Highway to heaven - Katarina Bivald - E-Book

Highway to heaven E-Book

Katarina Bivald

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Beschreibung

Drei Dinge braucht die Frau: Männer, Motorräder, Macarons.

An ihrem achtzehnten Geburtstag versprach Anette sich drei Dinge, die sie im Leben tun würde: ein Motorrad fahren, ein Haus zu kaufen und sich um sich selbst kümmern. Fast zwanzig Jahre später sieht die Welt ganz anders aus. Sie lebt in einer Mietwohnung in einer schwedischen Kleinstadt mitten im Nirgendwo. Sie arbeitet in einem Supermarkt, in dem der Klang des Kassenscanners sie langsam in den Wahnsinn treibt. Sie kümmert sich um ihre demente Mutter, und ein Motorrad hat sie auch nicht, noch nicht mal einen Führerschein. Aber sie hat ihre Tochter. Als Emma jedoch auszieht, fällt Anette in ein Loch, aus dem nur ihre beiden besten Freundinnen sie herausholen können, und die Arbeit an einem scheinbar unmöglichen Projekt ...

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Zum Buch

An ihrem achtzehnten Geburtstag versprach Anette sich drei Dinge, die sie im Leben tun würde: ein Motorrad fahren, ein Haus kaufen und sich um sich selbst kümmern. Fast zwanzig Jahre später sieht die Welt ganz anders aus. Sie lebt in einer Mietwohnung in einer schwedischen Kleinstadt mitten im Nirgendwo. Sie arbeitet in einem Supermarkt, in dem der Klang des Kassenscanners sie langsam in den Wahnsinn treibt. Sie kümmert sich um ihre demente Mutter, und ein Motorrad hat sie auch nicht, noch nicht mal einen Führerschein. Aber sie hat ihre Tochter. Als Emma jedoch auszieht, fällt Anette in ein Loch, aus dem nur ihre beiden besten Freundinnen sie herausholen können, und ein waghalsiges Projekt …

Zur Autorin

KATARINA BIVALD, Jahrgang 1983, arbeitete 10 Jahre lang in einem Buchladen, bevor sie ihren ersten Roman »Ein Buchladen zum Verlieben« schrieb. Das Buch wurde zum Bestseller und erschien in 24 Ländern. Katarina Bivald lebt in der Nähe von Stockholm.

KATARINA BIVALD

HIGHWAY TO HEAVEN

Roman

Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die schwedische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Livet, motorcyklar och andra omöjliga projekt« bei Forum, Stockholm.
Copyright © Katarina Bivald 2015 Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: Semper Smile, München Covermotive: Semper Smile Satz: Uhl + Massopust, Aalen SL · Herstellung: sc ISBN 978-3-641-21336-7V002
www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlag

A prayer for the wild at heart, kept in cages.

Tennessee Williams

1

Mein Weg in den Wahnsinn beginnt hier und jetzt. Ich sitze in der Diele und rede mit meiner Wohnungstür.

Vor nur wenigen Sekunden ist sie ins Schloss gefallen. Neunzehn Jahre – alles weg mit dem Knallen der Tür, dem unbarmherzigen Klickgeräusch, mit der die Fahrstuhltür aufging und die Reisetaschen über den Boden schrappten.

»Verdammt«, sage ich, sowie ich den Fahrstuhl wieder nach unten fahren höre. Die Wohnungstür hat noch nicht geantwortet.

Ehe ich mich zusammenreißen kann, bin ich auch schon aufgesprungen und stürze durch die Küche auf den Balkon.

»Warte!«, rufe ich und beuge mich über das Balkongeländer. »Verlass mich nicht! Hab ich etwas Falsches gesagt? Ich kann mich ändern. Das verspreche ich, gib mir nur eine Chance!«

Mein plötzlicher Ausbruch lässt das unten vorübergehende Paar nervös aufblicken. Ein Teil von mir denkt: Das ist würdelos. Aber das ist mir egal. Die Gestalt mit den Reisetaschen ist nämlich ebenfalls stehen geblieben und schaut sich um.

»Haha, Mama«, sagt Emma, meine einzige Tochter, das Licht meines Lebens, der Mittelpunkt meines Daseins, die mich nun gerade verlässt. Sie schaut hoch zum Balkon und zu mir, die sie zum letzten Mal erblickt. Ich könnte schwören, dass in ihrem Blick etwas Sehnsuchtsvolles liegt.

Sie sieht aus wie eine toughere Version von mir. Sie hat meine wilde Lockenmähne, aber bei ihr sieht sie frei und abenteuerlich aus, eine Art Verlängerung der Energie, die sie ausstrahlt, immer unterwegs in alle Richtungen.

Jetzt hebt sie die Hände. »Ich bin ja noch nicht mal bis zur Bushaltestelle gekommen.«

»Ich dachte, du hättest dir die Sache vielleicht anders überlegt und möchtest gern Gesellschaft bis Karlskrona?«, sage ich.

»Damit du mich am ersten Tag in die Uni begleiten und aufpassen kannst, dass ich die Bücher nicht vergesse?«

»Warum nicht?«

»Heute ist Sonntag. Du musst morgen arbeiten.«

Ich beuge mich weiter über das Balkongeländer. Die Sonne geht gerade über dem Haus auf der anderen Straßenseite auf, und wenn es nicht der Tag wäre, an dem Emma von zu Hause auszieht, wäre es ein strahlender Sonntag. Und vielleicht ist es noch nicht zu spät.

»Ich brauche Urlaub. Ich habe noch einige Urlaubstage ausstehen.«

»Sicher, und die willst du jetzt ohne Vorwarnung nehmen und den armen Roger beim Arrangieren der Nudelpackungen allein lassen.« Roger ist mein Chef. Er hat klare Ansichten darüber, wie Nudelpackungen im Regal arrangiert werden müssen. Ich kann nicht behaupten, dass mein Leben dadurch einfacher wird.

»Karlskrona soll im August doch phantastisch sein, habe ich gehört«, sage ich.

»Du warst schon mal da. Das Einzige, was Karlskrona zu bieten hat, sind Pflastersteine.«

»Nicht nur Pflastersteine. Europas größter gepflasterter Marktplatz. Tolles Material, solche Pflastersteine. Hab ich immer schon für geschwärmt.«

Inzwischen hat sie ihre Reisetaschen abgestellt und legt sich die Hand an die Stirn, um mich besser sehen zu können.

»Reg dich ab, Mama«, sagt sie. »Bisher hast du dich doch nie so aufgeregt.«

»Ich rege mich nicht auf«, lüge ich hemmungslos.

»Als ich mir das Bein gebrochen hatte, hast du nicht mal mit der Wimper gezuckt.«

Das war anders. Als sie das Bein gebrochen hatte, konnte sie ja nicht weglaufen. Praktisches Material, so ein Gips.

»Da hast du mich nur davor gewarnt, mich in einen Arzt zu verlieben.«

»Du warst fünfzehn. Du hast jeden Tag Emergency Room gesehen. Du warst leicht zu beeinflussen.«

Sie lacht. »Ich geh jetzt, Mama.«

Aber sie bleibt doch noch einen Moment stehen. Ich suche verzweifelt nach etwas, das ich sagen kann, was, weiß ich nicht so recht, aber vermutlich etwas, das ihr den Wunsch einflößt, sich von ihrer Mama an die Uni begleiten zu lassen.

»Warte! Kommst du zu Weihnachten nach Hause?«

»Ha, ha. Bis dann, Mama!«

Es ist klar, dass ich Witze mache. Natürlich mache ich Witze. Sie winkt ein letztes Mal, ein bisschen ungeschickt und unbeholfen, da sie einen schweren Rucksack über der Schulter hat. Sie ist neunzehn Jahre alt, absolut erwachsen und natürlich noch immer ein Kind. Ich selbst bin achtunddreißig und ungefähr genauso reif.

Wenn ihr mich fragt, dann ist es eine wahnwitzige Vorstellung, dass Kinder erwachsen werden und von zu Hause ausziehen. Es ist nicht der Sinn der Sache, dass Kinder allein zurechtkommen. Deshalb haben wir doch Mamas erfunden. Es ist eine Sache, eine alleinstehende Mutter mit Kind zu sein – aber alleinstehende Mutter ohne Kind, das ist vergeudete Frauenkraft.

Ich habe Emma mit neunzehn bekommen, und seit damals waren wir zwei gegen den Rest der Welt.

Ich stelle den kalten Frühstückskaffee unter die Mikrowelle. Dann setze ich mich an den Küchentisch und starre vor mich hin. Mehr Initiative bringe ich nicht auf, während sich die angeschlagene Tasse langsam dreht und dreht.

Meine fünf besten Augenblicke mit Emma, in chronologischer Reihenfolge:

Platz Nummer 5: Als Mama fünfzig wurde und Emma gerade ihre Fragephase (»Mama, warum …«) hinter sich gebracht hatte und in die Wissensphase eingetreten war (»Mama, weißt du …«). Sie trank Saft und aß sieben Sorten Plätzchen und erzählte allen Freundinnen ihrer Oma, wo die kleinen Kinder herkommen. Mama war dermaßen geschockt, dass sie stumm blieb. Ein Erlebnis!

