16,99 €
Hilda Ihben wächst auf einem Bauernhof in Ostfriesland auf. Das Leben der Erwachsenen auf dem Hof ist gekennzeichnet durch andauernde schwere Arbeit, die wenig ertragreich ist, und ein Gefühl der Hoffnungs- und Ausweglosigkeit. Mit ihren zehn Jahren hilft Hilda bereits auf dem Hof mit und ist immer um die Anerkennung der Eltern bemüht, die sie allerdings kaum wahrnehmen, außer als kostenlose Hilfskraft. Ein verhängnisvoller Unfall mit einem Zuchtbullen verändert das Leben aller Bewohner des Hofes drastisch. Hildas Vater verlässt den Hof, um in einer Reha-Klinik zu lernen, mit seinen neuen Umständen zurechtzukommen. Hilda nimmt an einem Zeichenwettbewerb eines Einkaufszentrums teil, in der Hoffnung, den Hauptpreis zu gewinnen und ein wenig Freude in das Leben ihrer Familie zu bringen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 385
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2025 novum publishing gmbh
Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt
ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0127-8
ISBN e-book: 978-3-7116-0128-5
Lektorat: Mag. Eva-Maria Peidelstein
Umschlagfoto: Monja Bohlen
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Einleitung
Meine Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten, wie sie in meinem eigenen Leben bzw. meiner Familie geschehen sind. So steckt ein wenig von mir in Hilda, aber auch in Anni. Die psychische Erkrankung, die ich Hilda zugeschrieben habe, ist meine eigene Erkrankung. Vieles, was Hilda und ihre Familie in ihrem Leben auf dem Hof erlebten, sind Erlebnisse, wie sie mein eigener Ehemann in seiner Jugend auf dem elterlichen Hof machte, aber auch Ereignisse aus der Zeit, seit ich in den Hof meines Mannes hineingeheiratet habe. Mir war und ist es ein großes Bedürfnis, dem Leser nahezubringen, wie anstrengend, zeitraubend und oft undankbar das Leben auf einem Milchviehbetrieb ist. Auch ein wenig von mir steckt in Tina, der es als Landwirtsfrau ermöglicht ist weiterhin im eigenen Beruf arbeiten zu können und daher nicht das Bild abgibt wie es schon seit je her war und auch weiterhin sein sollte. Ich bin seit jeher leidenschaftliche Leserin, es ist seit Langem mein Traum, ein eigenes Buch zu schreiben, und die jetzige Vollendung dieses Traumes macht mich ungemein glücklich.
1.
Hilda betrachtete das kleine Kätzchen, das sich hungrig über die Schüssel mit frisch gemolkener Kuhmilch hermachte. Sie hatte die Milch vorher sorgfältig und mit höchster Achtsamkeit nichts zu verschütten in die kleine Porzellanschüssel gefüllt, die nun das Objekt der Begierde dieses kleinen Wesens wurde. „Hilda, was kauerst du hier faul auf dem Boden herum? Sieh zu, dass die Kälber gefüttert werden!“ Die schrille Stimme der Mutter ließ beide ruckartig in Deckung gehen, Kind sowohl als auch Kätzchen. Hilda sprang wortlos auf und rannte hinüber zur Milchkammer, der Schreck dieser lautstarken Attacke rief sie zur Flucht. „Faules Ding!“, hörte sie die Mutter noch rufen. Während Hilda nun die zwei schweren Milchkannen, die vom Vater zuvor mit frischer Kuhmilch befüllt worden waren, auf den alten Bollerwagen wuchtete, um sie rüber zum Kälberstall zu bringen, dachte sie traurig an den Streit der Eltern, den es am Morgen wieder einmal gegeben hatte. Es war die tägliche, nicht enden wollende Arbeit auf dem Hof, die Versorgung der Tiere, die nun im Sommer hinzukommende Arbeit auf den Feldern. Es raubte den Eltern die Lebensqualität, so hatte Sinas Mutter es Hilda erklärt. Sina war Hildas beste Freundin und die zwei gingen gemeinsam in die vierte Schulklasse der Grundschule im kleinen Wohnort der beiden. Sinas Familie, dazu gehörten die Eltern und der drei Jahre ältere Bruder Sven, lebten auch auf einem Bauernhof. Doch da gab es noch den Andi, der Sinas Familie bei der Hofarbeit half, und auch Sinas Großeltern lebten und arbeiteten mit auf dem Hof. Vielleicht war das auch der Grund, warum Sinas Mutter in ihrem Beruf arbeiten gehen konnte. Hildas Mutter behauptete zwar immer wieder in abfälligem Ton, Sinas Mutter sei zu faul, um im Stall mitzuarbeiten, aber Hilda war überzeugt, dass dies nicht der Fall war. Sinas Mama war überhaupt nicht faul, im Gegenteil, Hilda bewunderte immer wieder aufs Neue das herrlich ordentliche und saubere Haus der Familie, und das Beste überhaupt war, es gab keine Fliegen im Haus; es war Hilda ein Rätsel, wie Sinas Mutter es schaffte, diese lästigen kleinen Insekten außerhalb des Hauses zu halten. In ihrem eigenen Elternhaus gehörten diese kleinen Störenfriede im Sommer zum Alltag dazu und Hilda war jedes Mal beinahe froh, wenn der Sommer sich langsam dem Herbst neigte und die kältere Jahreszeit diesen Plagegeistern den Garaus machte.
Nun beobachtete Hilda das kleine Kälbchen, das genüsslich am Nuckel saugte und hungrig die noch warme Milch genoss. Die Kälbchen wurden gleich nach der Geburt von der Mutterkuh getrennt, damit sie sich gar nicht erst daran gewöhnen konnten, am Euter zu trinken. Danach wären sie nämlich sehr schwer an den Nuckel des Nuckeleimers zu gewöhnen. Heute früh waren es acht Kälbchen, die es zu versorgen galt. Hilda liebte es, die süßen Kälber zu versorgen. Sie wollte natürlich ihr Möglichstes tun, um die Stimmung der Eltern wieder etwas zu heben, und da war jede Arbeit, die zur Zufriedenheit erledigt war, natürlich ein Vorteil. Außerdem versprach es heute ein wunderbarer Tag zu werden. Es war zwar Sonntag und Sonntage waren in ihrem Zuhause generell keine guten Tage. Sonntags war die Laune der Eltern immer noch etwas schlechter: Da hieß es immer, Sonntag hin oder her, bei uns ist eh jeder Tag gleich. Doch heute waren sie, Hilda und Sina, eingeladen zur Geburtstagsfeier der Zwillinge Lisa und Lena aus dem Nachbarort. Die vier Mädchen kannten sich bereits seit dem Kindergarten.
Der Vormittag zog sich qualvoll lange hin. Da die Eltern auf dem Feld beschäftigt waren, das gemähte Gras zu wenden, damit es zu Heu trocknen konnte, bereitete Hilda sich ein Butterbrot gegen den Hunger. Sie betrachtete die zwei fein verpackten Päckchen, die sie mit angestrengter Sorgfalt für die Zwillinge zurecht gemacht hatte, und dachte sich, dass die beiden sich ganz sicher sehr freuen würden.
