Hilfe, ich habe meinen Bruder im Internet getauscht! - Jo Simmons - E-Book

Hilfe, ich habe meinen Bruder im Internet getauscht! E-Book

Jo Simmons

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Beschreibung

Jonny ist frustriert und wütend, denn sein älterer Bruder Ted hört einfach nicht auf, ihn zu ärgern und vor aller Welt lächerlich zu machen. Als er eines Abends im Internet auf die Seite www.geschwistertausch.com gerät, traut er zunächst seinen Augen kaum - sollte es tatsächlich möglich sein, Ted einfach umzutauschen? Zunächst zögert er, doch die Aussicht, einen netten, liebenswürdigen Bruder zu bekommen ist zu verlockend und so füllt er das Formular aus …

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Seitenzahl: 172

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Für Paul, in Liebe – ich wollte dich nie eintauschen, nicht einmal nach dem Schmelzkäseecken-Vorfall …

KAPITEL EINSKLICK!

TAUSCHE NOCH HEUTE NERVIGE BRÜDER UND LÄSTIGE SCHWESTERN AUF

www.geschwistertausch.com

Die Anzeige poppte in einer Ecke des Bildschirms auf. Jonny klickte sie sofort an. Die Website öffnete sich. Lächelnde Brüder und glückliche Schwestern waren zu sehen, die miteinander spielten, lachten und einfach eine gute Zeit mit jeder Menge Spaß zusammen verbrachten.

Was für ein verrücktes Paralleluniversum war das? Wo waren die großen Brüder, die ihre kleinen Brüder damit aufzogen, dass diese nicht gut klettern konnten und in allem etwas langsamer waren? Wo waren die ­Beinchensteller und Ohrenschnipser? Was war mit ­Beschimpfungen? Für Jonny sah das aus wie eine vollkommen fremde Welt, eine Welt, in der Brüder und Schwestern sich tatsächlich mochten!

»Welch traumgleiche Vorstellung!«, murmelte Jonny.

Es war ziemlich bekloppt, aber definitiv verlockend. Nein, streicht das: Es war dieRettung. Jonny konnte sein Glück kaum fassen. Wenn man nur mal überlegte, welche Möglichkeiten Geschwister­tausch.com ihm bot.

Ein neuer Bruder. Ein besserer Bruder. Ein Bruder, der ihm kein Salz in den Orangensaft kippte, der ihn nicht als menschliches Faultier bezeichnete und ihm nicht ins Ohr rülpste. Solch einen Bruder.

Jonny musste es ausprobieren. Keine Frage. Er konnte den neuen Bruder ja zurückgeben, wenn es nicht funktionierte.

Er klickte das Bewerbungsformular an.

Was sollte schon schiefgehen?

KAPITEL ZWEISTREIT, SCHICKSAL, SCHRIFTLICHE BEWERBUNG

Kurz bevor Jonny die Geschwistertausch-Anzeige sah, hatten er und sein älterer Bruder Ted sich gestritten. Mal wieder.

Es war ein besonders dummer Streit gewesen. Begonnen hatte er wie alle dummen Streite – wegen einer dummen Sache. Diesmal war es eine Unterhose. Aber nicht irgendeine. Es ging um die Unterhose des Unheils.

Jonny und Ted führten ihren Hund Widget im nahe gelegenen Park spazieren. Sie kamen zu einem kleinen Waldgebiet, wo seit Ewigkeiten eine ungewöhnlich große, bunte Männerunterhose in einem Baum hing. Über die Jahre, in denen die Brüder dort gespielt hatten, war diese Unterhose zu einer Legende geworden. Sie besaß eine Art gruseligen Glamour. Die Jungen fanden sie supereklig und eben auch ein bisschen unheimlich – aber sie zu ignorieren war unmöglich. So war sie zu dem Namen Unterhose des Unheils gekommen, und nun hatte Jonny blöderweise Widgets Frisbeescheibe in diesen Baum geworfen. Sie klemmte genau unter der sagenumwobenen Unterhose fest.

»Oh verflucht«, sagte Jonny.