Platz Nummer 4: Als Emma in die erste Klasse ging und zum ersten Mal eine Freundin mit nach Hause brachte. Ich hatte mir schreckliche Sorgen gemacht, dass sie keine Freundinnen finden würde, weil sie so daran gewöhnt sein könnte, mit mir allein zu sein. Deshalb leerte ich aus purer Erleichterung meine Spardose für unerwartete Rechnungen oder traurige Tage. Die Kinder verzehrten eine Überdosis an Bonbons, Eis und Zimtkringeln. Die Mutter der Freundin war leider Zahnärztin, deshalb herrschte bei Elterntreffen wochenlang eine angespannte Stimmung. Ich kann die Mutter noch immer vor mir sehen. Beängstigend sympathisch und mit honigblonden Haaren. Sie hatte wirklich Haare wie Honig, dick und glatt und voller warmer goldener Farbtöne, mit Sicherheit in einem teureren Frisiersalon gefärbt als der in Skogahammar, den ich aufsuche, wenn ich mir etwas Gutes tun will. Das heißt, so ungefähr alle zehn Jahre, ob es nun nötig ist oder nicht.

Nummer 3: Emmas achter Geburtstag. Im Rahmen meiner Mittel konnte ich das berühmteste Geburtstagsfest des Jahres arrangieren, indem ich den pensionierten Nachbarn von nebenan überredete, sich als Père Fouras aus der Fernsehserie »Fort Boyard« zu verkleiden, mir eklige Sachen ausdachte, die man in Plätzchendosen stopfen konnte, und mein Schlafzimmer mit Popcorn füllte, das dann mit Stoppuhr und wildem Geheul ins Wohnzimmer transportiert wurde, wo ein aktueller Disneyfilm wartete. Ich fand noch ein halbes Jahr später an überraschenden Stellen Popcorn, aber das war die Sache wert. Emmas Mama vs. andere Eltern: 1 – 0.

Nummer 3: Emma war dreizehn, ihr Herz wurde zum ersten Mal gebrochen, und sie erzählte es mir. Sie war gerade so unerträglich erwachsen geworden, in dieser Zeit, in der sie nicht wie Kinder behandelt werden wollen, aber das Recht in Anspruch nehmen, sich wie welche aufzuführen. Aber an diesem Wochenende hieß es noch einmal wir gegen den Rest der Welt, und vor allem gegen den Mistkerl, wie er seither genannt wurde.

Und endlich – Trommelwirbel, tadaa und überhaupt – Platz Nummer 1: Als Emma an der Uni angenommen wurde, die Einzige aus der ganzen Sippe, die das je geschafft hat. Wir feierten mit einer Flasche moussierendem Chapel Hill, und Emma erzählte immer wieder, wie es auf der Uni vor sich ging: wann alle da sein mussten, wie man ein Studiendarlehen beantragen konnte, vermutlich, um eher sich als mich davon zu überzeugen, dass sie alles im Griff hatte. Wir hatten einander lange nicht mehr so nahegestanden wie für einige Monate in diesem Frühling und Sommer. Wir suchten eine Wohnung, fuhren mehrmals nach Karlskrona, um uns an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie dort leben würde, und aßen jedes Mal im Fox and Anchor, als ob eine Stammkneipe alles leichter machen könnte. Wir kauften Möbel für die kleine Einzimmerwohnung, die wir dann endlich fanden, und eine komplette Garnitur Teller, Gläser, Bratpfannen und andere Dinge, die ein richtiger Haushalt braucht, sogar ein Bügelbrett und ein Bügeleisen, bei denen Emma lachend versicherte, dass sie sie niemals benutzen würde. Spielt keine Rolle, sagte ich. Das gehört dazu. Man kann nicht erwachsen sein ohne ein Bügelbrett und ein Bügeleisen, die man niemals benutzt.

Die Mikrowelle macht pling,und mir geht auf, dass ich den Kaffee vergessen habe. Inzwischen brodelt er, und der Geruch von verbranntem Kaffee verbreitet sich in der Küche, sowie ich die Klappe öffne. Ich trinke ihn trotzdem, als er abgekühlt ist.

Ich habe nichts mehr zu tun. In den vergangenen Monaten hat sich meine Aufgabenliste nur um Emma gedreht. Wohnung in Karlskrona suchen. Staubsauger kaufen. Vorrat an Staubsaugerbeuteln kaufen. Auch über diesen Punkt hat Emma schallend gelacht, aber nur, weil sie noch nicht weiß, wie frustrierend es ist, die richtigen Staubsaugerbeutel suchen zu müssen. Immer, wenn jemand sagt, dass früher alles besser war, sage ich nur: staubsaugertueten.se.

Und dann ist sie ausgezogen.

Ein kleines Detail, an das ich hätte denken sollen, bevor ich losfeierte.

2

Wenn mein Leben eine Folge von »Auf der Spur von« wäre, dann würde die ungefähr so anfangen: »Wir beginnen unsere Reise zwanzig Minuten vor unserem Endziel.« Die Kamera würde dann ein Vierparteienhaus zeigen, das irgendwann in den vierziger Jahren erbaut worden ist, zu der Zeit, in der alle kleinen Orte glaubten, die Zukunft bestehe aus einer stetigen Expansion. Da die Expansion hier nur aus dem Eisenbahnausbau bestand, könnte die Kamera der inzwischen stillgelegten Bahnlinie folgen, um dann abzubiegen, die Stadtverwaltung mit Arbeitsamt und Zahnärztlichem Zentrum passieren und dann den eigentlichen Ortskern erreichen; eine Reihe aus niedrigen Gebäuden, die früher einmal sehr viel mehr Läden beherbergt haben als heute.

Skogahammar ist die Art von Ort, die keine wichtige Industrie mehr aufweisen kann, seit der schwedische Staat sich mit den Waldfinnen wegen der Brandrodung zerstritten hat (wir hätten schon damals Unrat wittern müssen, was Schließungen und Verlegungen und Bürokratie angeht). Wir haben durch unsere geographische Lage überlebt, da wir in Pendlerentfernung von mehreren inzwischen abgewickelten Industrien liegen. Jetzt sind unsere größten Arbeitgeber die Gemeinde und das Arbeitsamt: Wir überleben mit Hilfe künstlicher Beatmung, die wir uns selbst verpassen.

Vielleicht würde in der Sendung über mein Leben etwas über bekannte Personen gesagt werden, die aus Skogahammar stammen, aber das wäre nicht leicht. Wenn man in Wikipedia unter Skogahammar sucht, dann findet man unter »Bekannte Personen aus Skogahammar«: Tompa Stjernström, Eishockeyspieler, Jocke Andersson, Eishockeyspieler. Sara Andersson, ausgeschieden bei »Schweden sucht den Superstar«. Und Anna Maria Mendez, Bürgermeisterin. Letzteres ist ein Scherz, aber bisher hat Wikipedia es nicht getilgt.

Ich vermute, man könnte auch erwähnen, dass Olof Palme einmal hier war. Das ist das Allerhistorischste, was uns je passiert ist. Alle über vierzig erinnern sich an den Besuch, als wäre es gestern gewesen, auch wenn sich die Informationen über die genauen Details unterscheiden. (»Es war ein strahlender Tag, und damals sah die Zukunft überhaupt strahlend aus«; »grau, das Wetter war grau, wie der Kommunismus, den er in Schweden einführen wollte.«) Emma hat ihre Hausarbeit über den angeblichen Besuch geschrieben und konnte keine Quellen finden, die bestätigten, dass Palme wirklich hier gewesen war. Näher als bei einem Besuch im Bofors Hotel und bei einem offiziellen Besuch in Karlskrona im Wahlkampf ’82 ist er uns wohl nicht gekommen.

Aber wenn er jemals auf der Straße hier vorbeigefahren ist, dann ist davon jedenfalls nichts für die Nachwelt bewahrt worden. So kurz und sinnlos war dieser Besuch, wenn es ihn also gegeben hat.

Und nun nähern wir uns dem Ziel unserer Reise. Wir sehen den Supermarkt Mat-Extra in Skogahammar. Alles ist dunkel, da wir JEDEN TAG um 9 öffnen (außer Weihnachten, Ostern und Mittsommer), aber unser Chef Klein-Roger findet das Schild statistisch gesehen korrekt. Im Durchschnitt öffnen wir jeden Tag. Im Moment werben wir mit Sonderangeboten für Ketchup, Hähnchenkeulen und Grill-Koteletts. Offenbar hat uns noch niemand erzählt, dass der Sommer vorbei ist.

Ich arbeite seit zwölf Jahren hier, fast länger als alle anderen, auch länger als der Chef. Die Einzige, die noch länger hier arbeitet, ist Pia, die mich hergeholt hat, als ich damals einen Job brauchte. Sie hat mit vierzehn bei Mat-Extra angefangen, wenn auch mit einer Unterbrechung von zehn Jahren, um zu heiraten und sich Kinder zuzulegen. Dann landete ihr Mann im Knast. Das kommt in Skogahammar an sich nicht so selten vor, aber er fuhr wegen Steuerhinterziehung ein, und das war eine Sensation. Die meisten von uns verdienen nicht genug, um den Jagdeifer des Finanzamts zu erregen. Also kam Pia wieder zurück. Sie findet, dass im Mat-Extra eine Geborgenheit schenkende Von-der-Wiege-bis-zur-Bahre-Stimmung herrscht. Ein bisschen wie in der schwedischen Staatskirche.

Und wenn ich in »Das ist ihr Leben« mitmachte? Dann könnten sie dasselbe Material verwenden und dazu meine Kollegen und Emma einladen, die auftauchen, während ich die Überraschte spiele. Und Mama natürlich, aber die wird immer verwirrter, und in ihren lichten Momenten würde sie sich sicher nicht zur Mitarbeit bereit erklären. Sie findet, das Fernsehen sei unmoralisch geworden, seit wir das Zweite Programm bekommen haben.

Ich bin achtunddreißig Jahre alt, eine alleinstehende Mutter ohne Kind, arbeite bei Mat-Extra und wohne in dem Ort, aus dem Gott weggezogen ist. Da hast du mein Leben.

