Hin und nicht weg - Lisa Keil - E-Book
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Hin und nicht weg E-Book

Lisa Keil

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Beschreibung

Der zweite Roman von Lisa Keil, der Tierärztin, die sich ins Schreiben verliebte Rob Schürmann ist als Tierarzt Tag und Nacht im Einsatz, und die Herzen der Tierbesitzerinnen fliegen ihm zu. Er will nur eine, aber die heiratet einen anderen. Anabel aus Berlin tritt den Aushilfsjob in der Praxis Schürmann mit gemischten Gefühlen an. Schließlich passt sie mit ihren Tattoos und Piercings und ihrem selbstbewussten Auftreten nicht ins beschauliche Neuberg und schon gar nicht an die Seite des charmanten Tierarztes. Zwischen Hufverbänden und Pfotenoperationen geraten die beiden immer wieder aneinander. Und kommen sich näher. Doch plötzlich steht ein dramatischer Notfall zwischen ihnen und ändert alles.

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Seitenzahl: 451

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Lisa Keil

Hin und nicht weg

Roman

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Rob Schürmann ist der Tierarzt der Herzen in Neuberg. Alle Haustier- und Pferdebesitzerinnen bekommen bei seinem Anblick weiche Knie. Nur Kaya nicht, Robs Freundin aus Kindertagen, die sich zu seinem Leidwesen in einen anderen verliebt hat.

Robs neue Sprechstundenhilfe Anabel sorgt für Klatsch im Dorf und in der Chatgruppe »Stallgeflüster«. Die Großstadtpflanze aus Berlin managt jetzt seine Termine und bringt die Praxis Schürmann digital etwas zu forsch auf Vordermann.

Bald fliegen zwischen den beiden die Fetzen. Anabel spürt, dass Rob ihr etwas verheimlicht. Als sie ein Jobangebot aus Berlin bekommt, will sie Neuberg verlassen. Auf einmal merkt Rob, dass ihm das ganz und gar nicht gefällt. Was soll er tun? Ausgerechnet Kaya kommt ihm unerwartet zu Hilfe.

 

»Sprüht vor Charme, Witz und Liebe.« Buecherkaffee.de

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

»Ich wollte eine Liebesgeschichte schreiben, wie sie sie selbst gern lesen würde.« Lisa Keil verwirklichte ihren Plan und landete mit ihrem ersten Roman »Bleib doch, wo ich bin« gleich auf der Bestsellerliste.

Sie lebt mit ihrem Mann, zwei Kindern und zwei Pferden in einem Ort zwischen Sauerland und Soester Börde in Nordrhein-Westfalen. Die Autorin arbeitet in ihrem Traumberuf als Tierärztin in einer ländlichen Praxis.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

[Widmung]

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

[Brief der Autorin]

Für Anabel, für immer.

Es war Freundschaft auf den ersten Blick.

1

ANABEL

 

MIT MEHR SCHWUNG als nötig werfe ich die Heckklappe zu. Klack. Es steht fest. Mein Leben passt in ein Auto. Noch dazu in ein sehr kleines. Der Kofferraum meines alten Japaners ist kaum größer als der Innenraum unserer neuen Spülmaschine. Die jetzt nicht mehr meine ist, obwohl ich sie teuer bezahlt habe. Auch egal – ich brauche sie nicht. Was ich brauche, habe ich dabei. Ich muss jetzt nur noch den Wohnungsschlüssel auf den Küchentisch legen und die Tür hinter mir zuziehen, dann kann ich starten.

Eine einzige Frage ist noch offen: Wohin?

Auf jeden Fall raus aus Berlin, die Stadt nervt mich gerade tierisch. Gestern wollten alle noch frei sein und feiern und leben und heute plötzlich Karriere und Bausparverträge und Kinder. Ohne mich. Ich bin nach Berlin gezogen, um diesem ganzen spießigen Mist zu entgehen, aber wenn meine Freunde mir jetzt mit den gleichen Tiraden kommen wie meine Eltern, ist hier kein Platz für mich. »Du musst dein Leben in den Griff kriegen, Anabel.«

Einen Scheiß muss ich. Es tut mir ja leid, dass ich mit der Miete für mein Zimmer ziemlich im Rückstand bin, aber das gibt ihnen nicht das Recht, an mir und meinem Leben herumzuzerren. Deshalb muss ich gehen. Will ich gehen.

Ein letztes Mal steige ich durch das abgenutzte Treppenhaus in den zweiten Stock. Die ursprüngliche Farbe des Fußbodens hatte bestimmt mal einen verkaufsfördernden Namen wie Dunkel Sand oder Cappuccino. Ganz ehrlich, Baileyskotzfarben trifft es besser. Ich habe das sogar schon mal direkt im Eingang getestet, weil ich das süße Zeug einfach nicht gut vertrage.

Es riecht genauso wie vor drei Jahren, als ich zum ersten Mal hier war. Billige Putzmittel, dreierlei Mittagessen und verstaubtes Holz. Ich weiß noch, wie ich Dana folgte, die mich angesprochen hatte, weil ich seit mehr als zwanzig Minuten ins Schaufenster ihres Tätowierladens gestarrt hatte und mich an den aufgeklebten Fotos ihrer Arbeit nicht sattsehen konnte. Sie hatte einfach die Tür geöffnet und »Komm rin, Kleene« gesagt. Dann hatte sie zu einem Stuhl gezeigt, auf dem ich unbeholfen Platz nahm. Ich durfte zusehen, wie sie einem riesigen Kerl auf einer Liege den Rücken tätowierte. Währenddessen stellte sie mir ungefähr tausend Fragen, und als sie den Typen mit einem Klaps auf den Hintern und einem »See you next week« entließ, hatte sie mich adoptiert. Sie war nur zwei Jahre älter als ich, aber zwischen uns lagen Welten. Sie war alles, was ich selbst gern sein wollte: direkt und selbstbewusst, völlig mit sich im Reinen, und die Meinung von anderen schien sie in nichts zu beeinflussen. Sie war mein Idol. Und irgendwas war ich für sie.

Jedenfalls schickte sie mich nicht weg, und als sie abends die Lichter im Laden löschte, nahm sie wie selbstverständlich meinen Rucksack. »Dann gehen wir wohl mal heim, Kleene.«

Ein ungleiches Paar müssen wir an diesem Abend abgegeben haben: Dana groß und schlank mit langen hellblauen Haaren und zahlreichen Piercings. Die Ärmel vom Kapuzenpulli hatte sie hochgeschoben, so dass die dunklen Tätowierungen hervorschauten. Sie trug meinen Rucksack lässig über der einen Schulter, hielt eine selbstgedrehte Kippe zwischen den Fingern und war völlig eins mit den Straßen von Neukölln. Daneben stolperte ich: klein und mit zehn Kilo zu viel wie heute. Aber ich hatte noch meine blonden Locken, einen einzigen kleinen Ring in der rechten Augenbraue und ein dilettantisches Rosentattoo auf der Schulter. Und keinen Plan von nichts.

Inzwischen habe ich mehr Tätowierungen als Dana, jeden Monat eine andere Haarfarbe, und das schüchterne Goldlöckchen mit der leisen, immer etwas schuldbewussten Stimme gibt es nicht mehr. Das hat Dana gestern wohl vergessen, als sie meinte, sie müsste mal eben mein Leben in die Hand nehmen. Heute Abend wird es ihr vielleicht einfallen, aber dann bin ich längst weg.

Ich mache einen Rundgang durch die Wohnung, um zu schauen, ob ich etwas Wesentliches vergessen habe. Samsons Zimmertür ist zu. Er schläft noch. Aber ich muss mir keine Sorgen machen, dass er plötzlich auftaucht und unangenehme Fragen stellt. Wir haben kurz vor acht, und Samson steht niemals vor zwölf auf. Und unangenehme Fragen sind sowieso nicht sein Ding. Die Diskussion gestern war ihm sichtlich unangenehm, und er hat versucht, sich so unsichtbar wie möglich zu machen. Was nicht leicht ist, wenn man zwei Meter groß ist und ziemlich breit, mit riesigem Vollbart und tiefer Stimme. Ihm gelingt es erstaunlich gut.

Dana und Kalle sind heute Morgen ganz früh aufgebrochen zu einer Messe in Norddeutschland. Sobald ich die Tür ins Schloss fallen hörte, bin ich aufgestanden, habe mein Zeug auf einem Haufen gesammelt und den mit Hilfe von zwei Ikea-Taschen zu meinem Daihatsu geschleppt. Ich musste dreimal gehen. Eingezogen bin ich nur mit dem Rucksack.