Der Ruf der Freundin aus der Ferne riss Hilda aus ihren Gedanken. Sie sah zur Straße hinunter, wo Sina ihr freudig zuwinkend auf sie zu fuhr. Es war ein warmer Sommertag und die Vorfreude der Kinder war groß.
Ein lautstarkes Durcheinander drang nun, nachdem hastig Geschenke geöffnet, Papier zerrissen und anschließend wohlschmeckender Geburtstagskuchen vernascht wurde, aus der alten Scheune, die bunt geschmückt kurzerhand zum Partyraum umfunktioniert worden war. Die Kinder einigten sich auf ein Versteckspiel, welches auf dem gesamten Hofgelände galt. Die Familie der Zwillinge bewohnte einen Resthof, welchen die Eltern noch vor ihrer Geburt aufgekauft hatten, um sich den Traum vom Pferdehof zu erfüllen. Der Vater war Manager in einer großen Firma, gutverdienend, somit konnte großzügig investiert werden, und es entstand ein wohl ansehnliches Anwesen.
Die kleine Geburtstagsgruppe interessierte sich nun aber in erster Linie für die Heu- und Strohhalle, wo es viele Versteckmöglichkeiten gab. Sie schien perfekt für ihr Vorhaben. Der Nachmittag entwickelte sich zu einem fröhlichen Rennen, Toben und Fangen, und natürlich wurde herrlich im Heu und Stroh getobt und nicht wenig Stroh vom oberen Strohlager, welches die Kinder über die sichere Treppe nach oben erklommen hatten, war über das Geländer hinaus bis nach unten auf den Laufgang geflogen. Hilda und Sina hatten sich schon eine ganze Weile in einem sicheren Versteck verschanzt und kicherten immer wieder über dicht vorbeirennende Suchtrupps, als plötzlich eine lautschallende Männerstimme durch die Strohhalle dröhnte. „Verdammt, was macht ihr hier? Wie sieht das hier aus? Sofort antanzen hier, alle!“
Der Vater der Zwillinge hatte die Halle betreten und die Verwüstung, die sich ihm dort bot, verursachte einen so plötzlichen Wutausbruch, der jegliche Vernunft erlöschen ließ, sodass er sich beinahe vergaß. Die Kinder hielten so abrupt inne in ihren wilden Aktionen, dass sie Mühe hatten, zu Atem zu kommen, um die Lage zu deuten, in die sie sich völlig unbemerkt begeben hatten. „Wir haben Verstecken gespielt, Papa“, kam die dünne Stimme der mutigeren der beiden Zwillinge. Lisa nahm in diesem Moment erst wahr, wie die Scheune verwüstet worden war, und sah beklommen zur Schwester hinüber, die sich derweil im Hintergrund verschanzt hatte. Es war schon heftig gewütet worden, teilweise waren ganze Strohballen heruntergefallen. „Das wird sofort wieder aufgeräumt hier, die Party ist somit vorbei. Ich schließe euch hier ein und informiere eure Eltern, die können herkommen und anschauen, was ihr angerichtet habt. Zur Not packen die noch mit an!“ Die Kinder erschraken, dass sie nun hier eingeschlossen werden sollten und auch noch die Eltern informiert würden. Nicht wenige begannen zu weinen. Hilda und Sina, die sich inzwischen auch aus ihrem Versteck hervorgetraut hatten, schauten sich ängstlich um und wussten nicht recht, was sie nun tun sollten. Hilda war sich sicher, dass ihre Eltern nicht herkommen würden; sie wusste, dass die Arbeit auf dem Feld fertig werden musste, und das würde bis in den Abend hinein oder länger dauern. Als der Vater der Zwillinge die Halle im schnellen Schritt und mit vor Wut hochrotem Gesicht wieder verlassen hatte und die Kinder tatsächlich vernommen hatten, wie das Hallentor verschlossen wurde, machte sich eine bedrückte, ängstliche Stimmung breit.
Die Kinder machten sich eingeschüchtert und steifgliedrig an die Arbeit, wussten aber zunächst nicht wirklich, wo sie anfangen und wie sie die zerstörten Strohballen wieder zusammenbringen sollten. Während der dürftigen Versuche beschuldigten sie sich nun vermehrt untereinander und es entwickelten sich heftige Streitigkeiten. Während einige frustriert Strohballen stapelten oder leere Getränketüten und Saftflaschen aufsammelten, werkelten die anderen mit Besen und Kehrschaufel. Lautstarke Anschuldigungen und Beschimpfungen begleiteten die Arbeiten. Doch noch bevor die ganze Situation zu eskalieren drohte, hörte man plötzlich, wie das Schloss des Hallentores wieder geöffnet wurde. Erste Gesprächsfetzen drangen nun an die Ohren der Kinder. „Seht euch den Mist an, den eure Kinder hier angerichtet haben.“ Zuerst trat der Vater der Zwillinge in die Halle ein. Hilda erkannte nun auch die Stimme von Sinas Mutter, die mit deutlichen Worten klar machte, was sie von der ganzen Situation hielt. „Sorry, Thomas, aber es ist in meinen Augen absolut nicht in Ordnung, dass du die Kinder hier eingeschlossen hast, das sind immer noch Kinder“, sprach sie wütend. Der Vater der Zwillinge fuhr sich mit der Hand durchs Haar und faselte etwas von „Sicherungen durchgebrannt“ und „versetzt euch in meine Situation“. Während der verbalen Auseinandersetzungen sah Hilda ihre Mutter in die Halle schreiten und erschrak bis ins Mark. „Hilda wo steckst du? Sofort herkommen!“ Hildas Mutter wirkte bedrohlich und alle Anwesenden richteten nun die Aufmerksamkeit auf die fast schon raubtierähnlich hereinstürzende Person. Hilda war einer Ohnmacht nahe, ihr wurden die Knie weich und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Langsam und mit dem Kopf zum Boden geneigt löste sie sich aus der Kindergruppe und lief zögernd auf ihre Mutter zu. „Du undankbares Stück du“, schrie diese das Kind an. „Du weißt ganz genau, dass wir keine Zeit für so einen Dreck haben!“ Die Mutter holte kräftig aus und schlug dem Mädchen ins Gesicht, dass es zu Boden fiel. „Du räumst den Mist hier auf und danach hilfst du uns mit dem Heu, hast du verstanden?“, schrie sie dem Kind entgegen, welches sich langsam erhob und die blutende Nase hielt. Die versammelte Gruppe beobachtete mit Entsetzen, was sich soeben abgespielt hatte, und niemand wusste zunächst zu reagieren. Während der Vater der Zwillinge mit den Händen in die Seiten gestemmt nervös in die Runde blickte, hatte sich Sinas Mutter als Erste wieder gefasst und lief der nun hastig wieder aus der Halle tretenden Mutter von Hilda hinterher. „Tut mir leid, Anni, aber ich bin entsetzt über deine Aktion hier soeben!“ Hildas Mutter drehte sich ruckartig um und sah Sinas Mutter angriffslustig ins Gesicht. „Du hör mir mal gut zu, Tina, wie ich mit meinem Kind umgehe, das ist immer noch meine Sache, und wenn Hilda sich nicht benehmen kann, dann hat sie es nicht besser verdient“, bellte sie ihr entgegen. Sinas Mutter hatte sich wieder etwas gesammelt und erwiderte nun mit sachlicher Stimme: „In meinen Augen liegt das eigentliche Problem hier wieder einmal bei den Erwachsenen. Thomas und Sabine hätten ihren Töchtern und auch der Geburtstagsgruppe deutlich machen müssen, was okay ist und wo Grenzen sind, daher sind die Eltern der Geburtstagskinder mit schuld! Ich glaube nicht, dass deine Hilda oder auch die anderen Kinder dieses angerichtet hätten, wenn es von vornherein deutlich verboten worden wäre!“ Hildas Mutter bebte vor Aufregung und Zorn, doch auch Hilflosigkeit bezeugte ihre Körperhaltung. „Es ist nun einmal geschehen und es wird in Ordnung gebracht, ich habe weiß Gott keine Zeit für so einen Mist, mein Mann braucht mich auf dem Feld!“, erwiderte sie emotionslos und verließ das Grundstück.