Das Gespräch im Personalzimmer an diesem Montagmorgen handelt wie so oft von der Wahrscheinlichkeit, dass Klein-Roger eine stellvertretende Teamleiterin finden wird. Er hat diesen Posten vor zwei Monaten eingeführt, um uns zu »Initiative und Eigenverantwortung« anzuregen. Jede Woche erinnert er uns daran, wie wichtig es ist, »sich auf die Hinterbeine zu setzen« und »die Verkaufsbrille aufzusetzen, ihr Blindschleichen!« (Das hat er zuerst auf einem Inspirationsabend bei Rotary gehört und bringt es seitdem konsequent immer wieder.) Bisher ist Nesrin die Einzige, die mit dem Gedanken an eine Bewerbung spielt, aber das nur, weil ihr Vater dann einen Herzanfall erleiden würde. Er betreibt unseren lokalen Kiosk und hat ihr verboten, bei ihm zu jobben. Er hatte immer schon drei Regeln für ihr Leben: Ausbildung, Ausbildung und Ausbildung, und da lag es doch auf der Hand, dass sie nach dem Abitur ein Sabbatjahr einlegen würde, um hier bei uns zu arbeiten.

Wir sind fünf Vollzeitangestellte und arbeiten vor allem werktags. Außer uns gibt es ungefähr ebenso viele Jugendliche, die am Wochenende und an bestimmten Abenden aushelfen. Wir Vollzeitangestellten sind natürlich überzeugt davon, dass die anderen keine Ahnung haben und viel zu faul für richtige Arbeit sind. »Das will ich ja wohl hoffen«, sagt Pia immer, wenn dieses Thema zur Sprache kommt, was ungefähr jeden Montag der Fall ist. »Es ist schön zu wissen, dass die Jugend weiterhin die richtigen Prioritäten setzt.«

Heute sind alle Vollzeitangestellten zur Stelle und hören Klein-Rogers Brandrede mit unterschiedlicher Begeisterung zu. Mit der Zeit haben wir uns selbst in Gruppen eingeteilt, auf diese lockere Weise, wie das eben so passiert. Ich, Pia und Nesrin streben zueinander, in einer Gruppe, die Pia als »die einzig Vernünftigen, und auch das ist relativ« bezeichnet.

Dann haben wir Klein-Roger und Groß-Roger. Sie haben außer dem Namen und der Tatsache, dass sie Männer sind, eigentlich keine Gemeinsamkeiten, aber das reicht, um sie zusammenzuschweißen. Klein-Roger ist klein und untersetzt, er hat eine nervöse Persönlichkeit, die er durch kleine, passiv-aggressive Sticheleien ausgleicht. Warum er sich einbildet, Chef an einem Arbeitsplatz voller Frauen sein zu müssen, ist ein Mysterium. Er hat keine Chance, unsere Mütter haben uns gegen nervöse Persönlichkeiten und passiv-aggressive Sticheleien abgehärtet, seit wir alt genug waren, um sie zu enttäuschen. Die meisten von uns finden ihn eigentlich in Ordnung, für einen Chef, wohlgemerkt. Pia hat es sich vielleicht zur Lebensaufgabe gemacht, sich mit ihm zu streiten, aber ich bin sicher, es ist freundlich gemeint.

Groß-Roger ist mindestens dreißig Zentimeter größer und vermutlich vierzig Kilo schwerer. Er macht gern Witze, um andere gegen sich aufzubringen, aber da es nichts Böses in ihm gibt, gelingt ihm das nicht besonders oft. Das heißt jedoch nicht, dass er es nicht weiterhin versucht.

Maggan ist eine Klasse für sich. Sie ist fünfundfünfzig, hat im Rahmen eines EU-Projektes hier angefangen und steht voll und ganz auf Klein-Rogers Seite. Ihr Vater war Offizier, was sie im Gespräch überraschend oft erwähnt, deshalb vermute ich, sie ist dazu indoktriniert, sich einzufügen und Befehlen zu gehorchen.

Sie ist zum Beispiel die Einzige, die Klein-Roger gerade zuhört, während er versucht, Pias ewige gemurmelte Kommentare zu übertönen. Ich selbst habe schon mein Handy herausgeholt und klicke mich zu Google durch.

Wenn man »Mit einem Teenager überleben« googelt, bekommt man in null Komma einundzwanzig Sekunden siebenhunderttausend Treffer.

Wenn man »Ohne einen Teenager überleben« googelt, bekommt man rein gar keine praktischen Tipps.

Ich werde meine eigenen Strategien entwickeln müssen, denke ich. Aber was soll man denn eigentlich machen?Aus einem Geistesblitz heraus googele ich »Krise mit 40«, für den Fall, dass mir das irgendeine Inspiration liefern kann, aber auch in diesem Punkt scheint niemand einen guten Rat zu wissen.

Vielleicht gibt es heutzutage keine Krise mit vierzig mehr? Wann soll man sich denn eigentlich jüngere Liebhaber und Cabriolets anschaffen und es mit Solarium und kurzen Röcken übertreiben? Ich versuche es mit »Krise mit 50«, aber Google schlägt »40« vor, und ich stehe wieder auf Los.

»Wie heißt Krise mit vierzig auf Englisch?«, frage ich. Pia sieht mich seltsam an, aber Klein-Roger sagt verdächtig schnell: »Midlife-Crisis.«

Sieh an. Auf Englisch finde ich sehr viel mehr Informationen. Wikipedia hat sogar eine lange Liste über die vielen Ursachen einer solchen Krise. Aber die muntert mich auch nicht weiter auf. Arbeitslosigkeit, Tod der Eltern, verlorene Jugend und herannahendes Alter, die Arbeitsstelle hassen, Kinder, die von zu Hause ausziehen, Wechseljahre und Fremdgehen (bei Letzterem scheinen Symptome und Ursachen in enger Verbindung miteinander zu stehen) sind nur einige der vielen lustigen Dinge, auf die wir in der reiferen Jugend uns einstellen können.

Ich versuche, mir ein freies Leben ohne Teenager vorzustellen, um den ich mich kümmern muss, aber das Einzige, was ich vor mir sehe, ist eine verzerrte Version meiner selbst in einem verzweifelten Single-Sonnen-Urlaub auf Mallorca. Mit oranger lederartiger Haut und einem Gin Tonic in der Hand, während ich versuche, den armen zwanzigjährigen Reiseleiter von Pauschalreisen für Sie anzubaggern.

Ich bin ziemlich sicher, dass Mallorca inzwischen nicht mehr angesagt ist, aber es kann doch nicht sein, dass ich bis nach Thailand reisen muss, um mich hemmungslos zu blamieren.

Wikipedia hat sogar eine Statistik darüber, wie lange die Midlife-Crisis dauert. Bei Männern zwischen drei und zehn Jahren und bei Frauen zwischen zwei und fünf.

Zwei Jahre, denke ich und erbleiche. »Ich werde mir einen Sportwagen anschaffen müssen«, murmele ich.

Wikipedia hat den Artikel mit einem roten Ferrari illustriert.

»Ist nicht zwangsläufig eine Hilfe«, sagt Klein-Roger. »Ich meine … müssen wir nicht mal öffnen?«

Alle Kundinnen, die mich kennen, wissen, dass Emma ausgezogen ist. Sie werfen mir an der Kasse mitleidige Blicke zu und versuchen, mir alle Details zu entlocken. Ich glaube, sie wissen genau, welche Details das sind, ich habe keine Ahnung, aber es ist eine Art Kleinstadtreflex, davon auszugehen, dass sich unter der Oberfläche allerlei Klatsch verbirgt.

»Ja, Emma ist von zu Hause ausgezogen«, sage ich. Und: »Ja, es ist natürlich phantastisch, dass sie einen Studienplatz an der Universität bekommen hat.« Die meisten betonen das U bei Universität ganz besonders, halb misstrauisch, halb andächtig. Und alles zur Begleitung des leisen blip-blip-Geräuschs der Kasse. Ist das alles? Das macht hundertdrei Kronen. Ja, natürlich bin ich sehr stolz auf sie. Eine Tüte? Sie wird Physische Planung studieren.

Physische Planung. Ich weiß nicht einmal, was das ist. Das Gegenteil von Physischer Unordnung, nehme ich an. Die einzige vage Erklärung, die ich finden konnte, ist, dass man später in der Verwaltung arbeitet und dass viele sich mit Baugesetzen beschäftigen.

Es ist eine deprimierende Vorstellung, dass Emma findet, es sei die Sache wert, vier Jahre weit weg von mir zu verbringen, um eine verhasste Verwaltungsbürokratin zu werden.

Nach der Mittagspause gebe ich auf und zwinge Pia, sich an die Kasse zu setzen, während ich an den Gefriertresen umziehe und das tiefgefrorene Gemüse für diese Woche auspacke. Aber es dauert keine zehn Minuten, und dann hat mich Ann-Britt Hedén dort gefunden.

Ann-Britt ist unser Weltgewissen hier in Skogahammar. Jede Art von Bösem versetzt sie in Bestürzung und tiefe Trauer, von der Frau, die einmal in einem Laden des Roten Kreuzes die Tageskasse gestohlen hat, bis zu den Massenmorden im Sudan. Sie ist Vorsitzende des Rotkreuz-Komitees, was im Laufe der Jahre ihr Gesicht dazu gebracht hat, im Ruhezustand auszusehen wie ein trauriger Teddybär.

Sie kann nicht glauben, dass irgendwer es übers Herz bringen könnte, zu einer Sammelaktion für die Überschwemmungsopfer in Bangladesch, die Hungeropfer in Nordkorea, die Kindersoldaten in Uganda, die unfreiwillig Einsamen in Schweden oder die ausgesetzten Katzen von Skogahammar Nein zu sagen. Und die allermeisten unter uns stellen dann auch fest, dass sie dazu nicht imstande sind. Wir sehen deshalb häufiger, dass jemand hinter dem Nudelregal in Deckung geht, wenn sie hier auftaucht, oder hinter dem Lenkrad den Kopf einzieht und plötzlich in eine Nebenstraße einbiegt, wenn sie in der Stadt unterwegs ist.