»Gut gemacht!«, sagte Ted. »Du hast sie in den Baum geworfen, also musst du sie auch wieder herunterholen.«

Jonny runzelte die Stirn. Es gab da zwei Probleme. Zum einen die Tatsache, dass die Frisbee so nah an der Unterhose hing, dass ernsthaft die Gefahr bestand, das abstoßende Kleidungsstück zu berühren. Zum anderen war Jonny nicht besonders gut im Klettern.

»Na los, Jonny, auf geht’s«, stichelte Ted. »Widget kann nicht den ganzen Tag auf seine Frisbee warten. Kletter hoch und hol sie ihm … Was? Du bist ein miserabler Kletterer? Äh, wie bitte? Du hättest es lieber, wenn ich die Scheibe holen würde, weil ich eine Kanone im Klettern bin?«

»OKAY!«, sagte Jonny wütend und zog hastig die Jacke aus. »Ich hole sie. Pass solange auf meine ­Jacke auf.«

»Danke!«, antwortete Ted. »Vielleicht kann ich sie später als Decke benutzen. Schließlich bist du so langsam, dass wir um Mitternacht noch hier sein könnten.«

Langsam, genau wie Ted vorausgesagt hatte, und zittrig, was Ted ebenfalls angekündigt hatte, begann Jonny den Aufstieg.

»Ich mache nur so langsam, um nicht aus Versehen danebenzutreten. Hetz mich nicht!«, sagte Jonny und streckte sich nach dem nächsten Ast.

»Erspar mir den Livekommentar«, sagte Ted.

Nach ein paar Minuten tauchte am Fuß des Baumes ein winziger Hund auf, gefolgt von seiner Besitzerin, einer älteren Dame, und begann zu Jonny hinaufzukläffen.

»Das da oben ist mein Bruder«, sagte Ted zu der Frau und zeigte auf Jonny. »Er hat schon wieder seine Unterhose in den Baum geworfen und muss sie sich jetzt holen.«

Die Dame spähte in den Baum, während ihr Hund weiter aufgeregt kläffte.

»Ach ja, ich sehe sie«, sagte sie. »Nun, das ist aber auch eine fabelhafte Unterhose, nicht wahr? Ich kann gut verstehen, dass er sie zurückhaben will. Sind da Raumschiffe drauf?«

»Autos«, sagte Ted.

»Schick«, sagte die Dame. »Aber er sollte sie nicht noch einmal in einen Baum werfen. Sonst wird sie irgendwann noch von einer Elster stibitzt.«

»Das habe ich ihm auch gesagt«, stimmte Ted ihr zu und verkniff sich das Lachen. »Entschuldigen Sie, aber ich helfe ihm besser mal, sonst sind wir Weihnachten noch hier. Er ist so langsam wie ein menschliches Faultier!«

Mit diesen Worten sprang Ted auf den Baum, zog sich rasch von Ast zu Ast in die Krone und kam genau in dem Augenblick an seinem Bruder vorbei, als dieser in Reichweite der Frisbeescheibe war.

»Hab sie!«, rief Ted, schnappte sich die Scheibe, warf sie hinunter zu Widget, schwang sich dann selbst nach unten und landete elegant auf den Füßen. »Du kannst jetzt runterkommen, Brüderchen – es sei denn, du willst unbedingt die Unterhose des Unheils anfassen. Guck! Da vorne hängt sie.«

Jonny entfuhr ein Geräusch – es klang ein wenig wie ein Knurren – und spürte, wie sein Gesicht brannte. Er zitterte vor Wut und Scham, als er langsam den Rückweg antrat.