Sinas Mutter sah Hildas Mutter hinterher. Sie fasste sich resigniert an die Stirn; Traurigkeit und Fassungslosigkeit zugleich machten sich in ihr breit. Manche Kinder hatten ein hartes Los mit den Eltern. Wie sollten junge, heranwachsende Menschen es lernen, einordnen zu können, was richtig oder falsch war? Die meisten Erwachsenen waren doch viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und achteten überhaupt nicht auf die Gefühlswelt der jungen, heranwachsenden. Mit Bestrafungen war man doch oft sehr schnell bei der Hand, doch die Situation erklären, dem Heranwachsenden verständlich machen, worum es ging, das war für viele Erwachsene dann doch zu anstrengend.
Nun lief Sinas Mutter nachdenklich in die Halle zurück, um nach Hilda zu sehen. Sie sah, dass die Zwillinge und ihre Sina sich um Hilda versammelt hatten, ihr Tücher für die blutende Nase reichten und beruhigend und tröstend auf sie einredeten. Sinas Mutter bemerkte mit mulmigem Gefühl im Bauch, dass das Kind keine Träne vergossen hatte. Im Gegenteil: Hilda stand tapfer in der Mitte der kleinen Gruppe und winkte immer wieder beschwichtigend ab. „Mama hat es nicht so gemeint, sie hat überreagiert. Das Heu muss ja fertig gepresst werden vor dem Regen, ihr wisst ja, wie das ist!“ Sie hob beschwichtigend die Hände. „Sie wird sich später bei mir entschuldigen!“, sprach Hilda und nickte mit dem Kopf, so als müsse sie ihre Worte damit bekräftigen. Sinas Mutter sah das Kind nun versöhnend lächeln und ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihrer Brust breit. Das Verhalten des Mädchens wies in ihren Augen darauf hin, dass es wohl oft mit ähnlichen Situationen konfrontiert war und es sich auch durchaus als Schuldige sah; sie befürchtete sogar, das Kind sah sich als zusätzliche Belastung für die Eltern. Sinas Mutter fühlte nun starkes Mitleid mit Hilda, sie betrachtete das Kind noch eine Weile. Hilda war im Vergleich zu ihren gleichaltrigen Freundinnen schon ein Stück weit erwachsener. Das führte Sinas Mutter darauf zurück, dass das Kind oft auf sich allein gestellt war und es für sein Alter schon sehr viele Aufgaben auf dem elterlichen Hof zu erfüllen hatte, somit auch viel Verantwortung trug. Mit seinen goldblonden, gelockten Haaren, der geraden Nase, dem Mund mit den vollen Lippen und den hellblauen Augen, die dem Gesicht etwas Sanftmütiges verliehen, war es ein überdurchschnittlich hübsches Mädchen, dachte sie bei sich, und sehr tüchtig in der Schule war es auch, wie sie von Sina des Öfteren hörte. Es war schon schade, dass es von zu Hause aus keine Unterstützung erhielt, dort stand der Hof im Fokus und ließ keinen Platz für das Familienleben.
Hilda war das Verhalten ihrer Mutter sehr peinlich gewesen. Vor den ganzen Anwesenden von der eigenen Mutter ins Gesicht geschlagen zu werden, war ihr äußerst unangenehm gewesen, und dann blutete auch noch die Nase und plötzlich war es so still in der Halle gewesen, dass sie kaum gewagt hatte zu schlucken. Nun war sie froh, dass das Bluten der Nase gestoppt war und alle sich aufs Aufräumen konzentrierten. Zwar schmerzte die Nase und fühlte sich geschwollen an und auch ihre linke Wange war heiß und brannte vom kräftigen Schlag, doch sie packte eifrig mit an, die Verwüstung wieder in Ordnung zu bringen. Hilda bemerkte schon, dass die Blicke der Arbeitenden immer wieder auf sie fielen, auch der Vater der Zwillinge, der, wie es ihr schien, etwas mit seinem schlechten Gewissen haderte, sah immer mal zu ihr rüber. Es lag Unmut in der Luft. Schnellstmöglich die Sache erledigen und dann verschwinden. Niemand wollte hier noch groß herumdiskutieren: Das würde am Ende zu nichts führen. Nachdem dann endlich alles zur Zufriedenheit des Hallenbesitzers wieder hergerichtet war, machten sich die Eltern und Kinder fast wortlos auf den Heimweg. Nur die Kinder untereinander tauschten sich noch aus und verabredeten sich für den morgigen Schulweg. Hilda und Sina fuhren nun gemeinsam mit dem Fahrrad die bekannte Strecke zurück, auf der sie am frühen Nachmittag noch so fröhlich hergefahren waren. „Total gemein von Thomas, uns dort einzuschließen und auch noch unsere Eltern zu informieren. Lisa und Lena können einem leidtun mit so einem Vater“, meinte Sina wütend. „Ja und ich habe ehrlich geglaubt, die Zwillinge hätten die Erlaubnis zum Versteckspiel in der Halle“, antwortete Hilda ihrer Freundin mit voller Überzeugung. „Wie geht es deiner Nase jetzt, Hilda? Ich habe mich fürchterlich erschrocken, als deine Mutter zugeschlagen hat“, fragte Sina nun die Freundin und blickte voller Fürsorge zu ihr hinüber. Hilda sah nachdenklich auf den Weg, den sie fuhren, und erklärte ihrer Freundin dann, dass es wohl vorkommen konnte, dass der Mutter die Hand ausrutschte. „Würde meine Mutter doch auch außerhalb arbeiten gehen können, so wie deine Mutter, ich denke, dann wäre sie glücklicher und hätte bessere Laune!“ „Das hat meine Mutter auch schon gesagt und sie denkt auch, dass deine Mutter vielleicht auch gerne Abwechslung vom Hof hätte“, antwortete die Freundin aus voller Überzeugung. „Deine Mutter kann froh sein, dass ihr Mann so modern eingestellt ist und sie arbeiten gehen darf. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was bei uns los wäre, wenn meine Mutter das Thema ansprechen würde!“, sprach Hilda und sah seufzend zu Sina hinüber. Die Freundinnen lächelten sich resigniert an.
