High Five - Florian Babor - E-Book

High Five E-Book

Florian Babor

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  • Herausgeber: dtv
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Cool bleiben in der Fieberkurve Ist es normal, dass ein Kind jeden Kita-Virus mitnimmt? Ab wann wird Fieber gefährlich? Welche Impfungen bringen wirklich etwas? Was ist »Nestschutz« eigentlich genau? Diese und viele andere Fragen junger Eltern beantworten die Ärzte Florian Babor und Nibras Naami, besser bekannt als handfussmund, in ihrem großen Gesundheitskompass. Dabei vermitteln sie die fünf essenziellen Säulen der Kindergesundheit und nehmen nicht nur Klassiker wie »Ernährung« oder »Bewegung« in den Blick. Sie widmen sich genauso Themen wie der kindlichen Psyche oder der Prävention während der Schwangerschaft. »High Five« ist ein umfassender Ratgeber für alle, die Kinder erziehen und ihren Sprösslingen den gesunden Start ins Leben erleichtern möchten.

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Seitenzahl: 518

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Cool bleiben in der Fieberkurve

Ist es normal, dass ein Kind jeden Kita-Virus mitnimmt? Ab wann wird Fieber gefährlich? Welche Impfungen bringen wirklich etwas? Und kann ich mein Kind vegan ernähren? Die Kinderärzte Florian Babor und Nibras Naami beantworten in ihrem umfangreichen Gesundheitskompass die essenziellen Fragen junger Eltern. Stets im Fokus: Die fünf Säulen einer gesunden Kindheit. Ebenso wie in ihrem Podcast »Hand, Fuß, Mund«, in dem sie regelmäßig medizinischen Rat geben, nehmen sie nicht nur Grundlagen wie »Ernährung« oder »Bewegung« in den Blick, sondern widmen sich genauso Themen wie der kindlichen Psyche oder der Prävention während der Schwangerschaft.

»High Five« ist der umfassender Ratgeber für alle, die Kinder erziehen und ihren Sprösslingen den gesunden Start ins Leben erleichtern möchten.

Florian Babor • Nibras Naami

High Five

Die fünf Säulen einer gesunden und glücklichen Kindheit

Mit Illustrationen von Lorena Addotto

Für Fabienne und Kristin

Einleitung

Kindergesundheit – die entscheidende Rolle der Eltern

Kinder sind keine kleinen Erwachsenen – zu diesem Schluss kommen alle jungen Mediziner*innen früher oder später im Rahmen ihres Studiums. Meistens natürlich, wenn der Kinderheilkunde-Block absolviert ist. Der Fehlschluss, Kinder seien wie kleine Erwachsene zu behandeln, rührt daher, dass im Medizinstudium in aller Regel zuerst die Anatomie, Physiologie (= Lehre der normalen Lebensvorgänge) und Pathologie (= Lehre der krankhaften Lebensvorgänge) von erwachsenen Menschen gelehrt und studiert werden, bevor es um Kinder geht. Schnell kann man also zu der Annahme gelangen, dieses Wissen sei auf Kinder ebenso übertragbar. Wirft man dann auch noch einen Blick in die Niederlande, fühlt man sich womöglich darin bestätigt, denn: Dort gibt es gar keine niedergelassenen Kinderärzt*innen! Die Versorgung von Kindern findet in aller Regel durch die Haus- bzw. Familienärzt*innen statt. Alles in einem Topf, sozusagen.

Was Sie als Leser*innen dieses Buches wahrscheinlich schon längst wissen, finden die Medizinstudierenden erst dann (schmerzlich) heraus: Es gibt über die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ganz viel Neues zu lernen! Die Bücher über Kinderheilkunde gehören nicht ohne Grund zu den dicksten, die man sich in der Medizinbibliothek ausleihen kann, und haben schon vielen Studierenden unliebsame Schlepperei beschert.

Wer nun ohne Fakten und Belege noch immer nicht davon zu überzeugen ist, dass Kinder keineswegs kleine Erwachsene sind, dem sei dies am Beispiel des Thymus demonstriert. Noch nie von diesem sehr wichtigen Organ gehört? Machen Sie sich keine Gedanken, denn bei Ihnen ist davon sehr wahrscheinlich kaum noch etwas übrig!

Der Thymus ist ein Organ des lymphatischen Systems, das bei Kindern hinter dem Brustbein liegt. In ihm reift eine wichtige Untergruppe der weißen Blutkörperchen, die sogenannten T-Lymphozyten (das »T« steht hier für Thymus), zu einsatzbereiten Abwehrzellen heran. Wenn man das Abwehrsystem mit einer Armee und die Lymphozyten mit Soldaten vergleicht, dann ist der Thymus die Kaserne, in der diese ausgebildet, ausgerüstet und für den Kampf vorbereitet werden. Mit Eintritt in die Pubertät ist das Immunsystem ausreichend gerüstet, sodass sich der Thymus natürlicherweise wieder zurückbildet. Diesen Prozess nennt man Involution und er funktioniert ähnlich wie zum Beispiel bei Milchdrüsen, die ihre Aktivität nach der Stillzeit wieder einstellen.

Kinder haben also sogar ein Organ, das Erwachsenen fehlt – und das ist nur die Spitze des Eisbergs! Auch die Art und Weise der medizinischen Versorgung ist eine gänzlich andere.

Auf der einen Seite müssen Kinderärzt*innen für verschiedene Altersgruppen unterschiedliche Kommunikations- und Herangehensweisen an den Tag legen, um Krankheiten erfolgreich behandeln zu können. Man wird ein dreijähriges Kind schließlich nicht mittels logischer Argumente von den Vorteilen einer venösen Blutabnahme überzeugen können. Sechzehnjährigen Patient*innen wiederum kann man durch das Aufkleben eines Prinzessin-Elsa-Pflasters nur selten ein begeistertes Funkeln in die Augen zaubern (die Betonung liegt auf selten). Auf der anderen Seite hängt Kindergesundheit maßgeblich von den Eltern oder Sorgeberechtigten ab. Je jünger die Kinder sind, desto abhängiger sind sie von Erwachsenen. Gerade Säuglinge und Kleinkinder können nicht eigenständig Beschwerden benennen oder gar um medizinische Hilfe ersuchen. Ihre Gesundheit liegt maßgeblich in den Händen der engsten Bezugspersonen, und diese große Verantwortung ist tief in unseren Instinkten verwurzelt.

Deswegen sind Eltern äußerst wachsam und beobachten das Wohlbefinden ihrer Kinder aufmerksam. Sie unterscheiden sich dabei im Grunde gar nicht so sehr von Mediziner*innen: Wenn eine Mutter ihr Kind, das gerade an Bauchschmerzen leidet, nach der genauen Stelle des Schmerzes, der Intensität und der Dauer fragt, dann entspricht das schon den ersten Schritten einer professionellen Anamnese (= Erfragung von potenziell medizinisch relevanten Informationen). Tastet der Vater den Bauch ab, um zu prüfen, ob dieser druckempfindlich oder gebläht ist, handelt es sich dabei um die erste Untersuchung. Führt er eine Bauchmassage durch, um die Beschwerden zu lindern, ist das bereits eine erste therapeutische Maßnahme.

Eltern und Kinderärzt*innen sitzen somit im selben Boot und bilden ein Team, das optimalerweise gemeinschaftlich über die Gesundheit der Kinder wacht. Eltern nehmen dabei die entscheidende Rolle der medizinischen Vorhut ein, die das rechtzeitige Eingreifen der Kinder- und Jugendmedizin erst ermöglicht. Mit unserem Buch möchten wir diese wertvolle Teamarbeit stärken.

Umfassendes Wissen führt zu gesünderen Kindern

Wissen ist das Kind der Erfahrung.

LEONARDO DA VINCI

Noch nie gab es für Eltern so viele Möglichkeiten, Informationen rund um die Gesundheit von Kindern einzuholen – und während Sie dieses Buch lesen, werden es immer mehr! Im Zeitalter von Internet und Smartphone tragen wir die schlauen Antworten auf all unsere Fragen vermeintlich stets in unserer Tasche, Suchmaschinen sei Dank. Außenstehende Beobachter*innen könnten aufgrund dieses Angebotes meinen, der Bedarf an medizinischer Aufklärung sei rückläufig und Eltern viel sicherer im Umgang mit der Gesundheit ihrer Kinder als vor der Erfindung des World Wide Web. Im Alltag von Kinderkliniken und -arztpraxen zeigt sich jedoch ein anderes Bild: Immer häufiger werden am Wochenende und in der Nacht Notfallpraxen und -ambulanzen frequentiert. Das Maß an Fragen scheint zuzunehmen, während der Raum für deren Beantwortung immer kleiner wird. Das wirkt auf den ersten Blick paradox. Wo liegen die Ursachen für diese widersprüchliche Entwicklung? Woher kommt diese Verunsicherung?

Bei allem Zugewinn an Quellen und Fakten ging in den letzten Jahrzehnten auch etwas verloren, nämlich der Erfahrungsschatz der Familie. In früheren Generationen waren junge Eltern selten auf sich allein gestellt, denn sie zogen ihren Nachwuchs meist innerhalb eines engmaschigen Familienverbundes groß. Hatte das Kind zum ersten Mal ein Symptom oder eine Erkrankung, gab es in der Nähe stets jemanden, der Erfahrung mit dem Problem hatte und weiterhelfen konnte. So waren es meist die Großeltern, die beim ersten Fieber die Wadenwickel anlegten oder bei Ohrenschmerzen ein Zwiebelsäckchen zubereiteten. Das soll selbstverständlich nicht heißen, dass Kinder zu der Zeit medizinisch besser versorgt gewesen wären! Vergessen wir nicht, dass die Kindersterblichkeit früher deutlich höher war als heute, viele der langjährigen und generationenübergreifenden Erfahrungen von damals waren schlichtweg falsch. Dennoch gab es Eltern eine gewisse Sicherheit, mit neuen medizinischen Herausforderungen nicht allein dazustehen.

Heutzutage kann eine Google-Recherche zwar zu einem hervorragenden wissenschaftlichen Artikel führen, der womöglich die objektiv besten Informationen bietet, aber für Laien ist es kaum verständlich, und ohne die Unterfütterung von Fakten mit persönlichen Erfahrungen sind wissenschaftliche Erkenntnisse schwer in die Tat umzusetzen. Außerdem landet man durch Suchmaschinen auch schnell in Foren oder Blogs, in denen die (oft von anderen Laien) gegebenen Ratschläge im besten Fall höchst subjektiv, aber auch nicht selten falsch oder unzureichend auf das eigene Kind übertragbar sind. Insbesondere das in den letzten Jahren stark wachsende Angebot an medizinischer Aufklärung in den sozialen Medien unterliegt keiner qualitativen Kontrolle. Für medizinische Laien ist es sehr schwer, falsche Informationen überhaupt zu erkennen. Professionelles Design und ein selbstsicheres Auftreten von Influencer*innen können leicht über fehlende Kompetenz hinwegtäuschen.