Als die beiden Brüder wieder ins Haus trampelten, konnte Jonny vor Zorn immer noch kein Wort hervorbringen. Er rannte die Treppe hinauf und hörte, wie seine Mutter schimpfte, weil er die Haustür ins Schloss warf, aber das war ihm egal. Er schlug auch die Zimmertür hinter sich zu. So! Da hatten sie es. Er hatte die Schnauze voll davon, dass Ted ihn ärgerte, dass er der kleine Bruder war. Und dann erzählte Ted der alten Frau auch noch, die Unterhose des Unheils gehöre ihm …

Jonny klappte seinen Laptop auf, und in dem Moment erschien wundersamerweise die Geschwis­tertausch-Website, auf der stand, dass all das ein Ende haben könnte. Der perfekte Zeitpunkt. War das Geschwistertausch-Team in seinen Kopf eingedrungen und hatte seine Gedanken gelesen? Egal.

Er las, was auf der Homepage stand:

MANCHMAL HAT MAN NICHT DEN BRUDER ODER DIE SCHWESTER BEKOMMEN, DIE MAN VERDIENT HÄTTE. UNSER ZIEL BEI GESCHWISTERTAUSCH.COM IST ES, DAS IN ­ORDNUNG ZU BRINGEN. ES GIBT SO VIELE BRÜDER UND SCHWESTERN AUF DER WELT, DASS WIR GARANTIERT DEN ODER DIE PASSENDE FÜR DICH FINDEN!

Jonnys Herz schlug schneller.

ES WAR NOCH NIE LEICHTER, DEINEN ­BRUDER ODER DEINE SCHWESTER BEI GESCHWISTERTAUSCH.COM EINZUTAUSCHEN! FÜLLE EINFACH DAS FORMULAR AUS, UND DU ­BEKOMMST INNERHALB VON 24 STUNDEN EIN NEUES GESCHWISTERKIND, SORGFÄLTIG AUS UNSERER RIESIGEN DATENBANK FÜR DICH AUSGEWÄHLT. UNSER ENGAGIERTES TEAM ARBEITET TAG UND NACHT DARAN, DEN PERFEKTEN BRUDER ODER DIE PERFEKTE SCHWESTER FÜR DICH ZU FINDEN. SOLLTEST DU TROTZDEM NICHT HUNDERTPROZENTIG ZUFRIEDEN SEIN, KANNST DU IHN ODER SIE WIEDER ZURÜCKGEBEN UND BEKOMMST DAFÜR ERSATZ ODER DEINEN URSPRÜNGLICHEN BRUDER/DEINE URSPRÜNG­-LICHE SCHWESTER ZURÜCK.

Unglaublich! Zum ersten Mal in seinen beinahe zehn Lebensjahren boten sich für Jonny über diese Website Macht, eine Wahl, Freiheit! Wie gut sich das anfühlte! Er rieb sich die Hände und begann das Formular auszufüllen.

Als Erstes gab es zwei Optionen:

TAUSCHST DU EIN GESCHWISTERKIND?WILLST DU SELBST EINGETAUSCHT WERDEN?

»Das ist einfach«, murmelte Jonny. »Ich tausche. Ich. Ich habe hier die Macht!« Er lachte wie ein genialer Bösewicht, als er ein Häkchen neben die erste Option setzte. Bei Tic Tac, war das aufregend! Als Nächstes musste er die Frage beantworten:

TAUSCHST DU EINEN BRUDER ODER EINE SCHWESTER?

»Auch einfach«, murmelte Jonny. »Einen Bruder.«

Dann:

HÄTTEST DU GERNE EINEN BRUDER ODER EINE SCHWESTER?

Jonny setzte ein Häkchen bei »Bruder«. Dann musste er ein paar Informationen über sich selbst ­angeben.

ALTER: NEUN.

HOBBYS: FAHRRADFAHREN, SCHWIMMEN, COMPUTERSPIELE, DONUTS, EINFACH IRGENDWAS SPIELEN.

