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Als die junge Pia Sven kennenlernt, wähnt sie sich im siebten Himmel. Er ist erfahren, kultiviert und trägt sie auf Händen. Sie beginnen ein gemeinsames Leben, über dem von Anfang an ein Schatten hängt, denn Sven ist Alkoholiker. Immer wieder kommt es zu Gewaltausbrüchen und Demütigungen. Ständig gelobt er Besserung, die Pia zu gerne glauben möchte. Wird es ihr gelingen, ihn vom Alkohol wegzubekommen oder zieht er sie am Ende mit in den Abgrund? Was ist stärker LIEBE oder SUCHT?
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Seitenzahl: 732
Veröffentlichungsjahr: 2017
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JOANA LEHMANN
HILFE
mein Mann trinkt!
Als die junge Pia Sven kennenlernt, wähnt sie sich im siebten Himmel.Er ist erfahren, kultiviert und trägt sie auf Händen.Sie beginnen ein gemeinsames Leben, über dem von Anfang an ein Schatten hängt, denn Sven ist Alkoholiker.Immer wieder kommt es zu Gewaltausbrüchen und Demütigungen.Ständig gelobt er Besserung, die Pia zu gerne glauben möchte.Wird es ihr gelingen, ihn vom Alkohol wegzubekommen oder zieht er sie am Ende mit in den Abgrund?Was ist stärker LIEBE oder SUCHT?
Lesen Sie einen Roman über eine Frau, die bereit ist, alles für die Liebe ihres Lebens zu tun.EIN PACKENDER UND ERSCHÜTTERNDER TATSACHENROMAN.
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Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der elektronischen Vervielfältigung, der Übersetzung in andere Sprachen sowie das Recht der Speicherung und Verarbeitung, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Alle in diesem Roman vorkommenden Personen sind ausschließlich fiktiv und frei erfunden. Sollten dennoch Ähnlichkeiten mit real existierenden oder toten Menschen und ihren Lebensläufen bestehen, so sind diese rein zufällig und keineswegs beabsichtigt.
Lektorat/Korrektorat:
Satz & Silbe
Joana Lehmann (Pseudonym) wurde 1959 in Frankfurt am Main geboren.In Frankfurt verbrachte sie auch ihre Jugendzeit. Sie lernte dort ihren Mann kennen und zog nach ihrer Heirat in den Main-Taunus Kreis. Nacht acht Jahren Ehe verstarb ihr Mann plötzlich und unerwartet. Einige Jahre später fand sie einen neuen Lebenspartner, heiratete ihn und lebt seitdem glücklich in der Nähe von Kaiserslautern.
Weitere Informationen zu den Büchern der Autorin finden Sie am Ende des Buches oder unter www.joana.lehmann.de
Die Rolle der Angehörigen von Alkoholikern
Diese Menschen sind oft über Jahre hinweg in ein Leben hinein geraten, das sie sich sicherlich nicht gewünscht haben, und das anfangs in ihrer Tragweite nicht erkennbar war. Vielleicht erkennt der eine oder andere Leser in diesem Buch seine eigene Situation. Jedoch möchte ich zu Bedenken geben, dass bei jedem Alkoholkranken der Suchtverlauf auf eine andere Art und Weise verläuft.
Es wird viel geschrieben über den Alkoholiker, über Therapiemöglichkeiten, über die Folgen der Krankheit, über die Situation im Allgemeinen. Dabei wird leicht vergessen, dass auch andere Menschen in das Leben eines Alkoholkranken eingebunden sind. In erster Linie die Familie, aber auch Verwandte und nicht zuletzt Arbeitskollegen.
Die am stärksten Mitbetroffenen sind die Familienangehörigen. Wer einmal das Leben eines Alkoholikers, vielleicht auch nur auszugsweise, miterleben durfte oder musste, kann sich ein Bild von seinen Problemen machen. Das massive Trinken führt häufig um Verlust des Arbeitsplatzes und/oder des Führerscheins, Krankenhausaufenthalte wegen Entzug sind nur die Spitze des Eisberges.
Co-Abhängigkeit
Viele Angehörige, die die Folgen von Alkohol und Alkoholabhängigkeit zu spüren bekommen, schämen sich und erzählen niemandem von ihrem Leid. Insbesondere Frauen bemühen sich teils jahrzehntelang, den Schein zu wahren und den Partner zu unterstützen. So entwickelt sich ein Leben, das völlig von der Abhängigkeit des Partners gesteuert wird. Eine sogenannte Co-Abhängigkeit entsteht. Auch körperlich hinterlässt die Abhängigkeit ihre Spuren bei dem oder der Angehörigen: Nervosität und Schlaflosigkeit, Magenerkrankungen, Migräne, Depressionen bis hin zur eigenen Alkoholabhängigkeit sind typische Folgen.
Kinder trifft die Sucht eines oder beider Elternteile besonders hart. Vereinsamt und überfordert versuchen sie häufig, der Familie und dem Abhängigen zu helfen. Ihr Risiko, später selbst einmal von Suchtmitteln abhängig zu werden oder sich von einem suchtmittelabhängigen Menschen abhängig zu machen, ist immens hoch. So haben rund 60 Prozent der mit Alkoholkranken verheirateten Frauen einen suchtkranken Elternteil.
Viele erwachsene Angehörige und Kinder aus suchtbelasteten Familien brauchen daher Hilfe, um sich aus der Co-Abhängigkeit zu lösen und ein eigenständiges, glückliches Leben zu führen.
Am Samstagabend besuchte Pia mit ihrer Bowlingclique eine Karnevalsveranstaltung. Der Abend verlief leider anders, als sie es erwartet hatte. Ihre Kumpels leisteten ihr eine Weile Gesellschaft, dann wurde ihnen langweilig und sie gingen an die Bar, um sich dort anderweitig zu vergnügen. Pia blieb als Einzige am Tisch zurück. Gerne hätte sie sich unter die Tanzenden gemischt, aber ohne männliche Begleitung traute sie sich das nicht.
Aus Enttäuschung, weil vorwiegend nur Paare im Saal waren und sie niemand zum Tanzen aufforderte, trank sie mehr Wein, als sie vertrug. Pia bemerkte, dass sie allmählich einen Schwips bekam.
Zur fortgeschrittenen Stunde setzte sich plötzlich ein Mann zu ihr an den Tisch. Viel von seinem Gesicht konnte sie allerdings nicht erkennen, da er eine Maske trug. Pia packte die Gelegenheit beim Schopf und fragte den Unbekannten, ob er mit ihr tanzen wollte. Dieser nahm ihr Angebot gerne an. Er zog die Lederjacke aus und legte sie über den Stuhl. Er nahm sie an der Hand, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt und führte sie zur Tanzfläche. Pia stellte jedoch nach wenigen Minuten fest, dass er ein miserabler Tänzer war. Als er ihr das vierte Mal auf die Füße trat, bat sie ihn höflich aber bestimmt, den Tanz zu beenden. Galant brachte er sie an den Tisch zurück, zog die Maske aus und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Pia musste zweimal hinsehen. Der Mann sah fabelhaft aus. Das er groß, schlank und muskulös war hatte sie bereits vorher wohlwollend registriert. Er hatte schwarzes, leicht gewelltes Haar, das ihm in die Stirn fiel, einen Oberlippenbart, braune Augen und eine nette Ausstrahlung. Sie sah ihn fasziniert an. Er bemerkte dies und vermied sie anzusehen.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Pia mutig. Ihr Herz schlug bis zum Hals vor Aufregung.
»Mein Name ist Sven Bayer. Ich wohne in Egelsbach, das ist ein Stadtteil von Offenbach, bin aber in Recklinghausen geboren.«
»Ich bin Pia und wohne in einem Vorort von Frankfurt.«
»Oh, das finde ich toll. Ich kenne noch nicht viel von der Gegend, da ich erst seit Kurzem hier wohne. Vielleicht kannst du mir ja mal irgendwann die Stadt zeigen!«
»Kann ich gerne machen!«, sagte Pia.
Sven blieb noch für eine Weile bei ihr am Tisch sitzen und sie plauderten über belanglose Dinge. Plötzlich kam einer seiner Kumpels an den Tisch und drängte zum Aufbruch. Sven erhob sich sogleich und reichte ihr die Hand zum Abschied. Sie sah ihn verwirrt an, weil sie dachte, etwas falsch gemacht zu haben.
»Ich muss leider gleich los. Meine Kumpels wollen nach Hause, und da ich im Moment kein Auto habe, bin ich auf eine Mitfahrgelegenheit angewiesen. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder!«, sagte Sven und sah ihr dabei tief in die Augen.
Sie hatte keine Ahnung, warum sie plötzlich in ihrer Handtasche wühlte, eine Visitenkarte zutage förderte und sie ihm überreichte. Das war sonst nicht ihre Art, einer ihr völlig fremden Person bereits beim ersten Treffen die Karte zu überreichen.
»Wenn du möchtest, kannst du mich ja mal anrufen! Ich würde mich freuen«, hörte sie sich zu ihrem eigenen Erstaunen sagen. Was war bloß in sie gefahren? Sie kannte den Mann doch kaum. Aber irgendetwas an ihm zog sie magisch an. War es seine wohlklingende Stimme oder sein makelloses Aussehen? Spielte ihr der übermäßige Alkoholgenuss einen Streich?