Für Rat suchende Eltern ist das heutige Informationsangebot also leider wie ein Dschungel mit vielen Pfaden und Abzweigungen, die tief in ein dichtes Gestrüpp führen – ohne Karte und Wegbeschreibung ist das Sichverlaufen vorprogrammiert.

In einer perfekten Welt sollten natürlich Kinderärzt*innen die Rolle eines Guides übernehmen und mit ihren Erfahrungen und Kenntnissen beratend zur Seite stehen. Aufklärung ist schließlich ein wichtiger Teil unseres Berufs, den wir mit Freude übernehmen. Niemand lässt Rat suchende Familien gerne mit fragenden Gesichtern zurück. Aber leider ist unsere Realität nicht perfekt: Viele Kinderärzt*innen müssen an einem Arbeitstag über einhundert Patient*innen behandeln und hasten gestresst von einem Zimmer zum nächsten. Da bleibt neben der Basisversorgung wenig Zeit für die vollumfängliche Klärung aller Unsicherheiten. Nicht selten lässt der Besuch in der Praxis Eltern mit zahlreichen offenen Fragen zurück, die häufig wieder zu Eigenrecherchen führen. Auch wir kennen das aus unserem Alltag – ein Dilemma.

Mit diesem Buch möchten wir aus diesem Dilemma herausführen und Ihr Guide für alle Fälle werden. Hier treffen Fakten und Erfahrung aufeinander und wir nehmen uns die Zeit für Aufklärung, die im Alltag oft fehlt. Auf dem gemeinsamen Weg durch den Dschungel orientieren wir uns stets an einer zentralen Frage: Was kann man tun, damit Kinder gesund aufwachsen können? Um das zu beantworten, definieren wir fünf Säulen, die das Fundament einer gesunden Kindheit bilden.

Die fünf Säulen einer gesunden Kindheit

Als Kinderärzte wissen wir nur zu gut, dass schwere Krankheiten ohne Vorwarnung und ohne Chance auf Vermeidung eintreten können. Selbst nach der unauffälligsten Schwangerschaft kann ein Kind, beispielsweise durch eine unvorhergesehen komplizierte Geburt, gesundheitlich zu Schaden kommen. Auch an einer akuten Leukämie, die die häufigste bösartige Erkrankung im Kindesalter ist, trägt niemand die Schuld. Sie ereilt Kind und Familie als unangekündigter Schicksalsschlag.

Was die Gesundheit betrifft, ist also ein gewisses Restrisiko nicht zu leugnen. Aber abseits davon hat es die moderne Kinder- und Jugendmedizin in den letzten Jahrzehnten geschafft, in vielen Bereichen Risiken deutlich zu reduzieren. Das betrifft einerseits die revolutionäre Weiterentwicklung von Therapien. Andererseits spielt die Prävention, also die Vorbeugung, eine immer wichtigere Rolle. Sie wird, nach Aufklärung und Anleitung, an erster Stelle von den Eltern und Familien selbst durchgeführt.

Krankheiten zu vermeiden oder besser zu behandeln ist aber nicht alles, was eine gesunde Kindheit ausmacht. Neben der körperlichen Gesundheit spielt die seelische eine mindestens ebenso große Rolle. Fortschritte im Bereich der Erziehungswissenschaften und Psychologie haben uns geholfen, Aspekte zu definieren, die für ein ganzheitliches gesundes Großwerden ausschlaggebend sind.

All das sind Stellschrauben, die von Ihnen justiert werden können. Auf diese beeinflussbaren Faktoren möchten wir uns im Rahmen dieses Buches konzentrieren und Rat an die Hand geben.

Es folgt ein jeweils kurzer Einblick in diese fünf Säulen, um Sie auf das vorzubereiten, was Sie auf den nächsten etwa 400 Seiten erwarten wird. Vergessen wir nicht: Wissen ist Macht.

Säule 1: Schwere Krankheiten vermeiden

Abseits der oben genannten Beispiele für medizinische Schicksalsschläge gibt es sehr wohl Erkrankungen, die durch die richtigen Kenntnisse, kombiniert mit einer guten Vorbereitung, verhindert oder zumindest abgeschwächt werden können. Schwere Krankheiten vermeiden bedeutet also aus unserer Sicht einerseits, bereits durch Prävention Risiken zu minimieren, und andererseits, im Krankheitsfall Warnsignale rechtzeitig zu erkennen und richtig zu reagieren.

Prävention beginnt schon während der Schwangerschaft. Durch eine gute Vorsorge werden Probleme erkannt, die während und nach der Geburt berücksichtigt und erfolgreich behandelt werden können. In den ersten Lebensmonaten des Kindes ist es dann wichtig, das Risiko des Plötzlichen Säuglingstods zu minimieren. Sobald sich das Kind selbstständig dreht und zu krabbeln beginnt, steigt die Gefahr für Unfälle im Haushalt. Hier gilt es, Gefahren zu erkennen und den Wohnraum kindersicher zu gestalten. Sollte es trotz der besten Vorbereitung zu Unfällen oder Vergiftungen kommen, sind Kenntnisse in der Ersten Hilfe unerlässlich, um Schaden vom Kind abzuwenden. Auch eine richtig bestückte Hausapotheke inklusive Notfallset darf in diesem Zusammenhang nicht fehlen. Während der gesamten Kindheit spielen außerdem Vorsorgeuntersuchungen bei Kinder-, Zahn- oder Augenärzt*innen eine entscheidende Rolle, um kleine und große Probleme rechtzeitig festzustellen und frühzeitig therapeutisch anzugehen. Insbesondere früh erkannte Entwicklungsverzögerungen können durch rechtzeitige Physio-, Logo- oder Ergotherapie ausgeglichen werden.

Ist das Kind dann doch einmal krank, ist das in den meisten Fällen relativ harmlos. Wenn die Erkrankung aber von der schweren Sorte ist, zeigt sich das leider nicht immer anhand glasklarer Zeichen. Die Indizien können am Anfang subtil und schwer zu erkennen sein. Nur wer ausreichend Kenntnisse besitzt, kann rechtzeitig und angemessen reagieren. Doch wann sind Symptome wie Fieber, Husten, Durchfall, Erbrechen oder Schmerzen harmlos und wann besorgniserregend? In welchen Fällen kann man das Problem noch mit der heimischen Hausapotheke angehen und wann ist der Gang in die Praxis oder gar eine Notaufnahme unvermeidbar? Der Grat, auf dem man bei diesen Fragen wandert, kann manchmal sehr schmal sein. Wir möchten mit diesem Kapitel dabei helfen, die richtige Entscheidung zu treffen.

Säule 2: Das Immunsystem fordern und fördern

Im Theaterstück der Symptome und Krankheiten spielt das Immunsystem sicher eine der Hauptrollen. Es lohnt sich also, einen näheren Blick auf dieses äußerst komplexe Zusammenspiel aus zahlreichen Zellarten und Botenstoffen, die körperfremde Eindringlinge wie Bakterien oder Viren erkennen und bekämpfen, zu werfen. Bildlich kann man sich das Immunsystem als mikroskopisch kleine Armee vorstellen, in der es unterschiedliche Truppen gibt, die auf ihre jeweiligen Einsätze spezialisiert und trainiert sind. Sie patrouillieren 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, durch den Körper und bewachen seine Grenzen. Dabei entwickelt sich das Immunsystem stetig weiter und sammelt immer neue Erfahrungen im Umgang mit Krankheiten. Dieser wachsende, genetisch nicht vorprogrammierte Erfahrungsschatz ist sehr wichtig für eine gesunde Kindheit und spielt auch später im Erwachsenenleben, beispielsweise bei der Weitergabe des Nestschutzes, eine große Rolle. Wir kommen darauf später noch einmal zurück.

Kinder sollten deswegen auf keinen Fall in immunologische Watte gepackt werden, denn das Immunsystem muss immer wieder bei harmlosen Infektionen zum Einsatz kommen, um sich weiterzuentwickeln. Auch für die Vermeidung von allergischen Erkrankungen spielt aktive Konfrontation eine große Rolle. Der sogenannte Bauernhofeffekt beweist, dass ein moderates Maß an Exposition gegenüber Schmutz und Erregern das Risiko für Asthma oder Neurodermitis reduziert.

Ein weiterer Baustein in der Stärkung des Immunsystems ist eine der größten Errungenschaften der modernen Medizin: Impfungen. Sie lassen sich mit einer sehr realistischen Übung im Flugsimulator vergleichen, die für den Ernstfall vorbereitet. Mithilfe von Impfungen sind furchtbare Erkrankungen wie die Pocken ausgerottet worden, andere wie die Diphtherie sind nahezu verschwunden. Impfungen sind einer der Hauptgründe, warum die Kindersterblichkeit in Deutschland seit den 1950er-Jahren um mehr als 95 Prozent gesunken ist. Leider hat dieser infektiologische Frieden auch Schattenseiten: Je stärker die Erinnerungen an gefährliche Erkrankungen und Komplikationen verblassen, desto regelmäßiger werden Sinn und Zweck von Impfungen infrage gestellt. »Aus den Augen, aus dem Sinn« scheint hier leider das treffende Sprichwort zu sein. Befeuert wird das Problem durch Fehlinformationen und Verschwörungstheorien, die sich zuletzt in verschiedenen Medien stark verbreiteten. So kam es dann auch, dass Deutschland während der letzten großen Masernwelle im Jahr 2015 mit einem Anteil von 63 Prozent aller Fälle in Europa den traurigen Spitzenplatz belegte.

Ein so komplexes Thema wirft natürlich viele Fragen auf, die uns regelmäßig im Alltag als Kinderärzte begegnen. Was ist der richtige Mix aus Konfrontation mit Erregern und Schutz vor Infektionen? Wie viele Infekte sind eigentlich noch okay und ab wann sollte man sich Sorgen machen? In diesem Kapitel möchten wir Ihnen zeigen, wie man sein Kind bei der Entwicklung eines standhaften Immunsystems unterstützen kann.