DINGE, DIE DU AM WENIGSTEN MAGST:

MEINEN BRUDER TED (ER ÄRGERT MICH DIE GANZE ZEIT UND HÄLT SICH FÜR COOL, NUR WEIL ER SCHON AUF DIE WEITERFÜHRENDE SCHULE GEHT)NEUN JAHRE ALT ZU SEIN (ICH BIN JA SCHON FAST ZEHN, ABER KANN ICH BITTE EINEN BRUDER HABEN, DER JÜNGER IST ALS ICH ODER ZUMINDEST GLEICH ALT?)ROSENKOHLKLETTERNÜBELKEIT

Dann gab es eine ganze Seite darüber, was für einen Bruder Jonny sich wünschte. Rasch klickte er nacheinander folgende Möglichkeiten an: witzig, abenteuerlustig, mag Essen, mag Sport, besonders Schwimmen, mag Hunde. Die Kästchen bei »lebendig« und »menschlich« ließ er frei. Er wollte einen Bruder, also waren das ja wohl ziemlich offensichtliche Dinge, oder?

Das sollte reichen, dachte Jonny. Sein Herz raste nun. In nur drei Minuten war das Formular ausgefüllt. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Nur ein Klick«, sagte er, »und morgen um diese Zeit habe ich einen besseren Bruder. Und morgen ist Freitag! Wochenende!«

Jonny war ein wenig schwummerig. Er kicherte leise vor sich hin. Fast war ihm schwindelig wegen der Macht, die er nun besaß! Er musste nur das Formular abschicken. Nichts leichter als das! Doch dann zögerte er … Sollte er es wirklich tun? War das in Ordnung? Würde er Ärger bekommen? Ihr Vater lebte nicht mehr bei ihnen, also würde es ihm vielleicht nicht auffallen, aber was würde ihre Mutter sagen? Sie würde sich freuen, sagte sich Jonny schnell. Ja! Schließlich hatte sie genug von den ständigen Streitereien zwischen Ted und ihm. Dies hier war die perfekte Lösung. Mit einem Stirnrunzeln fragte er sich, wie Ted sich wohl fühlen würde, wenn er ausgetauscht wurde, aber bevor er die Überlegung zu Ende führen konnte, hörte er seinen Bruder zu ihm hinaufbrüllen.

»Essen, du Loser!«, rief Ted. »Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst, um die Treppe runterzuklettern. Sie ist ja schon ziemlich steil. Lass dir auf jeden Fall genug Zeit.«

Das war’s! Zum zweiten Mal an diesem Tag spürte Jonny, wie die Wut in ihm brodelte wie Limo in einer Dose, die man zu sehr geschüttelt hatte. Jetzt reichte es ihm! Aber so was von!

»Ich bin also der dämliche kleine Bruder, ja? Tja, hier ist etwas, das ich richtig gut kann«, murmelte er, reckte das Kinn vor und bewegte den Mauszeiger auf »Senden«.

KLICK!

»Fertig!«, sagte er und klappte den Laptop zu.

KAPITEL DREIWEG

In dieser Nacht hatte Jonny einen merkwürdigen Traum. Es klingelte an der Tür, und als er sie öffnete, stand dort sein neuer Bruder. Aber es war kein Junge, sondern ein winziges Eichhörnchen in einem grünen Anzug, das ein Käsesandwich aß.

Jonny erwachte mit einem Ruck, setzte sich auf und rieb sich die Augen. Dann erinnerte er sich! Er hatte es getan! Er hatte Ted getauscht, und heute würde hoffentlich sein neuer, besserer, nein, doppelt und dreifach besserer Bruder ankommen.

»Du wirkst nervös«, sagte sein bester Freund George später in der Schule zu ihm. Jonny tippte wie wild mit dem Stift auf sein Pult. »Meganervös. Was ist los?«

»Ach, bloß eine kleine Veränderung in unserer Familie«, antwortete Jonny. Dann beugte er sich hinüber, bis er ganz dicht bei George war. »Du wirst es nicht glauben, aber ich habe Ted eingetauscht!«, flüsterte er ihm ins Ohr.

»Eingetauscht?«, fragte George.

»Ja! Ich bekomme heute einen neuen Bruder. Cool, was?«

»Wie das denn? Übers Internet?«

»Ja, es gibt da so eine Website, hast du davon schon gehört? Sie heißt Geschwistertausch.COM, und da wird ein neues passendes Geschwisterkind für dich gesucht. Ich musste es unbedingt ausprobieren! Er kommt nach der Schule.«

George starrte Jonny stirnrunzelnd an und wollte gerade etwas sagen, als ihre Lehrerin, Mrs Flannery, ihnen befahl, mit dem Flüstern aufzuhören und sich auf ihre Rechtschreibung zu konzentrieren.