»Dat ist dann dein Zimmer«, hatte Dana gesagt, als wir in der Wohnung standen. Sie öffnete eine Tür und schob mich hindurch. »Erster Monat gratis, dann musste irgendwie zweihundert dazuschmeißen. Futter besorgste dir selbst. Aber heute kannste mitessen.«

In der Küche saß Kalle. Er und Dana waren gerade frisch, aber freundschaftlich getrennt. Das mit den beiden ist eine On-off-Geschichte. Eigentlich eher stufenlos verstellbar. Von ewiger Liebe über nichts als Freundschaft oder Freundschaft plus bis zu nichts als plus. Oder auch mal zwei bis drei anstrengende Wochen Funkstille. Ich weiß bis heute nicht, ob sie einen Mitbewohner gesucht hatten oder ob Dana mich mitgebracht hatte, um Kalle zu ärgern.

»Die Kleene wohnt jetzt im gelben Zimmer.«

Er sah mich über den Rand seiner John-Lennon-Brille an, nickte dann und löffelte weiter seinen Joghurt aus dem Glas. Ein dünner, blasser Kerl mit wirren Haaren. Richtig warm geworden sind wir nie miteinander, aber Dana ließ nicht zu, dass unsere Kabbeleien in echten Streit ausarteten. Samson gab es da noch nicht, der kam erst ein paar Monate später dazu. Sein Zimmer ist nur wenig größer als ein begehbarer Kleiderschrank und hat keine Fenster. In Berlin kann man alles vermieten. Samson mag seine Kammer, die er so vollgestellt hat mit Computern und Monitoren, dass nur ein schmaler Pfad zum Bett führt. Wenn überhaupt. Auf Tageslicht legt er sowieso keinen gesteigerten Wert. Die Luft in seinem Zimmer steht vor Elektrosmog und Zigarettenrauch. Wir sind alle Raucher und haben ganz altmodisch Raucherlaubnis in der ganzen Wohnung, aber keiner außer Samson hält es länger als ein paar Minuten ohne Asthmaanfall in seinem Zimmer aus. Er selbst scheint auf Sauerstoff nicht angewiesen zu sein, dafür auf Kaffee, von dem er Unmengen in sich hineinschüttet. Ich werde ihn vermissen. Er hat nie viele Worte verloren, aber seine stille Behäbigkeit und sein geduldiger Blick auf alles um ihn herum hatten eine beruhigende Wirkung auf mich. Dana wird mir natürlich am meisten fehlen. Ich hatte vor ihr nie eine richtige Freundin. Früher durfte ich keine Kinder mit nach Hause bringen, wahrscheinlich weil es meine Mutter überfordert hätte. Außerdem hatte ich einen vollen Wochenplan und eine Art, die Gleichaltrigen seltsam vorkam. Später hatte ich mich so ans Einzelgängertum gewöhnt, dass ein unsichtbarer Graben alle von mir fernhielt. Bis Dana mit einem lockeren Schritt darüberstieg, als wäre es nichts. Meine erste Freundin, meine beste und meine einzige.

Ich stehe unschlüssig in der Küche und drehe den Schlüssel in meinen Händen. Tue ich das Richtige? Dana meint es nicht böse. Aber sie kennt den ganzen Mist, den ich hinter mir habe, und weiß, wie allergisch ich auf Übergriffigkeit reagiere. Wenn ich bleibe, wird es nicht besser. Ich bin ihr dankbar, und ich mag sie sehr, aber sie würde keine Ruhe geben, und ich würde einknicken und es irgendwann bereuen. Viel mehr, als wenn ich jetzt einfach einen Schlussstrich ziehe.

Entschlossen lege ich den Schlüssel auf den Tisch. Irgendeine Nachricht muss ich schreiben. Auf der Suche nach einem Zettel fällt mein Blick auf die mit Fotos, Postkarten, alten Tickets und anderem Papierkram überhäufte Kühlschranktür. Ich will eine überholte Einkaufsliste unter einem Smileymagneten hervorziehen, um die Rückseite für meine Abschiedszeilen zu nutzen. Dabei rutscht eine Klappkarte heraus und fällt zu Boden. Es ist die Hochzeitseinladung von meinem Cousin Lasse. Ursprünglich wollte ich sie direkt wegschmeißen. Eine Familienfeier – so weit kommt’s noch! Dana fand das Motiv lustig und hat sie deshalb an den Kühlschrank gehängt. Über dem Foto von einem kleinen Pony, an dessen Sattel zwei herzförmige Heliumballons festgebunden sind, steht: Mit dir wird alles ganz leicht! So ein Kitsch. Gedankenverloren klappe ich die Karte auf. Verrückt, die Hochzeit ist tatsächlich heute. Und wo zum Teufel ist Neuberg? Klingt nach einem verschlafenen Nest in der Provinz. Irgendwo weit weg. Weit weg? Warum eigentlich nicht. Großer Haken an der Sache: Wiedersehen mit meinem Vater. Der wird sich das Familiengetue auf keinen Fall entgehen lassen. Aber es ist unwahrscheinlich, dass meine Mutter mitkommt, also wird er nicht lange bleiben können. Und wer auf der Flucht ist, hat keine Wahl. Ein zweifelhaftes Ziel ist besser als gar keins. Es gibt bestimmt was Leckeres zu essen und ohne Ende edlen Alkohol. Ich blicke wieder auf die Karte. Beginn der Trauung 14.30 Uhr. Wo auch immer dieses Neuberg liegt, das sollte zu schaffen sein. Der Plan gefällt mir. Ich nehme den Einkaufszettel und schreibe: Musste weg in dringender Familiensache. Ihr findet bestimmt schnell Ersatz für das Zimmer. Liebe Grüße, Anabel

Ich halte mit dem Stift inne. Das ist schon echt sachlich. Aber genau genommen haben sie es nicht anders verdient. Wenigstens male ich noch einen schiefen Smiley dazu. Dann wissen sie auch, dass mir der Abschied nicht schwerfällt. So.

Zum Schluss werfe ich einen letzten Blick in mein altes Zimmer. Mein Bett haben Dana und ich zusammen gebaut. Aus leeren Bierkästen und Paketband. Mit dem Pfand für die Kästen haben sie ja schon mal eine Anzahlung auf meine Mietschulden. An der Wohnungstür bleibe ich stehen und schaue an mir herunter. Alte Jeans und schlabbriges AC/DC-Shirt. Nicht gerade ein Hochzeitsoutfit, aber meine Klamotten liegen ganz unten im Fußraum vor der vollgestopften Rückbank. Ich drehe mich entschlossen um und betrete Danas Zimmer. Im weißen Schrank warten ihre Nähprojekte. Flohmarktkleider, die sie umnäht und aufpimpt. Mit etwas Glück ist irgendwas dabei, was mir halbwegs passt. Tatsächlich. Ein schwarzes Vintage-Kleid mit weißen Punkten und etwas Tüll sieht nett aus. Und ich kriege den Reißverschluss zu. Danke, Dana. Ein letztes Mal: danke.

Im Auto schalte ich das Navi an, ein Geburtstagsgeschenk meiner Eltern in der Hoffnung, dass ich sie dann mal besuche. Weil man ja sonst von Berlin nicht nach Köln findet. Ich gebe die Postleitzahl von der Einladung ein. 477 Kilometer, 4 Stunden und 48 Minuten. Neues Leben, neue Anabel, Neuberg. Ich drehe das Radio laut und kurbele das Fenster runter. Ein Fahrradfahrer schreit mich an, als er mir beim Ausparken ausweichen muss. Ich strecke ihm die Zunge raus und lasse Berlin hinter mir.