»Kann ich machen«, antwortete er einsilbig, nahm ihr die Visitenkarte aus der Hand und ließ sie in der Hosentasche verschwinden.
»Ich muss ebenfalls gehen! Ich habe gar nicht bemerkt, dass es schon so spät ist! Meine Freunde wollen vermutlich auch gleich aufbrechen!
„Komm gut nach Hause«, sagte Pia.
»Du auch«, erwiderte er.
Wie vermutet, hatten sich ihre Freunde zwischenzeitlich am Tisch eingefunden und warteten bereits ungeduldig auf Pia und drängten zum Aufbruch. Sie bezahlte ihre Rechnung und verließ kurz darauf mit ihnen gemeinsam die Stadthalle, um sich auf den Heimweg zu begeben.
Zu Hause angekommen dachte sie über den unverschämt gut aussehenden Mann nach, der fortwährend ihre Gedanken beschäftigte. Die Chance, dass er sich noch einmal bei ihr melden würde, sah sie als höchst unwahrscheinlich an. Vermutlich hatte er ihre Visitenkarte bereits in den Papierkorb geworfen und verschwendete keinen weiteren Gedanken mehr an sie.
Im Prinzip konnte ihr das auch egal sein. Eigentlich war sie mit ihren neunzehn Jahren überzeugter Single und wollte es auch noch eine Weile bleiben, da sie ihre persönliche Unabhängigkeit über alles liebte. Sie hatte sich vor Kurzem erst von ihrem Elternhaus losgesagt und sich auf eigene Füße gestellt. Endlich konnte sie ihr Leben so gestalten, wie sie es wollte, und war keinem mehr Rechenschaft für ihr Handeln schuldig. Auf ihre kleine Wohnung war sie mächtig stolz. Es war schließlich ihre erste eigene Bleibe.
Trotzdem bekam sie Sven Bayer nicht mehr aus dem Kopf. Gerne hätte sie die Faschingstage mit ihm verbracht.
Sie hatte die Hoffnung mittlerweile aufgegeben, dass Sven sich bei ihr melden würde. Deshalb feierte Pia die verbleibenden Faschingstage zusammen mit der Familie und ihren Freunden. Am Aschermittwoch hatte sie noch Urlaub, wie all die Jahre zuvor, um sich von der närrischen Zeit zu erholen. Am darauffolgenden Tag musste sie wieder ins Büro.
Ihr Chef hatte sie mit jeder Menge Arbeit eingedeckt. Es rächte sich stets, wenn sie sich einige Tage freigenommen hatte, dann stapelten sich nachher die Akten auf dem Schreibtisch bis zur Decke. Gänzlich in ihre Beschäftigung vertieft und vollkommen dem Bürostress erlegen, riss sie das Klingeln des Telefons aus ihren Gedanken. Verwirrt nahm sie den Hörer ab. Es war kein anderer als Sven. Überrascht und mit klopfendem Herzen starrte sie den Telefonhörer an.
»Ich habe nicht viel Zeit, habe eine Menge Arbeit zu erledigen, die während meines Urlaubs liegen geblieben ist«, entgegnete Pia mehr stammelnd als sprechend.
»Ich möchte dich gerne wiedersehen, wenn du magst!«, sagte Sven am anderen Ende der Leitung.
»Das freut mich. Wie wäre es, wenn du mich am Montag nach Feierabend um siebzehn Uhr vom Geschäft abholst, dann könnten wir anschließend zu mir fahren und ich koche uns etwas Leckeres?«, sagte Pia.
»Ja, dann bis Montag«, antwortete Sven erfreut und verabschiedete sich.
Je näher der Montag kam, desto nervöser und angespannter wurde sie. Am Samstagmorgen brachte sie ihre Wohnung auf Hochglanz und anschließend ging sie zum Einkaufen. Am Nachmittag traf sie sich mit ihrer Clique zum Bowlingspielen. Am Sonntagabend traf sie Vorbereitungen für das gemeinsame Essen mit Sven. Sie bereitete einen leckeren vegetarischen Auflauf vor, der nur noch in den Backofen geschoben werden musste. Während der Garzeit hatte sie dann genügend Zeit für Sven und brauchte sich nicht mit dem Kochen abzumühen. Sie deckte bereits am gleichen Abend liebevoll den Essenstisch mit ihrem besten Geschirr ein. Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen. Sekt, Wein und Bier hatte sie schon kaltgestellt. Es war für alles gesorgt.
In dieser Nacht schlief sie äußerst unruhig, da sie ständig an das bevorstehende Treffen mit Sven denken musste.
Am nächsten Tag wählte Pia ihre Kleidung mit besonderer Sorgfalt aus, das tat sie zwar immer, wenn sie zur Arbeit ging. Aber heute traf sie Sven nach Feierabend, da durfte ihre Kleiderauswahl weniger konservativ ausfallen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, würde sie in einer Jeanshose und einem saloppen Pullover am Arbeitsplatz erscheinen, aber das sah ihr Chef überhaupt nicht gerne. Er verbat sich, dass die Frauen in Hosen ins Büro kamen. Er bevorzugte es, dass sich die Mitarbeiterinnen in Röcken oder einem hübschen Kleid zeigten, um die Chefetage gebührend zu repräsentieren. Die Röcke durften allerdings auch nicht zu kurz sein. Den Geschmack des Chefs zu treffen war keinesfalls einfach. Pia entschied sich für einen eng anliegenden Rock, der knapp bis über die Knie reichte. Er hatte hinten einen Schlitz und gab einen Blick auf ihre langen schlanken Beine frei. Eine türkisfarbene Seidenbluse, die wundervoll zu ihren grünen Augen passte, rundete das hübsche Gesamtbild ab. Zufrieden drehte sie sich vor dem großen Spiegel im Flur.
Selbst ihr Chef sah zweimal hin, als sie ihm am Morgen gut gelaunt den Kaffee servierte. Trotz der anerkennenden Blicke ihres Vorgesetzten und der Kollegen im Büro konnte sie ihre Unruhe, die sie erfasst hatte, kaum verbergen. Ständig sah sie auf ihre Armbanduhr. Kurz nach sechszehn Uhr lief sie nervös im Büro auf und ab. Sie blickte alle fünf Minuten aus dem Fenster zur Straße hinunter, von dem aus sie den Eingangsbereich des Bürogebäudes im Blickfeld hatte. Leider konnte sie nicht den gesamten Bereich einsehen. Als endlich ihre Arbeitszeit vorüber war, eilte sie hastig zur Damentoilette, zog mit dem Stift ihre Lippen nach, frischte ihr Make-up auf, kämmte ihr Haar, machte auf dem Absatz kehrt und fuhr mit dem Aufzug hinunter in die Eingangshalle.
Als sie nach draußen trat, stand Sven bereits, wie verabredet, vor dem Haupteingang und wartete auf sie. Ein zaghaftes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sie sah. Er winkte ihr zu, als sie das Foyer verließ. Er sah unverschämt gut aus in den verwaschenen Jeanshosen und der schwarzen Lederjacke.
»Hallo Sven, ich freue mich, dich zu sehen.«
»Ich freue mich auch!«, antworte er verlegen.
Er folgte ihr schweigend zum Fahrzeug und nahm auf dem Beifahrersitz Platz, nachdem sie ihm die Autotür geöffnet hatte. Während der Fahrt zur Wohnung hüllte sich Sven in Schweigen. Pia gewann den Eindruck, dass Sven schüchtern und gehemmt ihr gegenüber war, da er immer verlegen zur Seite schaute, wenn sie ihm einen Seitenblick zuwarf. Das passte überhaupt nicht zu seinem äußeren Erscheinungsbild. Er wirkte vom Auftreten her eher selbstbewusst und zielstrebig.
Bei ihr zu Hause angekommen, sah er sich neugierig in ihrer Bleibe um. Nachdem er den Streifzug durch die Wohnung beendet hatte, wies sie Sven einen Sitzplatz am liebevoll gedeckten Esszimmertisch zu und verschwand sogleich in der Küche, um die vorbereitete Mahlzeit in den Backofen zu schieben.
Bis das Essen fertig war, wollte sie die Zeit dazu nutzen, um mit ihm ein Glas Wein zu trinken. Sven lehnte Alkohol jedoch dankend ab, hatte aber nichts dagegen einzuwenden, dass sie sich ein Glas Wein einschenkte. Er begnügte sich mit einem Glas Mineralwasser.
Nach dem Essen begaben sie sich ins Wohnzimmer und machten es sich dort gemütlich. Langsam schien Sven lockerer zu werden. Er erzählte, dass er seit längerer Zeit das Haus nicht mehr verlassen habe. Erstaunt und fragend schaute sie ihn an, äußerte sich aber nicht dazu und wartete geduldig ab, bis er mit seiner Erzählung fortfuhr.
»Meine Ehe ist seit einiger Zeit zerrüttet. Wir sind getrennt und die Kinder leben bei meiner Frau in Recklinghausen. Ich bekomme sie kaum zu sehen, weil sie immer einen Keil dazwischen treibt!«, erwiderte Sven erbost und wurde feuerrot im Gesicht vor Zorn.
»Das sind doch auch deine Kinder«, bemerkte Pia schockiert.