Säule 3: Ausgewogene Ernährung

Wir wollen nicht pauschalisieren, aber beim Thema Kinderernährung trifft man bei einigen Kinder- und Jugendmediziner*innen leider auf einen blinden Fleck in der fachlichen Kompetenz. Das soll kein Vorwurf an unsere Zunft sein, aber aufzeigen, dass diesem Komplex in Studium und Ausbildung von Kinderärzt*innen bisher viel zu wenig Beachtung geschenkt wird. Es herrscht großer Nachholbedarf und darum ist uns dieses Kapitel besonders wichtig.

Bereits in der Säuglings- und Kleinkindzeit spielt Ernährung natürlich eine tragende Rolle. Im Vergleich zu anderen Säugetieren kommen Menschenkinder nämlich ziemlich unreif zur Welt. Sie brauchen daher dringend die notwendigen Nährstoffe für die körperliche und geistige Entwicklung. Gerade zentrale Organe wie das Gehirn machen zu dieser Zeit bahnbrechende Reifungsprozesse durch, die auf die ausreichende Versorgung mit essenziellen Bausteinen, wie beispielsweise Omega-3-Fettsäuren, angewiesen sind.

Aus dieser Erkenntnis ergeben sich folgende zentrale Fragen: Warum wird das Stillen beziehungsweise die Muttermilch so sehr empfohlen? Sind auch Formulanahrungen bedarfsdeckend, und was genau bedeutet »Pre«, »1er«, »2er« oder »HA« eigentlich genau? Warum braucht ein Kind ab dem 5.–7. Monat überhaupt Beikost, wieso reicht die Milchnahrung dann nicht mehr aus? Klassischer Beikostplan oder Baby-Led-Weaning – was ist der richtige Weg? Welche Supplemente, wie zum Beispiel Vitamin D, helfen beim gesunden Großwerden?

Auch wenn das Kind größer wird, kann sich die Ernährung zum heiklen Eiertanz entwickeln. Nicht alle Kinder sind auf Anhieb vorbildlich, was Mengen oder die Ausgewogenheit der Nahrung angeht. Viele Eltern befürchten, dass ihr Kind während der geschmacksprägenden Zeit zum Picky Eater wird. Auch das richtige Maß von salz- und zuckerhaltigen Speisen bereitet Kopfzerbrechen. Im Mittelpunkt vieler Sorgen steht das gesunde Wachstum, das von uns Kinderärzt*innen anhand sogenannter Perzentilen beobachtet wird (Sie haben nie verstanden, was das eigentlich genau ist? Keine Sorge, auch das erklären wir ausführlich). Leider fällt auf, dass die Kurven beim Gewicht gerade in den westlichen Ländern viel zu oft nach oben ausbrechen. Überernährung ist ein zunehmendes Problem der Kinder- und Jugendmedizin und sollte frühzeitig erkannt und kompetent angegangen werden. Hier sind Ärzt*innen und Eltern gleichermaßen gefragt, Kindern ein vernünftiges Essverhalten vorzuleben und beizubringen.

Ein uns ebenso wichtiges Thema ist die vegetarische und vegane Kinderernährung. Kaum etwas wird in der Kinderarztpraxis so sehr stigmatisiert wie diese Ernährungsformen. Dabei befinden wir uns in Deutschland mittlerweile auf einer ideologischen Insel. In anderen medizinisch fortschrittlichen Ländern, beispielsweise in den USA, in Großbritannien, Kanada oder Australien, werden vegetarische und vegane Ernährungsweisen für Kinder jeden Alters empfohlen – vorausgesetzt, sie werden korrekt durchgeführt. Anstatt sie also zu verteufeln, sollten moderne Kinder- und Jugendmediziner*innen Familien beim Wunsch nach einer tierarmen bzw. -freien Ernährung sachkundig unterstützen und begleiten.

Säule 4: Notwendige Bewegung

Der Drang zur Bewegung ist bei Kindern in den Genen verankert. Man muss ihnen nicht aktiv beibringen, sich zu drehen, zu krabbeln, sich hochzuziehen und die ersten Schritte zu machen. Bei einem gesunden Kind werden diese Meilensteine der Entwicklung früher oder später von allein erreicht. Die neurologische und motorische Entwicklung ist ein sehr faszinierender Prozess: Eine gewisse Reife des Gehirns ist notwendig, damit Kinder krabbeln können, das Krabbeln wiederum ist wichtig für die weitere Reifung des Gehirns. Man sollte Kinder deswegen früh in ihrem Drang nach Bewegung unterstützen und fördern.

Das kann manchmal ganz schön anstrengend sein, besonders wenn die Sprösslinge anfangen zu rennen, zu springen, zu klettern – und zu stürzen. Manch einer fragt sich, was sich die Natur wohl dabei gedacht hat. Aber keine Angst! Wenn Kinder toben, dann nicht, um ihre Eltern zu ärgern, sondern um wichtige Lektionen für das Leben zu lernen. Vor nicht allzu langer Zeit mussten wir Menschen noch in der Wildnis überleben, vor Angreifern davonrennen, über Hindernisse springen und auf Bäume klettern, um Schutz zu suchen. Tobende Kinder machen also nur die Hausaufgaben ihres genetischen Lehrplans.

Natürlich werden wir heutzutage eher selten von einem Wildtier angegriffen. Aber wir wissen mittlerweile durch Studien, dass Bewegung und Sport ebenfalls enorm wichtig für die Ausbildung von sozialen Kompetenzen sind. Kinder lernen hierbei viele Lektionen über Regeln, Grenzen, kooperative Zusammenarbeit, Rücksichtnahme, Fairness und vertrauensvolle Interaktion. Das formt die Persönlichkeit und fördert ein starkes Selbstbewusstsein.

Insbesondere in einer immer digitaler agierenden Welt, in der wir online nahezu alles ohne jegliche körperliche Anstrengung erledigen können, ist das frühe Etablieren von Bewegungsstrukturen für Kinder von immenser Bedeutung. Denn Bewegungsmangel kann bereits im Kindesalter zu Depressionen, Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Diabetes führen. Gewöhnt man Kinder an einen bewegungsarmen Lebensstil, verfestigt sich diese negative Verhaltensweise in aller Regel auch im weiteren Leben. Wer seinem Kind also eine gesunde Zukunft wünscht, sollte auch beim Thema Bewegung aufmerksam bleiben. In diesem Kapitel möchten wir Ihnen Tipps geben, wie Sie Ihre Kinder darin unterstützen können.

Säule 5: Psychische Gesundheit

Die beste Ernährung, der vollständigste Impfstatus, das größte sportliche Engagement – all das allein trägt nicht unmittelbar zu einer glücklichen Kindheit bei. Bei aller Sorge um die körperliche Unversehrtheit sollte die seelische Gesundheit keinesfalls aus den Augen verloren werden. Doch leider werden psychische Instabilitäten und auch Erkrankungen bei Kindern selbst heute noch nicht ausreichend ernst genommen, trotz zahlreicher wissenschaftlicher Erkenntnisse zur mentalen Gesundheit.

In den ersten Monaten und Jahren geht es vor allem um den Aufbau einer tragfähigen Bindung durch eine einfühlsame Erziehung. Der Auszug aus dem Beistellbett in das eigene Kinderzimmer, das erste Mal ohne Eltern in der Kita oder bei der*dem Tagesmutter*vater: Diese bindungsrelevanten Situationen stellen Schlüsselmomente dar, in denen das Fundament einer vertrauensvollen Eltern-Kind-Beziehung gegossen wird und sich die Persönlichkeit und der Wertecodex des Kindes formen. Über die Tragweite solcher Situationen sollten sich Erziehende bewusst sein und sie mit Achtsamkeit erleben. Im Zentrum dieser Erfahrungen steht die Liebe – von Anfang an bedingungslos.

Mit Akzeptanz und Geduld lassen sich für Kinder ausreichend Freiräume schaffen, die zur Entfaltung einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung benötigt werden. Eine zentrale Rolle haben auch Strukturen und Regeln, die Eltern auf empathische Art und Weise vermitteln sollten. Das sorgt bei Kindern naturgemäß für Frust, der eine normale und gesunde Reaktion auf das Kennenlernen eines geordneten Weltbildes ist. Kinder können diese Konflikte aber mithilfe ihrer Eltern überwinden und stärken damit ihr Selbstvertrauen und ihre Selbstständigkeit. Dabei ist es elementar, einen respektvollen und gewaltfreien Umgang zu pflegen, sowohl auf körperlicher als auch auf verbaler Ebene. Insbesondere die Auswirkungen von verbaler Gewalt werden noch immer viel zu oft unterschätzt.

Diese Aspekte helfen Kindern dabei, eine ganz eigene, widerstandsfähige Persönlichkeit zu entwickeln. Insbesondere heutzutage, wo die Raten an seelischen Erkrankungen bei älteren Kindern und Jugendlichen rapide ansteigen, gewinnt die sogenannte Resilienz zunehmend an Bedeutung. Sie zu entwickeln, kann aber nur mit dem nötigen Vertrauen im Gepäck gelingen – Vertrauen in sich selbst, aber eben auch mit dem Vertrauen, dass die engsten Bezugspersonen für einen da sind. Nur ein Kind, das weiß, dass die Eltern auch noch da sind, wenn sie mal aus dem Blickfeld entschwinden, kann seine Umwelt und Umgebung angemessen erkunden und kennenlernen.

Deswegen ist es uns so wichtig, in diesem Kapitel auch die psychische Gesundheit zu thematisieren. Ohne sie ist ein gesundes Großwerden nicht denkbar.

Säule 1 SCHWERE KRANKHEITEN VERMEIDEN

Prepare yourself! – die richtige Vorbereitung

Es gibt nichts Wichtigeres als unsere gute Gesundheit – das ist unsere Hauptkapitalanlage.

ARLEN SPECTER, EHEMALIGER US-SENATOR

Wir können uns Arlen Specter nur vollumfänglich anschließen, auch wenn Sie sich vielleicht fragen, was ein US-Senator mit Medizin zu tun hat. Ganz einfach: Gesundheit ist das Wichtigste im Leben. Und genau wie bei einer finanziellen Kapitalanlage muss auch in die Gesundheit investiert werden. Wenn Sie darauf achten, dass aus den richtigen Töpfen immer wieder ein Mindestmaß (oder sogar mehr) in unsere Kinder investiert wird, können sie später auf ein optimales Gesundheitsguthaben zurückgreifen. Der erste Topf, unsere erste Säule einer gesunden Kindheit, ist die Prävention, dort legen wir das Hauptaugenmerk auf die Vermeidung von schweren Krankheiten.