Aber diesmal bin ich zu zerstreut, um mich verstecken zu können, als sie langsam näher kommt.

Die traurigen Linien in ihrem Gesicht werden sanfter durch das unkompliziert freundliche Lächeln, als sie mich entdeckt.

»Wie traurig, das mit Emma«, sagt sie, als würde sie Kinder, die von zu Hause ausziehen, der langen Liste der unbegreiflichen Grausamkeiten auf der Welt hinzufügen.

Aber sie gibt sich Mühe, mir zuliebe etwas Positives an der Sache zu entdecken. »Ich vermute, du musst so allerlei aussortieren, jetzt, wo Emma ausgezogen ist«, sagt sie. »Ich weiß noch, wie das bei Kristian war. Der Abstellraum! Die Kleiderschränke!« Ihr Blick bekommt etwas Sehnsüchtiges. »Aber du solltest ihre alten Kinderkleider aufbewahren. Du weißt nie, wann sie die brauchen kann.«

»Ich habe sie weggeworfen«, sage ich, und schon habe ich einen Skogahammar-Fauxpas begangen.

»Weggeworfen?«

»Emma hat gesagt, wenn sie mal Kinder hat und ich denen ihre alten Sachen aus den Neunzigern anziehe, wird sie persönlich das Jugendamt alarmieren. Wenn ihre Kinder ihr da nicht zuvorkommen.«

Emma ist in geerbten Kleidern aufgewachsen. Sie weiß, wie das ist.

Aber Ann-Britt hat vielleicht doch nicht unrecht. Für die Frauen in Skogahammar gehört ein Hausputz zu allen großen Ereignissen im Leben dazu. Hochzeit, Beerdigung, Besuch, Kinder – alles führt dazu, dass wir früher oder später auf den Knien liegen und den Fußboden wischen.

Meine eigene Haltung, was Putzen angeht, hat bisher darin bestanden, dass ich mir Bonuspunkte für alle unangenehmen Dinge gebe, die ich erledigen muss. Ich greife zur Strategie der Flug- und Bahngesellschaften und verschönere die Zahlen ein bisschen. Staubsaugen gibt 27 000 Bonuspunkte, Staubwischen 43 000 und Kleiderschränke aussortieren 57 000 (nie erreicht). Der Ehrlichkeit zuliebe sorge ich dafür, dass ich ungefähr so viel für meine Bonuspunkte bekomme, wie es bei SAS oder SJ gibt. Einen zusätzlichen Kaffee an einem trägen Samstagmorgen: 14 000 Punkte. Süßigkeiten am Freitag oder Samstag: 27 000. Süßigkeiten an einem Werktag: 39 000.

Aber jetzt werde ich mich an den Hausputz machen können. Es gibt wirklich zu viele Wochenenden und Abende in diesem Leben.

Und danach kann ich immer noch die Kleiderschränke durchsehen.

Das Telefon klingelt nicht.

Das hat es den ganzen Tag noch nicht getan, aber da hat mich wenigstens die Arbeit abgelenkt. Sobald ich nach Hause komme, klingelt es auf eine viel intensivere Weise nicht, ein stetiges, aufdringliches Schweigen.

Das Telefon ist ein iPhone 4, Emmas altes. Emma hat es mir geschenkt, als sie zum Geburtstag das 4S bekommen hatte, und seither brauchte ich mir nie mehr stundenlang den Kopf darüber zu zerbrechen, wie dieser Schauspieler hieß, in dem einen Film, dessen Titel mir gerade nicht einfällt. In einer Welt, in der es so viel Unsicherheit gibt, tröste ich mich damit, dass immerhin Google da ist, wenn man Gewissheit braucht.

Bis jetzt. Jetzt hole ich das Telefon nur heraus, um mich abermals davon zu überzeugen, dass ich keinen Anruf von Emma verpasst habe, oder weil ich denke, ich müsste sie anrufen und ihr etwas erzählen, ich weiß nur nicht so recht, was. Ich musste mich schon mehrere Male in letzter Sekunde daran hindern.

Ich bleibe in der Diele stehen und mustere die Wohnung, als wäre sie plötzlich ebenso fremd und sinnlos geworden wie das Telefon. Und doch hat sich eigentlich gar nichts geändert.

Sogar die Sonne scheint wie sonst auch und wirft ein gemütliches Licht auf die Möbel von Ikea.

Ich habe jahrelang darum gekämpft, die Wohnung genauso aussehen zu lassen, wie ich sie haben will, ein Monument zu Ehren Ikeas, eine Huldigung an die schwedische Massenproduktion. Im Wohnzimmer stehen ein naturfarbenes zweisitziges Sofa vom Typ Karlstad und eine gelbgrüne Chaiselongue Kivik, beide nach einem von zahllosen Besuchen bei Ikea in Örebro als Sonderangebot übers Internet gekauft. Auch die Küche lebt ganz und gar im Geiste Ikeas: Mein gesamtes Porzellan stammt von dort, wie auch Bratpfannen, Kochtöpfe und Messer. Der Küchentisch ist ein weißer Bursta, auszieh- und gut abwischbar, mit passenden Stühlen.

Es gibt nichts hier, das komplizierte Pflege oder häufiges Staubwischen erfordert, ein absolut bewusster Protest gegen die Wohnung, in der ich aufgewachsen bin. Die hatte genug dunkle, auf Glanz polierte Flächen, alte gusseiserne Pfannen und jahreszeitlich wechselnde Vorhänge, um eine durchschnittliche Hausfrau fünfzig Jahre lang zu beschäftigen.

In meiner und Emmas Wohnung ist das anders. Ich habe Wichtigeres zu tun als zu putzen, dachte ich, als ich mir endlich eigene Möbel leisten konnte. Ich habe vor, eine gute Mutter zu sein und mich meiner Tochter zu widmen, statt sie auszuschimpfen, weil sie vergessen hat, einen Untersetzer auf den Tisch zu stellen, sagte ich mir. Ein bisschen Chaos ist doch auch charmant.

Und diese gemütlichen Beweise sind noch immer vorhanden. In Emmas Zimmer steht eine halb leere Kaffeetasse, auf ihrem Boden liegen die Kleider ziemlich systemlos herum, und zu meinen Füßen in der Diele finde ich eine Jacke, die sie unmittelbar vor ihrem Aufbruch doch nicht mehr wollte.

Ich stelle mir vor, dass eine einsame Überlebende in Pompeji sich nach dem Vesuvausbruch so gefühlt haben muss, als der Alltag auf ewig in einer Art widerlicher Parodie auf Leben und Bewegung zum Stillstand gekommen war.

Ich bücke mich und hebe die Jacke auf, dann streichele ich sie ein bisschen, ehe ich sie auf einen Kleiderbügel hänge. Ich vermute, dass es der Jacke ungefähr so geht wie mir. Verlassen und unter leichtem Schock, weil sie sich plötzlich allein in der Diele wiederfindet.

Inzwischen hat Emma den ersten Tag in Karlskrona verbracht. Ich habe keine Ahnung, was sie gemacht hat. Lebensmittel eingekauft? Die Uni besucht? Offiziell beginnt das Semester am Mittwoch, aber vielleicht gibt es auch jetzt schon irgendwelche Aktivitäten. Es ist eine unbegreifliche Vorstellung, dass sie ein ganz neues Abenteuer ohne mich angefangen hat.

Ich greife wieder zum Telefon. Mein Finger zögert bei ihrem Namen. Ich habe schon zweimal angerufen. Und sie ruft nicht zurück.

Reiß dich zusammen, Anette.

Wild entschlossen gehe ich mit dem Telefon in die Abstellkammer und verstecke es ganz weit hinten.

Um sie anzurufen, muss ich mich jetzt an den Tüten mit den Pfandflaschen vom Sommer, dem Staubsauger, dem Wischmopp und dem Karton mit den Comics vorbeikämpfen.

Dann schaue ich mich wieder um und erfasse vermutlich zum ersten Mal, was Hausfrauen vermutlich wissen, seit es Waschmaschinen und Fertigprodukte gibt: dass es im Leben beängstigend viel Zeit gibt, und dass Staubsaugen weniger gefährlich sein kann, als den Alltag an ein Kind zu hängen, das groß wird und von zu Hause auszieht.

3

Pia und ich stehen an der Laderampe und rauchen, genau unter dem Rauchen-Verboten-Schild. Nach einer schweigenden Übereinkunft ignorieren alle Angestellten dieses Schild. Die Müllcontainer stehen nur einige Meter weiter, man muss also rauchen, um es hier über längere Zeit auszuhalten.

Wir dürfen eigentlich nicht zusammen Pause machen, aber Klein-Roger ist zu einem Rotary-Lunch, und was er nicht weiß, kann er uns nicht vorwerfen.

Es ist ein wunderbar strahlender Spätsommertag, nur die Laderampe liegt im Dauerschatten. Der Ausblick auf die Container und den leeren Parkplatz muntert mich nicht nennenswert auf.

Ab und zu glaube ich, dass ich nur rauche, damit sich der Ladengeruch nicht in meine Haut einfrisst. Es ist eine Art trockene, eingesperrte Luft, bei der die Kopfschmerzen oft hinter der nächsten Ecke auf der Lauer liegen. Das Rauchen hält sie gerade noch unter Kontrolle. Und es vertreibt die Zeit.