Am nächsten Morgen wartete Sina schon am vereinbarten Ort auf die Freundin, um sich gemeinsam mit ihr auf den Schulweg zu machen. Hilda war die Müdigkeit und Abgeschlagenheit ins Gesicht geschrieben und es fiel ihr schwer, die Freundin freundlich zu begrüßen. Es war am vergangenen Abend sehr spät geworden auf dem Feld, aber trotz aller Bemühungen war es der kleinen Familie nicht gelungen, die gesamte Heuernte vor dem Regen unter Dach zu bringen. Nachdem zwischenzeitlich der Motor des Traktors gestreikt hatte, was der Vater durch Ersetzen des Dieselfilters zum Glück schnell behoben hatte, war dann später das Hinterrad des Hängers, auf dem die HD-Ballen transportiert wurden, geplatzt. Da in dem Moment schon leichter Regen einsetzte, entschied man sich, den vollbeladenen Hänger vor Ort auf dem Feld provisorisch mit einer Plane abzudecken. Zusätzlich stapelten die drei, so schnell es möglich war, die restlichen Ballen auf dem Feld zusammen und zogen auch hier zum Schutz eine Plane darüber. Die harte Arbeit war für Hilda aber gar nicht so schlimm gewesen. Viel schlimmer war die Missachtung der Eltern gewesen, die nur barsche Anweisungen gaben und ansonsten Hilda kaum Beachtung schenkten. Es muss schon bald Mitternacht gewesen sein, als Hilda durchnässt von dem immer stärker werdenden Regen mit dem Fahrrad zuhause ankam. Die Eltern fuhren noch Traktor und Hoflader in den alten Gulf, der als Stellplatz für die Arbeitsgeräte diente. Für eine Maschinenhalle hatte es bisher nicht gereicht. Der niedrige Preis pro Liter Milch, den der Milchviehbetrieb der Familie von der Molkerei erhielt, die diese jeden zweiten Tag frisch vom Hof abholte, reichte gerade so zum Überleben. Hinzu kam, dass man nicht planen konnte: Der Milchpreis schwankte immer wieder und man wusste nicht, wie die Situation in einem halben Jahr sein würde. „Der Weltmarkt bestimmt den Preis“, hörte Hilda den Vater oft sagen. „Wir Landwirte müssen halt mit dem zurechtkommen, was man uns gibt“, waren sehr oft seine resignierten Worte. Er würde am liebsten alles hinschmeißen und etwas anderes machen, nur hingen halt zu viele Verbindlichkeiten an dem Hof, die es galt, abzubezahlen. In kleinen Raten, Stück für Stück, Jahr für Jahr, wie es halt finanziell möglich war. Wenn er dann wieder vom Jahr zweitausendneun sprach, wo der Milchpreis ins Bodenlose gestürzt war, sodass der Betrieb neue Kredite aufnehmen musste, um überhaupt wirtschaftlich zu bleiben, dann lag auch immer eine enorme Wut in seiner Stimme. „Wieso lässt der Staat uns Bauern hängen, warum nur hat unsere Arbeit in der Gesellschaft so einen schlechten Stellenwert?“, waren dann seine verzweifelten Worte. „Gut essen und trinken wollen alle, doch fährt der Bauer die Gülle zum Düngen aufs Feld, dann wird wegen Geruchsbelästigung geschimpft!“ Eine beklemmende Ratlosigkeit machte sich dann immer breit, ein Gefühl, der Abschaum der Gesellschaft zu sein. Hilda war mit dem Bewusstsein aufgewachsen, täglich alles geben zu müssen, um den familiären Betrieb aufrecht zu erhalten, und sich zugleich in der Gesellschaft auf der untersten Stufe zu befinden. Wenn man bedachte, dass in der Landwirtschaft dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr rund um die Uhr gearbeitet wurde, dann war das ein echtes Armutszeugnis. Wollte man mal ein paar Tage Urlaub machen, dann musste für vertrauenswürdige Ersatzkräfte gesorgt werden, die natürlich auch entlohnt werden wollten.
Während die beiden Mädchen nun gemeinsam zur Schule fuhren, berichtete Hilda, dass sie nach der Anstrengung mit dem Heu hundemüde ins Bett gefallen war und, ohne auch nur noch einen Happen gegessen zu haben, direkt eingeschlafen war, worüber sie am Morgen wiederum sehr froh gewesen war, da sie durchweg die meisten Nächte mit Lesen oder Bemalen ihrer Bücher verbrachte. Dieses dumme Gefühl war schuld, diese innere Angst, die sich in ihr ausbreitete, sobald sie allein war und kein Geräusch oder Ähnliches sie ablenken konnte; dann war es plötzlich so, als sähe sie sich selber von außen, hörte sich sprechen, sie konnte dieses schlimme Geschehen aber auch nicht richtig erklären, nur ging es erst wieder weg, wenn sie sich ablenkte. Somit blieb ihr nichts anderes übrig, als bei dem kleinen Nachtlicht auf ihrem Nachttisch irgendwann über ihrem Tun und Machen einzuschlafen. Heute Morgen hatte sie sich dann sehr gefreut, als sie in der Küche ihre mit belegten Broten gefüllte Brotdose entdeckt hatte, und hatte sich direkt hungrig über eines der Brote her gemacht. Es war für sie ein versöhnliches Zeichen der Mutter gewesen und dieses Gefühl hatte das belegte Brot daher gleich doppelt gut schmecken lassen.
Der Schulvormittag zog sich ewig hin und die Müdigkeit machte Hilda zu schaffen. Es gelang ihr nur mit sehr viel Mühe, die Augen offen zu halten, und der Nachmittag versprach zudem noch einiges an Vorbereitungen für die 3 Schularbeiten, die in dieser Woche noch anstanden.
Es war nicht mehr lange bis zu den Sommerferien und damit für die Kinder auch das Ende der Grundschulzeit. Hilda war bisher immer eine fleißige und ehrgeizige Schülerin gewesen und somit würde es für sie mit der Gymnasialempfehlung nach den Ferien in die Stadt auf das Gymnasium gehen. Sie hoffte sehr, dass es für Sina auch zum Gymnasium reichen würde. Dies beruhte natürlich auf Gegenseitigkeit, die Mädchen konnten sich im Leben nicht vorstellen getrennt zu werden. Sina hatte im letzten Halbjahr hart gearbeitet und konnte sich verbessern, nun hofften die Freundinnen sehr, dass die Bemühungen erfolgreich waren.