Leichter gesagt als getan? Nicht wirklich. Denn in den letzten Jahrzehnten hat sich in der Medizin eine Menge bewegt, wir können viele Krankheiten oder ihre Vorstufen frühzeitig erkennen (danke, Vorsorgeuntersuchungen!). Zusätzlich haben Eltern immer mehr Möglichkeiten, in Erste-Hilfe-Maßnahmen geschult zu werden und somit im Notfall besonnen und bedacht zu reagieren. Auch eine kindersichere Umgebung im eigenen Haushalt zu schaffen sowie die Hausapotheke zu bestücken, ist eigentlich nicht weiter kompliziert. Alles steht und fällt mit der richtigen Vorbereitung.

Ein erster elementarer Bestandteil der Prävention ist eine gesunde Schwangerschaft mit ausgewogener Ernährung. Deswegen starten wir gleich mit diesem Thema: dem Anfang aller Anfänge.

Schwangerschaftsvorsorge

Eine Schwangerschaft bringt große Gefühle, Vorfreude und Erwartungen mit sich. Aber auch Ängste und Sorgen begleiten die werdenden Eltern in den ersten neun Monaten. Ist unser Kind gesund? Ist es zu groß oder zu klein? Zu dick oder zu dünn? Ist alles dran, was dran sein soll?

Die Schwangerschaftsvorsorge beschäftigt sich genau damit, sie möchte möglichst viele dieser offenen Fragen beantworten, und leider müssen Sie deswegen ständig in die gynäkologische Praxis. Blut wird abgenommen, Ultraschalluntersuchungen sollen gemacht oder CTGs geschrieben werden – und das, obwohl die meisten werdenden Mütter keine Probleme haben, die über typische Schwangerschaftsbeschwerden hinausgehen. Die einen sehen es positiv und fühlen sich so deutlich sicherer als ohne ärztliche Begleitung, anderen ist es zu viel – big brother is watching you – und sie hätten gern etwas weniger Termine. Viele der Termine können aber auch von der Hebamme des Vertrauens vorgenommen werden. Wie auch immer die Schwangere aber diesen Vorsorgeuntersuchungen gegenübersteht: Darauf verzichten sollte sie keinesfalls.

Denn die Schwangerschaftsvorsorge ist ein Paradebeispiel dafür, wie sinnvoll es ist, die Gesundheit im Auge zu behalten und etwaige Risiken oder Komplikationen für die Schwangere und das Kind so früh wie möglich zu erkennen. Je eher das geschieht, desto zielführender können Behandlungen oder weitere Untersuchungen angesetzt werden.

In Deutschland wird die ärztliche Betreuung einer Schwangeren durch die sogenannten Mutterschaftsrichtlinien geregelt. Sie werden vom Gemeinsamen Bundesausschuss, dem obersten Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzt*innen, Zahnärzt*innen, Psychotherapeut*innen, Krankenhäuser und Krankenkassen, festgelegt und umfassen eine unserer Meinung nach erfreulich umfangreiche Anzahl an Untersuchungen und Terminen von Beginn an.

Doch der Reihe nach. Am Anfang der allermeisten Schwangerschaften steht – ein positiver Schwangerschaftstest. Mit dem Ergebnis im Gepäck suchen die Schwangeren dann in der 4. bis 5. Schwangerschaftswoche (SSW) ihre gynäkologische Praxis auf. Dort erfolgt zunächst die Erstuntersuchung, mit Blutuntersuchungen, eventueller Krebsvorsorge und der Anlage des Mutterpasses.

Der Mutterpass ist ein persönliches Dokument, das die wichtigsten Befunde enthält und die regelmäßige Teilnahme an den Vorsorgeuntersuchungen dokumentiert. Gemeinsam mit dem sogenannten Gelben Heft des Kindes, auf das wir später noch zu sprechen kommen werden, ist es nicht nur der einfachste Weg für den*die Mediziner*in, einen genauen Überblick über die Fakten, Probleme und geplanten Abläufe einer Schwangerschaft zu behalten oder zu bekommen. Es ist beinahe wie ein Sticker-Album, das einem das Leuchten in die Augen zaubert, wenn alle Sticker – oder in unserem Fall eben alle Untersuchungen – komplett sind. Die im Mutterpass verewigten Befunde sind meist auch für medizinische Laien lesbar und mit einer gewissen Dosis gesundem Menschenverstand interpretierbar.

Die einfachste Übung und erste Amtshandlung in der Frauenarztpraxis ist die Bestimmung des Gewichts der Schwangeren. Allein schon die Dokumentation, wie schnell und wie viel eine Schwangere zunimmt, kann eine wichtige Auskunft darüber geben, ob eine Schwangerschaft planmäßig verläuft oder nicht. Zusammen mit dem Allgemeinbefinden, aber auch anderen Hinweisen wie dem Durstverhalten, kann das Gewicht ein erster entscheidender Hinweis sein, ob ein Schwangerschaftsdiabetes vorliegt. Ganz grundsätzlich gibt das Körpergewicht aber auch Auskunft darüber, ob eine Schwangere gut, schlecht oder vielleicht auch übermäßig mit Nährstoffen und Energie versorgt ist.

Neben den regelmäßigen klinischen Untersuchungen in der gynäkologischen Praxis gibt es eine Reihe an Terminen, die eine Blutuntersuchung der werdenden Mutter oder eine Ultraschalluntersuchung des Ungeborenen und der Fruchthöhle vorsehen.

Zunächst werden die Blutgruppe und der Rhesusfaktor der Schwangeren bestimmt, um herauszufinden, ob sie rhesus-negativ ist. Rhesus-negativ zu sein bedeutet im Grunde genommen nichts Schlimmes und ist nicht krankhaft – zum Glück, denn das betrifft immerhin 15 Prozent aller Menschen. Niemand hat deshalb ein erhöhtes Risiko für eine Krankheit oder kann deswegen schlechter Kinder bekommen. Und Sie merken auch gar nicht, ob Sie rhesus-negativ sind. Nicht an der Haarfarbe, nicht an Ihrem Intelligenzquotienten oder an sonst irgendetwas. Es bedeutet lediglich, dass Sie kein Blutgruppenmerkmal D besitzen. Rhesus-positiv heißt hingegen, dass man das Blutgruppenmerkmal D hat – logisch.

Doch warum ist es dann überhaupt so wichtig, diesen Faktor zu bestimmen? Nun, da es bei der Geburt zum Übertritt von kleinen Mengen kindlichen Blutes in den Kreislauf der Mutter kommen kann, ist es problematisch, wenn der Rhesusfaktor der beiden nicht übereinstimmt. Denn plötzlich merkt das mütterliche Blut, dass hier ein unbekanntes Blutgruppenmerkmal, nämlich das D, herumschwimmt. Es wird als fremd erkannt, und augenblicklich beginnt der mütterliche Organismus, es zu bekämpfen. Dazu bildet er Antikörper, die alle Blutzellen mit dem Merkmal D zerstören sollen. Puh, ganz schön gefährlich! Das Kind ist aber zu dem Zeitpunkt ja schon geboren und bekommt von diesem Aufmarsch der Antikörper gar nichts mit. Glück gehabt!

Sollte die Mutter nun aber noch einmal schwanger werden und wieder ein rhesus-positives Kind in sich tragen, so hat sie bereits Antikörper gegen D in ihrem Repertoire. Diese können dann während der Schwangerschaft auf das Kind übergehen und dessen rote Blutkörperchen zerstören, was bei ihm zu einer schweren Blutarmut führen kann. Diese vor allem für das Kind gefährliche Situation kann aber durch eine kleine List verhindert werden: Wenn der Schwangeren vor und nach der Geburt eine kleine Menge Antikörper gegen D von außen, in Form einer Spritze, zugeführt wird, so hält ihr Körper es nicht mehr für notwendig, selbst welche zu produzieren. Die verabreichten Antikörper sind jedoch nicht in der Lage, das Blut des Kindes zu zerstören, und so können beide im Einklang die Schwangerschaft fortsetzen.

Was eigentlich eine schonende und clevere Entschärfung einer potenziell riskanten Situation ist, stößt trotzdem auch immer wieder auf Kritik. Und zwar dann, wenn die Schwangere gar kein rhesus-positives Kind bekommt und die Anti-D-Prophylaxe somit umsonst (aber nicht gratis) war. Antikörper sind nichts anderes als spezielle Eiweiße, die aus menschlichem Blutplasma isoliert wurden. Und immer wenn einem Menschen etwas von einem anderen Menschen verabreicht wird, z.B. eine Bluttransfusion, eine Knochenmarkstransplantation oder eben, wie in diesem Fall, Antikörper, droht als Hauptnebenwirkung eine Unverträglichkeit im Sinne einer allergischen Reaktion. Diese kann sich als Rötung an der Einstichstelle bis hin zu Herzrasen, Luftnot oder sogar als anaphylaktischer Schock zeigen. Es ist also durchaus nachvollziehbar, dass eine solche Maßnahme kritisiert wird, wenn sie nicht notwendig ist. Bis vor Kurzem gab es allerdings gar keine Alternative, da erst nach der Geburt festgestellt werden konnte, welcher Rhesusgruppe das Kind angehört.

Mittlerweile gibt es aber die Möglichkeit, deutlich früher Informationen über die Blutgruppenmerkmale zu bekommen. So kann nun mittels DNA-Analyse des mütterlichen Blutes eruiert werden, auf welche Rhesusgruppe das darin enthaltene Erbgut des Kindes hinweist. Mit diesem mittlerweile häufig angewandten, nicht invasiven Pränataltest (NIPT), der auch bei der Suche nach Chromosomenanomalien und einer Reihe krankheitsverursachender Gene eingesetzt wird, sollte jedoch zumindest bis zur 12. Schwangerschaftswoche gewartet werden.

Es gibt außerdem den sogenannten Suchtest, bei dem nach Antikörpern gegen D geforscht werden kann. Sollten diese bereits in der mütterlichen Blutbahn zu finden sein, kann man sich die Rhesusprophylaxe sparen, weil sie zu spät käme. In dem Fall erfolgt eine besondere und intensivere Überwachung der Schwangerschaft durch die gynäkologische Praxis.