Meine besten Momente hier bei der Arbeit sind die Stunden, in denen ich fast vergesse, dass ich arbeite, und alles automatisch und unbewusst zu geschehen scheint. Vermutlich wäre das Leben leichter, wenn man das Gehirn ganz ausschalten könnte. Zur Arbeit gehen, das Gehirn auf Stand-by schalten und dann nach der Fernbedienung suchen und es wieder einschalten, wenn man die Arbeitskleidung abgestreift hat.

Aber wenn ich mein Gehirn auf Stand-by schalten könnte, dann frage ich mich, wann ich es wohl wieder aktivieren würde. Vielleicht hätte ich dann nur ein rotes Lämpchen, um mitzuteilen, dass etwas, das man nicht benutzt, dennoch vorhanden ist und wartet.

Ich erzähle Pia von dieser Überlegung.

»Großer Gott, ja«, sagt sie. »Wenn ich wie ein Zombie herumlaufen könnte, wären mein und Klein-Rogers Leben viel einfacher. Ich könnte sogar an der Kasse sitzen und Rentner freundlich behandeln.«

Ich ziehe an der Zigarette. Der Beton ist kühl und rau an meinem Rücken.

»Glaubst du, dass andere schon auf den Trick gekommen sind und ihn nur nicht verraten wollen?«, fragt Pia jetzt. »Also, dass sie das Wissen von einer Generation an die nächste weiterreichen, während wir anderen uns noch immer den Kopf darüber zerbrechen? Das würde so einiges erklären.«

Die Tür neben uns wird geöffnet, und wir zucken beide zusammen. Dann wechseln wir einen ziemlich dämlichen Blick, weil es nur Nesrin ist. Trotz unseres ganzen Geredes darüber, dass wir Klein-Rogers Vorschriften ignorieren wollen, sind wir doch der Ansicht, dass das hinter seinem Rücken besser geht.

»Habt ihr euch ohne mich davongeschlichen?«, fragt Nesrin.

»Du rauchst doch nicht«, sagt Pia.

»Das ist ja wohl keine Entschuldigung. Maggan will an der Kasse abgelöst werden, und warum soll ich ganz allein da sitzen, wenn Klein-Roger gar nicht hier ist?«

Wir zucken mit den Schultern, drücken unsere Zigaretten aus und gehen mit Nesrin zurück in den Laden.

»Worüber habt ihr ohne mich gesprochen?«, fragt sie, als sie hinter der Kasse sitzt und wir neben ihr stehen.

Ich erzähle ihr von meiner Vorstellung, dass das Gehirn wie ein Fernseher funktioniert, aber ehe ich beim Stand-by-Knopf angekommen bin, ruft Nesrin: »Das wäre doch supercool! Einfach den gewünschten Kanal einstellen und dann dort leben.«

Ich schiele zu Pia hinüber.

Sie sagt: »Genau«, als ob wir das die ganze Zeit gemeint hätten.

»Welche Serie würdet ihr euch aussuchen?«, fragt Nesrin.

»Game of Thrones«, sagt Pia wie aus der Pistole geschossen. »Fünf Tote vor dem Mittagessen. Klein-Roger wird dramatisch enthauptet, ehe wir auch nur geöffnet haben.«

Nesrin sieht ein wenig beunruhigt aus. Sie nimmt noch immer einiges von dem, was Pia sagt, total ernst, und folglich ist sie oft geschockt.

»Und als wen siehst du dich selbst?«, frage ich neugierig.

»Daenerys Targaryen. Stell dir vor, wie schön es wäre, wenn ich den Leuten meine Drachenbabys auf den Hals hetzen könnte!«

»In welcher Serie würdest du gern leben, Anette?«, fragt Nesrin,

»Gilmore Girls«, antworte ich. »Kaffee in großen Pappbechern, bezaubernde Schals und eine Tochter, die zu Hause wohnt, obwohl sie aufs College geht.«

»Du bist doch zum Heulen«, sagt Pia. »Und du brauchst ein Leben. Heute Abend in der Schnapsküche?«

»Was hast du denn an den Gilmore Girls auszusetzen?«, frage ich.

»Das ist eine nette Serie«, sagt eine Kundin, die plötzlich hinter uns aufgetaucht ist. Sie lächelt wie eine überenthusiastische Vorschullehrerin und ist ganz in Lila gewandet: Lila Filzhut, lila Hose, wogender lila Pullover. Pia sieht aus, als sei ihre Meinung soeben bestätigt worden, und Nesrin und ich wirken wahrscheinlich vor allem nervös. Aber falls die lila Frau den Kommentar gehört hat, Leuten Drachen auf den Hals zu schicken, dann zeigt sie das nicht.

»All men must die, but we are not men!«, sagt Pia. »Das gilt sicher auch an dieser Kasse hier.«

Die Schnapsküche ist die größte Kneipe in Skogahammar. Sie trug im Laufe der Zeiten die Namen Lokal, Ecke (nach ihrer geographischen Lage an der Ecke des Marktplatzes) und Grüne Kuh (weil der vorige Besitzer auf eine eher moderne und surrealistische Wortwahl setzte. Das hat sich aber nicht rentiert.). Offiziell heißt sie nun Skogahammar Bar und Küche, vermutlich soll das etwas informativer sein als der alte Name, aber das hat sich rasch geändert, als Pia anfing, den Laden Schnapsküche zu nennen. Was, wenn ich mir das jetzt überlege, schließlich auch informativ ist.

Der Name hat sich im Laufe der Jahre zwar verändert, aber Einrichtung und Musik sind dieselben. Dunkle hartlackierte Tische, Holztäfelung und Plastikblumen auf jedem Tisch, in dem verzweifelten Versuch, wie ein Restaurant auszusehen.

Es ist halb sieben, und Pia, Nesrin und ich sitzen an unserem üblichen Fenstertisch. Pia und ich trinken hier so ungefähr einmal pro Woche ein Bier, und Nesrin schließt sich an, wenn sie nichts Besseres vorhat.

Aus den Lautsprechern strömen gemischte Hits der Neunziger, wie seit zwanzig Jahren, und an einem Tisch hinten in der Ecke lösen zwei Rentner Kreuzworträtsel. Es ist durchaus möglich, dass sie auch schon seit den neunziger Jahren hier sitzen. Zwischen ihnen steht eine halbe Karaffe Wein, und sie tragen Stirnlampen, um im trüben Licht besser sehen zu können.

»Ich begreife nicht, dass Klein-Roger glauben kann, eine von uns würde sich auf die Stellvertreterstelle bewerben«, sagt Pia.

Er war erfüllt von neuer Inspiration von seinem Rotary-Lunch zurückgekommen und schien fest entschlossen, bei seinem Personal irgendeine Art von Ehrgeiz zu entfachen.

»Da müsste man doch total bescheuert sein«, sagt Pia jetzt.

Ich trinke einen Schluck Bier und warte auf weitere Erklärungen. Ich kenne sie lange genug, um zu wissen, dass welche folgen werden. Wir haben uns vor einigen Jahren angefreundet, als ihr Mann im Knast gelandet war und ich ihre Söhne einige Male zum Essen eingeladen hatte. Das reichte aus, schon nahm Pia mich unter ihre Fittiche. Pia ist unerschütterlich loyal. Sie ist zudem blondiert, trägt das ganze Jahr über zu kurze Röcke und hat nach einem Leben mit Kettenrauchen und, vermutlich, Whisky eine heisere Whiskystimme.

Nesrin ist erst seit dem Sommer dabei. Sie ist mit Emma befreundet und betrachtet uns als eine Art Bonusmütter. Nesrin und Pia haben fast keine Gemeinsamkeiten. Sicher, beide sehen sich »Schweden sucht den Superstar« an, aber Nesrin tut das, weil sie sich um alle dort Sorgen macht und vor allem denen zujubelt, die gerade herausgevotet worden sind. Pia hätte am liebsten einen Platz in der Jury, sie findet Alexander Bard ein bisschen feige.

Pia redet weiter, aber es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Plötzlich muss ich mich einfach umblicken und sehe ein, wie oft ich schon an genau diesem Tisch gesessen und dieselben Rentner mit der Stirnlampe und dieselben jungen Typen am Spielautomaten gesehen habe.

Ich hatte nie vor, immer in Skogahammar zu bleiben. Und auf eine Art habe ich auch nicht das Gefühl, geblieben zu sein. Emma war irgendwohin unterwegs, seit sie Laufen gelernt hat. Vielleicht habe ich mir einfach eingebildet, Emma und ich seien so vollständig miteinander verbunden, dass ich auf irgendeine wundersame Weise nach Karlskrona teleportiert werden würde, nur, weil sie dorthin gezogen ist.

»Stellvertretende Teamleiterin, Unterchefin, nenne es, wie du willst – das ist die neue Frauenfalle«, erklärt Pia. »Vor siebzig Jahren haben wir ihnen die Hemden gebügelt und uns um ihre Kinder gekümmert. Jetzt tun wir das auch noch und sollen dazu den Großteil ihres Chefjobs übernehmen. Das Einzige, was sie behalten, sind Lohn, Titel und Rotary-Lunch.«

»Ich muss meinem Leben eine neue Richtung geben«, sage ich.

»Ist es nicht der erste Schritt, sich eins zuzulegen?«, fragt Pia.

Nesrin nickt energisch. »Empty nest syndrome«, sagt sie. »Darüber habe ich im Internet gelesen.«

»Das ist ein Mythos«, erklärt Pia voller Überzeugung. Ich frage mich in Gedanken, was sie gemacht hat, als ihre drei Jungen von zu Hause ausgezogen sind.