Hilda war nun froh, dass die Pausenglocke erklang, was für ihre Klasse den Schulschluss für heute bedeutete. Sie hatte sich vorgenommen, nach dem Mittagessen ein kurzes Nickerchen zu machen, um sich danach eifrig an die Schulaufgaben zu machen. Während die beiden Mädchen nun mit dem Fahrrad auf dem Heimweg waren, unterhielten sie sich über die Zwillinge, die sich nach der durchaus misslungenen gestrigen Geburtstagsparty in der Schulpause merkwürdig verhielten, wie es beide Freundinnen bemerkt hatten.
Anscheinend hatte der Zwillingsvater die Töchter beeinflusst, nicht weiter über das Geschehene zu reden, die zwei hatten sich in einer Ecke des Pausenhofes verdrückt und unterhielten sich angeregt. Es schien, als wollten sie nicht angesprochen werden. Es war ja auch eine unangenehme Geschichte gewesen, für alle Beteiligten.
Sina bemerkte mit überzeugter Miene: „Meine Mutter hatte aber doch wirklich recht mit ihrer Äußerung, es hätten Regeln festgelegt werden müssen. Es hat doch niemand von uns ahnen können, dass die Zwillinge ohne Erlaubnis die Halle zum Versteckspiel gewählt haben, also mir schien es so geplant zu sein!“ „Mir aber auch, ohne Zweifel“, bestätigte ihr Hilda. An der wohlbekannten Gabelung der Straße, welche seit jeher als Treffpunkt galt, trennte sich nun wieder der gemeinsame Schulweg und die Mädchen wünschten sich noch mit rollenden Augen und übertriebenem Seufzen gegenseitig viel Spaß bei den zu erledigenden Schulaufgaben. Mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht fuhren sie nun die kurze Reststrecke bis zu ihrem jeweiligen Zuhause.
Hilda parkte ihr Fahrrad in dem alten, schon bruchfälligen Holzschuppen, der lange schon hätte repariert werden sollen, doch da die Zeit und zudem das Geld fehlte, wurde es immer wieder hinausgeschoben. Sie betrat das Haus wie immer durch den Seiteneingang, der über einen kleinen Flur direkt in die Küche führte. Es duftete nach Möhreneintopf und sofort bemerkte Hilda ihren unbändigen Hunger. Sie hätte am liebsten sofort von dem Eintopf probiert, aber das sah man hier im Hause nicht gern, man aß immer gemeinsam, wenn alle am Tisch saßen, und vorher wurde als Dank für die guten Gaben auf dem Mittagstisch noch ein Gebet gesprochen. Hierfür war meist die Mutter zuständig. Die Mutter rief nun aus dem Schlafzimmer, wo sie mit Bügelarbeiten beschäftigt war: „Hilda bist du es? Deck doch schon mal den Tisch, dein Vater müsste auch gleich hier sein!“ „Bin schon dabei“, rief Hilda zurück und nahm das Essgeschirr aus dem Schrank. Das alte Bauernhaus, das sie in dritter Generation bewohnten, wurde Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von den Vorfahren erbaut und seither hatte sich baulich kaum etwas verändert. Die Küche mit der bis zu drei Meter hohen Decke war Dreh- und Angelpunkt des Hauses. Hier spielte sich alles ab, was so den Alltag betraf, was natürlich auch daran lag, dass hier der alte Stangenofen stand, auf dem nicht nur gekocht wurde, sondern womit auch das Haus beheizt wurde. Zudem stand hier der einzige Fernseher im Haus, ein kleiner Flachbildfernseher mit Fernbedienung; der alte Röhrenfernseher hatte im letzten Jahr seinen Geist aufgegeben, da hatte man ihn zu Weihnachten durch einen neuen ersetzt. Die Fernbedienung des Gerätes war seitdem der meistgelobte Gegenstand im Haushalt. Es war schon immer lästig gewesen, am Gerät zu stehen und so lange herumzuschalten, bis ein zufriedenstellender Sender gefunden war. Zumeist war es Hilda gewesen, die am Gerät stand, und natürlich war sie auch für die Regelung der Lautstärke zuständig gewesen, die zwischenzeitlich auch immer mal wieder verändert werden wollte. Es war für Hilda aber schon Routine und sie tat es immer gerne für die Eltern. Die erste Zeit mit der Fernbedienung fühlte sich für sie daher ungewohnt, ja sogar etwas unbehaglich an, es fehlte etwas. Mittlerweile aber konnte man sich kaum noch vorstellen, wie es ohne Fernbedienung gewesen war, und der neue Fernseher hatte eine so tolle Bildqualität und auch der Ton war viel satter, natürlicher, dass die kleine Familie es immer wieder wortreich lobte, es sei das beste Weihnachtsgeschenk überhaupt gewesen. Der Fernseher stand auf der schon sehr in die Jahre gekommenen Anbauküche, die schon zur Kinderzeit des Vaters existierte. Er war hier in diesem Haus geboren und aufgewachsen. Da er das einzige überlebende Kind der Großeltern war – es hatte noch einen älteren Sohn gegeben, dessen Leben aber auf tragische Weise mit gerade einmal einundzwanzig Jahren geendet hatte –, war von vornherein klar gewesen, dass er in die Fußstapfen des Vaters treten würde. Da er aber auch nie etwas anderes kennengelernt hatte als die Arbeit auf dem Hof, war es letztendlich auch das, was er machen wollte, wusste Hilda aus zahlreichen Gesprächen der Eltern, die sie so oft schon belauscht hatte. Hildas Vater war ein eher klein geratener, sehr hagerer Mann mit eher zurückhaltendem Wesen. Mit seiner Halbglatze und den vermehrt auffallenden Fältchen im Gesicht wirkte er älter als die sechsundvierzig Jahre, die er mittlerweile zählte. Im Vergleich zu allen anderen Vätern, die Hilda so kannte, war er eher still und hielt sich immer im Hintergrund. Nur wenn er gestresst war oder etwas Schlimmes passiert war, was auf einem Bauernhof mit vielen Tieren und Maschinen nun einmal sehr oft vorkommen konnte, dann konnte er auch sehr laut und aufbrausend werden.