2

ROB

 

ALLE AUSSER KAYA haben befürchtet, dass es an ihrem Hochzeitstag regnen könnte. Nur die Braut selbst ist sich sicher gewesen, dass die Spätsommersonne genau an diesem Tag noch einmal alles geben würde, und sie hat recht behalten. Durch das Fenster meines Hotelzimmers kann ich den strahlend blauen Himmel sehen und die goldgelben Stoppelfelder, deren Geruch mich immer daran erinnert, dass mir der Sommer früher endlos vorkam. Ich habe mich dagegen gewehrt, ein eigenes Zimmer zu bekommen, aber Kaya hat darauf bestanden. Dabei wohnen wir beide im Nachbarort. Der Neuberger Ortskern liegt keine zehn Kilometer entfernt, und wir hätten uns problemlos jeder zu Hause fertigmachen und hier treffen können. Selbst wenn Bauer Wilhelm mit seinem museumsreifen Traktor auf der Mittelspur Überholen unmöglich macht, braucht man keine Viertelstunde. Kaya hat trotzdem Zimmer gebucht. Sie möchte, dass wir uns in Ruhe umziehen und vorbereiten können, ohne gestört zu werden. Dabei würde ich gerade ganz gern gestört werden. Vielleicht durch einen Feueralarm. Oder noch besser durch jemanden, der in mein Zimmer platzt und ruft, dass die Hochzeit abgesagt ist. Denn wenn ich ehrlich bin, ist mir das alles zu viel. Ich will das nicht. Ich kann das nicht. Trotzdem werde ich es tun. Natürlich werde ich es tun. Ich will, dass Kaya glücklich ist. Sie würde mir nie verzeihen, wenn ich jetzt kneife. Wenn ich einfach das Zimmer verlasse und aus dem idyllischen Landhotel laufe, an der alten Kastanie vorbei, unter der die weißen Stühle in Reihen stehen, in mein Auto steige und ohne Blick in den Rückspiegel aufs Gas trete. Das werde ich nicht tun. Kaya weiß das. Sie wusste ja auch, dass die Sonne scheinen wird.

Ich werfe einen prüfenden Blick in den großen Spiegel, der über dem schmalen Sekretär hängt. Ich sehe gut aus. Damit meine ich nicht nur, dass mir der dunkle Anzug über dem blütenweißen Hemd steht und die Krawatte richtig sitzt. Es klingt komisch und unglaublich arrogant und selbstverliebt, aber ich sehe wirklich gut aus. Richtig gut. Wo ich auch bin, drehen sich die Frauen nach mir um, beobachten mich verstohlen, als wären sie sich nicht sicher, ob es mich wirklich gibt, oder gehen direkt in die Flirtoffensive. Ich war sechzehn, als das irgendwie anfing. Als Kind bin ich immer ein bisschen pummelig gewesen, unauffällig und ruhig. Ich gehörte nie zu den Rabauken oder Klassenclowns. Die Erwachsenen mochten meine höflichen Umgangsformen und meine blauen Augen, bei den Gleichaltrigen war ich einfach irgendwie dabei, nicht störend, aber auch nicht wichtig. Dass ich nicht ganz als Außenseiter gelten konnte, hatte ich vor allem meiner Freundschaft mit Kaya zu verdanken, die zwar drei Jahre jünger war, aber ständig mittendrin, die immer was zu sagen hatte und es auch tat. Sie war eine, die auffiel und die man dabeihaben wollte. Weil wir wie Pech und Schwefel zusammenhielten, war ich eben dort, wo sie war. Eigentlich hat sich daran bis heute nichts geändert. Umso unglaublicher war es für mich, als die Pubertät wie ein Zaubertrank wirkte und mich vom Frosch in den Prinzen verwandelte.

Ich nahm es wie ein Geschenk, und ich weiß, dass es eigentlich auch eins ist. Aber es ist auch eine Bürde. Manchmal glaube ich, dass es die unscheinbaren Typen dieser Welt besser getroffen haben. Das klingt jetzt noch komischer und noch arroganter und selbstverliebter, aber es ist anstrengend, den ganzen Tag angeflirtet zu werden. Ich finde es wirklich unangenehm, ständig freundlich, aber bestimmt Körbe zu verteilen oder zum dritten Mal einer Pferdebesitzerin zu erklären, wie sie das Antibiotikumpulver verabreichen soll, weil sie mich zwar ununterbrochen anschaut, aber anscheinend kein Wort von dem hört, was ich sage.

Nie weiß ich, ob sich eine wirklich für mich interessiert oder nur für das, was man sehen kann. Nicht selten hatte ich bei Verabredungen den Eindruck, dass es mehr darum ging, mit mir gesehen zu werden und mich vorzuführen wie ein schickes Schmuckstück, als mich wirklich kennenzulernen. Auch deshalb ist Kaya so etwas Besonderes für mich. Ihr ist mein Aussehen egal. Sie war schon für mich da, bevor ich so aussah, und es würde sich für sie nichts ändern, wenn mich ein Huftritt ins Gesicht entstellen oder ich hundert Kilo zunehmen würde. Für mich vielleicht schon. Wenn ich wirklich so mit meinem Aussehen hadere, wie ich behaupte, warum höre ich dann nicht auf, in jeder freien Minute zu joggen oder im Keller in der Rudermaschine zu trainieren? Die Antwort ist so einfach wie erschreckend: weil ich selbst nicht sicher bin, was dann noch von mir übrigbleiben würde.

Jemand wummert gegen die Tür und platzt in mein Hotelzimmer. Mark sieht mich flehend an. »Rob, hast du die Ringe? Bitte sag mir, dass du die Ringe hast!«

Ich verschränke die Arme und betrachte ihn gelassen. »Ich dachte immer, dass der Trauzeuge des Bräutigams für die Ringe verantwortlich ist.«

Mark stehen Schweißperlen auf der Stirn, und ich will ihn nicht länger zappeln lassen.

»Es sei denn, der Bräutigam traut seinem eigenen Bruder nicht und gibt sie stattdessen dem Trauzeugen der Braut.« Ich ziehe die kleine Schachtel aus der Jacketttasche und halte sie ihm hin.

»Trauzeuge der Braut, Alter. Da hat sie dir was angetan.« Er klopft mir kumpelhaft auf die Schulter. »Aber danke, Mann, du hast mich gerettet.«

Er greift nach der Ringschachtel, wirft einen Blick in den Spiegel und zupft sich die Haare zurecht.

»Wir sehen Hammer aus. Sexiest Trauzeugen ever!«

Ich räume ein, dass nicht alle gutaussehenden Männer ihr Äußeres als Bürde empfinden. Mark schlägt mir mit der flachen Hand auf den Rücken.

»Los geht’s. Die warten schon auf uns.«

An der Tür dreht er sich noch mal kurz um.

»Wenn wir es hinter uns haben, dann treffen wir uns an der Bar. Der hausgebrannte Korn soll ein Besäufnis wert sein.«

Ich straffe die Schultern und folge ihm. Nie zuvor war ich so bereit, mich hemmungslos zu betrinken.

Wir kommen nicht weit, denn als wir um die Ecke des langgezogenen Hotelflurs biegen, läuft Amelie fast in uns hinein, und Mark kann gerade noch verhindern, dass sie mit ihren hohen Absätzen zu Boden geht. Einen Augenblick zu lange lässt er seine Hände an ihrer Taille liegen.

»Langsam, Lady. Wohin des Weges?« Er setzt sein Prinz-Charming-Lächeln auf, doch Amelie beachtet ihn gar nicht, sondern wirft mir hektisch einen hilfesuchenden Blick zu.

»Rob, ich brauche dich. Kaya dreht durch!« Sie klingt gestresst, fast panisch, doch bevor ich antworten kann, muss Mark seinen Senf dazugeben.

»Aaaah, ist ihr doch noch klargeworden, dass sie den falschen Bruder heiratet? Kein Problem, ich stehe spontan als Bräutigam zur Verfügung.«

Amelie wirft ihm einen Seitenblick zu, als wäre er ein störendes Insekt, dann schaut sie mich an.

»Kommst du?«

Sie dreht sich auf dem Absatz um, und ich folge ihr. Als Mark sich ebenfalls in Bewegung setzen will, halte ich ihn zurück.

»Geh du schon runter und unterhalte die Gäste oder was weiß ich. Und verlier die Ringe nicht.«

Dann stürze ich Amelie hinterher, die mit ihrem hautengen Kleid ein beachtliches Tempo vorlegt.

»Was ist denn passiert? Geht es Kaya gut?«

Amelie bleibt ruckartig stehen. Und dreht sich wütend um. »Zu gut geht es ihr. Madame will ihre Schuhe nicht tragen. Drei Nachmittage in drei verschiedenen Städten hat es gedauert, bis wir diese Traumschuhe gefunden haben, und die meiste Zeit war sie dabei motzig wie ein kleines Kind. Sie sind wunderschön, und sie haben ein Vermögen gekostet, aber sie weigert sich, sie anzuziehen.«

Das soll das große Problem sein, weswegen Amelie kurz vorm Nervenzusammenbruch steht? Ich glaube kaum, dass ich da der richtige Ansprechpartner bin. Ich war von der Trauzeugengeschichte ja schon nicht sonderlich begeistert, aber dankbar, dass zumindest die Hochzeitsplanungs- und Brautbetreuungsaufgaben auf Amelie übertragen wurden. So konnte Kayas beste Freundin es ganz gut wegstecken, dass nicht sie zur Trauzeugin ernannt worden war, und was ich so mitgekriegt habe, hatten die beiden eigentlich tierisch Spaß bei der Vorbereitung der Traumhochzeit.