Ihnen einen Tritt versetzt, vermute ich. Pia ist so eine, die weiterhin ihre Frikadellen selbst herstellt, auch wenn sie nur für sich kocht. Einmal hat sie gesagt, das Kochen werde nur besser, wenn man keine drei Gierschlünde vollstopfen müsste. (»Die schlingen das Essen unzerkaut herunter und fallen dann aufs Sofa und warten auf die Verdauung.«)

Ich hatte mir an diesem Morgen sieben tiefgefrorene Fertiggerichte, einen Karton Eier und fünf Tomaten gekauft. Das sollte für eine Woche reichen.

»Die Forschung zeigt, dass Frauen glücklicher werden, wenn die Kinder von zu Hause ausziehen. Sie fühlen sich wohler, sind glücklicher und haben besseren Sex.«

»Ich bin Single«, werfe ich ein.

»Dein Sexualleben kann also auch nur besser werden.«

»Vor langer Zeit hatte ich einmal Träume«, sage ich.

Genauer gesagt, drei. Komisch, dass ich seit Jahren nicht mehr daran gedacht habe. Ich habe alle an einem einzigen Abend entwickelt. Ich war achtzehn, es war Sommer, und ich war auf einem Freiluftfest irgendwo zwischen Skogahammar und Karlstad. Ich weiß nicht mehr genau, wann im Sommer das war, aber es war so spät, dass Traubenkirsche und Flieder schon verblüht waren, und so früh, dass die Luft noch immer abends kühl war und erfüllt von den Versprechen des frühen Sommers von Abenteuern und Leichtigkeit. Ein Radio brachte rauschend gemischte Hits aus der Zeit, als U2 noch nicht gefunden hatten, was sie suchten, und Roxette auf Erfolg gebürstet war.

Ich versuche, mich so zu sehen, wie ich damals aussah: Haare, Kleider, Gesicht, aber das Einzige, was vor meinem inneren Auge auftaucht, ist ein Bild von Emma, verkleidet in Achtzigerjahre-Klamotten. Ich hatte zerfetzte Stonewashed-Jeans, die kaum noch zusammenhingen, und darunter eine schwarze Netzstrumpfhose. Ich weiß noch, dass ich den ganzen Tag damit verbracht hatte, die Jeans zu schleifen, um genügend viele Risse und Löcher zu bekommen. Meine Oberschenkel waren rot von der Reibung des Sandpapiers, aber es war so dunkel, dass niemand das sehen konnte.

Und an diesem Abend versprach ich mir drei Dinge, von denen ich sicher war, dass sie mich glücklich machen würden.

»In dem Sommer, in dem ich achtzehn geworden bin«, sage ich, und Pia und Nesrin sehen durchaus interessiert aus, auch wenn Nesrin offenbar auszurechnen versucht, wann ich wohl so jung gewesen sein kann. »Da habe ich mir drei Dinge versprochen, die mich im Leben glücklich machen würden. Erstens, ich würde mein eigenes Haus haben …«

»Du wohnst zur Miete«, fällt Pia mir ins Wort.

Das Haus war nicht so wichtig, denke ich. Es ging vor allem darum, dass meine Eltern in einer Wohnung lebten, durch einfache Evolution würde ich in einem Haus wohnen.

»Ich würde Motorrad fahren.«

Mein damaliger Freund hatte ein Motorrad. Ich kann mich noch immer an unseren ersten Auftritt erinnern. Drei Lagerfeuer brannten schon, und schlanke und gutaussehende Menschen bewegten sich dazwischen. Ich stieg von der Maschine, als ob ich in meinem Leben noch nie etwas anderes getan hätte, und meine toupierte Frisur hatte die kurze Tour unter dem Helm überlebt.

»Cool«, sagt Nesrin.

»Du hast ja nicht mal den normalen Führerschein«, sagt Pia.

»Und ich wollte allein zurechtkommen«, sage ich triumphierend über meinen dritten Traum.

Pia ist sprachlos.

»Das habe ich immerhin geschafft«, sage ich.

»Du hast seit der Jahrtausendwende kein richtiges Date mehr gehabt, also kann man das wohl sagen.«

Ich sehe Pia und Nesrin an. Sie sind meine besten Freundinnen. Sie können mir bei dieser Sache wirklich behilflich sein. »Ich brauche neue Träume«, sage ich. »Ich brauche etwas zu tun.«

Und sie sind natürlich mehr als bereit, sich an der Suche nach konstruktiven Lösungen zu beteiligen.

»Als Erstes musst du jeden Gedanken daran aufgeben, allein zurechtzukommen«, sagt Pia. Sie klingt so ernst, dass ich einen Kugelschreiber hervorsuche und die Hand nach einer Serviette ausstrecke, um alle Vorschläge notieren zu können.

Sie beugt sich vor und zeigt auf die Serviette. »Schreib: Vögeln.«

Ich erstarre mit erhobenem Kugelschreiber.

»Mit mindestens zehn Typen«, fügt sie hinzu.

»Großer Gott, im ganzen Ort gibt es doch keine zehn Typen zum Vögeln, mal ganz zu schweigen davon, ob die überhaupt mit mir vögeln wollen oder nicht.«

»Ach, du bist einfach zu wählerisch. Du kannst Skogahammars Oberschlampe werden. Krall sie dir alle.«

Das schreibe ich nicht auf.

Nesrin ist ernst, aber ungefähr eine ebenso große Hilfe. »Oder dir ein Hobby zulegen. Was macht dieser komische Kerl mit dem Schlapphut?« Das ist einer unserer exzentrischeren Stammkunden.

»Briefmarken«, sage ich düster. »Er ist davon überzeugt, dass er damit reich werden wird, deshalb bewahrt er alle Briefmarken auf, die er im Papierkorb am Postschalter findet.« An einem kleinen Schalter im Mat-Extra betreiben wir nämlich die Poststation von Skogahammar.

»Eine sexbesessene Briefmarkensammlerin?«, fragt Pia.

»Oder vielleicht irgendein Handwerk?«, redet Nesrin unangefochten weiter. »Das machen derzeit doch unendlich viele. Du kannst Schals für den Winter stricken, oder … Kreuzstich! So kleine Bilder mit Sinnsprüchen. Du kannst dir selbst aussuchen, was da stehen soll. Vielleicht was Motivierendes aus einem Selbsthilfebuch, dann kannst du an was Schönes denken, wenn du das Bild ansiehst. Es gibt wirklich viele gute Selbsthilfebücher.«

Das hätte sie nicht sagen dürfen.

»Das ist die neue Frauenfalle«, sagt Pia.

»Ich dachte, das wäre Unterchefin?«, frage ich.

»Das hängt zusammen. Ich sehe das so: Alle Frauen sind neurotisch und außerdem strohdoof. Wenn wir jung sind, vergeuden wir Stunden an unser Aussehen, und später heiraten wir einen Taugenichts. Wo bleibt denn da die Logik?«

»Es gibt auch Männer, die auf ihr Aussehen achten«, sagt Nesrin.

»Klar, in Stockholm. Die sind auch neurotisch.«

Da können wir nicht widersprechen.

»Und Selbsthilfebücher sind nur ein Teil von alldem. Jetzt sollen wir auch innerlich neurotisch sein. Sie verwandeln Menschen in verrückt lachende Idioten, die auf Facebook Bilder von Blumenwiesen und Tierjungen teilen, während sie durch das Leben wandeln und manisch vor sich hin murmeln: Erster Tag vom Rest meines Lebens, erster Tag vom Rest meines Lebens, Veränderung kommt von innen, Veränderung kommt von innen. Nein, es ist verdammt noch mal nicht der erste Tag vom Rest eures Lebens. Es ist so ungefähr Tag 5 475 von Spülen und Putzen in deinem Leben. Und ihr könnt ja versuchen, eure Innereien nach dem Feng-Shui-Prinzip umzustellen, ihr werdet schon sehen, wie gut das tut. Es ist genau dieselbe Art von Idiotie, die Frauen glauben lässt, dass sie immer davon geträumt haben, die ganze Arbeit zu machen und nichts von der Ehre abzukriegen.«

»Na gut, könnten wir uns kurz auf mich und meinen Mangel an Träumen konzentrieren?«, frage ich, aber in diesem Moment kommt die Kellnerin mit der nächsten Runde Bier, da wir uns dem Ende der ersten nähern. Sie hat Pias letzte Worte gehört.

»Ich habe versucht, mein Zimmer nach Feng-Shui umzuräumen«, sagt sie munter. »Aber alle meine Blumen sind eingegangen«, fügt sie hinzu und verschwindet mit unseren leeren Biergläsern.

»Ich habe einmal von einer Frau gelesen, die eine Wunschtafel mit ihren Träumen gemacht hat«, sagt Nesrin und merkt nicht einmal, dass Pia sie ungläubig anstarrt. »Sie hat daran Bilder von allen Träumen befestigt, die sie von ihrem Leben hatte.«

Eine Traumtafel also, denke ich. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie ich eine zusammenstelle.

Stattdessen nehme ich die Serviette, lege sie auf mein Knie und schreibe alle Träume auf, die mir einfallen, während Pia und Nesrin fröhlich weiterplappern.

»Eines der Bilder stellte eine glückliche Familie vor einem Haus dar«, sagt Nesrin. »Und als sie einige Jahre später die Traumtafel fand, entdeckte sie, dass sie in genau diesem Haus wohnte. Es war dasselbe Haus!«

»Das glaube ich gern«, sagt Pia. »Mit genau demselben Mann und denselben Kindern wie auf dem Bild. Ihr Unterbewusstsein war ihren Träumen gefolgt, hatte sie auf Facebook gefunden und stalkte den Mann dann, bis er sich von seiner armen Frau trennte, die jetzt allein in einer Mietwohnung haust, mit der Traumtafel als einziger Gesellschaft.«

»Nein, so war das überhaupt nicht.«

»Und ohne ihren Hund. Sogar der war derselbe wie auf dem Bild!«

Ich massiere mir diskret die Schläfen, während Pia und Nesrin sich in eine lange Diskussion darüber stürzen, ob Frauen eher Selbstwertgefühl oder Selbstvertrauen brauchen. Am Ende des zweiten Bieres sind sie noch immer nicht fertig.