Während des gemeinsamen Mittagessens wurde wie üblich nicht viel gesprochen, der Vater erwähnte einige Arbeiten, die er noch vor dem abendlichen Melken erledigen wollte, und die Mutter wurde von einer starken Migräne geplagt, weshalb sie eine Schmerztablette nehmen wollte und sich dann zur Mittagsstunde ins Bett legen würde. Hilda hatte nach dem Mittagessen auch erst vorgehabt sich etwas auszuruhen, aber sie fühlte sich plötzlich wieder so wach, dass sie direkt die Schulsachen aus dem Ranzen nahm und loslegte. Während sie nun nach geraumer Zeit konzentriert in einer Sachaufgabe las, tief eingetaucht in Überlegungen der Sachlage dieser Aufgabe, wurde plötzlich mit solcher Kraft die Küchentür aufgeschlagen, dass sie laut gegen die Wand knallte. Hilda fiel vor Schreck das Buch zu Boden, sie sah ihren Vater mit weit aufgerissenen Augen und vor Wut rot angelaufenem Gesicht hereinstürmen. Er schrie so laut und kreischend, dass sie im ersten Moment gar nicht verstand, was passiert war. Seine Stimme begann zu beben, während er gefahrvoll die Arme hochriss. „Dieses Ungeheuer rennt mich platt und kein Mensch hilft mir, verdammt, ihr sitzt hier herum und ich schrei’ mir die Seele aus’m Leib.“ Hilda sprang sofort auf. „Papa, hätte ich etwas gehört, ich wäre sofort zu dir geeilt.“ Nun fiel ihr sein blutiges Bein auf. Der Vater bemerkte ihren Blick und sah kurz herab zu seiner Verletzung. Der schwere Deckbulle war ihm entwischt und während er versucht hatte, ihn zurück in seine Box zu scheuchen, war das Tier auf ihn losgegangen. Er hatte noch im letzten Moment zur Seite springen können, dabei hatte das Tier ihn noch am Schienbein erwischt. Er winkte abwehrend mit der Hand. „Das ist nur ein Kratzer. Bring deine Mutter mit, das Vieh läuft noch hinten frei herum, wir müssen ihn einfangen“, hörte sie seine immer noch wutentbrannte Stimme aus dem Flur rufen. Hildas Mutter hatte vom Schlafzimmer aus alles mitangehört und war nun zu ihr in die Küche getreten. „Los, schnell, wir müssen ihm helfen“, sagte sie mit besorgter Miene. Die Mutter war vorausgegangen und als sie den Gulf betreten wollte, sah sie den wuchtigen Bullen auf sich zu rennen. „Der Bulle läuft frei im Gulf herum“, drehte sich die Mutter erschrocken zu Hilda um. „Er sollte die rindernden Kühe decken, dabei muss er Heinz entwischt sein“, sagte sie mehr zu sich selbst und sah ängstlich zur Tür, deren Klinke sie immer noch hielt. Nun klang die Stimme des Vaters aus dem Gulf: „Kommt schnell her, macht das Gatter zu, ich hab ihn in die Box getrieben!“ Sofort riss die Mutter die Tür auf und beide rannten durch den Gulf auf den Vater zu, den sie nun mit ausgestreckten Armen, mahnend und in Schach haltend vor dem Tier stehen sahen. Hildas Mutter griff nach dem Gatter, ließ den Vater noch heraushuschen und zog es blitzschnell zu. Gemeinsam schoben sie den Riegel vor. Schwer atmend sahen die drei sich an, der Schreck stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Es war nun fast ein Jahr her, dass der Nachbarbauer von seinem Deckbullen gegen die Stallmauer gedrückt worden war, der arme Mann hatte mehrere Knochenbrüche und Organquetschungen erlitten. Monatelange Krankenhausaufenthalte und mehrere Operationen hatte er über sich ergehen lassen müssen, und er nahm immer noch starke Schmerzmittel, ohne die es kaum erträglich war zu gehen. Mit der Erkenntnis, noch einmal unwahrscheinliches Glück gehabt zu haben, wandten sie sich erschöpft in Richtung Wohngebäude, um sich mit einer Tasse Tee von dem Schrecken zu erholen. Das Schienbein des Vaters pochte nun vor Schmerzen. Es raubte ihm fast die Sinne und er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Die Mutter bemerkte sein Schwanken und griff erschrocken nach seinem Arm. „Was ist mit dir? Gott, du blutest ja wie ein Schwein“. Nun erst bemerkte sie sein verletztes Bein. „Mir wird übel, ich muss mich setzen“, erwiderte er mit bleichen Lippen. In der Küche angekommen bugsierte man den Vater auf das alte Ostfriesensofa und schälte ihn vorsichtig aus der Arbeitshose, um die Wunde zu untersuchen. Was sich den Augen von Mutter und Tochter nun bot, war alles andere als harmlos. Eine etwa faustgroße Platzwunde seitlich des rechten Schienbeines zeigte sich ihren entsetzten Blicken, die Mutter fasste sich erschrocken an die Brust. „Wir fahren sofort ins Krankenhaus, das muss genäht werden“, befahl sie mit Nachdruck, denn sie wusste, was ihr Ehemann von Krankenhäusern und generell von Ärzten hielt. Der aber war vor Schmerzen nun einer Ohnmacht nah, kreidebleich war er und es hatten sich Schweißperlen auf seiner Stirn gebildet. Er merkte, wie sein Kreislauf versagte, und er glaubte, kaum aufstehen zu können. Kurz überlegte die Mutter, ob es besser wäre, einen Krankenwagen zu rufen, verwarf es dann aber wieder mit der Zuversicht, ihn schneller versorgt zu wissen, wenn sie selbst direkt mit ihm losfahren würde. Es war ein Kraftakt gewesen, den vor Schmerzen schreienden und sich kaum auf den Beinen halten könnenden Vater ins Auto zu verfrachten. Hilda hatte hastig den Beifahrersitz in die Liegeposition gebracht und gemeinsam halfen Mutter und Tochter dem Vater ins Auto. Schwer atmend lag er nun auf dem Beifahrersitz, die Mutter gab Hilda noch Anweisung, die Kühe von der Weide zum Melken in den Stall zu bringen und schonmal mit dem Melken zu beginnen, dann fuhren sie vom Hof. Hilda blickte ihnen aufgewühlt und zugleich besorgt hinterher. Es war für sie kaum zu ertragen gewesen, den Vater unter solchen Schmerzen zu erleben, nun aber galt es, sich zusammenzureißen und zuhause die Stellung zu halten.
2.