»Dieses Aas, sie hat mir alles genommen. Ich hänge doch so sehr an meinen Töchtern!«
»Darfst du sie denn überhaupt nicht sehen?«, fragte Pia erstaunt.
»Das schon, aber meiner Frau war jedes Mittel Recht, dies zu verhindern. Hatte ich einen Termin zur Abholung mit ihr vereinbart, so ließ sie ihn stets platzen. Meistens fing mich meine Schwiegermutter bereits an der Haustür ab und erzählte mir irgendwelche fadenscheinigen Geschichten, warum Sabrina und Gina nicht zu Hause anzutreffen waren. Ich glaubte ihr natürlich kein einziges Wort. Das war alles erlogen und erfunden«, sagte er hasserfüllt.
»Wie alt sind deine Töchter?«
»Gina ist sieben und Sabrina fünf Jahre alt.«
»Wie alt bist du Sven?«
»Ich bin sechsundzwanzig.«
»Bist du denn mittlerweile geschieden?«, fragte Pia wissbegierig.
»Nein, leider noch nicht!«, fügte Sven grimmig hinzu.
Pia sah ihm deutlich an, wie sehr ihn das alles mitnahm. Seine sanften braunen Augen sprühten vor Hass, wenn er von seiner Ehefrau sprach. Sein Gesicht wirkte hart und abweisend.
»Ich bin von meiner Frau Michaela maßlos enttäuscht. Sie hat mein Vertrauen missbraucht und mich betrogen. Als wir uns ein Haus bauen wollten, legte sie für sich ein Sparbuch an und schaffte eine Menge Geld auf die Seite. Sie sprach auch nie über Dinge, die uns beide betrafen. Stattdessen bombardierte sie mich mit Vorwürfen, wenn ich abends todmüde von der Arbeit nach Hause kam, was die Kinder wieder alles angestellt hätten. Sie verlangte von mir, dass ich meine Töchter bestrafen sollte. Tat ich das nicht, brüllte sie die beiden an, die dann anschließend weinend und verängstigt aus dem Zimmer liefen, um bei mir Schutz zu suchen. Oftmals, wenn ich abends von der Arbeit nach Hause kam, war meine Frau gar nicht anwesend. Sie hatte die Kinder zur Oma gebracht, damit sie ihre Ruhe hatte. Es war kein Abendessen fertig, wie in früheren Zeiten. Der Kühlschrank war leer und ich war gezwungen erst einkaufen zu gehen, um uns das Abendbrot zubereiten zu können. Michaela verbrachte angeblich jede freie Minute bei einer Freundin.
Einige Monate später kam ich dahinter, dass meine Frau ein Verhältnis mit meinem ehemaligen Schulfreund hatte. Ich war über alle Maßen enttäuscht und verletzt, als ich die beiden in flagranti ertappte, weil ich früher als gewöhnlich von der Arbeit nach Hause kam. Meine Frau und ihr neuer Lover saßen im Wohnzimmer und tauschten innige Küsse aus. Ich bat Michaela wütend darum, wenigstens den Kindern zuliebe das Verhältnis zu beenden. Aber sie dachte gar nicht daran. Meinen Schulfreund habe ich rausgeschmissen und ihm Hausverbot erteilt.
Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, weinten die Kinder oftmals und waren unglücklich, weil sich meine Frau kaum noch um sie kümmerte. Wenn sie ihr lästig wurden, brachte sie die Kinder zur Oma.
Von mir wollte Michaela nach dem Zwischenfall überhaupt nichts mehr wissen, weder sexuell noch rein menschlich. Scheinbar war sie dem neuen Lover total verfallen. Der Zustand spitzte sich nach einigen Monaten dermaßen zu, sodass ich die Situation nervlich nicht mehr verkraften konnte. Deshalb schlug ich ihr vor, uns erst einmal räumlich zu trennen, bevor es gänzlich zu eskalieren drohte. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich vorübergehend zu meiner Mutter nach Recklinghausen-Süd ziehen würde.
Ich bat sie während meiner Abwesenheit noch einmal alles zu überdenken, in erster Linie wegen der Kinder, die unter der verfahrenen Situation am meisten zu leiden hatten.
Ich habe vorübergehend bei meiner Mutter gewohnt. In dieser Zeit hatte ich nur einmal wöchentlich telefonischen Kontakt zu meinen Töchtern. Mich schmerzte es sehr, die Kinder so lange nicht sehen zu können. Aber ich wollte meiner Frau genügend Zeit lassen, damit sie zur Vernunft kommt und unsere Ehe eventuell noch eine Chance gibt.
Aber leider war sie nach der räumlichen Trennung immer noch nicht dazu bereit, wieder mit mir zusammenzuleben und einen Neuanfang zu wagen. Offensichtlich fühlte sie sich mit ihrem Freund wohler als mit mir. Sie hatte die Zeit nicht dazu genutzt, um sich über unsere Ehe und die Kinder Gedanken zu machen, sondern vertiefte das Verhältnis zu meinem Schulfreund. Wie ich von meinen Töchtern erfuhr, wohnte er bereits mit meiner Frau zusammen und sie machten auch keinen Hehl daraus, dass sie eine Beziehung hatten.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Ein Jahr später reichte ich die Scheidung ein, weil ich die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit ihr begraben hatte. Meiner Frau kam das sehr gelegen.
Ich suchte mir in der Nähe vom Wohnort meiner Frau eine neue Bleibe. Michaela behielt fast alle Einrichtungsgegenstände, die wir uns zusammen angeschafft hatten. Mir blieb nur noch das Notwendigste. In dem Zweifamilienhaus versuchte ich mir die neue Wohnung so gemütlich wie möglich einzurichten, mit dem spärlichen Mobiliar, das mir noch verblieben war.
Ich wurde immer depressiver und zog mich mehr von der Außenwelt zurück. Mein Zorn gegen meine Frau wurde von Tag zu Tag größer. Oftmals habe ich mit dem Gedanken gespielt, sie umzubringen, aber was hätten dann die Kinder ohne ihre Mutter getan?
Ich begann zu trinken und ich griff nach einer Weile zu immer härteren Spirituosen. Durch mein unkontrolliertes Trinkverhalten musste ich kurze Zeit später den Führerschein abgeben. Infolgedessen geriet ich dermaßen tief in den Sumpf und trank ständig weiter. Ich verlor dadurch die Kontrolle über mich und den Boden unter den Füßen. Dies hatte zur Folge, dass ich nicht mehr regelmäßig zur Arbeit erschien und wenn ich kam, dann meist im angetrunkenen Zustand. Kurz darauf verlor ich auch noch die Arbeitsstelle und somit den letzten Halt, den ich im Leben hatte.
Ab diesem Zeitpunkt war alles verloren, was mir einmal sehr viel bedeutet hatte. Die Frau, die Kinder, der Arbeitsplatz und der Führerschein. Ich fing an, mich selbst zu bedauern und zog mich immer mehr in meine eigene Welt zurück. Ich ging nur noch unter Menschen, wenn mein Kühlschrank unbedingt aufgefüllt werden musste, da die Getränke zur Neige gingen. Der Alkohol stellte zu dem Zeitpunkt mein Hauptnahrungsmittel dar. Ich verlor mich immer mehr und merkte gar nicht, wie tief ich weiter von Tag zu Tag abrutschte. Ein Vierteljahr verbrachte ich in diesem Zustand, ohne mir der Situation bewusst zu werden. Ich dachte in keiner Weise daran mich um eine neue Arbeitsstelle zu bemühen, damit ich mit einer neuen Aufgabe aus diesem Desaster herauskomme. Mein Alkoholkonsum nahm erschreckend zu. Ich blieb die meiste Zeit im Bett und stand nur noch auf, um mich erneut abzufüllen. Ich befand mich in einem Wach- und Traumzustand. Ohne, dass es mir bewusst war, hatte ich den Bezug zur Realität seinerzeit vollkommen verloren.
Eines Morgens, als ich dringend etwas zu trinken benötigte, um meinen Alkoholspiegel wieder auszugleichen, warf ich einen Blick in den Spiegel, um mir die Haare zu frisieren, bevor ich das Haus verließ. Ich erschrak vor meinem eigenen Spiegelbild und zuckte regelrecht zusammen. Der Mann, der mir entgegen blickte, war nicht mehr ich. Mich sah eine aufgequollene unrasierte Fratze mit roten Kapillaren an der Nase und tiefen schwarzen Ringen unter den Augen an. Mein Haar war fettig und hing mir wirr im Gesicht. Mein Körper roch unangenehm nach Schweiß. Ich ekelte mich in dem Moment vor mir selbst und spuckte angewidert mein Spiegelbild an.
Seit diesem besagten Tag versuchte ich mein Leben, wieder in den Griff zu bekommen. Jetzt bin ich seit circa einem viertel Jahr trocken und rühre keinen Tropfen mehr an, bis zu dem Fest, an dem du mich kennengelernt hast. Ein Glas Alkohol reicht mittlerweile bei mir aus, um stockbetrunken und rückfällig zu werden. Ich hatte es gleich am selben Abend bereut, überhaupt ein Glas getrunken zu haben. Ich habe mich nun auch intensiv um eine Arbeitsstelle bemüht und erwarte jeden Tag einen Bescheid von der Firma, bei der ich mich kürzlich vorgestellt habe. So, jetzt weißt du fast alles über mich!«, sagte Sven und sah verlegen zur Seite.