Es ist ein ganz normaler Dienstag in meinem Leben. Abgesehen davon, dass das Einzige, was in meiner Wohnung auf mich wartet, ein tiefgefrorenes Bauernfrühstück von Findus ist.

»Noch ein Bier?«, frage ich.

4

Autsch.

»Oh verdammt!«

»Mama, ist alles in Ordnung?«

»Ja, sicher, es ist bloß …«

»Was macht denn da solchen Krach?«

»Die leeren Flaschen, die umkippen. Warte mal.«

Ich bücke mich und versuche, die Colaflaschen mit dem Fuß zusammenzuschieben, während ich das Telefon zwischen Schulter und Ohr klemme, ehe ich aufgebe und darüber hinwegsteige.

»Wo bist du denn überhaupt?«

»In der Abstellkammer.«

Ich werfe die herausgekullerten Flaschen hinein und schließe ganz schnell die Tür. Eine zusammengeknüllte Papierserviette fällt aus meiner Tasche, und ich bücke mich automatisch und hebe sie auf.

»Warum bist du in der Abstellkammer?«

»Ich … ich wollte saubermachen.«

»Ist alles in Ordnung?« Sie klingt wirklich besorgt. »Ich habe gesehen, dass du angerufen hast. Ich war schon eingeschlafen, deshalb konnte ich nicht zurückrufen.«

Ungefähr beim vierten Bier kam mir eine ganz hervorragende Idee. Jetzt, am Tag danach, kommt mir der Verdacht, dass sie vielleicht doch nicht so brillant war, wie ich dachte. Aber ich nehme in Gedanken Anlauf und sage: »Allerheiligen«, mit allem Selbstvertrauen, das ich aufbringen kann.

Das war mir eingefallen: Warum haben wir nicht Thanksgiving importiert? Wir haben doch die meisten anderen Feste eingeführt. Wir haben verdammt noch mal Halloween übernommen!

In den USA müssen die Kinder zu Thanksgiving nach Hause kommen. Ein Wochenende im November wäre total perfekt. Nach den Sommerferien, vor Weihnachten. Wir können doch Indianer und Mais ehren, statt mit Gespenstern und scheußlichen Kostümen zu feiern die haben wir schließlich schon zu Ostern. Und da fiel mir Allerheiligen ein.

»Allerheiligen?«, wiederholt Emma. Ihre Stimme hört sich seltsam an.

»Ich finde, wir sollten das zusammen feiern. Wie früher, Hamburger statt Pizza.«

Wir essen fast immer Pizza, wenn wir uns Essen holen, außer zu Allerheiligen. Dann sind Hamburger angesagt, obwohl die Pommes schon weich und teigig sind, wenn wir nach Hause kommen. Das ist eine Tradition. Eine Zeitlang haben wir mit chinesischem Essen experimentiert, aber das hat sich niemals durchgesetzt.

»Es ist Ende August«, sagt Emma.

»Der Herbst kommt schneller, als man denkt.« Ich zögere. »Und es war doch nett, oder? Mit den Hamburgern?«

Schweigen.

»Und sonst?«, frage ich. »Wie ist Karlskrona? Du musst anrufen und erzählen, wie die Semestereröffnung war und dein erster Studientag. Hast du schon andere aus deinem Semester kennengelernt?«

»Mama, warum machst du an einem Mittwochvormittag in der Abstellkammer sauber?«

Ich starre die verschlossene Tür an. Ich werde sie jetzt nicht aufmachen können. »Das war nötig«, sage ich.

»Du brauchst ein Hobby.«

Was mich an etwas erinnert. Ich falte die Papierserviette auseinander, in einer Art verzweifelter Hoffnung, dass gestern Abend ein kluger Plan für mein Leben aufgetaucht ist. Das ist er nicht. In kaum leserlicher Schrift steht dort: Haus kaufen.

Mir fallen nicht einmal neue Träume ein.

Weiter steht auf der Liste: Daten. Komisches Hobby zulegen, so was wie Briefmarkensammlung. Kreuzstich lernen. Motorrad anschaffen. Feng-Shui lernen. Speisekammer ausräumen.

Ich habe sogar Briefmarken und Kreuzstich aufgeschrieben. Ich sollte wohl dankbar sein, dass ich Pias »zehn Typen vögeln« weggelassen habe. Nicht, dass »daten« so viel glaubwürdiger wäre.

Ganz unten steht »mich annehmen und ein unmögliches Projekt durchführen«. Wenn ich dumm genug wäre, zu daten anzufangen, könnte ich beides gleichzeitig abhaken .

»Ich spiele mit dem Gedanken, den Motorradführerschein zu machen«, sage ich. Das müsste sie zum Schweigen bringen. Ich merkte schon, dass es eine schlechte Idee wäre, Kreuzstichbilder mit Motivationssprüchen zu erwähnen.

Emma lacht nur. »Klingt nach einer phantastischen Idee«, sagt sie. »Dann kannst du irgendeinen süßen Biker aufreißen.«

Sieh an, das lässt sich mit dem zweiten Punkt auf meiner Liste verbinden. »Hier wird niemand aufgerissen«, erkläre ich energisch. »Ich werde allein zurechtkommen und mir ein Haus kaufen.«

Sie lacht wieder. Dann schweigen wir eine Weile, während ich nach etwas suche, das ich sagen kann. Plötzlich fügt sie hinzu: »Hamburger wären nett. Ich komme aber bestimmt vorher nach Skogahammar.«

Ha!, denke ich. Sieg.

»Mach das, wenn es sich ergibt«, sage ich großzügig.

Allerspätestens zu Allerheiligen. Das wird doch supereinfach. Das sind höchstens noch zwei Monate. Kein Problem.

Überhaupt kein Problem.

»Ruf an und erzähl, was aus der Motorradsammlung wird«, sagt sie und legt auf.

Phantastisch. Ich greife zum Stift und schreibe auf die Serviette mit großen dicken Buchstaben quer über alle meine jämmerlichen Vorschläge und Träume: Bis Allerheiligen überleben. Ich füge hinzu: Und Emma nicht auf die Nerven gehen.

Dreißigtausendvierhundertundzehn Stunden. So viel beschäftigungslose Zeit bleibt mir noch im Leben. Das ist eine relativ einfache Rechnung, die ich an der Kasse erledige. Angenommen an jedem Werktag habe ich sechs freie Stunden, wenn ich Schlaf und Arbeit abgezogen habe. Sechzehn Stunden pro Tag am Wochenende, wenn man optimistisch ist und davon ausgeht, dass man acht der vierundzwanzig Stunden des Tages verschläft.

Insgesamt macht das siebenundfünfzigtausend beschäftigungslose Stunden pro Woche. Das Jahr hat zweiundfünfzig Wochen, aber sicher kommt Emma über Weihnachten nach Hause, macht zwei Wochen, und im Sommer vielleicht vier. Das macht zweitausendsechshundertzweiundzwanzig Stunden pro Jahr, aber man darf nicht vergessen, dass sie versprochen hat, vor Allerheiligen nach Hause zu kommen. Ich ziehe vier Einzelwochenenden pro Jahr ab und erhalte die schon vernünftigere Zahl von zweitausendvierhundertvierundneunzig Stunden pro Jahr.

Wie viele beschäftigungslose Tage und Jahre liegen vor mir? Ich fühle mich versucht, bis zu meinem Tod zu rechnen, aber dann fällt mir ein, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass Emma irgendwann in der Zukunft eigene Kinder haben wird.

Dann würde sie zumindest anrufen. Und sei es nur, weil sie eine Babysitterin braucht. Sie könnte in eine Wohnung neben meiner ziehen und später, wenn ihre Kinder groß werden, würde ich mich heimlich ins Fäustchen lachen. Und dann könnten wir auf dem Balkon sitzen und Kaffee trinken und über Kinder jammern, die von zu Hause ausziehen.

Aber ich will natürlich nicht, dass sie schwanger wird. Das steht ganz oben auf der Liste meiner Befürchtungen, seit sie so alt war, dass ich keine Angst mehr zu haben brauchte, sie könnte in der Schule schikaniert werden. Ich hoffe wirklich, dass die Sache mit den frühen Schwangerschaften jetzt nicht mehr in der Familie liegt. Mama spricht an sich dagegen. Sie und Papa haben spät geheiratet und mich spät bekommen, und ich bin ziemlich sicher, dass sie nie Sex hatte, bevor sie ihn kennengelernt hat. Wenn es mich nicht gäbe, würde ich bezweifeln, dass sie überhaupt jemals Sex hatte.

Aber sagen wir, in fünfzehn Jahren. Dann könnte ich mir Enkelkinder vorstellen. Und dann landen wir bei der schlichten Summe von dreißigtausendvierhundertzehn Stunden.

Da kann ich doch gleich loslegen und die erste abarbeiten, denke ich.

Meine Rechenaufgabe beschäftigt mich den ganzen Mittwoch weiter, aber am Tag darauf bin ich so verzweifelt, dass ich sogar mit dem Gedanken spiele, Emmas Vater anzurufen.

Er heißt Adam Andreasson, und wir haben in einem Frühling Anfang der neunziger Jahre einige Nächte miteinander verbracht. Ich dachte keine Sekunde an eine feste Beziehung mit ihm, als ich schwanger wurde, und er war sehr erleichtert, als er das hörte. Aber wir hatten doch ab und zu Kontakt. Emma hatte eine Papa-Phase, als sie so um die sieben war und ihr aufging, dass die meisten ihrer Freundinnen einen Papa hatten. Danach kam er pflichtschuldig zu einigen Treffen, ehe die Phase ein Ende hatte. Auch darüber war er offenbar sehr erleichtert; inzwischen war er anderweitig verheiratet. Heute haben sie zwei Kinder und wohnen in Örnsköldsvik. Wir schicken uns keine Weihnachtskarten.