Hilda und ihre Mutter saßen am Frühstückstisch, die beklemmende Stille, die im Raum herrschte, ließ die ganze Situation für Hilda noch unerträglicher erscheinen. Der Vater war, nachdem sich die Wunde am Schienbein entzündet hatte und er hohes Fieber bekommen hatte, auf die Intensivstation verlegt worden. Man hatte die Wunde operativ gesäubert und einen kleinen Plastikschlauch hineingelegt. Wie eine Art Drainage wurde so immer wieder Eiter heraus gespült. Da beim Unfall Dreck mit in die Wunde gelangt war, hatte sich natürlich eine Wundinfektion gebildet, die es galt, in den Griff zu bekommen, um eine Sepsis zu verhindern. Die Ärzte hatten Hildas Mutter schonungslos mitgeteilt, wie ernst es um den Vater stand. Die nächsten Stunden würden zeigen, ob eine Sepsis abgewendet werden könne, im schlimmsten Fall musste der Unterschenkel amputiert werden. Man fühlte sich wie in einem schlechten Film, einem Albtraum. Hilda beobachtete, wie sich die Mutter nun mit zitternder Hand die Milch in den Kaffee schüttete. Die generell schon immer nervöse und unruhige Mutter war in den letzten Tagen zum Nervenbündel geworden, so schien es ihr. Auch musste sie mit Besorgnis feststellen, dass die Mutter kaum etwas gegessen hatte, wobei sie doch schon so dürr war, dass man meinen konnte, sie würde ihre Kaffeetasse, die sie nun mit zitternden Händen umfasste, kaum halten können. Sie war ein Stück größer als der Vater und mit ihren 49 Jahren drei Jahre älter als dieser. Die beiden waren schon seit der Jugendzeit ein Paar gewesen, wusste Hilda aus Erzählungen. Es waren wohl die vielen Schicksalsschläge gewesen, dachte sie bei sich, die ihre Eltern hatten so gefrustet werden lassen. Natürlich auch die eintönigen Tage auf dem Hof, die nicht enden wollende Arbeit zerstörte so oft jedes Gefühl von Glücklichsein. Nach mehreren Fehlgeburten, die das junge Paar hatte erleiden und durchleben müssen, war dann vor nun schon fast zehn Jahren sie, Hilda, geboren und für eine gewisse Zeit schien doch noch etwas Glück ins Haus zu ziehen. Doch jeder weitere Kinderwunsch blieb unerfüllt und es hatte sich mit der Zeit ein Alltagstrott entwickelt, wo nicht auch nur der Hauch von Glück Platz fand.
Für Hildas Mutter war es kein leichtes Leben mit der ganzen Arbeit und der Verantwortung, die der Bauernhof mit sich brachte. Hildas Großeltern väterlicherseits waren schon verstorben, bevor Hilda geboren wurde, und der Hof, den sie dem einzigen Sohn, Hildas Vater, hinterlassen hatten, war auf altem Stand gewesen. Nie war in Modernisierung investiert worden, die wenigen Milchkühe standen noch auf Anbindung und wurden auch dort jeden Morgen und jeden Abend gemolken. Abgefüllt in große Kannen oder „Bummen“, wie man hier in Hildas Heimat Ostfriesland auch sagte, wurde die Rohmilch von einer Molkerei abgeholt und weiterverarbeitet. Die Eltern hatten in den ersten Jahren der Hofübernahme sehr viel Geld in die Hand genommen, um den Hof für die Zukunft wirtschaftlich zu erhalten, was die Großeltern damals als unsinnig beschimpften. Sie hätten doch nie hungern müssen, hätten immer Arbeit gehabt und wären zufrieden gewesen mit dem, was sie hatten. Da wäre es doch Unsinn, etwas zu verändern und dafür auch noch so viel Geld zu verschleudern. Es hatte immer wieder nervenraubende Streitigkeiten zwischen den beiden Generationen gegeben, wusste Hilda aus Erzählungen. „Waren wir dumm, uns das alles anzutun!“, waren schon oft die Worte der Mutter; der Vater warf dann eher beschwichtigende Worte ein und war meist der Ansicht, dass man sich Vorwürfe gemacht hätte, wenn man es nicht versucht hätte, und sowieso hatte von vornherein außer Frage gestanden, dass er den Familienbetrieb fortführen würde.
Mit dem Fischgrätenmelkstand, in den die Eltern dann investiert hatten, war auch die Kuhherde gewachsen, zudem musste ein Laufstall gebaut werden, in dem sich dieser Melkstand befand. Die Kühe stehen darin zu fünft auf jeder Seite schräg angereiht wie bei Fischgräten, mit der Kehrseite zur Mitte, wo sich ein etwa einen halben Meter tiefer Laufgang befindet. In dem Laufgang hängt das Melkgeschirr, mit dem man von hinten an das Euter herangeht, um die Kuh zu melken. Die Kühe bewegen sich frei in dem Laufstall, wo sich zudem für jede Kuh eine Liegebox befindet. Der Laufgang besteht aus Spaltenboden; der Güllekeller, der sich unter diesem Spaltenboden befindet, ist mit Betonspalten belegt, durch die etwa fünf Zentimeter breiten Freiräume, die zwischen jeder Spalte gelassen wurden, fällt die ausgeschiedene Gülle der Tiere direkt in den Güllekeller.
Mit diesen Veränderungen konnte die Kuhherde von vorher gerade einmal fünfzehn Tieren auf mittlerweile sechzig Stück aufgestockt werden, wodurch sich natürlich die Milchliefermenge enorm gesteigert hatte, auf der anderen Seite aber natürlich auch alle anderen Arbeiten und Aufwendungen, die damit verbunden waren. Das fing an mit den vermehrten Abkalbungen, der vergrößerten Jungviehaufzucht, über das damit verbundene Gesundheitsmanagement bis hin zu dem umfangreichen Fütterungsprogramm. Alles ging Hand in Hand und musste bestmöglich gemanagt werden, um somit auch das bestmögliche aus den Tieren herauszuholen.
Hildas Vater war ausgebildeter Landwirt, in seiner dreijährigen Ausbildung auf unterschiedlichen Höfen hatte er verschiedenste Formen von Haltungsarten sowie Fütterungseigenschaften kennengelernt und das aus seiner Sicht passende für seinen Betrieb angewandt.
Er fehlte nun an allen Ecken und Enden. Die Mutter und auch Hilda selbst hatten von den meisten Abläufen keine Ahnung. Alles, was das Melken und auch die Kälberfütterung betraf, war kein Problem, doch damit hörte es auch schon auf. Deshalb war schon am nächsten Morgen nach dem Unglückstag ein Betriebshelfer vom Maschinenring zur Unterstützung geschickt worden. Der Maschinenring, das war ein Zusammenschluss von zum Teil landwirtschaftlichen Fachkräften, darauf spezialisiert einzuspringen, wenn es zu Ausfällen kam, wie es nun in Hildas Familie der Fall war. Den netten älteren Mann, der für die kommenden Wochen im gewissen Sinne zum Familienmitglied wurde, da er täglich, wie es in der Landwirtschaft so üblich war, mit am Esstisch saß, kannte Hilda noch von einem früheren Einsatz in ihrem familiären Betrieb. Er war ein angenehmer Mensch, redete nur, wenn man ihn ansprach, und saß nie zu lange mit am Tisch. Das befand auch Hildas Mutter als angenehm. Es war immer ein etwas unbehagliches Gefühl, dauerhaft mit jemand Fremden den Alltag zu bestreiten. Man gab sich natürlich nicht so vertraut, wie wenn man unter sich war, und sprach auch keine vertrauten Themen an, wie man es sonst tat. Aber das war nun einmal so in der Landwirtschaft, da kam es ja öfter mal vor, dass fremde Aushilfskräfte mit am Esstisch saßen; man gewöhnte sich mit der Zeit daran. Da Hildas Eltern, vor allem der Vater, sehr zurückhaltende Menschen waren und beide Eltern den Kontakt zu Mitmenschen weitestgehend mieden, versuchte man immer das meistmögliche an Arbeit allein zu bewältigen. Da hatte man seine Ruhe. „Hilda, lässt du für den Betriebshelfer die Teekanne auf dem Stangenofen, damit der Tee heiß bleibt? Ich hab’ ihm gesagt, dass für ihn Frühstück auf dem Tisch steht. Da ich nun ins Krankenhaus fahre und du zur Schule gehst, muss er sich heute Morgen mal selbst versorgen“, sprach nun die Mutter und erhob sich vom Stuhl, um ihre Kaffeetasse in die Spülmaschine zu bringen. „Das mache ich.“ Hilda wollte noch hinzufügen, dass sie ja heute am letzten Schultag vor den Sommerferien schon früher wieder zuhause sein würde, da es die Zeugnisse gab und somit schon um elf Uhr Schulschluss war, sie wurde aber vom Klingelton des Telefons unterbrochen.