Pia war sichtlich berührt und mitgenommen von seiner Geschichte, drückte mitfühlend seine Hand und strich ihm über die Wange. Sie versuchte nicht durch weitere Fragen in Sven vorzudringen, denn dann war zu befürchten, dass er die Tür endgültig hinter sich zuschlug, nachdem er sich ihr gegenüber offenbart hatte. Dazu bedurfte es einer Portion Mut, sein Leben dermaßen offen vor einer Fremden darzulegen. Sie wollte sein Vertrauen, das er offensichtlich zu ihr gefasst hatte, nicht aufs Spiel setzen. Deshalb wechselte sie geschickt das Thema, ohne zu ahnen, dass sie damit neue Wunden aufriss und fragte, warum er immer nur von seiner Mutter sprach, was denn mit seinem Vater sei.
Sven berichtete, dass seine Mutter ihn und seinen Halbbruder Herbert alleine groß gezogen habe, nachdem sein Vater bei einem tragischen Unfall im Kohlebergwerk ums Leben gekommen war. Damals seien er sechs Jahre und sein älterer Bruder acht Jahre alt gewesen. Er sagte, dass seine Mutter nie den Tod ihres Ehegatten verwunden habe. Sven lebte nach dem Tod seines Vaters ausschließlich bei seiner Mama in Recklinghausen, auch nach der Schule und der Berufsausbildung. Sein Bruder wiederum konnte sich nicht ausreichend um seine Mutter kümmern, da er infolge eines fürchterlichen Autounfalls eine Gehbehinderung davongetragen hatte. Ein betrunkener Autofahrer kam von der Fahrbahn ab und krachte direkt in das Fahrzeug seines Halbbruders. Schließlich barg die Feuerwehr ihn aus dem Autowrack. Leider waren die Verletzungen an seinem linken Bein so schwerwiegend, dass es ihm amputiert werden musste. Seine Frau Ludmilla kam nie mit dieser Behinderung zurecht. Sie bezeichnete ihn ständig als unfähigen, arbeitslosen Krüppel und putzte ihn bei jeder Gelegenheit herunter.
Ludmilla war stets nur auf sich und ihr eigenes Wohlergehen bedacht. Sie wohnten bloß eine Straße weiter von dem Haus der Mutter entfernt, sahen aber keine Notwendigkeit darin, einmal nach ihr zu sehen.
Pia war erschüttert von Svens Erzählungen.
Sie hatten beide nicht bemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war. Pia schaute auf die Uhr und musste mit Entsetzen feststellen, dass es bereits weit nach Mitternacht war. Jetzt fuhr keine S-Bahn mehr. Sie selbst traute sich auch nicht mehr ein Fahrzeug zu steuern, da sie mittlerweile drei Gläser Wein getrunken hatte. Sie fragte Sven, ob er die Nacht bei ihr verbringen wollte. Sven willigte gerne ein, aber sie hatte den Eindruck, dass ihm die Situation peinlich war.
Da es schon reichlich spät geworden war, ging Pia schnell unter die Dusche. Sven saß im Wohnzimmer und hatte es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht und nippte am Mineralwasser.
Innerlich aufgewühlt und noch im Gedanken versunken von seiner tragischen Geschichte hatte sie total vergessen, sich vor dem Duschen ein Badehandtuch aus dem Schrank im Schlafzimmer zu holen. Ihr blieb nichts anderes übrig als nackt an ihm vorbeizuhuschen, um sich eines zu besorgen. Für gewöhnlich war sie alleine in der Wohnung und dann stellte sich ein solches Problem nicht.
Sven schaute Pia total entgeistert an, als sie vollkommen nackt an ihm vorbeieilte. Er wurde knallrot im Gesicht und sah verlegen in die andere Richtung. Hastig verschwand sie im Schlafzimmer. Sie wickelte sich in einem gigantischen Badetuch ein. Sie setzte sich neben ihn auf die Couch. Ihre Haut war immer noch leicht feucht und glänzte im Schein des Lichtes. Sven sah abermals verlegen zur Seite. Sie sah, wie er mühsam um seine Fassung rang.
Fast tat er ihr leid.
»So etwas ist mir noch nie passiert!«
»Wie meinst du das?, fragte Pia irritiert.
»Ich habe noch nie zuvor eine Frau gesehen, die sich so ungeniert vor mir ausgezogen hat!«, sagte er eingeschüchtert und vermied es sie direkt anzusehen.
»Oh, das tut mir leid. Ich hatte nicht die Absicht dich in Verlegenheit zu bringen. Normalerweise bin ich hier alleine und habe mir auch nichts weiter dabei gedacht, als ich durch die Wohnung gelaufen bin. Entschuldige bitte. Ich möchte auf keinen Fall, dass du jetzt ein total falsches Bild von mir bekommst!«, sagte Pia.
»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Ich habe meine Frau während der Ehe noch nie nackt gesehen, was ich sehr bedauert habe. Sie schloss sich stets im Badezimmer ein, wenn sie sich an- oder auskleidete. Wenn ich mit ihr schlafen wollte, dunkelte sie den Raum völlig ab oder löschte das Licht. Das stimmte mich oftmals sehr traurig, weil ich sie gerne beim Sex mit all ihren Reizen gesehen hätte. Ihr prüdes Verhalten war für unser Liebesleben eher abtörnend», sagte Sven erklärend.
»Das tut mir aufrichtig leid, wie alles in deiner Ehe gelaufen ist. Da bin ich etwas freizügiger, als deine Frau. Seit Jahren bin ich begeisterte FKK-Anhängerin. Das heißt aber nicht, dass dadurch mein Schamgefühl auf der Strecke geblieben ist. Im Sommer besuche ich einen Badesee in der Nähe von deinem Wohnort, an dem FKK-Baden erlaubt ist. Dort gehe ich schon seit vierzehn Jahren schwimmen. Dieser Strandabschnitt wird strengstens bewacht. Außerdem werden dort keine Spanner geduldet, die meinen, in voller Montur andere beobachten zu müssen. Solch geartete Menschen werden unverzüglich aufgefordert, den Badestrand zu verlassen. Ich finde es einfach toll, ohne Badeklamotten schwimmen zu gehen. Es ist wie ein Stück Befreiung von den vielen Zwängen, die das Leben mit sich bringt«, sagte Pia.
»Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen!«, meinte Sven erneut verlegen.
»Das tue ich doch gar nicht, aber ein wenig peinlich ist es mir doch, dass ich unbekleidet vor dir herumgelaufen bin!«, erwiderte Pia ehrlich.
Sven legte den Arm um Pia und zog sie behutsam an sich heran, so als hätte er Angst, sie zu verletzen. Sein Gesicht war ganz dicht an dem ihren. Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrer Haut.
Sven küsste sie zärtlich und begann mit seinen Händen ihren Körper sanft zu streicheln, wobei das Badehandtuch gefährlich ins Rutschen kam. Sie griff danach und zog es wieder über ihre nur zum Teil bedeckten Brüste. Seine Berührungen lösten ein wonniges Gefühl in ihr aus, dass sie zuvor noch nie gekannt hatte. Sie schmiegte sich enger an ihn und genoss die Wärme, die sein Körper ausstrahlte. Seine Küsse wurden immer leidenschaftlicher und sie ließ sich von seiner Erregung mitreißen. Sie vergaß alles um sich herum. Sie spürte Svens Lippen auf den ihren und seine liebkosenden Hände, die immer fordernder dem Ziel entgegenwirkten. Sein Atem ging schnell und unregelmäßig. Ihre Erregung steigerte sich von Minute zu Minute. Pia empfand noch nie, ein so großes Verlangen mit jemand zu schlafen, wie bei Sven. Sie war jetzt zu allem bereit. Plötzlich zog sich Sven von ihr zurück. Sie schaute ihn erschrocken an. Er sah die Angst in ihrem fragenden Blick.
»Pia, es liegt nicht an dir. Ich bin einfach noch nicht so weit. Ich finde dich unheimlich begehrenswert und du übst einen irrsinnigen Reiz auf mich aus. Solange ich meine Frau nicht aus dem Kopf bekomme, kann ich mich noch nicht auf dich einlassen. Lass mir bitte noch etwas Zeit!«, sagte Sven.
»Ich lasse dir alle Zeit der Welt, weil ich der Meinung bin, du bist es wert, dass man auf dich wartet. Du brauchst Abstand von deiner Ehe und das braucht Zeit!
Pia gestand sich ein, dass sie das abrupte Ende der Liebkosungen etwas enttäuschend fand. Es war so ein wunderschönes Gefühl in seinen Armen zu liegen und von ihm gestreichelt zu werden, dass es ihr schwerfiel, von einer Minute auf die andere wieder in die Realität zurückzukommen. Sie ließ sich jedoch nichts anmerken. Nachdem sie die zarten Berührungen auf ihrer nackten Haut gespürt hatte, kam sie zu dem Ergebnis, dass all ihre Liebhaber vor Sven ziemlich oberflächlich in der Liebe gewesen waren. Er aber hatte ein wahres Fegefeuer in ihr ausgelöst. Sie spürte immer noch seine zarten und liebkosenden Hände überall auf ihrem Körper.