Die weiteren im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge vorgesehenen Blutuntersuchungen betreffen hauptsächlich Infektionskrankheiten. Es wird nach Antikörpern oder Erregern von Röteln, Syphilis, Hepatitis B und HIV gesucht. Wenn einer dieser Erreger oder ein fehlender Schutz dagegen nachgewiesen wird, wird entweder die Krankheit behandelt (Syphilis zum Beispiel mit Antibiotika) oder die Impfung nachgeholt (bei Röteln bei der Mutter, bei Hepatitis B wird das Kind nach der Geburt geimpft) oder besondere Vorsichtsmaßnahmen müssen vor beziehungsweise während der Geburt ergriffen werden (bei HIV).

Eine weitere wichtige Infektionskrankheit ist die Besiedelung des Vaginal- oder Analbereichs mit B-Streptokokken. Diese Bakterien können vor oder während der Geburt auf das Neugeborene übergehen und eine lebensbedrohliche Early-Onset-Sepsis, also eine frühe Blutvergiftung des Kindes, zur Folge haben. Wird die Infektion bei der Schwangeren aber rechtzeitig erkannt, lassen sich die B-Streptokokken gut mit einem Antibiotikum behandeln.

Ultraschall

Die Mutterschaftsrichtlinien sehen aktuell insgesamt drei Ultraschalluntersuchungen im Laufe der Schwangerschaft vor. Grundsätzlich ist bereits ab der 5. Schwangerschaftswoche eine kleine Fruchtblase in der Gebärmutter im Ultraschall zu erkennen, und nur zwei bis drei Wochen später kann man dann sogar schon den Herzschlag des Kindes sehen. Die erste ausführliche und detaillierte Ultraschalluntersuchung sollte zwischen der 9. und 12. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden. Neben der nicht ganz unerheblichen Frage, ob es sich vielleicht um eine Mehrlingsschwangerschaft handeln könnte, steht vor allem die Entwicklung des Kindes bis zu diesem Zeitpunkt im Fokus.

Ein deutlich konkreteres Bild zeigt sich bei der nächsten Ultraschalluntersuchung, zwischen der 19. und 22. Schwangerschaftswoche. Zu diesem Zeitpunkt können bereits einige Organe erkannt und beurteilt werden, wie das Herz, das Gehirn, die Blase und der Magen. Auch ein Großteil der körperlichen Entwicklungsstörungen kann dadurch ausgeschlossen werden. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Diagnostik von angeborenen Herzfehlern durch die sogenannte fetale Echokardiographie gelegt, also einen Ultraschall des kindlichen Herzens.

Und noch aus einem anderen Grund ist dieser Termin für viele werdende Eltern ein besonderes Highlight: In diesen Wochen steigt die Trefferquote, wenn man das Geschlecht des Kindes bestimmen möchte. Aber erwarten Sie sich nicht zu viel. Es kommt kaum vor, dass eine eindeutige und klare Vorhersage gemacht wird. Vielmehr sprechen die Kolleg*innen von »Wahrscheinlichkeiten« und davon, dass es »zu circa 70 Prozent ein Mädchen« ist. Das hat zwei Gründe: Zum einen sehen sich das männliche und das weibliche Geschlechtsteil bei Ungeborenen ziemlich ähnlich, gerade zu Beginn. Sie entstehen ja auch aus der gleichen Zellansammlung, und erst nach und nach entwickelt sich ein Penis oder eine Vagina.

Der zweite Grund ist weitaus profaner: Niemand wird so schonungslos verklagt wie Gynäkolog*innen. Und nur ungern werden die Kosten für das Überstreichen eines rosaroten Kinderzimmers mit himmelblauer Wandfarbe von den Frauenärzt*innen übernommen, die den werdenden Eltern in Woche 17 noch ein Mädchen in Aussicht gestellt haben, obwohl es letztendlich dann doch ein Junge geworden ist.

Beim dritten Ultraschall, in Woche 29 bis 32, werden erneut das Wachstum und die Lage des Kindes, aber auch die Fruchtwassermenge und die Position sowie Größe der Plazenta untersucht. Letzteres kann Aufschluss über eine drohende Unterversorgung des Kindes (Plazentainsuffizienz) geben und unter Umständen Anlass für eine frühzeitige Beendigung der Schwangerschaft durch einen Kaiserschnitt sein.

Die Kombination aus Ultraschall und Blutuntersuchung dient darüber hinaus der Früherkennung von chromosomalen Fehlbildungen, vor allem der Trisomie 21, dem Downsyndrom. Unter Trisomie versteht man, dass ein Chromosom oder ein Teil davon dreifach vorliegt. Die Ursache liegt in einer außergewöhnlichen Teilung von Spermium oder Eizelle. Ein Mensch mit Trisomie 21 besitzt in all seinen Körperzellen somit dreimal das 21. Chromosom. Insgesamt sind somit 47 und nicht wie bei den meisten Menschen 46 Chromosomen vorhanden. Zunächst werden durch die sonografische Beurteilung der Nackenhaut, auch Nackenfalte genannt, erste Hinweise für das Vorliegen überzähliger Chromosomen und damit verbundener Organfehlbildungen gesucht. Die Ergebnisse werden mit der Bestimmung zweier Blutwerte im mütterlichen Blut, namens PAPP-A und freies ß-HCG, in Relation gesetzt. Allein dadurch werden etwa 90 Prozent aller Schwangerschaften mit Chromosomenanomalien identifiziert.

Noch mehr Klarheit über das Vorliegen einer derartigen chromosomalen Fehlbildung liefern direkte DNA-Untersuchungen aus dem mütterlichen Blut. Auch bei diesem Test handelt es sich um den bereits bei der Rhesus-Fragestellung erwähnten NIPT. Vereinfacht gesagt wird mit dieser Variante des Tests untersucht, ob im Blut mehr genetische Bruchstücke des Chromosoms 21 gefunden werden. Dies wäre dann das Indiz dafür, dass es öfter vorhanden ist als andere Chromosomen, nämlich dreifach.

Derzeit wird diese relativ teure Untersuchung nur von der Krankenkasse übernommen, wenn im Rahmen der ärztlichen Schwangerenbetreuung die Frage entsteht, ob eine fetale Trisomie vorliegen könnte, und »die Ungewissheit für die Schwangere eine unzumutbare Belastung darstellt«. So der Wortlaut des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Dieser Fall tritt dann ein, wenn Ultraschall- und Blutuntersuchungen Auffälligkeiten ergeben, wenn die Mutter älter als 35 Jahre ist, bei vorausgegangenen Schwangerschaften mit Chromosomenstörungen oder wenn es solche im familiären Umfeld gab. Auch wenn die Schwangeren große Ängste haben, kann die Indikation für diese Untersuchung gestellt werden. Doch auch diese aufwendigen Tests können keine 100-prozentige Sicherheit geben. Das Ergebnis ist kein klares Ja oder Nein. Ein unauffälliges Testergebnis bedeutet aber, dass eine Chromosomenabweichung so gut wie ausgeschlossen ist. Ein auffälliges Testergebnis ist dagegen ein starker Hinweis dafür, dass beim Kind eine Trisomie vorliegt.

Gewissheit kann letztendlich nur durch eine Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) oder eine Plazenta-Punktion (Chorionzotten-Biopsie) erreicht werden. Durch diese Eingriffe werden die Schwangere und das Kind jedoch einem sehr hohen Stresslevel ausgesetzt. Eine mögliche Folge sind vorzeitige Wehen, und in 0,5 bis 2 Prozent der Fälle kann es sogar zu einer Fehlgeburt kommen. Umgerechnet bedeutet das, dass von zweihundert Frauen, bei denen diese Untersuchung durchgeführt wird, bis zu vier ihr Kind verlieren oder es aber deutlich zu früh zur Welt bringen. Lassen Sie diese Untersuchungen also bitte keinesfalls leichtfertig und ohne starken Verdacht durchführen.

Werden bei einer dieser Vorsorgeuntersuchungen Auffälligkeiten festgestellt, denen genauer nachgegangen werden muss, tritt die Pränataldiagnostik auf den Plan. Dabei kommen spezialisierte Ärzt*innen in spezialisierten Einrichtungen zum Einsatz, die die Schwangeren dann mit spezialisierten Geräten untersuchen. Sehr spezialisiert eben.

Es ist aber auch nicht selten, dass auffällige Befunde, die vielleicht banal klingen mögen, in den letzten Wochen einer Schwangerschaft wieder und wieder kontrolliert werden. Auch das liegt an der Verklagefreudigkeit der Bevölkerung gegenüber der Gynäkologie. Der Grund ist wohl, dass Frauen und Paare (zu Recht oder zu Unrecht, das sei dahingestellt) bei gesundheitlichen Problemen, die erst bei oder nach der Geburt entdeckt werden, meinen, dass diese schon früher hätten bemerkt werden sollen, und dass sie außerdem auf Schadensersatz hoffen.

Die Zahlen sind erschreckend (vor allem für Frauenärzt*innen): Laut einer Studie haben 74 Prozent der Gynäkolog*innen in ihrer Laufbahn bis sie 45 werden schon mit derartigen Versicherungsfällen zu tun gehabt. Ein mögliches Szenario, das immer bedacht werden muss.

Alles in allem sollte eine Schwangere bis zur 32. Schwangerschaftswoche alle vier Wochen einen Termin in der gynäkologischen Praxis wahrnehmen; danach – bei einem unkomplizierten Verlauf – im zweiwöchentlichen Rhythmus.

Dass sich so eine Schwangerschaft innerhalb kürzester Zeit »verkomplizieren« kann, mussten auch Florian und seine Frau mehr als einmal erleben.

Im gesamten Verlauf einer Schwangerschaft, vor allem aber in den letzten Wochen vor der Geburt, kommt es immer wieder vor, dass sich die Gebärmutter zusammenzieht. Hier übt sie sich im wahrsten Sinn des Wortes in der Höchstleistung, die während der Geburt vollbracht werden muss, nämlich darin, das Kind aus der Gebärmutter herauszupressen. Deshalb werden diese Vorgänge auch Übungswehen genannt. Sie sind normal und kein Grund zur Sorge. Treten die Kontraktionen aber über einen längeren Zeitraum und in kürzeren Abständen (mehrmals pro Stunde) auf und sind sie außerdem mit einem unangenehmen Ziehen im Unterleib verbunden, handelt es sich um vorzeitige Wehen, die den Gebärmutterhals verkürzen und sogar den Muttermund, durch den das Kind während der Geburt hindurchmuss, öffnen können.