Amelie und Kaya sind sehr verschieden und wahrscheinlich gerade deshalb ein Herz und eine Seele. Jede findet in der anderen das, was sie bei sich selbst vermisst. Amelies dunkle Augen funkeln mich einen Moment abwartend an. Dann dreht sie sich wieder um.

»Ach, guck selbst!«

In wenigen Schritten ist sie an einer Zimmertür, klopft einmal mit Wucht dagegen und tritt, ohne eine Antwort abzuwarten, ein. Ich folge ihr. Kaya steht am Fenster. Ihre langen blonden Haare sind locker hochgesteckt und mit kleinen weißen Blüten geschmückt. Sie trägt ein weißes Kleid mit schmalen Trägern, das bis zu den Knien reicht. Als sie mich sieht, lächelt sie unsicher.

»Rob.«

Einen Moment bin ich überwältigt von ihrem Anblick, der sich wie ein Messerstich anfühlt. Ich senke den Blick und sehe, dass sie ihre alten Reitstiefeletten trägt, die vorn deutlich abgewetzt sind. Und definitiv nicht geputzt. Ich räuspere mich.

»Sind das die Schuhe, um die es geht?«

Amelie rauscht an mir vorbei zum Bett, greift nach einem geöffneten Schuhkarton und hält ihn mir vor die Nase. »Nein, mein Lieber. Das sind die Schuhe, um die es geht.«

In dem Karton liegen goldfarbene, glitzernde Riemchensandalen mit schmalen Absätzen.

»Und das da geht gar nicht.«

Sie weist naserümpfend auf die Stallschuhe an Kayas Füßen. Kaya schiebt die Unterlippe vor.

»Ich kann mit den neuen Dingern nicht laufen. Sie nerven mich, und drücken tun sie auch.«

»Du sollst damit ja auch nicht beim Marathon mitmachen«, stöhnt Amelie.

»Hast du keine anderen Schuhe dabei?« Im selben Moment, in dem ich die Frage stelle, ist mir schon klar, dass sie mich für diese Idee wohl nicht gebraucht hätten. Kaya sieht mich zerknirscht an.

»Wir haben doch vorher Achterbahn als Blumenpony geschmückt und mit dem Pferdehänger hierhergefahren. Deshalb bin ich in Stallklamotten gekommen.«

Das ist so typisch Kaya, dass ich mir ein Grinsen kaum verkneifen kann. Amelie boxt mich auf den Oberarm.

»Fall mir nicht in den Rücken, ich warne dich. Wenn sie in den stinkenden Mistschuhen heiratet, streike ich.« Ihre schmalen Augen blitzen mich herausfordernd an. Ich weiß nicht, was sie damit genau androhen will, aber mir fällt etwas ein, was Kaya und Amelie gemeinsam haben: den Dickkopf. Ich werfe Kaya einen Blick zu, und etwas in ihren Augen gefällt mir nicht.

»Amelie, lässt du uns mal kurz allein?«

Sie schaut mich überrascht an und macht keine Anstalten, den Raum zu verlassen. Ich mache es nicht gern, aber man muss die Waffen nutzen, die man hat.

»Ich bitte dich«, sage ich leise, schaue ihr in die Augen und berühre für einen Moment mit der Hand ihren Oberarm. Seufzend gibt sie nach. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hat, stelle ich mich zu Kaya ans Fenster. Sie starrt angestrengt auf die Stoppelfelder am Waldrand, als würde sie erwarten, dass dort in den nächsten Sekunden etwas Spektakuläres passiert.

»Was ist das Problem hinter dem Schuhproblem? Du kannst es mir ruhig sagen, ich bin dein Trauzeuge.«

Sie kaut einen Moment nachdenklich auf der Unterlippe, bevor sie antwortet.

»Ich weiß es doch selbst nicht. Irgendwie kommen mir die Schuhe plötzlich vor wie ein Symbol dafür, dass ich gar nicht mehr ich bin. Ich trage nie solche Dinger, und jetzt soll ich damit zu Lasse stolpern, um ihm zu sagen, dass ich für immer sein bin. Das ist doch bescheuert!«

»Die Schuhe oder dass du für immer sein sein willst?« Ich schaue sie ernst an. Sie grinst und stupst mich mit dem Ellenbogen in die Seite.

»Doofmann. Ich hab keine kalten Füße. Aber ich will, dass Lasse mich heiratet, wie ich wirklich bin, und keine aufgetakelte Barbie-Kaya.«

Ich nehme sie mit beiden Händen an den Schultern und drehe sie zu mir.

»Schau mich an, Kaya.«

Sie sieht mit ihren großen Augen zu mir hoch, und ich muss schlucken.

»Lasse liebt dich. Er liebt dich so, wie du bist. Du könntest in deiner schmutzigsten Stallkleidung neben ihn treten oder von mir aus in einem alten Kartoffelsack; egal wie, du wärst wunderschön, und er würde Ja sagen, denn er will die Kaya unter der ganzen Kleidung, ob mit Reitstiefeln oder Glitzersandalen oder …«

Ich verstumme. Sie schaut mich still an. Ich höre sie atmen. Meine Stimme klingt rau.

»Zieh deine Schuhe aus.«

Als sie zögert, füge ich ein leises »Vertrau mir!« hinzu. Sie geht in die Hocke, öffnet die Reißverschlüsse an den Jodhpurstiefeletten und streift sie ab. Als sie wieder steht, werfe ich einen prüfenden Blick nach unten. Sie trägt eine dünne Nylonstrumpfhose.

»Kannst du die Strumpfhose auch ausziehen?«

Sie nickt leicht, und unwillkürlich schließe ich die Augen, aber ich glaube zu hören, wie der zarte Stoff über die glatte Haut nach unten gleitet. Als ich die Augen öffne, hat Kay verstanden und strahlt mich an.

»Barfuß! Ich heirate barfuß.«

Ich grinse. »Das wäre mein Plan. Es ist warm heute, und der Rasen ist frisch gemäht. Es sollte kein Problem sein.«

Mal abgesehen davon, dass Kaya es den ganzen Sommer schafft, mit nackten Füßen den Kiesweg zum Badesee entlangzugehen, als würde sie auf Watte laufen. Sie neigt sich mit dem Mund zu meinem Ohr. Ganz leicht berührt ihr Körper meinen.

»Danke«, flüstert sie, »Danke für alles. Es bedeutet mir so viel, dass du das für mich machst.« Sie haucht mir einen Kuss auf die Wange. Ich will antworten, doch ein energisches Pochen an der Tür lässt uns aufschrecken.

»Kaya!« Ein tiefer Bass dringt durch die Tür. »Ich bin’s, Papa! Amelie schickt mich. Wenn du so weit bist, kann es losgehen.«

»Einen Moment, Paps!« Sie dreht sich mit nackten Füßen vor dem Spiegel und lacht fröhlich. »Es kann losgehen.«

 

Als ich unter der Kastanie ankomme, haben die meisten Gäste schon auf den weißen Stühlen Platz genommen. Einige Schüler von Lasse stehen mit ihren Instrumenten bereit, um die Trauung musikalisch zu begleiten. Mark lehnt vorn am Tisch der Standesbeamtin und erzählt augenzwinkernd etwas, worüber sie herzhaft lachen muss. Neben ihnen steht Lasse. Er folgt dem Gespräch nicht, sondern wirft unruhige Blicke über die Gäste und Richtung Hotel. Als er mich über den Mittelgang auf sich zukommen sieht, scheint er überzeugt zu sein, dass ich schlechte Nachrichten habe, denn er strafft die Schultern und kneift die Augen leicht zusammen, als wolle er sich möglichst aufrecht einem rasenden ICE in den Weg stellen. Mit schnellen Schritten bin ich bei ihm.

»Alles gut. Sie kommt gleich. Es wäre nicht Kaya, wenn sie zu ihrer eigenen Hochzeit plötzlich pünktlich kommen würde.«

Ich kann förmlich hören, wie ihm Felsbrocken vom Herz poltern. Einen Moment sieht es so aus, als wolle er mir um den Hals fallen. Doch er berührt nur kurz meine Schultern und seufzt erleichtert.