Sie leerten wortlos ihre Gläser und gingen ins angrenzende Schlafzimmer. Sven legte sich zu ihr ins Bett, gab ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange, wünschte ihr eine gute Nacht und drehte sich zur Seite. Es dauerte nur wenige Minuten, da vernahm sie bereits seine regelmäßigen Atemzüge. Er war eingeschlafen. Sie lag noch lange wach und ließ den Abend noch einmal Revue passieren. Sie nahm sich vor, mehr Geduld mit Sven zu haben, denn seine Vorgeschichte hatte sie sehr mitgenommen und betroffen gemacht.
Als sie am nächsten Morgen erwachte, wusste sie im ersten Moment nicht, wie Sven in ihr Bett gekommen war. Nach und nach kamen die Ereignisse des Vorabends wieder an die Oberfläche.
Die Zeit drängte, um sich jetzt noch Gedanken über Sven und sie zu machen. Sie ging schnell ins Badezimmer, vollzog eine Katzenwäsche und kleidete sich hastig an. Sie war spät dran und Eile war geboten.
Sie warf noch einen letzten liebevollen Blick auf den friedlich schlummernden Sven. Sie stellte sich vor, wie es wohl sein würde, wenn sie ganz mit ihm vereint wäre. Schnell warf sie die Gedanken über Bord. Sie hinterließ ihm eine kurze Nachricht und legte ihren Zweitschlüssel von der Wohnung neben den Zettel und fuhr zur Arbeitsstelle. Sie war völlig unkonzentriert, da sie ständig an Sven denken musste. Gegen Mittag hielt sie es vor Ungeduld nicht mehr aus und rief ihre eigene Rufnummer an, doch bei ihr zu Hause ging niemand ans Telefon. Daher nahm sie an, dass Sven bereits ihre Wohnung verlassen hatte und kurz nach Hause gefahren war, um nach seiner Post zu sehen, auf die er so dringend wartete. Als ihr Arbeitstag beendet war, wuchs ihre Nervosität zusehends, denn sie konnte es kaum noch erwarten, Sven wiederzusehen. Sie war gespannt, ob sie Sven bei sich zu Hause antreffen würde. Voller Hoffnung schloss sie die Wohnungstür auf, die im selben Moment, als sie den Schlüssel im Türschloss herumdrehte, von innen geöffnet wurde. Vor ihr in der Diele stand Sven freudestrahlend. Er nahm sie in die Arme und küsste sie auf die Wange.
»Hallo Pia, schön, dass du da bist. Wie war dein Arbeitstag?
»Keine besonderen Vorkommnisse. Nur die üblich anfallenden Schreibarbeiten, Telefonate und wieder einmal private Dinge, die ich für meinen Chef erledigen musste.«
Da sie beide sehr hungrig waren, deckte Pia den Abendbrottisch. Nachdem sie gesättigt waren, erzählte ihr Sven, dass er zu Hause gewesen sei, aber leider immer noch keinen positiven Bescheid bezüglich seiner Bewerbung erhalten habe.
Außerdem beabsichtigte er sich morgen früh bei der Arbeitsagentur nach einem Computerkurs zu erkundigen, da dieser äußerst wichtig für sein weiteres Berufsleben war. Die Weiterbildungsmaßnahmen werden vom Arbeitsamt gefördert und für den Zeitraum der Maßnahme war er dann nicht arbeitslos.
»Was meinst du? Es ist doch auf jeden Fall besser, wie zu Hause untätig herumzusitzen!«
»Da hast du recht, sagte sie begeistert.
Pia fand seine Initiative und die Bemühungen einen neuen Job zu finden lobenswert. Das war der erste Schritt aus der Misere herauszufinden. Sie nahm sich vor, ihn im vollen Umfang darin zu unterstützen, da ihr viel an Sven lag.
Das Arbeitsamt zeigte sich äußerst kooperativ und trug Sven zu einem Computerkurs ein, der bereits in zwei Wochen startete. Die restliche Zeit bis zum Beginn des Kursus verbrachte Sven bei Pia, die darüber sehr glücklich war.
Pia und Sven waren jetzt drei Wochen zusammen und er logierte während dieser Zeit meistens bei ihr. Er fuhr nur in seine Wohnung nach Egelsbach, wenn er nach der Post sehen wollte oder neue Kleidung benötigte. Sven unternahm nach dem Abend ihrer ersten Begegnung keinerlei Annäherungsversuche mehr. Sie war ein wenig enttäuscht darüber, ließ sich jedoch nichts anmerken, da sie ihn nicht bedrängen wollte.
Für Pia war es ungewohnt, dass sie die Woche über zu Hause verbringen musste, und sehnte sich nach etwas mehr Freiraum und Abwechslung. Stubenhockerei verabscheute sie. Deshalb sprach sie Sven darauf an, der sehr verständnisvoll reagierte.
Sven wollte auf gar keinen Fall, dass Pia sich in ihrem persönlichen Freiraum eingeschränkt fühlte, und unterbreitete ihr deshalb den Vorschlag, dass sie sich zukünftig nur noch an den Wochenenden sehen würden. Während der Woche wollte er in seinen eigenen vier Wänden bleiben. Damit war jedem gedient.
Währenddessen konnte Pia ihre Freizeit so gestalten, wie sie es wollte.
»Was tust du abends, wenn wir uns nicht sehen?«, fragte Sven misstrauisch.
»Einfach abhängen, die Seele baumeln lassen und mich mit Freundinnen treffen oder einen Einkaufsbummel machen. Eben Dinge, die Frauen gerne ohne Männer unternehmen«, sagte Pia lachend.
»Ach so! Ich dachte schon, du wärst mich leid. Für mich ist es kein Problem einige Abende zu Hause zu verbringen. Ich höre gerne Musik und lese sehr viel. Dazu hatte ich in der letzten Zeit kaum Gelegenheit, da mich nichts mehr interessierte.
Da jetzt die Fronten zwischen ihnen geklärt waren und Pia sich nicht mehr so eingeengt fühlte, war die Freude groß, wenn sie sich von nun an nur noch an den Wochenenden sahen. Mittlerweile belegte Sven einen Computerkurs und war somit die Woche über beschäftigt. Abends schaute er die Stellenangebote durch und schrieb fleißig Bewerbungen. Er war gelernter technischer Zeichner und zuletzt als selbstständiger Konstrukteur im Rohrleitungs- und Maschinenbau tätig gewesen. Die Stelle war gut bezahlt und er könnte sich heute noch in den Hintern treten, dass er die Beschäftigung durch sein unkontrolliertes Trinken so leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatte. Die Firma, für die er damals tätig gewesen war, weigerte sich aufgrund seines Trinkverhaltens, ihm weitere Aufträge zu erteilen.
An den Wochenenden unternahmen sie viel zusammen. Sie gingen ins Kino oder machten einen ausgedehnten Bummel durch die Einkaufsstraßen von Frankfurt. Sven war äußerst wissbegierig. Er wollte stets alle Details zu jedem Gebäude und Bauwerk in der Stadt von ihr erklärt bekommen. Ab und zu geriet sie in Erklärungsnot, da sie auch nicht alle Daten im Kopf hatte. Sie empfahl ihm deshalb, danach im Internet zu recherchieren.
Pia stellte fest, dass Sven ein sehr gebildeter Mann war, dem sie so schnell das Wasser nicht reichen konnte. Dennoch war es ihr schleierhaft, warum er so unsicher war, trotz seiner guten Allgemeinbildung. Besonders auffällig war, wenn sie ihn ansah, wich er stets ihrem Blick aus. Er vermied jeden direkten Augenkontakt mit ihr.
Aber das änderte sich im Laufe der Zeit. Sven legte allmählich seine Schüchternheit ab und sie war überglücklich, weil er immer öfter ihre Nähe suchte. Er kuschelte mit ihr beim Fernsehen oder vor dem Schlafengehen. Pia fühlte sich wohl und geborgen bei ihm.
Sven und Pia hatten sich in den letzten Wochen immer mehr angenähert. Die Wochenenden, die Sven bei ihr verbrachte, verliefen zu jeder Zeit harmonisch und die Nächte, in denen sie sich liebten, waren einzigartig und unvergesslich. Sven war ein ausgesprochen zärtlicher Liebhaber, der auf all ihre Wünsche einging. Wenn sie miteinander schliefen, fühlte sie sich ihm derart nahe, verbunden und zu ihm hingezogen, wie noch nie zuvor zu einem Menschen.
Pia brauchte eine Weile, ihre Gefühle und Emotionen zu ordnen und sich über einiges klar zu werden. Doch jetzt wollte sie ihm voller Überzeugung und aus tiefstem Herzen gestehen, dass sie sich unsterblich in ihn verliebt hatte.
Der richtige Augenblick würde sich vermutlich bald ergeben und sie hoffte, dass Sven genauso empfand wie sie.
Seit einiger Zeit brannte es ihr auf der Seele, doch bis heute konnte Pia nicht über ihren eigenen Schatten springen und ihm offenbaren, was ihr Herz schon lange beschäftigte.