Genau das passierte in der zweiten Schwangerschaft von Florians Frau. Immer wieder verspürte sie ein leichtes Ziehen, der Bauch wurde hart. Beim nächsten Ultraschall, in der 27. Schwangerschaftswoche, wurde dann eine Verkürzung des Gebärmutterhalses diagnostiziert. Somit drohte plötzlich eine Frühgeburt, das Mädchen wog zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich erst weniger als ein Kilo. Solange aber die Fruchtblase nicht geplatzt ist, versucht man, in einer derartigen Situation eine Frühgeburt zu verhindern.

Eine Möglichkeit, die Geburt hinauszuzögern, ist das Legen einer Cerclage, um den Muttermund bis zur Geburt zu verschließen. Dabei wird unter örtlicher Betäubung oder in Vollnarkose ein Kunststoffbändchen um den Gebärmutterhals geschlungen und zusammengezogen. Sinnvoll ist dieser Eingriff zwischen der 15. und 28. Schwangerschaftswoche. Bei Erfolg (oder wenn die Wehen nicht mehr aufzuhalten sind) wird das Bändchen wieder durchtrennt. Der Nutzen einer derartigen Cerclage wird heutzutage allerdings immer mehr infrage gestellt. Denn auch nach diesem aufwendigen Eingriff ist eine Frühgeburt grundsätzlich möglich. Bei der schonenderen Variante, dem Zervixpessar (hierbei wird eine Silikonkappe zur Stabilisierung des Muttermundes eingesetzt), sind die Daten noch eindeutiger: Dieser beugt einer Frühgeburt laut einer Studie nicht besser vor als eine abwartende Behandlung ohne Pessar.

Bei Florians Frau kam eine andere Methode zum Einsatz, die schonender, weniger invasiv, aber auch sehr mühsam und deutlich langwieriger ist: die Bettruhe. Wochen- und monatelang nur für das Notwendigste die liegende Position zu verlassen, und das mit einem oder mehreren Kindern zu Hause, ist eine logistische und vor allem psychische Herausforderung, wenn nicht sogar ein Ding der Unmöglichkeit. Doch es herrscht grundsätzlich die Meinung, dass sich ein Gebärmutterhals, der sich einmal verkürzt hat, nicht mehr zurückentwickeln, also wieder verlängern wird. Im Idealfall wird deswegen zunächst der verkürzte Status quo gehalten und die Geburt nimmt erst zu einem späteren Zeitpunkt ihren natürlichen Verlauf. Das hat jedoch zur Folge, dass jeder weitere gynäkologische Kontrolltermin ein Bangen um Millimeter wird. So auch bei Florians Frau. Denn je kürzer der Gebärmutterhals, desto kürzer auch die Schwangerschaft.

Heutzutage ist die Bettruhe allerdings nur in Ausnahmefällen wirklich nötig. Denn es gibt auch Risiken in Form von Gefäßverschlüssen (Thrombosen), Knochen- und Muskelschwund und Depressionen. Diese werden in der aktuellsten Leitlinie zur Vorbeugung und Therapie der Frühgeburt explizit angeführt. Stattdessen wird mittlerweile zu körperlicher Schonung geraten, was in der Umsetzung auch deutlich realistischer als die Bettruhe ist. Das bedeutet konkret: keine Anstrengung, keinen Sport, kein Schleppen schwerer Einkäufe – oder ebenso schwerer Kinder. Aber erklären Sie mal einem Zweijährigen, dass Mama ihn jetzt nicht mehr die Treppen hochtragen darf – ein Kraftakt der besonderen Art! Wenn die drohende Alternative jedoch eine Frühgeburt des Geschwisterchens in der 27. SSW ist, werden auch junge, sehr gutmütige Eltern auf einmal zu kompromisslosen Nicht-auf-den-Arm-Nehmern. Als Vater kann man, wie Florian schnell bemerkte, dabei trotz aller Bereitschaft abgemeldet sein, denn je mehr Papa sich anbietet, desto dringender will der kleine Trotzkopf manchmal zur Mama.

Und so ziehen – wenn die Familie das Glück der Tüchtigen ereilt – die Wochen und Monate ins Land, und was anfangs unvorstellbar schien (zweieinhalb Monate Bettruhe!!!), geht auch vorbei. Bei Florians Frau wurde das Bewegungsverbot in der 34. SSW aufgehoben, da bis dahin das Gröbste überstanden und das geschätzte Gewicht akzeptabel schien. Und offensichtlich war die körperliche Schonung tatsächlich dringend notwendig gewesen, denn nur wenige Tage nachdem Florians Frau wieder angefangen hatte, sich normal zu bewegen, setzten nicht mehr zu kontrollierende Wehen ein, und schließlich kam ihre Tochter als Frühchen nach 35 Schwangerschaftswochen zur Welt. Trotz dieser frühzeitigen Niederkunft entwickelte sich das Mädchen aber erfreulicherweise prächtig und sie hat die fehlenden Wochen in Mamas Bauch vorbildlich aufgeholt.

Prävention des Plötzlichen Säuglingstodes

Für Notärzt*innen und Rettungssanitäter*innen kommt es immer wieder darauf an, möglichst schnell und dennoch besonnen zu handeln, im richtigen Moment das Richtige zu tun und so Menschenleben zu retten. Es gibt jedoch eine Situation, in der die aktuellen Grenzen der modernen Medizin besonders drastisch aufgezeigt werden, und das häufig vollkommen unabhängig davon, wie schnell der Notarztwagen mit Blaulicht und Sirene herangebraust kommt: wenn Eltern ihren Säugling leblos im Bettchen vorfinden. Und das ohne jegliche Verletzungen oder Anzeichen, dass etwas nicht stimmt. Es trifft die Beteiligten vollkommen unvorbereitet, weil sich das Kind zuvor meist in einem Zustand von bester Gesundheit befand. Von einem Tag auf den anderen ändert sich das Leben der betroffenen Familie dann radikal. Der Tod eines Kindes ist für viele Menschen das Schlimmste, was sie sich vorstellen können. Findet das Ereignis darüber hinaus im 1. Lebensjahr statt und kann selbst die Medizin den verzweifelten und traumatisierten Eltern keine Erklärung liefern, ist es umso schwerer zu akzeptieren und zu verarbeiten.

Wenn alle möglichen Ursachen ausgeschlossen worden sind, dann sprechen wir vom Plötzlichen Säuglingstod, dem Sudden Infant Death Syndrome (SIDS).

WAS WISSEN WIR ÜBER DIESES EREIGNIS?

Definiert wird der Plötzliche Säuglingstod als plötzlicher Tod eines bisher gesund erscheinenden Säuglings, ohne dass in nachfolgenden Untersuchungen ein medizinischer Grund gefunden werden kann. Der Plötzliche Säuglingstod tritt also meist auf, wenn sich das Kind in einem Zustand völliger Gesundheit befindet. Die zugrunde liegende biologische Todesursache ist meistens ein akuter Sauerstoffmangel (Hypoxie genannt). Um schlussendlich einen Plötzlichen Säuglingstod zu diagnostizieren, dürfen auch post mortem, also nach dem Tod, keine weiteren Anzeichen oder Todesursachen gefunden werden.

Die kritischste Phase für einen Säugling mit dem höchsten Risiko für den Plötzlichen Säuglingstod liegt zwischen dem 2. und 6. Lebensmonat. Grundsätzlich kann er jedoch auch jenseits des ersten Geburtstages noch auftreten.

Unter near-SIDS, also dem Beinahe-Auftreten eines Plötzlichen Säuglingstodes, auch ALTE (apparent life-threatening event; akutes lebensbedrohliches Ereignis) genannt, versteht man einen lebensbedrohlichen Zustand bei Säuglingen, der unerwartet und ohne erkennbare Ursache eintritt. Dieses Syndrom ist durch eine beängstigende Konstellation von Symptomen gekennzeichnet, bei denen das Kind eine Kombination aus Atemstillstand, Farbveränderung, Veränderung des Muskeltonus, Husten oder Würgen zeigt.

RISIKOFAKTOREN

Weil die medizinische Forschung bis heute keine genaue Ursache für das Auftreten des Plötzlichen Säuglingstodes kennt, ist es umso wichtiger, sämtliche Risikofaktoren, die das Auftreten dieses einschneidenden Ereignisses potenziell begünstigen können, so gut wie nur möglich aus dem Familienleben zu eliminieren.

MERKE!

Bekannte und etablierte Risikofaktoren für das Auftreten eines Plötzlichen Säuglingstodes:

90% der Fälle ereignen sich im Schlaf!Schlafen in Bauchlageweiche SchlafunterlageNikotinexposition (Rauchen im Haushalt/Wohnraum)ÜberwärmungVerlegung der Atemwege durch Decken, Kuscheltiere, Schlafen im Elternbett ohne SicherheitsmaßnahmenSIDS bei GeschwisternFrühgeburtlichkeitSchlafen außerhalb des Elternzimmers im eigenen Bett

DAS TRIPLE-RISK-MODELL

Relativ verbreitet ist mittlerweile das sogenannte Triple-Risk-Modell, das für ein Auftreten des Plötzlichen Kindstodes die wahrscheinlich beste Erklärung gibt. In diesem Modell wird davon ausgegangen, dass ein Kind dann ein SIDS erleidet, wenn drei Risikofaktoren aufeinandertreffen: erstens ein externer Stimulus, zweitens eine kritische Phase in der Entwicklung des Kindes und drittens ein besonders vulnerables, also verwundbares, Kind. Ein konkretes Beispiel wäre ein Kind, das im Haushalt Zigarettenrauch ausgesetzt wurde (dadurch vulnerabel ist) und im 3. bis 5. Lebensmonat (kritische Phase) in Bauchlage schläft (externer Risikofaktor). Treffen diese Einzelheiten, die für sich genommen natürlich noch nicht zwangsläufig zum Tod eines Kindes führen, unglücklich aufeinander, ist ein derart tragischer Vorfall möglich.

Auch die ersten Lebenstage sind als besonders kritisch zu betrachten. Alle Beteiligten, sowohl das Kind als auch Mutter und Vater, sind noch sehr erschöpft. Zusätzlich liegen Kinder in dieser Zeit häufig stunden- oder sogar tagelang ausschließlich auf dem Bauch und werden sehr warm eingepackt. Auch diese Kombination kann ohne jegliche Anzeichen zum Plötzlichen Kindstod führen.