Am Freitagnachmittag bricht mir beim bloßen Gedanken an ein einsames Wochenende der kalte Schweiß aus. Es hilft nichts, dass ich jetzt genau weiß, wie viele Stunden ich hinter mich bringen muss. Emma hat zweimal angerufen, einmal, um von der Semesteranfangsfeier zu erzählen, und dann, um zu sagen, dass es eine Art Anfangstreffen für den ganzen Kurs gab und dass die anderen nett zu ihr waren.

Es ist gerade fünf vorbei, und ich sitze auf der Bank im Umkleideraum und versuche, mich so langsam wie möglich umzuziehen. Ehe ich auch nur den Arbeitskittel ausgezogen habe, kämpft Pia sich bereits in ihre Strumpfhose. »Wollen wir am Wochenende irgendwas unternehmen?«, frage ich.

»Die Jungs kommen zu Besuch«, sagt Pia. Sie besitzt immerhin den Anstand, ihr Gesicht nicht zu verziehen. »Meinst du, ich werde fett?«, fügt sie hinzu, vermutlich, um mich von der Ungerechtigkeit des Lebens abzulenken.

Ich schaue nicht einmal auf. »Du weißt, dass ich diese Frage niemals beantworten werde, oder?«, sage ich müde.

»Heute musste ich hochhüpfen, um in meinen Rock zu kommen. Ich glaube, der ist seit dem letzten Mal eingelaufen.«

Ich massiere meine Schläfen. »Pia, du hast immer zu enge Röcke. Und wenn du beim Anprobieren nicht hüpfen musst, kaufst du sie erst gar nicht.«

»Das stimmt natürlich«, gibt sie zu.

»Hast du vor, wieder mit Sport anzufangen?«, frage ich misstrauisch. Ungefähr alle vier Monate beschließt Pia, von nun an ins Fitness-Studio oder zum Schwimmen oder zum Yoga zu gehen, und dann ist sie sauer und übellaunig, bis sie aufgibt und zu Alkohol und Zigaretten zurückkehrt. Pia sagt immer, sie habe früher die Kurven an den richtigen Stellen gehabt, und jetzt habe sie die Kurven überall.

»Wieso denn? Glaubst du, ich habe das nötig?«

»Bitte, kein Sport.«

»Werden sehen«, sagt sie unheilschwanger. »Birgitta war heute hier und hat Lightprodukte gekauft. Sie probiert eine neue Diät aus. Mit Sport, sagte sie und klang so selbstzufrieden wie immer.«

»Das geht vorüber«, tröste ich. Birgitta hält mit ihren Diäten nie länger durch als Pia mit dem Sport.

»Wenn sie schlank und hübsch wird, geb ich mir die Kugel. Hast du vor, dich heute noch mal umzuziehen?«

Ich ziehe den Kittel aus und streife langsam meinen normalen Pullover über. Ich bin ungefähr auf halbem Wege, als Nesrin hereinschaut.

»Ich gehe mal davon aus, keine von euch hat Lust, meine letzte Schicht zu übernehmen? Ich hab ein Date.«

Ich hebe die Hand wie ein eifriges Schulkind, das die Antwort auf eine Frage weiß. Leider habe ich den Pullover noch nicht richtig an, und er schiebt sich vor mein Gesicht. »Ich, ich, ich!«, sage ich und bekomme dabei Stoff in den Mund.

»Großer Gott, du brauchst wirklich ein Leben«, sagt Pia, aber Nesrin strahlt und stürzt davon, um Klein-Roger über diese Veränderung im Arbeitsplan zu informieren.

»Warum nicht?«, sage ich. »Das sind vier Stunden weniger. Das bedeutet, dass vom Wochenende nur noch achtundzwanzig beschäftigungslose Stunden übrig sind.«

Pia sieht mich verständnislos an.

»Verdammt, ich hab vergessen, den Freitagabend mitzurechnen. Das bedeutet also dreiunddreißig Stunden.«

Pia legt mir die Hände auf die Schultern und schaut mir tief in die Augen, um sicher zu sein, dass ich verstehe. »Anette«, sagt sie, überraschend freundlich, »ich sage das hier als deine Freundin.«

Ich nicke.

»Du bist armselig. Leg dir ein Leben zu.«

5

Nie, nie wieder.

Montagmorgen, und ich bin eine halbe Stunde früher als nötig bei der Arbeit, lange, ehe Klein-Roger mit den Schlüsseln und dem Code für die Alarmanlage auftaucht.

Und ich musste ja gewaltig mit mir kämpfen, um nicht schon um sieben hier zu sein.

Ich stehe an der Laderampe und bin erfüllt von einer neuen Entschlossenheit. Nie wieder will ich so ein Wochenende erleben, und wenn ich Dates mit zehn Typen absolvieren oder mit Kreuzstichstickerei anfangen muss. Schon am Samstag hatte ich die Wohnung geputzt, sogar Emmas Zimmer.

Das war ein Fehler.

Den ganzen Samstagabend und Sonntag stand es da und verspottete mich mit seinem glänzenden leeren Fußboden, dem totalen Fehlen von herumliegenden Gegenständen und Kleidern, seinen staublosen Flächen und seiner offenkundigen Leere.

Ich schaue mich verstohlen um, wie vor einem Verbrechen, und hole mein Telefon heraus.

Erster Tag vom Rest deines Lebens, denke ich. Erster Tag vom Rest deines Lebens. Erster Tag …

Dann googele ich die Telefonnummer und gebe sie ein, ehe ich mir die Sache anders überlegen kann.

Die Stimme am Telefon klingt entschlossen und kommt sofort zur Sache. »Willkommen bei Skogahammars Fahrschule. Ingeborg hier. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich brauche ein Leben«, erkläre ich.

Schweigen.

»Da kann ich Ihnen nicht helfen. Wollen Sie Auto oder Motorrad fahren?«

Ich schlucke. »Motorrad«, sage ich. »Unbedingt Motorrad.«

Wir verabreden eine Schnupperstunde, und ich verspreche, bis dahin die Erlaubnis für einen Führerschein zu beantragen. Und meinen Ausweis mitzubringen.

Als ich auflege, geht mir auf, dass ich gar nicht nach den Kosten gefragt habe, aber das spielt keine Rolle. Eine Stunde kann ich mir doch wohl gönnen. Es ist ja nur eine Schnupperstunde. Weitere Stunden brauche ich gar nicht zu nehmen. Ich will nur wissen, dass ich eine einzige, total wahnsinnige und unmögliche Sache versucht habe, einfach nur, weil ich Lust hatte.

Ein Autoführerschein wäre ja sogar gut. Den könnte ich zu erwachsenen, reifen Dingen benutzen wie Großeinkauf und Umzugshilfe. Aber Motorräder. Motorräder sind sündhaft und überflüssig und so erlösend unpraktisch.

Die Laderampe hat sich schon ein wenig verändert. Es ist derselbe Beton, dieselben zusammengefalteten Pappkartons, derselbe vertraute Geruch von Haushaltsabfällen, aber dennoch hat sich alles auf eine ungreifbare Weise verwandelt.

Ich habe etwas getan, von dem ich keine Ahnung habe, wo es enden wird, und das ist ein phantastisches Gefühl.

In der Mittagspause am nächsten Tag schleiche ich mich zum Optiker, um einen Sehtest zu machen.

Das ist eigentlich das Einzige, was für die Führerscheinerlaubnis nötig ist.

Ohne mich auch nur einmal getroffen zu haben, kann die Verkehrsbehörde dann entscheiden, dass ich geeignet zum Fahren von etwas bin, mit dem man Menschen töten kann. Sicher, ich muss einige Prüfungen ablegen, um das allein tun zu dürfen, aber bis ich es gelernt habe, ist es absolut erlaubt, dass ich draußen auf den Straßen übe.

Sind denn nicht ohnehin schon zu viele Irre da draußen motorisiert unterwegs? In unserem sicherheitsbewussten Land müsste doch irgendwer die Sache etwas schwerer für sie machen? Müsste die Verkehrsbehörde nicht mit mir reden wollen, mich interviewen, mich schon jetzt über die Vorfahrtsregeln ausfragen?Und in den ersten zweihundert Stunden eine Art Auto- oder Motorradsimulator verwenden?

Ulla-Carin arbeitet beim Optiker. Sie hat kurze und dunkelrote, sichtlich gefärbte Haare. Viele von uns in Skogahammar glauben nicht an natürliche Farbtöne oder diskrete Strähnchen. Einerseits kann unser Friseur nur blonde Strähnchen, und sogar die fallen oft platinblond und fast schon weiß aus, andererseits haben wir nie begriffen, wozu es gut sein soll, zum Friseur zu gehen oder uns die Haare zu Hause zu färben, nur, um natürlich auszusehen. Wie soll denn dann jemand wissen, dass wir so viel Zeit und Energie in unsere Haarfarbe gesteckt haben?

Ulla-Carin trägt zu den dunkelroten Haaren ein hellrotes Brillengestell, eine Uhr aus lila Plastik an ihrem sonnenverbrannten Arm und einen hellroten Lippenstift in einem Farbton, der im übrigen Schweden seit den siebziger Jahren nicht mehr gesehen worden ist.

Sie zieht ein Schild hinter der Kasse hervor und stellt es auf den Tresen. »Sehtest läuft. In zehn Minuten zurück«, steht darauf.