»Danke, Rob. Ich bin fix und fertig. Ich kann immer noch nicht fassen, dass ausgerechnet ich diese Wahnsinnsfrau heiraten darf!«

»Das können wir alle nicht.« Mark tritt neben seinen Bruder und klopft ihm auf die Schulter. »Sie muss einfach verrückt sein.«

Demonstrativ wirft er einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Wo bleibt sie überhaupt? Sie bringt meinen ganzen Zeitplan durcheinander.«

Wir schauen gleichzeitig Richtung Hotel, aber noch ist von Kaya nichts zu sehen. Stattdessen kommt eine junge Frau über den Rasen auf die Hochzeitsgesellschaft zu. Ich kenne sie nicht, und sie wirkt auch nicht wirklich, als würde sie dazugehören, doch zielstrebig lässt sie sich auf einen der Stühle in der letzten Reihe fallen. Als sie Lasse sieht, grinst sie kurz und hebt grüßend die Hand, was er mit einem freundlichen Nicken erwidert. Sie fällt nicht nur auf, weil sie fast so unpünktlich ist wie die Braut. Ihre halblangen Haare sind in einem knalligen Lilaton gefärbt, Schultern und Arme mit bunten Tätowierungen bedeckt. Sie trägt ein schwarzes Kleid mit weißen Punkten, das an die fünfziger Jahre erinnert und mit einer Schleife im Nacken gebunden ist. Scheinbar ungerührt von den neugierigen und argwöhnischen Blicken in ihre Richtung, bindet sie ihre schwarzen Stoffturnschuhe zu. Für ihre Figur fällt mir kein passendes Wort ein, denn sie ist etwas runder und fülliger, aber keinesfalls übermäßig kräftig oder dick.

»Darf ich vorstellen: unsere Cousine Anabel«, raunt Mark mir zu.

Ich will etwas fragen, doch in diesem Moment bekommt das kleine Orchester das Startsignal und beginnt zu spielen. Ein Wispern geht durch die Menge und dann ein erfreutes Lachen, als Kayas Nichte Milli mit Achterbahn am Führstrick auftaucht. Am Stirnriemen des fuchsfarbenen Shetlandponys ist ein Blumenkranz befestigt, und der kleine Wallach schreitet stolz, als wüsste er, worum es geht. Auch Millis Lächeln wirkt andächtig, während sie die weißen Blüten auf den Rasen streut. Irgendwie sieht sie in dem hellen Sommerkleid mit ihren sechzehn schon ziemlich erwachsen aus.

Und dann kommt Kaya. Kaya mit ihrem strahlenden Lächeln, das von innen wärmt. Beschwingt läuft sie am Arm ihres Vaters mit nackten Füßen über das kurze Gras. Ihre Augen leuchten, und das Kleid spielt sanft um ihren Körper. Ein paar Strähnen haben sich aus der Hochsteckfrisur gelöst und fallen ihr verspielt ins Gesicht. Sie ist mir so vertraut. Trotzdem habe ich immer wieder das Gefühl, sie zum ersten Mal zu sehen. Für einen kurzen Moment, den ich mir selbst kaum eingestehe, stelle ich mir vor, sie käme auf mich zu. Die Hände hinter meinem Rücken zittern. Dann sind sie bei uns angekommen, und Kayas Vater übergibt sie mit einer freundlichen Geste an Lasse, den verdammt nochmal glücklichsten Mann der Welt. Als sein Blick den von Kaya trifft, kann keiner mehr daran zweifeln, dass die beiden das Richtige tun.

Ich hatte mir vorgenommen, die Trauungszeremonie einfach an mir vorbeiziehen zu lassen, doch selbst ein völlig Fremder könnte nicht unbeteiligt bleiben. Die Standesbeamtin erzählt mit viel Humor vom Kennenlernen der beiden. Selbst die, die schon wussten, dass Kaya sich anfangs bei Lasse bei einer Sprechstunde in der Schule mit starken Brillengläsern verkleidet als Mutter seiner Schülerin Milli ausgegeben hatte, ihn später bei einer Party dann nicht wiedererkannte und sich wunderte, warum er so zurückhaltend auf ihre Annäherungsversuche reagierte, müssen lachen. Als Lasse mit ruhiger Stimme Kayas Lieblingsgedicht vorträgt, sehe ich, dass selbst Kayas kühle Schwester Cordula sich verstohlen die Nase putzt. I love you not only for what you are but for what I am when I am with you … Es könnte für Kaya geschrieben worden sein. Mark hat tatsächlich zum richtigen Zeitpunkt die Ringe parat, und als wir unsere Unterschrift geleistet haben, dürfen wir als Erste gratulieren. Mark stürzt sich auf Kaya. »Gratulation, Schönste aller Schwägerinnen!«

Lasse und ich drücken uns kurz. »Herzlichen Glückwunsch euch beiden.«

Er nickt. »Danke, Rob.«

Ich weiche seinem Blick aus. Glücklicherweise hat Mark gerade Kaya freigegeben, und ich nehme sie in den Arm. Sie legt ihre Stirn an meine Schulter, und ich schließe die Augen. Sekunden verharren wir so, ohne etwas zu sagen. Dann stehen die nächsten Gratulanten da, und Kaya schiebt mich mit einem leisen Lächeln von sich und wendet sich ihnen zu. Ich stehe am Rand des Trubels in weißen Rosenblüten auf kurzem Gras und wäre gern ganz woanders.

Kaya ist meine beste Freundin, seit ich denken kann. Sie wird es hoffentlich für immer bleiben. Mehr ist nicht drin. Ich weiß das. Ich weiß das seit Jahren. Ich weiß, dass es gut ist, so wie es ist. Warum fühlt es sich nicht endlich auch so an?

Als ich aufschaue, begegne ich Millis Blick, die den geschmückten Achterbahn etwas abseits grasen lässt. Sie lächelt und hebt die Hand.

»Hey, Boss!«

Seit ihrem zweiten Praktikum bei mir nennt sie mich so, und irgendwie gefällt es mir. Ich gehe zu ihr.

»Na, Blumenmädchen, alles gut bei dir?«

»Alles bestens. War das nicht ein Traum? Kaya sieht so toll aus. Ich heirate auch barfuß!« Sie blickt wenig liebevoll auf die weißen Ballerinas an ihren Füßen.

Ich lache. »Dafür muss erst mal ein Kandidat gefunden werden, der meinen Segen kriegt. Das wird nicht leicht.«

Sie streckt mir die Zunge raus. »Du wirst nicht gefragt. Bringst du mit mir Achterbahn zu seinem Paddock? Ich muss irgendwie den Blumenkranz abbasteln, damit er nachher beim Fotoshooting noch halbwegs vollständig ist.«

Sie führt das Pony von der Kastanie weg, und ich laufe neben ihr her. »Fotoshooting?«

Sie schaut mich skeptisch an. »Ja, gleich nach dem Sektempfang im Saal. Hast du den Ablaufplan nicht gelesen?«

Ich versuche, zerknirscht auszusehen. »Ich glaube, die E-Mail war ohne Anhang.«

Sie schmunzelt. »Kaya hat dir deinen doch an den Kühlschrank gehängt. Und dir das bestimmt siebenundzwanzigmal gesagt. Hochzeiten sind nicht so deins, oder?«

Ich zucke mit den Schultern und versuche abzulenken. »Kann sein. Was macht die Schule?«

»Es läuft ganz gut. Aber in der Praxis mitzuhelfen macht mehr Spaß.« Sie seufzt. »Bis zu den Herbstferien kann ich das leider vergessen. Wir schreiben eine Klausur nach der anderen, und mein Boss hat gesagt, ich brauche gute Noten, wenn ich Tiermedizin studieren will.«

»Dein Boss kennt sich aus. Du lässt dich also immer noch nicht davon abbringen, den dreckigen Job mit den schlimmen Arbeitszeiten und der schlechten Bezahlung anzustreben?«

»Einer muss es ja machen. Außerdem tu nicht so. Du liebst es, Tierarzt zu sein.« Sie grinst, aber ich wiege zweifelnd den Kopf. »Da bin ich nicht so sicher. Ich kann halt nur nix anderes.« Sie weiß, dass es gelogen ist. Ich mache diese Arbeit wirklich verdammt gern. Jedenfalls meistens.

Wir sind an der kleinen Koppel angekommen, und ich helfe Milli, das geschmückte Zaumzeug vom Ponykopf zu ziehen, ohne dass zu viele Blüten dabei abknicken. Achterbahn schlägt unwillig mit dem Schweif und legt die Ohren an. Er kann Tierärzte nicht leiden, und ich bin da leider keine Ausnahme. Erst als ich mich ein paar Schritte entfernt habe, steckt er zufrieden die Nase ins Gras. Milli klopft ihm auf die Kruppe und dreht sich zu mir um.