PRÄVENTION

Hand in Hand mit dem Wissen um die oben beschriebenen Risikofaktoren geht die Notwendigkeit präventiver Maßnahmen. Um ein Ersticken zu vermeiden, sollten Kinder nicht auf dem Bauch, sondern in Rückenlage schlafen, solange sie das Köpfchen nicht eigenständig heben können. Natürlich kommt im Laufe des 1. Lebensjahres irgendwann der Zeitpunkt, an dem sich das Kind von allein auf den Bauch drehen wird. Es ist dann nicht notwendig, das Kind bei jeder Gelegenheit und sofort nach Gewahrwerden der Lageänderung wieder zurück auf den Rücken zu drehen. Vermeiden Sie Kuscheltiere oder Kissen im Kinderbettchen und verzichten Sie auf sogenannte Nestchen, die das Gitter rund um das Bett auskleiden. Benutzen Sie keine Decke, sondern einen für Größe und Jahreszeit angemessenen Schlafsack. Auch wenn es gut gemeint ist, können diese Gegenstände die Atemwege des Kindes blockieren. Um Überwärmung zu verhindern, achten Sie darauf, dass die Raumtemperatur im Zimmer, in dem das Kind schläft, nicht mehr als 20 Grad beträgt. Im elterlichen Schlafzimmer sollten die Kinder im eigenen Kinderbett oder Beistellbett schlafen. Darüber hinaus trägt Stillen zur Prävention des Plötzlichen Säuglingstodes bei. Wie eine groß angelegte Studie zeigen konnte, haben Kinder, die zumindest zwei Monate gestillt wurden, ein um die Hälfte geringeres Risiko, am Plötzlichen Säuglingstod zu versterben, als kürzer oder gar nicht gestillte Kinder.

EINE UNTERSUCHUNG, DIE GEWISSHEIT BRINGT?

Eine aktuelle Studie, erst wenige Wochen vor Erscheinen dieses Buches veröffentlicht, sorgte in diesem Zusammenhang für Aufsehen. Die Autoren aus Australien fanden heraus, dass die Aktivität eines speziellen Enzyms, der Butyrylcholinesterase, bei Säuglingen, die später an SIDS starben, im Vergleich zu lebenden Kontrollpersonen und anderen Säuglingen, die nicht an SIDS starben, signifikant verringert war. Gemessen wurde die Enzymaktivität in getrockneten Blutflecken, die zwei bis drei Tage nach der Geburt entnommen wurden, also für das Neugeborenen-Screening gedacht waren.

Diese Studie ist die erste, die einen biochemischen Marker bei SIDS-Kindern vor ihrem Tod identifizieren konnte, der sie von Kontrollfällen und anderen Todesursachen unterscheidet.

Ein dramatisches Detail dieser Entdeckung: Die Erstautorin dieser Studie, Dr.Carmel Harrington, verlor im Jahr 1991 ihren eigenen Sohn durch Plötzlichen Säuglingstod. Dieses einschneidende Erlebnis bewegte sie dazu, immer weiter nach einer möglichen Ursache dieses tragischen Ereignisses zu forschen.

Bei einem genauen Studium der Daten fällt jedoch auf, dass sich die Gruppe der gesunden Kinder und derer, die an einem SIDS verstorben sind, bezüglich der Enzymaktivität überschneiden. Es gibt also einerseits gesunde Menschen, die niemals ein derartiges Ereignis erleben, obwohl sie eine verminderte Enzymaktivität aufweisen, und auf der anderen Seite gibt es an SIDS verstorbene Kinder mit normaler Enzymaktivität.

Und wie es in der Allgemeinbevölkerung aussieht, ist noch ungewisser. Dies wirft die Frage auf, ob man die Eltern mit der Diagnose der verminderten Enzymaktivität nicht unnötig verunsichert. Beantwortet werden kann diese Frage wieder mit dem Triple-Risk-Modell, das eben nicht nur einen einzigen Risikofaktor als Übeltäter sieht – auch nicht die Butyrylcholinesterase. Das Enzym macht im Triple-Risk-Modell den Säugling zu einem vulnerablen Kind. Fällt das mit zwei weiteren Risikofaktoren zusammen, kann es zum Plötzlichen Säuglingstod kommen.

Auf den ersten Blick mag der Gedanke naheliegen, dass das Neugeborenen-Screening so schnell wie möglich um dieses Enzym erweitert werden sollte, da es scheinbar einen objektivierbaren Marker für SIDS gibt. Doch so einfach ist es nicht.

1968 legte die WHO die Leitprinzipien für jedes Neugeborenen-Screening-Programm fest. Zusammenfassend wurde entschieden, dass es sich bei den gescreenten Erkrankungen um ein signifikantes Problem mit bekanntem natürlichem Verlauf handeln sollte. Außerdem muss es eine vereinbarte Strategie geben, wer als Patient*in zu behandeln ist, und Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten sollten zur Verfügung stehen. Des Weiteren sollte ein geeigneter, akzeptabler Test existieren und die Kosten der Untersuchung sollten im Verhältnis zu den medizinischen Kosten insgesamt ausgewogen sein.

Gleich mehrere Punkte wären bei einem auf das Enzym abzielenden Screening nicht erfüllt – etwa, dass die gesunde von der erkrankten Bevölkerung klar zu unterscheiden ist. Die Zugehörigkeit zu Ersterer wäre in Bezug auf Menschen, bei denen eine verminderte Enzymaktivität festgestellt werden würde, die aber dennoch kein SIDS erleiden, nämlich der Fall. Außerdem gibt es bisher keinen therapeutischen Ansatz. Auch das ist ein wichtiges Kennzeichen der beim Neugeborenen-Screening untersuchten Erkrankungen. Denn was ist die Konsequenz eines Tests, der ein erhöhtes SIDS-Risiko ergibt? Wird das Kind vor dem Schlafengehen verkabelt und an einen Monitor angeschlossen? Und wenn ja, wie lange? Und was passiert mit der Psyche von Eltern und Kind durch die zahlreichen nachgewiesenermaßen falschen Alarme, die diese Geräte von sich geben und die die Familie möglicherweise in den Wahnsinn treiben?

Den Eltern kann diese Bürde, den kindlichen Schlaf auf diese Weise zu überwachen, nicht auferlegt werden. Auch wenn jede Mama und jeder Papa bei drohendem SIDS, ohne zu zögern, mit Argusaugen über den Schlaf ihres Babys wachen und selbst kein Auge zutun würde, so ist das über einen längeren Zeitraum nicht möglich, ohne dabei die eigene Gesundheit einzubüßen. Wie bereits erwiesen, sind aber auch die technischen Hilfsmittel wie Matratze oder Monitor fehleranfällig.

Und was macht es außerdem mit der Entwicklung der Psyche des Kindes und der Beziehung zwischen Kind und Eltern oder auch Geschwistern, wenn alle Beteiligten monate- oder jahrelang in größter Sorge vor dem plötzlichen Tod leben und sich dementsprechend verhalten? Auch diese Frage müssen wir uns stellen, jetzt, da wir der Ursache für das Auftreten des Plötzlichen Säuglingstodes langsam näherkommen. Wir sind der Meinung, dass wir noch nicht so weit sind, durch die Bestimmung eines Blutwertes angemessen auf das Risiko für den Plötzlichen Säuglingstod zu reagieren. Aber wir sind sicher, dass die moderne Medizin sehr bald eine hilfreiche und umsetzbare diagnostische Strategie entwickeln wird, mit der dieses Ereignis noch seltener auftreten wird als ohnehin schon. Bis dahin gilt es, möglichst alle Risikofaktoren für das Kind zu vermeiden, um dem Triple-Risk-Modell Rechnung zu tragen.

Kinder-Erste-Hilfe – für den Ernstfall vorbereitet sein

Als das dreijährige Kind aufrecht auf der Liege sitzend von mehreren Rettungskräften in die Notfallambulanz geschoben wurde, ahnte noch niemand, welche dramatischen Ereignisse sich nur wenige Minuten zuvor abgespielt hatten. Der Notarzt las die Eckdaten seines Einsatzprotokolls und begann zu erzählen. Der Junge war mit seiner Mutter im Schwimmbad und die beiden kurz davor gewesen, nach Hause zu gehen. In dem Moment, in dem die Mutter die Tasche packte, entdeckte das Kind offenbar einen kleinen Ball, der nahe dem Beckenrand im Wasser trieb. Unbemerkt lief es darauf zu, beugte sich vornüber und fiel in das 90cm tiefe Wasser. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Mutter bemerkte, dass ihr Sohn nicht mehr bei ihr war und sein Körper regungslos unter der Wasseroberfläche trieb. Während sie so laut sie konnte um Hilfe rief, stürzte sie sich in das hüfthohe Wasser und zog ihr Kind an den Beckenrand. Als es nicht auf ihre vehemente Ansprache reagierte, begann die Mutter sofort mit den Wiederbelebungsmaßnahmen. »Zweimal beatmen und dann mit der Herzmassage beginnen. Das habe ich im Erste-Hilfe-Kurs gelernt«, antwortete sie auf die Frage des Rettungssanitäters, noch sichtlich geschockt, aber mit der festen Stimme einer Mutter, die gerade ihrem Kind das Leben gerettet hat.

Das eigene Kind reanimieren zu müssen, gehört sicherlich zu den Ausnahmesituationen des Elternseins. Dennoch: Es reicht ein Sturz mit dem Fahrrad, ein Sprung vom Beckenrand, ein Schluck aus einer Flasche Reinigungsmittel. Oder Sie finden Ihr Kind bewusstlos vor, ohne zu wissen, was genau passiert ist. Ganz unvermittelt könnten Sie sich in einer Situation wiederfinden, die schnelles Handeln und die richtigen Handgriffe erfordert.

Nicht jede (Beinahe-)Katastrophe ist vorhersehbar und nicht auf jede Eventualität können Sie sich vorbereiten. Dennoch gibt es Wissen, das Sie sich im Vorhinein aneignen, und Maßnahmen, die Sie erlernen und üben können. Wer sollte mein erster Ansprechpartner bei Unfällen sein? Wo finde ich rasche Hilfe bei Vergiftungen? Wann muss ein Kind beatmet werden, wann benötigt ein Kind eine Herzdruckmassage? Und in welcher Reihenfolge soll das geschehen?

Das und vieles mehr wird Ihnen in einem Erste-Hilfe-Kurs näher- und beigebracht. Damit Sie im Notfall die Ruhe bewahren, wissen, wie Sie Ihrem Kind rasch helfen können und wie Sie die Zeit bis zum Eintreffen der Profis überbrücken. Dieses Kapitel ist ein Plädoyer für die Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs für Eltern. Denn ALLES ist besser, als nichts zu tun.