Es war anfangs nur ein schleichender Prozess. Doch seitdem ihr das erste Mal bewusst wurde, dass die Gefühle zu Sven nicht nur rein freundschaftlicher Natur waren, erlebte sie tagein und tagaus ein gigantisches Gefühlsfeuerwerk, wenn sie nur an Sven dachte. Sie hatte keinesfalls geplant eine dauerhafte Beziehung mit ihm einzugehen, aber schon heute war ein Leben ohne Sven für sie unvorstellbar. Das Trennungsjahr war vorüber und deshalb beabsichtigte Pia, ihn demnächst zu fragen, ob er mit ihr zusammenziehen möchte. Sven verbrachte ohnehin die meiste Zeit bei ihr. Pias Wohnung war groß genug für sie beide. Nach reiflicher Überlegung und nachdem sie alles gegeneinander abgewogen hatte, war sie sich vollkommen sicher mit Sven zusammenleben zu wollen. Ihre Freundinnen konnte sie auch weiterhin treffen. Sven nahm das sehr gelassen. Er war in der Lage sich ausgezeichnet selbst zu beschäftigen, da sein Wissensdurst in allen Bereichen schlichtweg unersättlich war.
Für das bevorstehende Wochenende plante sie, ihn zu fragen. Sie war schon sehr aufgeregt, wie er reagieren würde. Sie bereitete für den Samstagabend ein Essen bei Kerzenschein vor. Aus diesem besonderen Anlass hatte sie sich für Fondue entschieden.
Sven wunderte sich, als er am Samstag zu ihr kam, über den liebevoll gedeckten Tisch. Als sie kurz darauf die Kerzen anzündete und das Fondue servierte, sah er sie verdutzt an.
»Habe ich deinen Geburtstag vergessen?«
»Nein ..., das hast du nicht! Sven, wir sind jetzt schon seit einigen Monaten zusammen und ich möchte dir sagen, was ich für dich empfinde.
Mir gefällt es, wie du lachst und dich bewegst. Ich möchte das keinen Tag missen, und wenn wir mal nicht zusammen sind, denke ich ständig nur an dich.
Sobald wir uns wieder begegnen, ist es, als ob der Raum heller wird. Du bringst Licht und Leben in meine Wohnung. Ich genieße es, Zeit mit dir zu verbringen.
Ich liebe deine Augen, dein Gesicht und deinen Körper. Das alles formt sich zu einer Einheit, die mir so vertraut und lieb geworden ist, dass ich dich nie wieder verlieren möchte. Du bist ein Teil von mir geworden. Ich spüre es fast körperlich, wenn etwas nicht stimmt - wenn es dir nicht gut geht oder du traurig bist. Dann werde ich automatisch ebenfalls niedergeschlagen, denn am liebsten möchte ich dich immer glücklich sehen. Ich liebe dich von ganzem Herzen und frage dich, ob du mit mir zusammenleben möchtest und zu mir ziehen willst!«
So jetzt war es raus. Pia war innerlich total aufgewühlt, weil sie befürchtete, dass Sven ihr einen Korb geben könnte oder es einfach noch zu frühzeitig für ihn war, eine feste Bindung mit ihr einzugehen.
Sven hatte Tränen der Rührung in den Augen und wischte sie verstohlen mit dem Handrücken fort.
Er stand auf und umarmte sie zärtlich, zog sie vom Stuhl hoch und küsste sie leidenschaftlich.
»Natürlich möchte ich mit dir zusammenziehen. Ich wollte nur nicht den ersten Schritt wagen, um dich zu fragen, weil ich noch verheiratet bin auf dem Papier. Aber, das ist ja bald Schnee von gestern!«
Überglücklich lagen sie sich in den Armen. Es wurde eine unvergessliche Nacht voller Liebe, Hingabe und Zärtlichkeit.
Sven zog kurz darauf bei Pia ein mit den paar Habseligkeiten, die ihm Michaela noch zugestanden hatte.
Das Trennungsjahr war vorüber und der Scheidungstermin stand unmittelbar bevor. Sven war wie ausgewechselt, als er von dem bevorstehenden Termin erfuhr. Seine Laune war hervorragend. Er nahm sie in die Arme, küsste sie leidenschaftlich und stürmisch. Er wirbelte sie im Raum herum und strahlte vor Glück.
Leider war sein Stimmungshoch nicht von langer Dauer. Die Scheidung ging verhältnismäßig zügig über die Bühne, da sich Sven und seine Frau Michaela im Vorfeld über die Hausratsteilung einig gewesen waren. Das Gericht verfügte darüber, dass er seine Töchter alle vierzehn Tage sehen konnte. In der ersten Zeit, aber nur unter Beaufsichtigung seiner Ex-Frau, da der übermäßige Alkoholgenuss von Sven in der Vergangenheit eine Kindeswohlgefährdung dargestellt hatte. Sven war außer sich vor Wut und übelster Laune. Doch er hatte keine andere Wahl, als sich dem Gericht zu beugen, wenn er die Kinder regelmäßig sehen wollte.
Die anberaumten Treffen mit seinen Töchtern waren ein einzigartiges Desaster, denn seine Exfrau Michaela hielt es für unnötig, die verabredeten Termine einzuhalten. Das schäbige Verhalten kannte Sven bereits aus der Vergangenheit. Michaela war zum vereinbarten Zeitpunkt nie vor Ort oder ließ durch ihre Mutter ausrichten, die Kinder seien erkrankt. Sven lief jedes Mal ins Leere, wenn er seine Töchter Sabrina und Gina sehen wollte. Kochend vor Wut trat er den weiten Heimweg an, ohne die Kinder überhaupt zu Gesicht bekommen zu haben. Svens Laune verschlechterte sich zusehends von Woche zu Woche. Pia litt fast ebenso unter der Situation wie Sven. Sie riet ihm dringend dazu, einen Anwalt einzuschalten, der sich der Angelegenheit annehmen sollte. Sie musste hilflos mit ansehen, wie Sven jeden Tag ein Stück mehr an diesem ausweglosen Zustand zerbrach.
Sven hatte nach der Scheidung endlich eine Arbeitsstelle als freier Mitarbeiter bei einem großen Ingenieurunternehmen im Bereich der Planung und Bau von Chemie-, Raffinerie- und anderen Industrieanlagen als Konstrukteur für Maschinen- und Rohrleitungsbau gefunden. Die Bezahlung war überdurchschnittlich. Den Computerkurs, den er beim Arbeitsamt zuvor belegt hatte, war ihm jetzt von großem Nutzen und letztendlich gab der Kurs den Ausschlag dafür, dass Sven den Posten erhalten hatte.
Da er jetzt wieder auf eigenen Füßen stand, hatte er die Hoffnung, dass das Umgangsrecht für seine Kinder in Zukunft gelockert wurde.
Das musste erst einmal gefeiert werden. Pia gönnte Sven von ganzem Herzen den Erfolg. Er arbeitete sich schnell in sein neues Aufgabengebiet ein und wurde nach kurzer Zeit für die Firma unentbehrlich. Darüber freute Pia sich riesig. Aufgrund des außerordentlich gut bezahlten Jobs von Sven änderte sich auch ihr Lebensstandard. Ab diesem Zeitpunkt konnten sie sich auch des Öfteren Dinge leisten, auf die sie vorher verzichten mussten. Jetzt waren sie nicht mehr gezwungen, jeden Cent zweimal umzudrehen. Jedoch blieben beide bodenständig. Oftmals brachte Sven Arbeit mit nach Hause, die noch zu erledigen war. Dann saß er stundenlang bis spät in die Nacht vor dem Computer. Alles hatte seinen Preis!
Durch die neue Arbeitsstelle war Sven so sehr beansprucht, dass er nur noch zeitweilig an seine Töchter dachte. Dennoch litt er sehr darunter, dass er Sabrina und Gina nur alle vierzehn Tage sehen konnte.
Sven fragte Pia eines Tages mit gemischten Gefühlen, ob sie damit einverstanden sei, seine Mutter am Wochenende zu besuchen, da sie Geburtstag habe. Pia war nur allzu gerne dazu bereit ihr einen Besuch abzustatten. Schon lange hatte sie mit dem Gedanken gespielt, mit Sven nach Recklinghausen zu fahren. In der Vergangenheit hatte sich noch keine passende Gelegenheit ergeben, sie persönlich kennenzulernen. Zudem gab es noch einen weiteren erfreulichen Anlass zum Feiern, die Übernahme von Sven in der Firma.
Im Laufe der Woche besorgten sie das sündhaft teure Lieblingsparfüm und ein Gesichtspflegeset für seine Mutter, packten ihre Reisetaschen und fuhren mit Pias Auto nach Recklinghausen. Sven hatte seinen Führerschein noch nicht wieder, da er erst zur MPU musste.
Die Fahrt verlief reibungslos und ohne nennenswerte Staus. Plötzlich trat die Sonne hinter den Wolken hervor und blendete Pia, sodass sie kaum noch etwas sah. Eine Sonnenbrille hatte sie nicht mitgenommen, denn als sie wegfuhren, war der Himmel bedeckt gewesen. Pia klappte die Sonnenblende herunter und fuhr langsam gegen das gleißende Licht an, um die weiße Fahrbahnmarkierung in der Mitte der Straße besser sehen zu können. Sie fuhr durch den letzten Kreisverkehr und bog rechts in die nächste Straßeneinmündung ein, in der Svens Mutter wohnhaft war. Plötzlich schrie Sven erschrocken auf, denn um ein Haar hätte Pia die am Straßenrand stehende Frau übersehen. Sie trat mit voller Wucht auf die Bremse und der Wagen kam zum Stehen, ohne dass die Frau zu Schaden kam.