»Sag mir aber Bescheid, wenn du meine Hilfe brauchst. Kaya hat mir erzählt, dass Gerda eine Weile ausfällt.«

»Ich komme schon klar. Es wäre doch gelacht, wenn ich es nicht schaffe, drei Monate ohne Sprechstundenhilfe zu überbrücken.«

Ich sehe an Millis Blick, dass sie davon nicht überzeugt ist. Sie weiß, wie sehr mich ständiges Telefonklingeln und der ganze Papierkram nerven. Auch die Sprechstunde dauert ohne helfende Hand einfach länger. Ich erzähle, dass die Ärzte mit dem Heilungsverlauf der komplizierten Oberarmfraktur sehr zufrieden sind und Gerda in sechs Wochen ihre Reha antreten darf, was der rabiaten älteren Dame gar nicht in den Kram passt. Milli lächelt.

»Das kann ich mir vorstellen. Es ist unfassbar, dass sie mit über sechzig einen Kurs im Bergsteigen macht und sich dann am Flughafen den Arm bricht.«

Ja, das ist wirklich bemerkenswert. Gerda bezwingt völlig souverän die Wildspitze und landet im Krankenhaus, weil sie bei der Rückreise über einen Koffer gestolpert ist. Und bei allem ist ihre größte Sorge, dass ohne sie meine Praxisorganisation zusammenbricht. Dafür hält sie wahrscheinlich das Krankenhauspersonal ordentlich auf Trab.

Ich schließe hinter Milli das Koppeltor, und wir laufen nebeneinander zurück zum Hotel.

Dort sind bereits alle im Festsaal. Jemand hält mir ein Tablett mit gefüllten Gläsern hin, und aus alter Gewohnheit greife ich nach dem Orangensaft. Ich habe schon wieder vergessen, dass ich heute keinen Dienst habe und nicht nüchtern bleiben muss. Nicht nüchtern bleiben will. Ich halte Ausschau nach Mark und entdecke ihn an einem der Stehtische mit einer zierlichen Blonden, die ihn rotwangig anstrahlt. Es sieht nicht aus, als stände hausgebrannter Korn auf seiner Prioritätenliste noch ganz oben. Ich brauche jemanden, mit dem ich ein belangloses Gespräch führen kann und der verhindert, dass ich über irgendwas nachdenke. Meine Mutter ist dafür gerade allerdings völlig ungeeignet, wir würden nur wieder bei unserem Streitthema landen. Ich würde ihr ohne Zögern ihren Anteil auszahlen, wenn ich es irgendwie könnte. Doch die Tierarztpraxis zu verkaufen kommt einfach nicht in Frage.

Gerade als ich auf Kayas Vater zusteuern will, klopft jemand ans Mikrofon. Amelie ist auf die kleine Bühne gestiegen und räuspert sich. »Hallo, ihr alle, ich will gar nicht lange stören. Es ist nur so, dass wir das Brautpaar gleich für ein Stündchen zum Fotoshooting schicken, und ich finde, wir sollten sie nicht ohne einen Hochzeitstanz gehen lassen.«

Die Gäste rufen zustimmend, und einige klatschen Beifall. Arme Amelie. Kaya wird sie umbringen. Mit unschuldiger Miene fährt sie fort: »Ich muss dazusagen, dass die beiden sich weigern wollten, aber wir haben einen Song ausgesucht, bei dem sie nicht widerstehen können.«

Sie nickt dem DJ zu. Ich schaue mich nach Kaya um. Die Braut hat das Kinn vorgeschoben und wirft Amelie einen bitterbösen Blick zu. Die Musik beginnt. Es ist Bryan Adams. Natürlich ist es Bryan Adams. Milli und Kaya sind überzeugt, dass Lasse ihrem Lieblingsmusiker zum Verwechseln ähnlich sieht, und Amelie haben sie das inzwischen auch eingeredet. Und natürlich spielen sie Please forgive me. Es passt perfekt zu den beiden. Lasse lacht und zieht Kaya an sich. Sie sträubt sich kurz und gibt dann nach. Die Gäste bilden einen großen Kreis um das Paar, das engumschlungen tanzt, als wären sie allein. Ohne dass jemand auf mich achtet, fliehe ich durch die weit geöffnete Glastür auf die Terrasse. Ich wünsche den beiden nur das Beste, aber ich muss hier raus, sonst kotze ich. Draußen stütze ich die Unterarme auf die Brüstung und schaue zum Horizont.

»Na, auch auf der Flucht?«

Die junge Frau mit den lilafarbenen Haaren hat anscheinend in einem der Strandkörbe gesessen und kommt auf mich zu. Das kann ich jetzt gar nicht brauchen.

»Nö, ich musste nur irgendwie mal raus.«

»Geht mir auch so. Irgendwie zu viel Zuckerguss. Zigarette?« Sie hält mir ein Päckchen hin.

»Ich rauche nicht mehr.«

Sie will die Packung einstecken.

»Ach, was soll’s. Gib her.«

Sie grinst und gibt mir Feuer. Ich inhaliere tief. Dann steckt sie sich auch eine Zigarette an und lehnt sich neben mich auf die Brüstung.

»Ich bin Anabel. Cousine vom Bräutigam.«

Ich werfe ihr einen Seitenblick zu. »Robert. Oder Rob.«

»Du warst Kayas Trauzeuge, oder? Ich kenn mich da nicht so aus, aber ist das sonst nicht eher der Job für die Busenfreundin?«

Warum fragt mich das eigentlich jeder? Ich zucke mit den Schultern. Sie schaut auf die Felder und sagt nichts mehr. Ich räuspere mich.

»Kommst du aus Köln?«

»Berlin.«

»Hm, ich dachte, Lasse kommt aus Köln.«

Sie fährt sich unwirsch durch die widerspenstigen Haare. »Geboren bin ich da auch. Aber jetzt bin ich in Berlin. Was dagegen?«

»Ich frag ja nur.« Habe ich etwa sie angesprochen? Eigentlich wollte ich einfach nur meine Ruhe. Aber jetzt kann sie ja mal irgendwas erzählen, damit ich auf andere Gedanken komme.

»Was machst du denn so in Berlin?«

Sie stützt ihre Wange mit dem Unterarm ab. »Backen.«

Eine Plaudertasche ist sie ja nicht gerade. Ich schaue sie an. In der Unterlippe hat sie einen kleinen Silberring. Nie käme ich auf die Idee, mir freiwillig so etwas stechen zu lassen. Auch wenn es bei ihr ganz hübsch aussieht.

»Was backst du denn?«, frage ich weniger aus Interesse, als um sie nicht weiter schweigend anzustarren.

»Süßkram. Muffins, Cupcakes, Cakepops … so was halt.«

Ich muss grinsen.

»Also Kuchen mit schicken Namen. Und davon lebst du?«

»Klar!«, sagt sie patzig.

Anscheinend kann man ihr nur falsche Fragen stellen. Sie schnipst ihren Zigarettenstummel über die Brüstung, wo er entweder im Rosenbeet oder im Zierfischteich landen wird. Ich nehme demonstrativ einen Aschenbecher von einem der Tische und drücke meine Zigarette darin aus, was sie gelassen ignoriert.

»Wie ich gehört habe, bestellt die Braut beruflich Leuten Bücher im Internet. Dass man davon leben kann, das find ich viel erstaunlicher.«

Anscheinend hat sie keine Ahnung von Kayas wunderschönem kleinen Buchladen und ihrer Fähigkeit, seltene oder verschollene Bücher aufzutreiben. Langsam geht mir meine wortkarge Gesprächspartnerin auf die Nerven, die heute sowieso ungewohnt gespannt sind.

»Das ist ganz anders«, sage ich deutlich zu scharf. »Das, was Kaya macht …«

»Ganz ruhig bleiben!« Kopfschüttelnd fummelt sie das Zigarettenpäckchen aus der kleinen Handtasche. »Kann ich ja nicht ahnen, dass du auf die Braut stehst. Biste deswegen hier draußen?«

Wahrscheinlich hat sie das nur dahingesagt, aber sie hat mich kalt erwischt, und mein Gefühl, dass ich gerade kein Pokerface mache, bestätigt sich, als sie mit hochgezogenen Augenbrauen durch die Zähne pfeift. »Volltreffer, was? Krasse Geschichte!«

Muss ich mich denn um Kopf und Kragen reden? Aber eigentlich ist es sowieso egal.

»Das weiß hier keiner«, sage ich knapp und starre wieder in die Landschaft. Sie hält mir die Zigaretten hin, doch ich schüttele den Kopf. Ein paar Minuten sagt keiner ein Wort. Sie holt hörbar Luft.