Der (Nachhol-)Bedarf ist unter Deutschlands Erwachsenen enorm. Aktuelle Umfragen bescheinigen eine große Unsicherheit in der Bevölkerung. Laut ADAC-Bericht aus dem Jahr 2021 trauen sich nur die Hälfte der Befragten überhaupt zu, Erste Hilfe zu leisten. Das Verhältnis von Herzdruckmassage und Atemspende war nur 10 Prozent der Befragten bekannt!

Dabei müssen in Deutschland jährlich ungefähr 1,8 Millionen Kinder und Jugendliche aufgrund eines Unfalls ärztlich behandelt werden.

Zum Großteil passieren diese Unfälle zu Hause oder im näheren Umfeld (etwa 60 Prozent). Am häufigsten sind Ertrinkungsunfälle und Stürze, gefolgt von Erstickung, Vergiftung und Verbrennungen bzw. Verbrühungen. Und fast bei jedem dieser Ereignisse wäre die erste Person an der Unfallstelle theoretisch in der Lage, mit den richtigen Erste-Hilfe-Maßnahmen wichtige Akzente zu setzen oder eben sogar Leben zu retten.

Auch die Zahlen, die das Deutsche Ärzteblatt dazu veröffentlichte, sind erschreckend. Zwar gab in der Umfrage einer deutschen Krankenkasse die überwiegende Mehrheit an, schon einmal einen Erste-Hilfe-Kurs besucht zu haben, bei einem Viertel der Befragten lag dieser jedoch schon mehr als 20 Jahre zurück. Wahrscheinlich liegt das daran, dass es gesetzlich vorgeschrieben ist, vor der Führerscheinprüfung einen derartigen Kurs zu besuchen. Danach kümmert sich aber kaum noch jemand darum.

Wir sind aber unbedingt der Meinung, dass ein Erste-Hilfe-Kurs vor der Geburt eines Kindes genauso dazugehören sollte wie ein Geburtsvorbereitungskurs. Wir sehen es sogar noch strenger. Ein Erste-Hilfe-Kurs sollte, ebenso wie beim Autoführerschein, obligatorisch sein. Also wie eine Art Kinderführerschein. Das Angebot an Erste-Hilfe-Kursen ist mittlerweile reichlich. Viele Krankenhäuser und Geburtskliniken sowie das Deutsche Rote Kreuz bieten Elternkurse an. Damit können Sie kaum etwas falsch machen. Anders sieht es bei Online-Angeboten aus. Man muss teilweise gar nicht wenig Geld für eine Videodatei bezahlen, die sich als Erste-Hilfe-Kurs on demand bezeichnet. Hier können wir nur zur Vorsicht raten. Die Qualität dieser teilweise nicht von Notfall- oder Kindermediziner*innen angebotenen Kurse mag mangelhaft und das Geld nicht wert sein. Darüber hinaus sind solche Video-Tutorials gerade bei Erste-Hilfe-Maßnahmen, bei denen man »anpacken« muss, einem Kurs in persona immer unterlegen.

Der Erste-Hilfe-Kurs, den die Mutter des Kindes mit dem eingangs geschilderten Beinahe-Ertrinkungsunfall besucht hatte, war sein Geld mehr als wert. Das Kind konnte nach einer kurzen Beobachtungsphase das Krankenhaus unbeeinträchtigt und ohne jegliche Folgeerscheinungen wieder verlassen.

VERSCHLUCKEN

Babys, aber auch ältere Kinder, lieben es, Gegenstände in den Mund zu nehmen und daran zu nuckeln und zu kauen. Der Grund dafür ist einfach: Bei Kindern ist das Fühlen, also der Tastsinn, über Lippen und Zunge weitaus besser entwickelt als über die Finger, und auch das Sehen ist noch nicht die große Stärke kleiner Kinder. So sind sie darauf angewiesen, ihre Umgebung auch mit dem Mund zu erkunden, um sich durch das Ertasten eines Gegenstandes mit Lippen, Zunge und Gaumen ein Bild zu machen. In dieser Phase, die etwa bis zur Vollendung des 2. Lebensjahres dauert, ist die Gefahr besonders groß, dass die Kinder Murmeln, Münzen oder kleine Spielzeugteile, die auf dem Boden liegen, verschlucken oder sogar aspirieren, also in die Luftröhre bekommen. Kann der Fremdkörper nicht mehr weiter hinuntergeschluckt oder wieder herausgehustet werden, kommt es zum Auftreten charakteristischer Anzeichen und Symptome: anhaltender Hustenreiz, Atemnot, ein Pfeifgeräusch beim Atmen und Rot- oder Blaufärbung des Gesichts, weil die Atmung aussetzt.

Ältere Kinder sollten Sie dann, genau wie Erwachsene, zunächst dazu auffordern, den Fremdkörper wieder herauszuhusten. Unterstützend können Sie mehrere Male (bis zu fünfmal) mit der flachen Hand auf den Rücken der vorgebeugten Person schlagen.

Ergibt sich aus diesen Maßnahmen keine Besserung, wählen Sie umgehend den Notruf, beruhigen Sie die betroffene Person, vor allem, wenn es sich um ein Kind handelt, und versuchen Sie in weiterer Folge, mit dem Heimlich-Griff den Fremdkörper zu lösen. Dazu platzieren Sie, hinter der Person stehend, Ihre Faust unterhalb des Rippenbogens. Mit der anderen Hand umfassen Sie Ihre Faust und ziehen diese bis zu fünfmal kräftig nach hinten oben in Richtung Ihrer eigenen Brust.

Aufgrund der Größenverhältnisse ist das Heimlich-Manöver bei Babys und kleinen Kindern so allerdings nicht möglich. Wenn Ihr Kind trotz Aufforderung nicht mehr effektiv hustet, gehen Sie folgendermaßen vor: Säuglinge sollten Sie bäuchlings auf Ihren ausgetreckten Arm legen (Kinder jenseits des 1. Lebensjahres auf den Oberschenkel), den Kopf etwas tiefer positioniert als den restlichen Körper. Dann klopfen Sie bis zu fünfmal zwischen die Schulterblätter des Kindes. Bleiben diese Maßnahmen ohne Erfolg und tritt keine Besserung ein, drehen Sie das Kind auf den Rücken und drücken mit zwei Fingern oder dem Handballen auf die Mitte des Brustbeins. Nur bei Kindern, die älter sind als ein Jahr, können Sie das Heimlich-Manöver durchführen. Tritt hierdurch keine Besserung ein, wechseln Sie die Handgriffe bis zum Eintreffen des Rettungsdienstes ab.

Verliert das betroffene Kind das Bewusstsein, müssen Sie umgehend mit Wiederbelebungsmaßnahmen beginnen.

Dieses Kapitel kann und soll natürlich den Besuch eines Erste-Hilfe-Kurses nicht ersetzen. Deshalb verzichten wir bewusst auf die Schilderung der notwendigen Maßnahmen für das Wiederbeleben.

SCHÄDELPRELLUNG UND SCHÄDEL-HIRN-TRAUMA

Als Florian mit seiner Frau und seinen ersten beiden Kindern mit dem Wohnwagen durch den Südwesten der USA fuhr, passierte es ausgerechnet am höchsten Aussichtspunkt des Grand Canyon: Ihre Tochter, die damals ein Jahr alt war, kippte rücklings aus dem Bett. Mit einem lauten Knall schlug ihr Hinterkopf auf dem Fußboden des Wohnmobils auf. Sie schrie sofort auf und begann zu weinen. Bekanntermaßen gibt es unendlich viele außergewöhnliche Aussichtspunkte am Grand Canyon, aber kaum medizinische Versorgung. Schon gar keine Kinderklinik, die ein Kind mit Schädel-Hirn-Trauma überwachen könnte. Und erst recht keine Neurochirurgie, die bei einer akut aufgetretenen Hirnblutung tätig werden müsste. So mussten Florian und seine Frau als Kinderarzt und Kinderkrankenschwester die Überwachung des Kindes selbst in die Hände nehmen, mit der Camping-Taschenlampe regelmäßig die Pupillenreaktion überprüfen und für die nächsten 24 Stunden eine Glasgow Coma Scale auf Walmart-Rechnungen dokumentieren. Anhand dieser Skala überwacht medizinisches Personal das Ausmaß einer Bewusstseinseinschränkung. Durch Objektivierung von verbaler und motorischer Reaktion sowie dem Augenöffnen kann eine Bewusstseinslage erkannt werden, die es beispielsweise notwendig macht, den Patienten oder die Patientin in ein künstliches Koma zu versetzen.

Doch lassen Sie uns mit dem Grundsätzlichen anfangen. Was verstehen wir eigentlich unter dem in der Überschrift angeführten Begriff Schädelprellung und was ist ein Schädel-Hirn-Trauma (SHT)? Wo liegt der Unterschied zwischen den beiden?

AUF EINEN BLICK Die Glasgow Coma Scale

Zur Abschätzung einer Bewusstseinsstörung von 3 (tiefes Koma) bis höchstens 15 Punkten (vollständig wach).

Punkte

Augen öffnen

Beste verbale Kommunikation

Beste motorische Reaktion

6

spontane Bewegungen

5

Plappern, Brabbeln, Sprechen

auf Schmerzreiz, gezielt

4

spontan

Schreien, aber tröstbar

auf Schmerzreiz, ungezielt

3

auf Anschreien

Schreien, untröstbar

auf Schmerzreiz, Beugereaktion

2

auf Schmerzreiz

Stöhnen oder unverständliche Laute

auf Schmerzreiz, Streckreaktion

1

keine Reaktion

keine verbale Reaktion

keine Reaktion auf Schmerzreiz

Schädelprellung wird definiert als eine Verletzung des Kopfes ohne Funktionsstörung oder strukturelle Schädigung des Gehirns. Was heißt das im Klartext? Eine Funktionsstörung des Gehirns sind beispielsweise ein Bewusstseinsverlust, Erbrechen, Seh-, Hör-, Sprach- oder Bewegungsstörungen, Lähmungen, Wesensänderungen oder Gedächtnisstörungen. Eine Hirnblutung wäre ein Beispiel für eine strukturelle Schädigung des Gehirns. Tritt eines der geschilderten Symptome nach einer Kopfverletzung auf, sprechen wir von einem Schädel-Hirn-Trauma.

Werden anhand der Glasgow Coma Scale 13 bis 15 Punkte erreicht, ist das Kind beinahe unbeeinträchtigt und man bezeichnet das Schädel-Hirn-Trauma als leicht. Ein mittelschweres SHT zeichnet sich ab, wenn das Kind 9 bis 12 Punkte erreicht und alles ab 8 Punkten abwärts nennen wir schweres SHT.