Sobald es zum Schulschluss läutete, rannte Jonny nach Hause. Als er den Schlüssel ins Schloss steckte, zitterte seine Hand, so aufgeregt war er. Drinnen blieb er stehen und lauschte.

»Ted?«, rief er. »Bist du da?«

Stille.

Jonny warf einen Blick ins Wohnzimmer.

»Kein Ted zu sehen«, flüsterte er. »Ich führe Selbstgespräche, aber egal.«

Er ging weiter den Flur entlang. »Kein Ted in der Küche! So weit, so gut!«

Dann machte er sich auf den Weg nach oben.

»Bad?«, sagte er und schaute hinein. »Ted-frei! Mein Zimmer? Jep, keine Spur von einem älteren Bruder.«

Schließlich blieb Jonny vor Teds Zimmer stehen. Seine Höhle, das Hauptquartier des großen Bruders, das ­Allerheiligste. Auf einem Schild an der Tür stand ­ZUTRITT VERBOTEN FÜR BABYBRÜDER. Jonny schluckte, ignorierte das Schild und betrat vorsichtig das Zimmer.

Leer.

Er setzte sich auf Teds Bett und sah sich um. Er grinste und legte sich dann rasch die Hand auf den Mund, als hätte er etwas Unflätiges gesagt. Dann begann er, auf und ab zu wippen, zuerst nur ganz leicht. Dann ein wenig stärker. Und dann sprang er mit Schuhen und allem auf das Bett und hüpfte wild, klatschte die Zimmerdecke ab und jauchzte vor Vergnügen. Schließlich ließ er sich keuchend aufs Bett fallen.

»Hier scheint kein einziger Ted im Haus zu sein«, sagte er. »Warum wohl? Oooh, Moment … War Ted vielleicht so nervig, dass sein Bruder beschlossen hat, ihn im Internet zu tauschen? Ja, ich glaube schon. Und kann es sein, dass derselbe Bruder nun auf einen Ersatzbruder wartet? Oh ja, so ist es!«

DING DONG.

Es läutete an der Tür.

»Und da ist er!«, sagte Jonny. »Der Spaß kann beginnen!«

KAPITEL VIERMERVYN

Jonny raste die Treppe hinunter und riss voller ­Erwartung die Haustür auf. Vor ihm auf der Fußmatte stand ein kleiner Junge ungefähr in Jonnys Alter, mit blonden Haaren und einem breiten Lächeln.

»Hallo«, sagte Jonny.

»Hallo«, sagte der Junge.

»Bist du …?«, fragte Jonny.

»Ja, bin ich!«, sagte der Junge.

»Mein neuer …«

»Ja!«, sagte der Junge.

»Super!«, sagte Jonny.

»Ja, ne?«, sagte der Junge. »Ich bin echt …«

»Ich auch!«

Nun grinsten die beiden Jungen, als wären ihre Gesichter auseinandergezogen worden. Widget saß zwischen ihnen und sah vom einen zum anderen.

»Der ist ja nett«, sagte der Junge und zeigte auf Widget. »Redet nicht viel, was?«

»Viel reden? Nein, wohl nicht. Aber er kann ­bellen.«

»Ja? Oh, natürlich«, sagte der Junge. »Kann ich reinkommen?«

»Oh, Mist, sorry, klar«, sagte Jonny. »Moment mal, wie heißt du eigentlich?«

»Mervyn«, antwortete der Junge.

»Cooler Name!«, sagte Jonny. »Herzlich willkommen, Mervyn. Ich bin Jonny. Das ist Widget. Lass uns darauf ein Glas Milch trinken.«

Mervyn folgte Jonny in die Küche. Dieser konnte nicht aufhören zu grinsen.