»Weiß sie es?«

Ich lasse die Frage einen Moment wirken, als hätte ich sie mir nicht selbst schon tausendfach gestellt.

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich nicht. Ist eh zu spät.« Ich werfe ihr einen Blick zu. Ihr Gesichtsausdruck ist freundlicher. Auch die Stimme klingt weicher.

»Schöne Scheiße!«

Ich lege den Kopf auf meine Unterarme. »Das kannst du laut sagen.«

Mein Handy klingelt. Es ist Caro von der großen Tierarztpraxis in Rothenstein, die meinen Dienst heute mitmacht.

»Rob, es tut mir sooo leid.« Sie spricht schnell, und es klingt, als ob sie im Laufschritt unterwegs ist. »Ich habe zwei Koliker gleichzeitig und einen Hund in der Geburt, der wahrscheinlich ein Kaiserschnitt wird. Jetzt hat der Reitverein auch noch angerufen, ein Pferd hat sich verletzt. Es blutet wohl ordentlich. Ich pack das nicht alles.«

Als sie Luft holt, falle ich ihr ins Wort. »Du weißt schon, dass ich hier als Trauzeuge auf einer Hochzeit bin.«

»Klar weiß ich das. Ich würde dich auch nicht anrufen, wenn ich nicht absolut überfordert wäre.«

Das würde sie wirklich nicht. Und eigentlich hatte ich mir ja eine Auszeit von der Traumhochzeit gewünscht. Ich seufze.

»Okay, ich übernehme die Verletzung. Dann bin ich zur Vorspeise wieder hier.«

»Du bist der Aller-Aller-Allerbeste!«

Bevor ich antworten kann, hat sie aufgelegt.

»Ich muss weg«, entschuldige ich mich bei Anabel, die das Telefonat interessiert verfolgt hat.

»Weg? Bist du Arzt oder was?«

»Tierarzt.«

Sie legt den Kopf schief. »Wie cool.«

Ich nicke kurz und wende mich zum Gehen.

»Darf ich mit?«

Ich drehe mich erstaunt um. »Du willst mit?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Ich find’s hier öde. Und Tierarzt ist spannend. So was interessiert mich total.«

»Ich weiß nicht.« Ich zögere. Viele Frauen fragen, ob ich sie mal mitnehme, und haben definitiv andere Interessen als Veterinärmedizin. Sie liest meine Gedanken und lacht.

»Krass, du denkst, ich will dir an die Wäsche. Keine Sorge, ich steh nicht so auf Schönlinge, ich bin mehr für Bart und Tattoo und Ring in der Nase.«

Schönling? Verdammt frech. Ich verschränke die Arme. »Außerdem hast du mir doch gerade gesagt, dass dein Herz einer anderen gehört.«

»Gar nichts habe ich gesagt.«

Sie hebt beschwichtigend die Hände. »Wie auch immer. Fahren wir?«

Ich werfe einen Blick Richtung Festsaal. »Sollten wir nicht wenigstens Bescheid sagen?«

»Quatsch. Schau mal, wie viele Leute das sind. Es fällt nicht auf, wenn wir mal eben abtauchen. Los geht’s.«

Sie marschiert zur Terrassentreppe und Richtung Parkplatz, wo sie zu Recht mein Auto vermutet. Ich schaue ihr ein paar Sekunden völlig überrumpelt hinterher, dann folge ich ihr.

3

ANABEL

 

FÜR JEDE LÖSUNG ein Problem. Punkt 1 auf meiner To-do-Liste, Möglichst schnell und unauffällig der Spießerhochzeit entkommen, wäre schon mal erledigt. Von der ersten Sekunde an war mir klar, dass die Idee hierherzukommen völlig bescheuert war. Wahrscheinlich hat Lasses Frau seit Geburt ein Abo der Zeitschrift »Meine traumhafte Landliebehochzeit«. Das Pony war ja noch ganz goldig und auch die Kids mit ihren schlecht gestimmten Instrumenten, was nichts daran ändert, dass sie zum Plan »Gimme more Kitsch, Baby« gehören, denn mehr gekünstelte Romantik ist kaum möglich. Den Gästen scheint es zu gefallen, was zeigt, dass hier weit und breit niemand ist, mit dem man Spaß haben könnte. Das trifft auch auf diesen Rob zu, aber immerhin hat er mich da rausgeholt.

Also sitze ich jetzt im Auto dieses stahlblauäugigen Tierarztes, der direkt einer zuckersüßen TV-Schnulze entsprungen zu sein scheint, und die passende Landschaft habe ich wohl gleich mitgebucht. Vor dem Autofenster wechseln sich goldbraune Kornfelder und grüne Wiesen mit glücklichen Kühen ab. Der arme Kerl scheint mit der Situation etwas überfordert zu sein, aber darauf kann ich gerade keine Rücksicht nehmen. Es ist ja sein Problem, dass er nicht nein sagen kann. Wer bitte wird Trauzeuge bei der Lady, in die er selbst verschossen ist?

Meine eigene Problemliste ist lang genug, was mich zu Punkt 2 bringt: Meinen Eltern eine plausible Lösung für mein Geldproblem präsentieren, damit sie mich nicht weiter nerven. Das führt direkt zu Punkt 3: Eine Lösung für mein Geldproblem finden. Wenn ich das abhaken kann, sollte Punkt 4, Ein neues WG-Zimmer finden, ein Kinderspiel sein, denn jemand, der Kuchen backen und streifenfrei Fenster putzen kann, rutscht auf jeder Wohngemeinschaftswarteliste weit nach oben. Auch wenn sie es mit ihrer tiefen Freundschaft begründen, bin ich mir gerade ziemlich sicher, dass das die eigentlichen Argumente waren, warum Dana, Samson und Kalle mich trotz meiner vielen ausstehenden Mieten nicht längst rausgeworfen haben. Dass sie das nicht ewig mitmachen würden, war ja klar, und als sie mit ernsten Gesichtern zur WG-Konferenz gebeten haben, wusste ich schon, worauf es hinauslaufen würde. Sogar den stets geduldigen Samson hatten sie so aufgehetzt, dass er plötzlich gegen mich war. Er hatte die letzten Monate meinen Mietanteil vorgestreckt, ohne mit der Wimper zu zucken, und ich bin mir sicher, dass er es in seiner Geldtasche tatsächlich kaum gemerkt hatte. Computer-Nerd müsste man sein, dann wäre das Leben leichter, zumindest finanziell gesehen.

Dieser Rob hat leider ganz recht mit seinem arroganten Zweifel: Vom Backen kann man nicht leben. Jedenfalls nicht in Berlin. Noch dazu habe ich ihm eine unvollständige Stellenbeschreibung gegeben. Die meiste Zeit kellnere ich im Triple x, nur am Törtchen-Mittwoch bin ich für das Gebäck zuständig. Eigentlich sollte das Kellnern eine Übergangsgeschichte sein, als ich nach Berlin kam, aber irgendwie bin ich da hängengeblieben. Ich mag es, den ganzen Tag im Trubel zu sein. Und ich mag die Herausforderung, wenn es rappelvoll ist, trotzdem noch jedem das Richtige auf den Tisch zu stellen und einen passenden Spruch zu servieren. Doch das Geld reicht einfach nicht, und weil das Triple x fast ausschließlich von Langzeitstudenten und anderen Gestrandeten besucht wird, kommt auch nicht viel Trinkgeld zusammen. Dafür müsste ich in eine der schicken Touristenkneipen wechseln, aber da habe ich keinen Bock drauf. Deshalb bleibe ich bei Toni, der zwar ein absoluter Chaot ist und nicht gut bezahlt, aber sein Triple x liebt und es nicht einfach nur hat, um Kohle zu scheffeln. Und der mich einfach machen lässt, anstatt mir mit irgendwelchen Vorschriften auf die Nerven zu gehen. Was will ich mehr? Meine lieben WG-Genossen hörten sich echt an wie meine Eltern, als sie sagten, ich müsse mir jetzt endlich eine vernünftige Arbeit suchen und richtig Geld verdienen.

»So kann es nicht weitergehen, Anabel!«, war die einhellige Meinung meiner sogenannten Freunde. Tja, liebe Leute, für euch vielleicht nicht. Für mich geht es immer weiter. Auch ohne euch. Ohne irgendjemanden.

