – rechnerische Analysen‘ setzte er sich an seinen Schreibtisch.
Erst die Sekretärin holte ihn mit einem „Guten Morgen“ aus den Daten heraus. Danach klapperte sie im Vorzimmer mit der Schranktür. Vermutlich hing sie seine Jacke weg.
„Danke“, rief er.
„Na, möchten Sie einen Kaffee?“ Sie schaute zur Tür hinein.
„Nein, danke.“ Und er beugte sich wieder über die Papiere.
„Denken Sie an die Lieferanten-Konferenz!“
Damit war die einsame Stunde vorüber. Schlimmer noch, die nächsten Stunden würden mit einem altertümlich anmutenden Treffen verschwendet werden.
Im Fahrstuhl dorthin traf er auf die Dame für Human Resources. Wie immer trug sie einen grauen Hosenanzug. Ein rotes Ledermäppchen hielt sie in der Hand, die Haare waren halblang und ein bisschen blond. „Sieh an, der neue Herr F&E.“
Was sollte er darauf antworten? Viktor fand sich bestätigt in seiner Meinung über diese Frau. Soll ich etwa antworten ‚und hier unsere Human-Resources-Dame’? „Bin gespannt auf den Brückner. Sie hatten mit dem ja schon einige Male zu tun.“ Irgendetwas musste er ja sagen.
„Wirklich ein bemerkenswerter Mann“, beschied seine Kollegin.
Der Fahrstuhl hielt in der obersten Etage. Im Konferenzraum waren die dunkelbraunen Holztische, die sich unter den Blumengestecken, Obstschalen, Tassen, Gläsern und kleinen Glasflaschen fast bogen, in U-Form aufgestellt. Nachher würden die Catering-Leute Kaffee und Tee servieren. Apropos Catering. Sind die jungen Damen nicht auch von der BrueCklean?
„Herr Professor Schlegel, Guten Morgen“, der Finanzvorstand Mauerkamp packte Viktors Hand und tätschelte gleichzeitig mit der Linken seine Schulter.
„Sie auch hier?“
„Das hat sich so eingebürgert. Nur kurz bis zur Pause.“
Das war ein guter Plan, dem sich Viktor anschließen wollte. Wem sollte er hier begegnen? Und wozu? Mit seinem Forschungsthema hatten die alle nichts zu tun. Im Foyer des großen Sitzungssaals begrüßten sich Herren und einige Damen. Auch der langjährige EnVer-Vorsitzende Josef Hofmacher, der Viktor zum heutigen Termin hinzugebeten hatte, war inzwischen eingetroffen. Smalltalk. Taschen wurden auf Sitzen und Tischen im Konferenzsaal abgelegt. Der Fahrstuhl öffnete sich immer wieder, um Geschäftspartner auszuspucken. Junge Frauen in knallgelben Blusen betraten die Arena mit glänzenden Thermoskannen in der Hand. Säuseln, Kopfnicken, leises „ja bitte“ und „Danke“ beim Kaffee einschenken.
In diese einvernehmliche Atmosphäre hinein, in der sich die Anwesenden auf die gut gemeinte Konferenz einstimmten, drängte sich aus dem Foyer ein lautes: „Seht ihr wieder gut aus. Guten Morgen, Guten Morgen.“
Die Human Resources-Dame verließ den Konferenzraum mit den Worten: „Ich begrüße mal eben den Herrn Brückner.“
Hiernach hob das Gesäusel im Raum wieder an. Viktor nahm die herzliche Begrüßung zwischen seiner Kollegin und dem Brückner wahr. Sie tätschelte ihn wie es Mauerkamp eben mit ihm getan hatte. Gleich darauf aber erschien der BrueCklean-Inhaber im Türrahmen. „Einen Guten Morgen wünsche ich allen. Ich verschwinde erst einmal in den Cateringbereich, um meine Mitarbeiterinnen zu begrüßen.“
Viktor sah abwechselnd in die Runde und zu diesem Wirbelwind. Die Anwesenden nickten und lächelten. Drei Leute der Werbeagentur traten ein, doch bemerkte sie kaum jemand. Da konnten sie noch so bunt und spät daherkommen, Brückner hatte ihnen die Show gestohlen.
„Mein guter Viktor.“ Hofmacher kam auf ihn zu. „Ich werde nachher die Gelegenheit nutzen, sie offiziell vorzustellen.“ Seine Schulter wurde schon wieder beklopft, dann zog der Vorstandschef weiter und begann gleich darauf mit seiner altmodischen Konferenz.
„Meine Damen und Herren, ich freue mich, Sie heute wieder einmal alle gemeinsam in unserem Hause zu begrüßen. Der Tagesordnung konnten Sie entnehmen, dass wir viel miteinander vorhaben. Ich persönlich, aber vor allem die Mitarbeiter der EnVer AG, stehen einer weiteren Zusammenarbeit …“ Josef Hofmacher sprach wohlwollend, nett und angemessen zeremoniell, langweilig. Jedem Anwesenden blickte er für einen Bruchteil von Sekunden in die Augen, damit sich jeder angesprochen fühlte. An einem leeren Stuhl blieb Hofmacher hängen. Er schmunzelte und unterbrach seine Rede. In diesem Augenblick schwang die Tür vom Cateringbereich auf. Brückner schritt auf Hofmacher zu und packte mit beiden Händen dessen Rechte. „Mein lieber Sepp, entschuldige vielmals, aber ich wollte unbedingt noch die Damen begrüßen.“
„Stephan, wir haben Sie vermisst.“ Hofmacher deutete auf den freien Platz.
Brückner bewegte sich darauf zu und sagte laut: „Was soll man machen, wenn die Mädels mal den Chef zu fassen kriegen, bekommt der gleich was zu hören.“
Die Anwesenden lachten. Auch Hofmacher nahm lächelnd seine Rede wieder auf, die an Viktor vorbeirieselte, bis er seinen Namen hörte. „… Herr Professor Viktor Schlegel mit Vorstandsressort Forschung und Entwicklung. Eine höchst erfreuliche Neuerung in unserem Unternehmen.“
Aufwachen! Vorbei war es mit dem wohlwollenden Dreinschauen.
„… In ein paar Tagen wird Forschung und Entwicklung der EnVer AG ein eigenes Vorstandsressort erhalten.“ Damit übergab Hofmacher an Viktor.
Der bedankte sich, stellte sich vor und sprach über sein Fachgebiet. „Seit Beginn meiner Tätigkeit in diesem Hause waren stets die Überlegungen für eine moderne Art der Energieversorgung die Hauptanliegen unseres F&E-Teams. Der Zeitpunkt ist für die EnVer AG gekommen, sich neu am Energiemarkt aufzustellen und den bisherigen technologischen Standard zur sicheren Energieversorgung in neuer Relation zu betrachten. Unsere Methoden werden revolutionär erscheinen, doch sind sie längst erwartete Lösungen unserer Zeit. Die EnVer wird Maßstäbe setzen, an der sich national und international Viele orientieren werden.“ Dazu ist doch diese Veranstaltung da! Viktor war mit sich zufrieden.
Es gab zustimmenden Applaus. Auch Hofmacher stellte sich zufrieden neben Viktor. „Herzlich Willkommen auf unserer diesjährigen Lieferantenkonferenz!“
In der Pause kam Brückner auf Viktor zu. „Sie führen also die Versorgungsrevolution an?“
„Wenn Sie das so sehen.“