Er hatte sich tatsächlich einen neuen Bruder organisiert, und bislang schien der super zu sein. Nette blonde Haare. Ein breites Lächeln. Ein bisschen merkwürdige Klamotten, als hätte er sie sich von jemandem geliehen, der vor drei Jahrzehnten cool gewesen war – aber egal.

Das Wichtigste war, dass Mervyn sich freute, Jonny zu sehen. Mal was anderes. Ted freute sich nie, ihn zu sehen.

»Also, was machst du gern?«, fragte Jonny. »Ich fahre gern Fahrrad und mag Schwimmen. Das sind, glaube ich, meine Lieblingshobbys.«

»Ich auch!«, sagte Mervyn »Na ja, Schwimmen zumindest. Ich bin noch nie Fahrrad gefahren.«

Überrascht prustete Jonny die Milch heraus.

»Noch nie Fahrrad gefahren?«, fragte er.

»Nein«, sagte Mervyn.

»Nicht ein einziges Mal?«

»Na ja, äh, da, wo ich herkomme, haben wir es nicht so mit Fahrrädern.«

»Und woher kommst du? Aus Beklopptihausen? Aus einem schrägen Paralleluniversum, wo es weit und breit kein einziges Fahrrad gibt?«

»Äh … so ungefähr. Nah dran«, antwortete Mervyn.

»Aber du bist kein Außerirdischer, oder?«, fragte Jonny grinsend.

»Nein!«, antwortete Mervyn kichernd. »Das wäre ja total verrückt!«

»Ja, das wäre verrückt«, stimmte Jonny ihm zu, und sie lachten.

»Nicht so schlimm«, sagte Jonny dann und überlegte. »Die Tante von meiner Mutter, Bea, hat nie gelernt, Auto zu fahren, und sie ist schon zweiundsechzig. Außerdem hat sie noch nie einen Schokoriegel gegessen. Ich habe ihr mal einen angeboten, aber sie wollte ihn nicht einmal probieren.«

»Was ist denn überhaupt ein Schokoriegel?«, fragte Mervyn.

Jonny starrte ihn für den Bruchteil einer Sekunde an, beschloss dann aber, das zu übergehen. Er hatte eine Idee.

»Ich weiß was!«, sagte er. »Ich kann dir Radfahren beibringen.«

»Echt?«, fragte Mervyn. »Würdest du das wirklich tun?«

»Klar, Bruder!«, sagte Jonny. »Dafür sind Brüder doch da. Nette Brüder zumindest. Und ich bin definitiv ein netter, versprochen! Komm, wir probieren es sofort aus!«

KAPITEL FÜNFRAUF AUFS RAD!

Jonny holte sein Fahrrad, das an der Seite des Hauses lehnte, und schob es zu Mervyn. Mervyn wartete auf dem Gehweg.

»Du kannst mein Rad nehmen«, sagte Jonny. »Ich nehme Teds. Schließlich bin ich jetzt der große Bruder.«

Er ging zurück, um auch Teds Fahrrad zu holen. Als er neben dem Rad stand, sah man deutlich, dass es zu groß für ihn war. Aber davon würde er sich nicht abhalten lassen.

»Schau gut zu, damit du es lernst, Merv. Du setzt dich so hin, stellst die Füße auf die Pedale und stößt dich ab …«

Jonny sprang auf Teds Fahrrad, schwankte ein wenig und begann dann, den Gehweg auf und ab zu fahren. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er kaum mit den Füßen an die Pedale reichte.

»Ist es Absicht, dass du so wackelst?«, rief Mervyn. »Wow, du fährst aber echt schnell, Jonny! Das klingt lustig, wie du schreist! Achtung, da ist was vor dir! Ist das ein Seehund? Oh, und pass auf das große grüne Ding auf … Oh nein, jetzt bist du voll reingefahren. Ist das … Machst du das zum Spaß, oder …? Sieht ein bisschen aus, als würde es wehtun. Macht man das so? Oh, warte mal, du steckst ja fest …«

Das, was Jonny den Weg versperrt hatte, war kein Seehund.

Es war Stanley. Von Jonny und Ted auch der dicke Stan genannt. Stanley war der übergewichtige Kater ihrer Nachbarin Mrs Algernon. Jonny hatte Stanley zwar gerade noch ausweichen können, war dadurch aber in Mrs Algernons Hecke gelandet.

Nicht gut. Zum einen, weil Mrs Algernon stolz auf ihre gepflegte Hecke war, zum anderen, weil sie für ihre Strenge und miese Laune bekannt war. Die Chancen, dass sie Jonnys Unfall lustig fand, lagen also bei null. Jonny hatte sie noch nie lächeln gesehen – noch nie! Es schien, als hielte sie Lächeln für eine vollkommen absurde Idee. Als Mervyn ihn einholte, war Mrs Algernon auch schon aus dem Haus gekommen. Sie wirkte ziemlich verstimmt. War ja klar …

»Du hast ein Loch in meine Ligusterhecke gerissen«, sagte sie.

Jonnys Kopf und Schultern steckten noch in besagter Hecke. Mervyn zog kräftig an ihm und half ihm so heraus. Jonny fiel rückwärts auf den Gehweg und klaubte sich eine Handvoll Zweige aus den Haaren. »Tut mir leid!«, sagte er zu Mrs Algernon, die ihn wütend anfunkelte.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Mervyn.

»Ich glaube schon«, sagte Jonny. »Das habe ich extra gemacht. Voll! Alles Teil des Plans, verstehst du?«

Mervyn sah verwirrt aus.

»Okay, in die Hecke zu fallen vielleicht nicht«, gab Jonny zu. Er wischte sich ein paar Blätter vom Ärmel. »Es war aber nicht nur meine Schuld! Ich meine, das Rad ist größer, als ich dachte, und dann war da Stanley, und ich musste einen Schlenker machen, um ihn nicht zu überfahren, und dann war da die Hecke, und ich musste …« Jonny verstummte. »Okay, es war eine Katastrophe!«

Mervyn fing an zu lachen. Nun kicherte auch Jonny. Die beiden Jungen schauten zu Mrs Algernon, deren Blick so hart war, dass sie damit Steine hätte zum Splittern bringen können. Und dann gab es kein Halten mehr. Die Jungen kriegten sich nicht mehr ein vor Lachen, während Mrs Algernon sie weiter böse anstarrte, die Arme vor ihrer beachtlichen Brust verschränkt. Schließlich riss Jonny sich zusammen.

»Zum Glück war die Hecke da«, sagte er zu Mrs Algernon. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie nicht derselben Meinung war. »Ich bringe ihm das Radfahren bei«, fügte er hinzu und zeigte auf Mervyn.

Mrs Algernon hob die Augenbrauen. »Wenn du in Zukunft meine Hecke auch nur ansiehst, geschweige denn sie berührst, hineinfällst, eine Lücke hineinreißt oder sie auf irgendeine andere Art und Weise beschädigst, wirst du die volle Wucht meines Zorns zu spüren bekommen«, sagte sie.

»Klar, Mrs A.«, sagte Jonny, salutierte und zuckte dann zusammen.

»Bist du verletzt?«, fragte Mervyn.

»Passt schon. Aber danke, dass du fragst. Ted, mein großer Bruder, hätte sich ganz schön über mich lustig gemacht, wenn er gesehen hätte, wie ich in die Hecke gesegelt bin.«

»Aber ich bin ja nicht Ted«, sagte Mervyn.

»Nein«, sagte Jonny lächelnd. »Das bist du wirklich nicht.«

KAPITEL SECHSNICHT FISCH, NICHT FLEISCH

Als die Jungen nach Hause kamen, deckte Jonnys Mutter gerade in der Küche den Tisch.

»Heute gibt es Fischstäbchen«, sagte sie. »Dein Freund kann gern zum Essen bleiben, Jonny.«

»Das ist Mervyn«, sagte Jonny, aber seine Mutter hörte ihn nicht. Sie steckte mit dem Kopf tief im Küchenschrank, wo sie den Ketchup suchte.