Um mir den Rest zu geben, brachten sie auch wieder die alte Geschichte mit der Spülmaschine auf den Tisch. Als unsere betagte Minna den Geist aufgegeben hatte, wollten Dana und Kalle unbedingt, dass wir uns ein nagelneues Hightech-Gerät in die Küche stellen. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, war bereit, alle zwei Tage den Abwasch mit der Hand zu übernehmen, und appellierte nicht ganz selbstlos an das ökologische Gewissen. Es half nichts, die beiden waren nicht umzustimmen, und weil Samson sich zu nicht mehr als einer Enthaltung überreden ließ, setzten sie sich durch und verboten Samson auch gleich, mir das Geld zu leihen.

»Wenn so eine kleine Summe dir Probleme bereitet, stimmt was mit deinem Leben nicht.« Dana hatte mich ernst angesehen und nicht mal gelächelt, als ich ihr ein durch ein Niesen halbkaschiertes »Spießerin!« entgegengeschleudert hatte. Samson hätte mir heimlich wahrscheinlich trotzdem was gepumpt, aber so langsam kam es mir echt fies vor, seine Gutmütigkeit auszunutzen. Deshalb hatte ich meine Seele für verdammte zweihundert Euro an den Teufel verkaufen müssen. Ich sehe jetzt noch das triumphierende Lächeln meines Vaters, als er mir seine Bedingung erklärte. Sollte ich meine gesamten Schulden bei ihm nicht bis August beglichen haben, dürfe er mir einen Job seiner Wahl suchen, wo ich so lange arbeiten müsse, bis ich bei ihm wieder in den schwarzen Zahlen sei. Ich hätte kotzen können. Und ich könnte es immer noch, wenn ich daran denke, dass ich wenigstens noch eine Null an die zweihundert hätte dranhängen sollen. Darauf wäre es auch nicht mehr angekommen. Die rote Zahl im Notizbüchlein meines Papas ist nämlich inzwischen vierstellig, und wir haben September. Auch wenn ich dank des unglücklichen Trauzeugen erst mal aus der Schusslinie bin, wird es mir nicht gelingen, meinem Vater den Rest des Tages aus dem Weg zu gehen. Es sei denn, der Tierarzt wäre verzweifelt genug, spontan mit mir durchzubrennen. Jetzt sofort.

»Was denkst du gerade? Scheint jedenfalls was Lustiges zu sein.« Er wirft mir einen Seitenblick zu, während er den Blinker setzt und in einen Feldweg abbiegt. Ein dreieckiges Schild warnt vor kreuzenden Reitern.

»Ach, ich hatte einen total absurden Gedanken. Kann ich schlecht erklären. Sind wir gleich da?«

Er nickt.

»Das ist der Reitverein Neuberg-Rothenstein. Das verletzte Pferd gehört bestimmt zum Reitschulbetrieb. Mal sehen, was uns erwartet.«

Wer uns erwartet, wäre die passendere Frage, denn in dem Moment, als wir auf dem Hof parken, kommen wie von einem Magnet angezogen weibliche Wesen aus allen Ecken. Welcher Magnet hier wirkt, ist mir klar, ich bin ja nicht blind. Mein Typ ist er absolut nicht, aber ich kann nicht leugnen, dass dieser Rob verdammt gut aussieht. Er ist groß und breitschultrig, die dunkeln Haare sehen aus, als wären sie gerade von einem Topstylisten möglichst natürlich zurechtgezupft worden, und sein leicht kantiges Gesicht mit den unverschämt blauen Augen lässt garantiert die Knie der allermeisten Frauen (und einiger Männer) weich werden. Ich bin mir sicher, dass mehr als die Hälfte der Weiber in Reithosen, die sich jetzt um das Tierarztauto scharen, in Ohnmacht fallen würden, wenn sie sehen würden, was ich vorhin gesehen habe.

 

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Rob mir tatsächlich folgen würde, aber als ich an dem unverkennbaren Kastenwagen mit Tierarztlogo ankam und mich umdrehte, war er nur wenige Meter hinter mir, und ihm schien auch auf dem Weg kein nennenswerter Einwand gegen meine Begleitung eingefallen zu sein. Schweigend öffnete er die Schiebetür und zog aus einer Kiste feste Schnürschuhe und mehrere Kleidungsstücke hervor. Er streifte seine schicken Slipper ab, stellte sie sorgfältig hinter den Beifahrersitz und zog eine blaue Arbeitshose kurzerhand über die Anzughose. Nachdem er die Stiefel geschnürt hatte, schlüpfte er aus dem Jackett und drückte es mir in die Hand.

»Halt mal bitte kurz.«

Dann knöpfte er sich seelenruhig das Hemd auf, und ich wollte wegschauen, aber ich konnte nicht. Meine Fresse, das hätte er mal bei Lasses Braut machen sollen, dann wäre der jetzt wahrscheinlich sein Trauzeuge. Ein straffer und muskulöser Oberkörper, der aber nicht wie bei diesen Fitnessstudioaffen völlig künstlich und aufgepumpt aussah, sondern irgendwie echt und natürlich wirkte, was durch genau das richtige Maß an Körperbehaarung noch verstärkt wurde. Mit diesem Typ hatte Gott es unverschämt gut gemeint. Es muss der Traum eines jeden Tätowierers sein, diesen Body verzieren zu dürfen, aber nicht ein einziges Tattoo, so weit ich blicken konnte. Dafür braungebrannte Oberarme gegen helle Brust als Beweis, dass das wahre Leben und nicht das Sonnenstudio zuständig war.

»Gibst du es mir jetzt wieder?«

Ich starrte ihn einen Moment fragend an. Er hatte sich inzwischen ein Poloshirt übergezogen und das Hemd auf einen Kleiderbügel gehängt. Wortlos streckte ich ihm sein Jackett entgegen, und falls er bemerkte, dass ich etwas neben mir stand, ignorierte er es. Wahrscheinlicher war, dass er Frauen gar nicht in einem anderen Zustand kannte.

»Für dich hätte ich leider nur das.«

Mit entschuldigendem Blick hielt er einen unförmigen, grünen Kittel hoch. Ich schüttelte energisch den Kopf und fand zum Glück meine Sprache wieder.

»Nee, geht schon. Das Kleid kann man waschen und wenn nicht, ist das auch egal.«

Das stimmte nicht ganz. Dana würde mich umbringen, wenn ich es nicht im Originalzustand zurückbrachte. Aber dafür müsste sie mich ja erst mal wiedersehen. Er zuckte mit den Schultern, warf mit Schwung die Schiebetür zu und öffnete mir einladend die Beifahrertür. Absolvent der Gentlemanschule war er also auch. Und jetzt unterwegs mit genau der, die sich weder für Traumprinzoptik noch für gute Manieren interessierte. Sondern nur für eine unkomplizierte Flucht vor Hochzeitskitsch und einem Vater, der mit einem Schuldschein wedelte. Na ja, auch Gottes Lieblingssohn hat mal Pech, und er schien sich zumindest mit mir als Begleiterin abgefunden zu haben, denn er stieg neben mir ein und ließ den Motor an. Als braver Junge begann er auch gleich mit dem Smalltalk. »Hast du viel Kontakt zu Lasse und Mark? Mit Cousins ist das ja unterschiedlich.«

Er wollte also gern gelangweilt werden.

»Als Kinder waren wir ziemlich viel zusammen, auch als Teenager noch. Wir waren sogar ab und zu gemeinsam im Urlaub, weil ich Einzelkind bin und meine Tante mit den Jungs allein war. Meine Eltern haben ziemlich schnell ein schlechtes Gewissen, und so konnten sie es doppelt beruhigen.«

Er schaute kurz zu mir rüber. »Das klingt doch gut. Ich habe weder Geschwister noch Cousins oder Cousinen, das kann ganz schön öde sein.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich finde allein sein gar nicht so verkehrt.«

»Na, ich war jedenfalls verdammt froh, dass Kaya fast jeden Tag bei uns war … also … als ich Kind war, meine ich.« Er verhaspelte sich, und ich bemerkte erstaunt, dass er etwas rot wurde. Wahnsinn, diese Braut hatte es ihm ja echt angetan. Weil sogar ich mal irgendwann was über gutes Benehmen gehört hatte, ignorierte ich den Satz und redete einfach weiter.

»Jedenfalls wurde der Kontakt dann immer weniger, je älter wir wurden. Als ich nach Berlin gezogen bin, hat Lasse mich mal besucht, aber ich war mir nicht sicher, ob ihn meine Eltern zum Spionieren geschickt hatten. Ich glaube, die Hochzeitseinladung war eher so ein Familie muss halt-Ding.«

Ich verschwieg, dass ich auch gar nicht kommen wollte und es schon längst bereute, hier zu sein.