Sven stieg aus dem Auto aus und stellte fest, dass es sich bei der am Straßenrand stehenden Frau, um seine Mutter handelte. Er überzeugte sich sofort davon, ob alles mit ihr in Ordnung war. Sie hatte sich nur etwas erschrocken, als sie das Auto auf sich zukommen sah. Aber jetzt lächelte sie schon wieder, als ihr Sohn sie umarmte.
Die ältere Dame war ein Kopf kleiner als Sven und wirkte zerbrechlich. Sie strich sich fahrig das grau melierte Haar aus der Stirn.
Pia spürte nach wenigen Augenblicken, dass das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn sehr innig war. Sven stellte Pia seiner Mama vor, die sie auf das herzlichste Willkommen hieß. Sie gab Pia einen Kuss auf die Wange und bot ihr sogleich das »Du« an. Sie hieß Gertrud, bestand aber darauf Trudchen genannt zu werden, denn so rief sie jeder, der sie näher kannte. Schnell war das Eis zwischen Trudchen und Pia gebrochen. Seine Mutter war die Freundlichkeit in Person und schien völlig unkompliziert zu sein. Sie stellte ihnen sogar ihr eigenes Schlafzimmer für das Wochenende zur Verfügung. Sie schlief in Svens ehemaligem Jugendzimmer, das zu klein für Pia und Sven war. Sie beteuerte, dass dies in Ordnung sei und sie nicht mehr Platz zum Schlafen benötigte. Für das leibliche Wohl hatte sie auch bestens gesorgt. Pia war völlig aus dem Häuschen, als sie sah, was seine Mutter alles an Lebensmitteln und Getränken eingekauft hatte. Der Kühlschrank war randvoll gefüllt, sodass sie mit Gewalt die Tür schließen musste. Pia sah mit Entsetzen, dass auch eine Menge Alkohol dazugehörte. Das fand sie ausgesprochen rücksichtslos, da sie die Situation ihres Sohnes kannte, aber vermutlich nicht realisieren konnte. Pia hoffte inständig, dass Sven dadurch nicht in Versuchung kam. Zu Hause gab es keinerlei alkoholhaltige Getränke, das hatten sie und Sven vereinbart. Denn sie wusste inzwischen, wie schwer es ihm fiel, bei Stress die Finger davon zu lassen. Sie wollte Sven auf keinen Fall zu etwas verleiten, was ihm schadete.
Mittlerweile hatte seine Mama den Kaffeetisch gedeckt und bat sie ins Wohnzimmer zu kommen. Sven überreichte ihr das Geburtstagsgeschenk, dass Pia liebevoll eingepackt hatte. Sie brauchte eine Weile, bis sie es aus dem Geschenkpapier befreit hatte, und hielt strahlend ihren Lieblingsduft und das Pflegeset für ihr Gesicht in den Händen. Sie erhob sich mühselig von ihrem Stuhl und kam langsam um den Tisch herumgehumpelt. Sie umarmte Pia und Sven innig und gab beiden einen Kuss auf die Wange vor Freude und Dankbarkeit. Sie war überglücklich.
Als Pias Blick zufällig den Fernsehapparat im Wohnzimmer streifte, stockte ihr fast der Atem. Auf dem alten Fernsehgerät stand ein gerahmtes Foto, dass Sven bis auf das Haar glich. Nur der Mann auf der Fotografie schien geringfügig älter zu sein. Vor dem Fotorahmen waren liebevoll zwei rote Rosen drapiert. Fragend sah sie sich nach Sven um, der direkt hinter ihr stand und ihrem Blick gefolgt war.
»Das ist mein Vater«, antwortete Sven, ohne dass sie ihn danach gefragt hatte.
»Die Ähnlichkeit ist verblüffend! Im ersten Moment dachte ich, du wärst das auf dem Foto!«
»Ja, wir sehen uns verdammt ähnlich!«, sagte Sven gedehnt.
»Erwartet deine Mutter noch Gäste?«, fragte Pia, da sie gesehen hatte, dass der Kaffeetisch für fünf Personen eingedeckt war.
»Ich habe keine Ahnung!«, erwidert Sven.
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, klingelt es Sturm an der Haustür. Seine Mutter ging auf den Gehstock gestützt zur Tür und sie hörten, dass sie mit jemandem sprach. Kurz darauf folgten ihr Svens Halbruder Herbert und seine Frau Ludmilla. Sven wurde leichenblass, als er die beiden kommen sah. Er sprang auf, griff nach seiner Jacke und zog die entsetzte Pia vom Stuhl hoch. Sie sah ihn fragend an.
»Was ist los Sven, warum willst du gehen?«
»Mit denen bleibe ich keine Minute länger als nötig unter einem Dach! Ich erkläre dir alles später!«, sagte er erbost und zog die verblüffte Pia mit sich.
»Bitte bleibt hier! Es ist doch mein Geburtstag. Herbert gehört doch auch zur Familie. Bitte geht nicht!«, bat Trudchen mit flehender und weinerlicher Stimme.
Sven blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen und blickte seine Mutter hasserfüllt an. Pia hatte Sven noch nie zuvor so wütend gesehen. Besänftigend sprach sie auf ihn ein. Schließlich ließ er sich doch noch erweichen und setzte sich wieder, aber seine Jacke hängte er griffbereit über die Stuhllehne. Die Stimmung war dermaßen gedrückt, dass keinerlei vernünftige Unterhaltung zustande kam. Svens Mutter standen die Tränen in den Augen. Wenige Minute später war sie einfach vor Erschöpfung auf dem Stuhl eingeschlafen. Anscheinend war die Aufregung für sie zu viel gewesen. Sein Bruder Herbert kam mit der Insolinspritze herbeigeeilt und verabreichte sie ihr, da sie an Altersdiabetes litt.
»Das ist typisch für Mutter. Sie hat garantiert wieder zu viel vom Kuchen genascht, was sie streng genommen nicht tun sollte«, sagte er vorwurfsvoll.
Ludmilla kam angeblich mehrmals täglich, um ihr eine Spritze zu verabreichen, da Trudchen das nicht alleine bewerkstelligen konnte. Für gewöhnlich kümmerten sich die beiden aber so gut wie gar nicht um die kränkliche Frau.
Pia saß hilflos zwischen den ihr fremden Personen und hielt sich diskret im Hintergrund. Jetzt begann auch noch die Frau seines Halbbruders Sven verbal anzugreifen und beschuldigte ihn, dass er seine Töchter sträflich vernachlässigt habe in der letzten Zeit. Die Situation spitzte sich allmählich zu. Man spürte förmlich die negative Spannung in der Luft. Nach dem Kaffeetrinken bat Pia Sven mit nach draußen zu gehen, um etwas frische Luft zu schnappen. Seine Mutter schlief immer noch tief und fest. Sven verließ grußlos und ohne sich noch einmal nach Herbert und Ludmilla umzusehen mit Pia das Haus.
Beide waren erleichtert, als sie auf die Straße traten.
»Sven, deine Schwägerin und dein Bruder sind unmöglich!«, bemerkte Pia.
»Das kannst du laut sagen! Lass uns abhauen, sonst explodiere ich gleich vor Wut! Die kommen immer nur, wenn es etwas umsonst gibt, und laden sich jeden Sonntag bei meiner Mutter zum Mittagessen ein. Sie lassen die alte Frau stundenlang am Herd stehen und das Essen zubereiten. Das ist natürlich äußerst bequem für Ludmilla, da braucht sie nicht selbst zu kochen und kann sich an den gedeckten Tisch setzen. Herbert weiß ganz genau, dass unsere Mutter das gesundheitlich nicht mehr verkraftet, verliert aber kein Wort darüber. Er hat Angst davor, dass sie ihn wieder als Krüppel titulieren und ihn vor allen Leuten schlechtmachen könnte. Ludmilla zeigt ihm eindeutig, dass er zu Hause absolut nichts zu melden hat. Wenn Herbert ihr lästig wird, nimmt sie ihm einfach die Krücken weg, damit er sich im Haus nicht mehr fortbewegen kann. Somit ist er ihr vollkommen hilflos ausgeliefert und kann sich nur noch kriechend durch die Wohnung bewegen. Ludmilla ist ein richtiges Miststück und mit allen Wassern gewaschen.
Seit mehreren Jahren geht Herbert zweimal wöchentlich zu meiner Mutter zum Essen und am Wochenende kocht sie ebenfalls für die beiden. Sie hatten noch nie in Erwägung gezogen, für die Verköstigung etwas beizusteuern. Meine Mutter bleibt auf all den Kosten sitzen. Sie bezieht nur eine kleine Rente und muss selbst einschränken, um mit dem wenigen Geld bis zum Monatsende einigermaßen über die Runden zu kommen.
Ludmilla engagiert sich lieber in ihrer Freizeit bei Wohltätigkeitsvereinen, statt meiner Mutter hilfreich unter die Arme zu greifen. Solange ich noch bei ihr gelebt habe, gab es derartige Zustände nicht. Die beiden nutzen sie total aus. Wenn meine Mutter sie um Hilfe bat, hatten sie tausend Ausreden parat, um nicht bei ihr auf der Bildfläche erscheinen zu müssen. Früher hatte sie zusätzlich noch zwei Putzstellen und am Abend nahm sie Änderungsarbeiten für Kleidung an. Sie arbeitete oftmals bis spät in die Nacht und war total erschöpft. Das tat sie alles nur, dass es meinem Bruder und mir an nichts fehlte. Deshalb kann ich die beiden einfach nicht verstehen. Wie kann man nur dermaßen egoistisch sein?«, sagte Sven ungehalten.