„Wer ruft denn so früh schon an?“ Hildas Mutter wandte sich zum Flur, wo das Telefon stand. Hilda trank den letzten Schluck ihrer heißen Schokolade, während sie aufmerksam dem Telefonat aus dem Flur lauschte. Eine heftige Angstwelle durchfuhr schlagartig ihren Körper, als sie den panisch fragenden Worten der Mutter lauschte. „Nein … oh mein Gott … wie konnte …? Was ist geschehen, die Wunde sah doch gestern noch gut aus?“ Hilda sprang panisch auf und ging mit bleichem, vor Schreck verzehrtem Gesicht zur Mutter in den Flur. Sie wagte kaum zu atmen, während sie sich unmittelbar neben ihre Mutter positionierte, um den Worten aus dem Telefonhörer zu lauschen. Hilda sah in das aschgraue Gesicht ihrer Mutter, nahm mit Schrecken die Panik in deren Augen wahr.
„Ist er schon ansprechbar? Ich meine … können wir gleich zu ihm?“, hörte Hilda nun die Mutter fragen und die eiserne Hand der Angst, die ihren Körper so plötzlich und unerträglich gepackt hatte, löste sich ein ganz klein wenig, und es fühlte sich so erlösend an, dass ihr die Tränen kamen.
„Wir machen uns gleich auf den Weg“, sprach die Mutter noch und legte den Hörer wieder auf. Sie sah Hilda eine Weile in die Augen, wobei ihr Tränen in die eigenen stiegen. Sie ging einen Schritt auf die Tochter zu und schloss diese in die Arme. Die zwei standen eine gefühlte Ewigkeit so da, die Mutter wiegte Hilda kaum spürbar, aber doch tröstend, und beide ließen den Tränen nun freien Lauf.
Es war, als suche die Mutter Halt bei der Tochter. Hilda konnte sich kaum erinnern, der Mutter einmal so nah gewesen zu sein. Ängstlich fragte sie nun, was mit dem Vater geschehen sei.
„Hilda, dein Papa wurde notoperiert, es ist doch zur Blutvergiftung gekommen, das Bein musste amputiert werden!“ Die Lippen der Mutter bebten. „Wie soll er das verkraften? Ich weiß gar nicht, wie es weitergehen soll.“ Sie ließ die Hände schwer über die Arme der Tochter herabgleiten bis zu deren Handgelenken, die sie nun kraftsuchend hielt. „Das ist ein Albtraum, ein schrecklicher Albtraum“, murmelte sie, „wie soll es nur werden?“ Hilda sah hilflos auf die Hände ihrer Mutter hinunter, die immer noch ihre Handgelenke hielten. „Hauptsache, er steht das alles gut durch, Mama. Ich dachte im ersten Moment das Schlimmste“, sprach Hilda unter Tränen. „Ich hatte schreckliche Angst, Papa kommt nicht wieder. Wir schaffen das schon.“ Nun fasste sie die Hände der Mutter und schüttelte diese in bekräftigender Geste. „Ich möchte unbedingt jetzt mit zu ihm.“ „Du hast recht, Kind, nur Papa zählt jetzt, alles andere ist unwichtig.“ Mit einem Ruck wirkte Hildas Mutter gestärkt und überzeugt, sie straffte die Schultern und ihr Gesicht hellte sich etwas auf. Hilda rief nun ihre Freundin Sina an, um zu berichten was geschehen war und sie zu bitten, sie in der Schule zu entschuldigen. Es fiel ihr schwer, die Stimme zu halten, zumal sie nun die erschrockene Stimme der so vertrauten Freundin vernahm, auch hörte sie Sinas Mutter im Hintergrund besorgte Fragen stellen. Am liebsten wäre sie durchs Telefon gekrochen und hätte die zwei gedrückt.
Nun standen Hilda und ihre Mutter auf dem Flur der Intensivstation, zuvor hatte man ihnen Schutzkleidung und Haarbedeckung zum Überziehen gereicht, auch einen Mundschutz zogen sie an, um den Vater vor zusätzlichen Infektionen zu schützen. Man hatte den Patienten kurz nach dessen Erwachen über den Eingriff informiert. Er hätte es natürlich mit Entsetzen aufgenommen, sich dann aber doch relativ schnell wieder beruhigt, nachdem man ihm dann auch deutlich gemacht hätte, dass es um sein Überleben gegangen war, berichtete ihnen nun die Krankenschwester und lief mit Mutter und Tochter zur Zimmertür des Vaters. Die Schwester klopfte einmal an und öffnete dann die Tür, um Mutter und Tochter hineinzulassen. „Herr Ihben, hier ist Besuch für Sie.“ Freundlich lächelnd trat sie an das Bett des Patienten heran und prüfte zugleich die Dosierung des Tropfes an dessen Handgelenk. Hilda hatte einen Kloß im Hals, als sie ihren Vater so verloren in den weißen Laken liegen sah, zur Überwachung und Versorgung mit Schläuchen und Kabeln verbunden, im Hintergrund auf einem Rollwagen ein Monitor, auf dem seine Lebensfunktionen angezeigt wurden. Die Schwester schien mit dem kurzen Checkup zufrieden und sagte freundlich: „Ich lasse Sie drei nun mal alleine!“ Sie zwinkerte Mutter und Tochter noch einmal zu und verließ den Raum.
Mit Tränen gefüllten Augen und bebenden Lippen sah der Vater nun seine Frau und die Tochter an sein Bett herantreten. Auch die beiden konnten nun die Tränen nicht mehr halten, Hilda schluchzte laut und streichelte vorsichtig über den Arm des Vaters, peinlich bedacht, ja keinen der Schläuche zu berühren, um dem Vater keine zusätzlichen Schmerzen zu bereiten. Seine Augen wanderten von der Tochter zu seiner Frau, die nun seine Hand ergriff und sprach: „Alles wird gut, Heinz, alles wird gut, du wirst wieder gesund, alles andere ist unwichtig.“ Beinahe brach ihr die Stimme.