Pia und Sven schlenderten zwei Stunden ziellos durch die Straßen von Recklinghausen. Sie traten erst den Rückweg an, als es bereits zu dämmern begann und sie gewiss sein konnten, dass Herbert und Ludmilla das Haus verlassen hatten.
Als Sven die Wohnungstür aufschloss und sie das Wohnzimmer betraten, schüttelte er naserümpfend den Kopf. Seine Mutter lag in einer Decke eingehüllt auf der Couch und schlief friedlich. Auf dem Kaffeetisch standen immer noch die Torten vom Nachmittag und das schmutzige Geschirr. Pia nahm ein Tablett, räumte alles schweigend zusammen und trug es in die Küche. Sie ließ Wasser im Spülbecken ein, spülte das Essgeschirr und Sven trocknete es ab. Nach dem Spaziergang und dem ausgefallenen Kaffeetrinken am Nachmittag hatten sie beide Appetit bekommen. Sven richtete in der Küche das Abendbrot her. Anschließend ging er ins angrenzende Wohnzimmer und weckte behutsam seine Mutter, die ihn blinzelnd und geblendet von der Deckenbeleuchtung, die das Zimmer erhellte, ansah.
»Mama steh bitte auf und komm in die Küche, es gibt gleich Abendessen«.
Sie streckte und reckte sich und folgte Sven noch schlaftrunken auf wackeligen Beinen in die Küche. Sie nahm am Tisch Platz und ein glückliches Lächeln huschte über ihr faltiges Gesicht.
»Bub, das ist aber lieb von euch. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich mich das letzte Mal an einen gedeckten Tisch setzen durfte«, sagte sie dankbar.
Sven umarmte seine Mutter und gab ihr einen Kuss. Pia konnte nicht anders, weil sie so gerührt war von ihren Worten, und strich ihr sanft über das graue Haar.
»Ich schäme mich für Ludmilla, aber ich kann sie leider nicht außen vor lassen, bei Familienfeiern und sonstigen Anlässen. Herbert bekommt das dann doppelt und dreifach heimgezahlt von Ludmilla«, sagte sie mit weinerlicher Stimme.
»Du kannst doch nichts dafür, beruhige dich bitte!«, antwortete Sven beschwichtigend.
Nach dem Abendessen sahen sie alle noch eine Weile fern, bis Trudchen die Augen vor Müdigkeit zufielen. Die ganze Aufregung war für sie zu viel gewesen.
Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass sie eingeschlafen war, suchten sie ebenfalls das ihnen zugewiesene Schlafzimmer seiner Mutter auf. Sven war total gereizt und unruhig. Pia hatte große Mühe ihn zu beruhigen. Er schimpfte fortwährend über Ludmilla und deren Machenschaften. Pia machte sich bettfertig und zog sich die Zudecke bis unter das Kinn, da es sehr kalt im Zimmer war. Pia hatte sich auf einen gemütlichen Abend gefreut, um mit Sven zu kuscheln. Aber daraus wurde nichts, denn Sven fand keine Ruhe, stand immer wieder auf und ging nervös im Schlafzimmer auf und ab. Pia betrachtete sein Verhalten mit großer Sorge. Da auch sie von der langen Autofahrt und den Familienstreitigkeiten etwas mitgenommen war, verfiel sie nach einiger Zeit in einen unruhigen Dämmerschlaf. Sie nahm vor dem Einschlafen noch wahr, dass Sven am Bettende saß. Er starrte vor sich hin und schimpfte leise vor sich her.
Als sie mitten in der Nacht erwachte, weil sie dringend die Toilette aufsuchen musste, war das Bett neben ihr leer und unbenutzt. Sie zog sich den Bademantel über, den ihr Trudchen über den Stuhl gehängt hatte. Sie öffnete leise die Tür und schlich auf Fußspitzen in den Flur, um Svens Mutter nicht zu wecken. In der Küche war Festbeleuchtung. Sie traute ihren Augen nicht. Sven saß am Küchentisch und vor ihm standen fünf leere Bierflaschen und einige Flachmänner, die er ausgetrunken hatte. Pia war entsetzt und auch schwer enttäuscht von Sven. Seine Standfestigkeit nichts Alkoholisches zu trinken hatte nicht lange angehalten. Sie stellte sich die Frage, ob sie ihn jetzt ansprechen sollte oder besser leise die Toilette aufsuchen und dann wieder zu Bett gehen. Sie entschied sich für Letzteres. Sie wollte mitten in der Nacht keinen unnötigen Streit heraufbeschwören, denn Meinungsverschiedenheiten hatten sie bereits zu genüge.
Vermutlich bereute es Sven morgen früh schmerzlich, dass er zur Flasche gegriffen hatte, nur um seinen Ärger hinunterzuspülen. Er musste doch wissen, was der Alkohol mit ihm in der Vergangenheit angerichtet hatte. Warum fing er jetzt wieder mit dem Trinken an? Leise schlich sie zurück ins Schlafzimmer und zog behutsam die Tür hinter sich ins Schloss. Sie war total aufgewühlt und machte sich irrsinnige Sorgen um Sven. Eines begriff sie nicht! Warum füllte seine Mutter den Kühlschrank randvoll mit alkoholischen Getränken? Sie wusste doch um die Dinge und was der übermäßige Alkoholkonsum in den vergangenen Jahren bei Sven angerichtet hatte. Das war unverantwortlich von ihr, Sven in eine derartige brenzlige Situation zu bringen. An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Unruhig wälzte sie sich im Bett hin und her. Sie hatte immer noch einen kleinen Funken Hoffnung, dass Sven Vernunft annahm und zu ihr ins Bett kam. Aber nichts dergleichen geschah. In den frühen Morgenstunden musste sie die Müdigkeit übermannt haben und eingeschlummert sein. Als sie erwachte, lag Sven neben ihr im Bett und schnarchte entsetzlich. Seine Alkoholfahne war widerlich. Sie stand auf, kleidete sich an und ging ins Bad, um sich frisch zu machen. Anschließend suchte sie die Küche auf und sah nach, ob seine Mutter schon wach war. Sie saß alleine dort und hatte eine dampfende Tasse mit Bohnenkaffee vor sich stehen. Pia setzte sich zu ihr an den Küchentisch.
Sie bot ihr eine Tasse Kaffee an, die Pia dankend annahm, um die Müdigkeit zu vertreiben. In der vergangenen Nacht hatte sie kaum Schlaf gefunden vor lauter Sorge um Sven.
»Kannst du mir bitte sagen, warum der Kühlschrank mit alkoholischen Getränken vollgestopft ist. Du weißt doch genau, dass Sven keinen Tropfen trinken darf!«, sagte Pia vorwurfsvoll und sah sie wütend über den Rand ihrer Kaffeetasse an.
»Ich habe es doch nur gut gemeint. Wenn ich früher nichts alkoholisches Zuhause hatte, probte Sven einen Aufstand und besorgte sich das Zeug in der Stadt. Das wollte ich vermeiden. So trank er wenigstens im Haus und wurde nach außen hin nicht auffällig«, sagte sie kleinlaut und mit weinerlicher Stimme.
»Aber das ist doch keine Lösung! Ich möchte, dass alle alkoholischen Getränke während unseres Aufenthaltes aus der Wohnung verbannt werden. Es ist unmöglich von dir, Sven in eine solche prekäre Lage zu bringen.«
»Okay, dann lass uns die Bierflaschen und die Flachmänner in den Keller hinuntertragen, solange er noch schläft!«, sagte sie mit Tränen in den Augen.
Gemeinsam schafften sie die Flaschen in einem Tragekorb nach unten und schlossen sie in einem uralten Kleiderschrank ein, der im Keller seinen Platz gefunden hatte. Pia selbst nahm den Schlüssel an sich und steckte ihn in die Hosentasche.
Als sie wieder nach oben kamen, war von Sven immer noch nichts zu sehen. Trudchen riet ihr dazu, ihn besser ausschlafen zu lassen, sonst sei er für den Rest des Tages ungenießbar, das wisse sie aus eigener Erfahrung.
Es war bereits Nachmittag, als Sven aus dem Vollrausch erwachte. Er gesellte sich zu ihnen ins Wohnzimmer und vermied den direkten Augenkontakt zu beiden. Pia sagte zu alledem kein Wort, weil sie sich nicht Beisein seiner Mutter mit Sven streiten wollte. Sie bemerkte, dass er ungewöhnlich fahrig war. Er stand auf und lief voller Unruhe getrieben im Zimmer auf und ab. Anschließend ging er in die angrenzende Küche und rauchte eine Zigarette nach der anderen am offenen Küchenfenster. Wenigstens nahm er Rücksicht auf Trudchen, die den Zigarettenqualm nicht vertrug und sofort Atemnot bekam.
Sven sah in einem Fort zum Kühlschrank, so als würde er magisch von ihm angezogen. Seine Hände begannen zu zittern und kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn.