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Lisa Keil

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Beschreibung

Der dritte Roman von Bestsellerautorin Lisa Keil »Ein Roman wie ein Abend mit der liebsten Freundin - so herzerwärmend, dass man sich wünscht, er würde niemals enden.« Meike Werkmeister Milli ist glücklich, denn sie hat die Zwischenprüfung in Tiermedizin bestanden und eine der begehrten Stellen an der Uni-Klinik ergattert. Einziges Problem: Sie muss dort mit dem französischen Austauschstudenten Noé zusammenwohnen, dem Geld und gutes Aussehen wohl zu Kopf gestiegen sind. In Millis frei gewordenes WG-Zimmer zieht unterdessen ausgerechnet – ihre Mutter Cordula! Das hat Milli gerade noch gefehlt. Doch ein wortkarger Tierpfleger und nicht zuletzt der schöne Noé sorgen für eine Rückkehr ins beschauliche Neuberg - und dafür, dass Mutter und Tochter sich der Vergangenheit stellen müssen.  

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Inhalt

[Widmung]12345678910111213141516171819202122232425DanksagungLeseprobe12

Für Vanessa

Jede Geschichte braucht eine wie dich.

1

Milli

»Herz oder Nieren?«

Professor Lauer deutet mit dem Zeigefinger auf mich wie ein Showmaster, der die Kandidatin für die nächste Runde ausgewählt hat. So ähnlich ist es ja auch. Ich schaue an ihm vorbei auf die Metalltische mit den formalinfixierten Organen. Links ein Pferdeherz, rechts in einer Reihe einzelne Nieren von unterschiedlichen Tierarten. Ich kann nicht glauben, dass er mich tatsächlich entscheiden lässt, zu welchem Thema er mir die nächsten Fragen stellt. Schließlich ist die Physikumsprüfung eine Art Abschluss für Anatomie, und Professor Lauer gilt als sehr streng und unbarmherzig. Vielleicht liegt es daran, dass ich in den ersten beiden Runden ziemlich gut war. Ich habe Rob in der Tierarztpraxis schon so oft bei Operationen assistiert, dass ich mich auskenne in der Bauchhöhle. Und die Schädelknochen waren sowieso mein Lieblingsthema, ich habe also bisher richtig Glück gehabt mit meinen Prüfungsfragen. Wenn ich jetzt für die letzte Runde auch noch wählen darf, habe ich eigentlich nichts mehr zu befürchten.

Herz ist nicht so meins, ich verwechsele manchmal die Klappen und ich hatte beim Lernen keine Zeit mehr, mir noch mal das komplizierte Reizleitungssystem anzuschauen. Die Nieren traue ich mir zu, damit habe ich mich intensiver beschäftigt, und allein zu den tierartlichen Unterschieden lässt sich eine Menge sagen. Meine Antwort könnte also ganz einfach sein. Eigentlich.

Ich werfe einen Seitenblick auf Isa. Sie ist fast so blass wie ihr weißer Kittel und sieht mit ihren großen, braunen Augen aus wie ein verängstigtes Reh. Mit hochgezogenen Schultern starrt sie auf die Tische mit den Prüfungspräparaten, als könnten sie jeden Moment explodieren. Isa hat nicht genug gelernt. Das weiß ich genau, denn ich bin ihre Mitbewohnerin. Und ihre beste Freundin. Wie immer hat sie viel zu spät angefangen und war dann so nervös und unstrukturiert, dass sie sich erst recht nichts merken konnte. Dementsprechend hat sie heute in den ersten beiden Runden nicht gerade geglänzt und wenn sie das letzte Thema nicht mit Bravour meistert, sieht es schlecht für sie aus.

Meine Antwort ist tatsächlich ganz einfach. Gestern bin ich mit Isa gemeinsam noch mal das ganze Kapitel zur Niere durchgegangen, irgendwas wird bei ihr bestimmt hängengeblieben sein.

»Wie sieht es aus, Frau Mahler? Wir wären alle gern vor der Dunkelheit zu Hause.« Professor Lauer fixiert mich mit verkniffenem Gesicht und weist mit einer ungeduldigen Handbewegung auf die Metalltische hinter sich.

Ich trete entschlossen einen Schritt nach vorn. »Ich nehme das Herz.«

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Isa überrascht den Kopf herumwirft. Sie weiß natürlich, dass mir die Nieren lieber wären, aber ich kann mir definitiv mehr erlauben, ein Thema zu verpatzen, als sie.

Der Professor lächelt plötzlich. Etwas daran gefällt mir nicht.

»Interessant. Dann kommen Sie mal mit zu den Nieren«, sagt er zuckersüß. »Dass Sie Ihr Wunschthema draufhaben, kann ich mir denken. Also nehmen wir doch das andere.«

Er wollte mich reinlegen und ahnt nicht, dass ich die Wahl nicht für mich getroffen habe. Das tut mir so leid für Isa. Zerknirscht drehe ich mich zu ihr um, während ich dem Professor zum Präpariertisch folge. Sie zuckt hilflos mit den Schultern, doch sie lächelt dabei.

Professor Lauer räuspert sich. »Was können Sie mir zu den tierartlichen Unterschieden bei der Niere sagen?«

*

Isa und ich atmen gleichzeitig auf, als wir aus der Formalinluft des Anatomiesaals in den milden Septemberwind treten.

»Mensch Milli, eine Eins in Anatomie. Ich bin so stolz auf dich!« Sie rempelt mich mit der Schulter an und lacht.

Ich tue so, als wollte ich den zusammengerollten Kittel in meiner Hand nach ihr werfen. »Ich bin viel stolzer auf dich. Ich habe echt gedacht, das geht schief. Aber Herz war dein Ding, oder?«

Sie grinst. »Als ich noch ein braves Mädchen war, war Bio mein Lieblingsfach in der Schule. Ich hab mal ein Referat übers Herz gehalten. Das war heute meine Rettung. Glück gehabt.«

Ich mag ihre verschmitzten Grübchen und das Glitzern in ihren Augen. Ich bin so froh, dass sie die Prüfung geschafft hat.

Manchmal wünschte ich, Isa würde sich etwas weniger auf ihr Glück verlassen und mehr lernen. Das wäre besser für meine Nerven. Ich habe das Gefühl, als fieberte ich wochenlang für zwei auf die vielen Testate und Prüfungen hin, während sie immer erst einen Tag vorher nervös wird und mich dann endgültig verrückt macht mit ihrem Versuch, den umfangreichen Lernstoff im Schnelldurchgang auswendig zu lernen. Aber so ist Isa halt und wenn ich ehrlich bin, gefällt mir gerade das ganz besonders an ihr.

Während wir zu unseren Fahrrädern schlendern, stupst Isa mich noch mal mit der Schulter an, diesmal sanfter. »Ich weiß, dass du mir die Nieren überlassen wolltest, um mir den Hintern zu retten, obwohl du Herz viel schwieriger findest. Das war wirklich toll von dir.«

Ich streiche mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Dafür hat man doch Freunde, oder?« Wir können aufeinander zählen, das tut einfach gut.

 

Ob Isa klar ist, wie froh ich bin, dass sie mich damals im ersten Semester angesprochen hat und wir seitdem unzertrennlich sind?

Es war wenige Wochen nach Semesterbeginn und ich fühlte mich ziemlich verloren zwischen all den fremden Gesichtern. So sehr hatte ich mich auf das Tiermedizinstudium gefreut, aber ich war nicht halb so glücklich, wie ich sein sollte. Ich sagte es niemandem, aber ich hatte schrecklich Heimweh nach den Menschen und Tieren im kleinen Neuberg, die Stadt war mir zu groß, zu laut und zu grau. Als meine Mutter damals mit mir vom Land in die Stadt gezogen ist, war das auch nicht schön. Aber ich durfte weiter in Neuberg zur Schule gehen und war immer noch irgendwie dort zu Hause. Die Pferde, der Geruch nach Stroh und Weite, das Schon-immer-Gefühl waren nur eine kleine Zugfahrt entfernt. Außerdem war ich zehn, niemand möchte in diesem Alter umziehen. Doch diesmal war es etwas anderes, ich war erwachsen und niemand hatte mich hierher verfrachtet, ich hatte es mir selbst ausgesucht und mich von Herzen darauf gefreut. Ich hatte mir eine hübsche, kleine Studentenstadt vorgestellt, aber nicht mal die typischen Ansichtskarten für Touristen, die ich Kaya zum Spaß schickte, schafften es, diesen Eindruck zu erwecken. Alles ein wenig altbacken, klobig und grau, keine wirklichen Sehenswürdigkeiten, zu viele große Straßen mitten durch die Innenstadt. Die Stadt wirkte gleichgültig, fast unwillig, sich mit einem schnuckeligen Fachwerkstädtchen oder einer bunten, pulsierenden Metropole messen zu wollen, und damit nicht gerade einladend.

Noch dazu hatte ich keinen Platz im Studentenwohnheim ergattern können und wohnte übergangsweise in einer düsteren, heruntergekommenen Einliegerwohnung in einem leerstehenden Haus, das verkauft werden sollte, und ich versuchte verzweifelt, in der von Studenten überfüllten Stadt eine andere Bleibe zu finden. Das war also mein langersehntes Studentenleben.

Ich war nie gut darin gewesen, neue Leute kennenzulernen. Zu Hause auf dem Land war das auch gar nicht nötig, da kannte man sich oder man kannte jemanden, der die anderen kannte. Mit meiner Tante Kaya konnte ich darüber nicht reden, die hätte mich ausgelacht, weil sie keine Schwierigkeiten hat, auf fremde Menschen zuzugehen. Aber anders als sie denkt, bin ich eben nicht wie sie.

Ich vertiefte mich also in den Lernstoff, dafür war ich schließlich hier – für mein großes Ziel, Tierärztin zu werden.

Ich stand gerade im Anatomiesaal und versuchte, mit dem Lehrbuch in der Hand die Erhebungen und Vertiefungen am Oberschenkelknochen auseinanderzuhalten, als plötzlich jemand von hinten über meine Schulter ins Buch blickte.

»Klingt wie Zaubersprüche.«

Ich drehte den Kopf und blickte in das Gesicht einer Studentin mit einem verschmitzten Lächeln und blitzenden Augen. Weil sie ihre brünetten Haare zum Zopf gebunden hatte, konnte ich sehen, dass ihre Ohren leicht abstanden, was auf eine charmante Weise zu ihr passte.

»Wie bitte?«, fragte ich verunsichert.

Sie deutete mit dem Finger ins Buch. »Na, Trochanter major, Tuberositas supracondylaris, Fossa extensoria. Expelliarmus! Man könnte denken, wir sind in Hogwarts gelandet.«

Ich musste lachen. Sie hatte recht. Und natürlich war sie mir mit der Anspielung auf meine Lieblingsbücher aus der Kindheit sofort sympathisch. »Dann muss der Hut aber noch entscheiden, zu welchen Häusern wir gehören.«

Mit gespieltem Ernst hielt sie mir ihre Hände als Spitzhut über den Kopf. »Slytherin … nein … Gryffindor … leider auch nicht … warte … Gartenstraße 17.« Zufrieden ließ sie die Hände sinken.

Ich schüttelte den Kopf. »Was soll das denn für ein Haus sein?«

Sie hatte mich gesehen, als ich meinen »Zimmer-gesucht«-Zettel in der Mensa aufgehängt habe, und beschlossen, mich anzusprechen. Denn sie suchte gerade eine Mitbewohnerin für ihre kleine Wohnung in der Gartenstraße. Etwas Besseres als die quirlige Isa hätte mir einfach nicht passieren können.

Mit ihr fühlte es sich plötzlich so an, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Zusammen fingen wir an, ihr Zimmer himbeerrosa und meins sonnengelb zu streichen, aber weil uns dann die Farbe der anderen viel besser gefiel, tauschten wir nach der Hälfte die Farbeimer und haben jetzt zweifarbige Räume. Gemeinsam machten wir uns zur Aufgabe, die versteckten schönen Ecken der hässlichen Stadt zu entdecken. Ein kleiner Baggersee, den man mit den Fahrrädern erreichen konnte, eine dunkle Eckkneipe mit köstlichen Salattellern zu Studentenpreisen und den alten Friedhof, der einen mit hohen, alten Bäumen vom Stadtlärm abschirmte. Sie nahm mich mit auf Partys und stellte mir unglaublich viele Leute vor, deren Namen ich mir nicht merken konnte. Ich schleifte sie in die Botanikvorlesung und ging mit ihr die Pflanzengattungen durch, deren Namen sie sich nicht merken konnte. Von Anfang an taten wir uns gut.

 

»Ich habe keine Ahnung, warum der Lauer mir noch eine Gnadenvier gegeben hat. Hat er nicht immer gesagt, wer schon eins von drei Themen nicht kann, fällt durch?« Isa öffnet das Schloss, mit dem wir unsere Fahrräder hinterm Hörsaal festgemacht haben.

Sie hat recht, eigentlich hätte sie durchfallen müssen, weil sie zwei Themen echt vermasselt hat. Aber sie hat so eine herzliche Art, die einen sofort für sie einnimmt. Vielleicht sogar den grantigen Professor Lauer.

Doch es zählt nur eins.

»Hauptsache, wir haben unser Physikum in der Tasche. Jetzt geht es richtig um Tiere und Krankheiten und Medikamente …« Die Prüfung beendet den sogenannten vorklinischen Abschnitt, der aus naturwissenschaftlichen Grundlagen besteht. Ab dem nächsten Semester beginnt der klinische Abschnitt, in dem dann endlich die Tiermedizin im Mittelpunkt steht. Rob sagt, dann wird es spannend für mich.

Als ich dreizehn war, habe ich daheim ein Praktikum in Robs Tierarztpraxis gemacht, und seitdem weiß ich, dass ich nichts anderes werden will als Tierärztin.

Wir treten in die Pedale und lassen nebeneinander die Räder bergab rollen.

Isa grinst. »Von wegen. Jetzt geht es erst mal drum, noch ein paar coole Partys mitzunehmen und den winzigen Rest Semesterferien zu genießen. Der Unistress holt uns noch früh genug wieder ein.«

Da hat sie recht, aber mir bleibt nicht mal mehr genug Zeit, um ein paar Tage nach Neuberg zu fahren, denn übermorgen beginnt schon meine Famulatur in der Rinderklinik. Es ist eine große Chance, ein Semester als studentische Hilfskraft dort mitarbeiten und lernen zu können, und ich habe mich riesig gefreut, dass ich den Platz bekommen habe.

»Du wirst mir so fehlen, wenn dein Zimmer leer steht, Milli. Ich weiß echt nicht, wie du mir das antun kannst.«

Sie sieht tatsächlich traurig aus und mir geht es ganz ähnlich. An Isa als Mitbewohnerin wird die französische Austauschstudentin einfach nicht heranreichen können.

»Wir sehen uns doch trotzdem ständig in der Uni. Und wenn ich keinen Dienst habe, komme ich dich besuchen.«

Sie schiebt die Unterlippe vor. »Das ist nicht das Gleiche.« Dann grinst sie. »Dafür musst du heute Abend mit mir ausgehen. Und wir fahren erst heim, wenn es hell wird, okay?«

Ich seufze. Isa liebt Partys und Studentenkneipen, während ich lieber auf der Couch bleiben würde mit Tee, Büchern und vielleicht einer alten Folge Gilmore Girls.

»Mal sehen«, sage ich, worauf sie bestimmt den Kopf schüttelt. »Heute hast du keine Ausrede, meine Liebe. Wir werden feiern.«

An der Fußgängerüberführung trennen sich unsere Wege. Isa muss noch einkaufen und ich will schon mal zusammenpacken, was ich in die Rinderklinik mitnehmen möchte. Außerdem warten Kaya und auch Rob bestimmt auf meinen Anruf, wie es gelaufen ist. Manchmal habe ich das Gefühl, die beiden sind vor meinen Prüfungen noch aufgeregter als ich.

Vielleicht sollte ich auch meine Mutter anrufen. Sie weiß gar nicht, dass ich heute die letzte Physikumsprüfung hatte, geht aber wahrscheinlich eh davon aus, dass ich das locker schaffe. Für sie ist das alles nicht der Rede wert, sie hat ihr Studium nebenbei gemacht und hervorragend abgeschlossen. Trotz mir. Die Eins in Anatomie wird für sie selbstverständlich sein, also kann ich es ihr auch einfach irgendwann erzählen.

Zu Hause lasse ich mich mit dem Handy auf die Couch fallen. Die Vorwahl von Neuberg weckt die Sehnsucht. Wie kann man einen so kleinen Ort so sehr lieben?

2

Cordula

Wie kann man einen so kleinen Ort so sehr hassen? Sollte ich nicht ein zartes Gefühl von Nachhausekommen empfinden, so ein kindliches Kribbeln im Bauch, als würde mein achtjähriges Ich für immer über eines der endlosen Felder toben?

Stattdessen bin ich genervt vom dritten Traktor, den ich unter Lebensgefahr überholen muss, vom Güllegeruch und Staub in der gelobten Landluft und davon, dass mir nichts Besseres eingefallen ist, als ich eben einfach nur wegwollte.

Ausgerechnet Neuberg. Kein idyllisches Bilderbuchdörfchen, dafür ist es zu groß mit seinen modernen Einfamilienhäusern im Neubaugebiet, dem Bahnhof, den Supermärkten, der Tankstelle und dem hilflosen Versuch einer Einkaufsstraße. Für eine Kleinstadt ist es dagegen nicht groß genug und viel zu unbedeutend. Es gibt keinen Begriff für solche Orte und ich weiß nicht, warum man hier leben will. Meine Tochter sieht das anders. Für Milli ist Neuberg das Paradies. Ich habe immer gedacht, wenn wir erst mal hier weg sind, dann wird ihr das Stadtleben gefallen und sie wird merken, dass der Ort ihr nichts bieten kann. Aber so sehr ich fortwollte, so sehr wollte sie bleiben. Weil wir aneinander hingen wie Mutter und Tochter es nun einmal tun und vielleicht noch ein wenig mehr, fühlte es sich nicht selten an wie ein Zerren und Ziehen. Irgendwann konnte ich nicht mehr und habe losgelassen. Ab diesem Moment hat Milli überwiegend bei meiner Schwester Kaya und ihrem Mann Lasse gewohnt. Eine kleine heile Familienwelt, in die ich nicht gehörte. Und inzwischen studiert sie in der Stadt. Nicht in der, in die ich sie mitgenommen habe, sondern weiter weg. Eine knappe Stunde Autobahn oder zwei mit dem Zug.

Doch bei Milli bin ich mir sicher, dass sie ein Zuhausegefühl spürt, wenn sie das verwitterte Holzschild passiert, das von einer sinnlosen »Unser-Dorf-soll-schöner-werden«-Aktion übrig geblieben ist. Willkommen in Neuberg.

Bei mir verursacht es statt Bauchkribbeln eher einen Anflug von Übelkeit.

Ich parke vorm neuen Buch-Café. Für mich ist es immer noch »neu«, dabei ist meine Schwester mit ihrem Laden bereits vor vier Jahren in das alte Kino umgezogen. Für Kaya gibt es auf der Welt keinen schöneren Ort als Neuberg.

Na ja, sie ist hier auch nicht mit sechzehn schwanger geworden, das macht einen großen Unterschied. Meine Schwester hat brav geheiratet und dann erst Kinder gekriegt. Und dazu wahrscheinlich noch Bonuspunkte für Zwillinge. Das kommt bei der Dorfgemeinschaft besser an als ein schwangerer Teenager, der in die Spalte »Vater des Kindes« unerheblich einträgt. »Keiner aus dem Ort«, so viel stand fest, und das war ihnen wichtig. »Die armen Eltern«, da waren sich alle einig, während über Abbruch, Behalten oder Weggeben im ganzen Dorf munter diskutiert wurde.

Ich sollte mich also wirklich nicht wundern, warum ich unbedingt wegwollte, sondern warum ich überhaupt hier bin. Ich habe zwar gedacht, mein Problem ist zu groß, um es allein zu tragen, aber meine Schwester wird mir kaum helfen können. Wahrscheinlich wird sie es nicht mal verstehen und mich auslachen, auf ihre sympathische Kaya-Art, bei der sie fest davon ausgeht, dass man es ihr nicht übelnimmt. Einen Augenblick überlege ich, das Auto zurückzusetzen und Neuberg so schnell, wie ich gekommen bin, wieder zu verlassen. Aber wohin? Sollte ich doch wie ursprünglich geplant zum Kongress nach München fahren? Immerhin liegt das Wochenendgepäck zusammen mit allen Tagungsunterlagen im Kofferraum. Unsinn. Ich würde nicht zum Kongress fahren, so viel stand fest. Zu viele dort wussten von meinem geplanten Projekt. Und wahrscheinlich ebenso schon von der Absage, jedenfalls würde sich diese Nachricht wie ein Lauffeuer verbreiten. Ich wollte nichts erklären. Und kein verständnisvolles Nicken, keine unverhohlene Neugier. Verletzter Stolz. Gekränkte Eitelkeit. Die wollen ohne mich, dann sollen sie ohne mich. Ich bin fertig damit.

Entschlossen steige ich aus. Meine hohen Absätze klacken auf dem Pflaster. Weil ich nach dem unerfreulichen Gespräch einfach aus dem Dekanat gestürmt und losgefahren bin, trage ich noch den dunklen Hosenanzug mit der weißen Bluse. Er wirkt schlicht und schick zugleich und verleiht mir bei Konferenzen und Kongressen die nötige Souveränität. In der Stadt würde ich damit kaum auffallen – hier wirkt es vollkommen overdressed. Der für München gepackte Koffer gibt natürlich nichts her, was hier weniger auffallen würde. Aber es darf gern jeder merken, dass ich nicht hierhergehöre.

Ich trete durch die große Glastür ins Foyer. Es ist unglaublich, was aus dem kleinen Buch-Café geworden ist. Als Kaya im Erdgeschoss unseres Elternhauses ihren Laden eröffnet hatte, bestand er aus nicht viel mehr als chaotischen Bücherregalen an allen Wänden und einer Kaffeemaschine in der ehemaligen Küche. Doch dann ist vor ein paar Jahren Anabel mit eingestiegen und hat das »Café« im Namen ernst genommen. Dafür musste der Laden ins heruntergekommene Kino umziehen, das irgendwann gebaut worden war in einem der gescheiterten Versuche, aus Neuberg mehr zu machen als ein lahmes Dorf. Das »Kopfkino«, wie das Buch-Café jetzt heißt, ist tatsächlich spektakulär und etwas Besonderes.

Der große Kinosaal wurde zur Buchhandlung umfunktioniert, der kleine wird als Veranstaltungsraum genutzt. Es gibt eine niedliche Kinderbücherei und einen Lesegarten im Hinterhof. Und es gibt Anabels phantastische, selbstgemachte Kuchen, in die man sich reinlegen möchte. Wenn das »Kopfkino« nicht in Neuberg wäre, dann würde ich bestimmt öfter vorbeischauen. Unsere Eltern sind zu Recht sehr stolz auf meine kreative Schwester und diesen einmaligen Laden. Wahrscheinlich sind sie irgendwie auch stolz auf mich, aber ein wissenschaftlicher Vortrag an der Uni oder eine Publikation in einer Fachzeitschrift sind natürlich viel weniger greifbar. Außerdem finden sie, dass ich zu viel arbeite. Als ich im Sommer bei ihnen in Salernes war, konnten sie nicht verstehen, dass ich trotz Urlaub täglich am Laptop gesessen und Fachbücher gelesen habe.

Das Foyer ist ansprechend im Vintagestil möbliert und dekoriert, das muss Anabels Werk gewesen sein, denn Kayas Stil ist eher das kreative Chaos. An den hellen Holztischen sitzen einzeln oder in kleinen Gruppen die Neuberger und mustern mich natürlich beim Hereinkommen. Jetzt wünschte ich doch, ich wäre etwas unauffälliger gekleidet. Wenigstens sitzt der Dutt am Hinterkopf straff. Ich mag es nicht, wenn sich Strähnen daraus lösen. Offen trage ich meine Haare in der Öffentlichkeit nie. Eigentlich kennt nur Milli meine blonde Mähne, wenn sie mir den Rücken herabfällt. Als sie klein war, hat sie mir abends gern verrückte Frisuren gemacht mit kleinen bunten Haargummis und Glitzerspangen, die ich dann mühevoll wieder herausfriemeln musste. Milli. Ich rücke meine Brille zurecht und straffe die Schultern.

»Cordula, was machst du denn hier?« Anabel steht hinter der Theke und begrüßt mich strahlend, als wären wir alte Freundinnen, dabei begegnen wir uns eher selten. Sie hat sich auf Kayas Hochzeit in den Tierarzt verliebt und ist aus Berlin hierhergezogen. Dabei passt sie mit ihren Tätowierungen und bunten Haaren noch viel weniger nach Neuberg als ich. Der kleine Ring in ihrer Unterlippe glitzert, als sie zu einem der Barhocker nickt. »Setz dich doch. Möchtest du was trinken? Oder essen? Es gibt Kirsch-Crumble!«

Ich trete an die Theke und damit hoffentlich aus dem Blickfeld der meisten. »Ich möchte nichts, danke. Eigentlich wollte ich mit meiner Schwester sprechen.«

»Oh, Kaya ist gar nicht da. Sie hat sich den Nachmittag freigenommen. Am besten versuchst du es bei ihr zu Hause.«

Sie trocknet sich die Hände mit einem Geschirrtuch ab und tritt hinter der Theke hervor. Dadurch wird ihr Bauch sichtbar, der sich kugelig nach vorn wölbt. Falls ich schon wusste, dass Anabel schwanger ist, habe ich es vergessen, deshalb trifft mich der Anblick überraschend.

»Wow«, sage ich und starre auf das gespannte T-Shirt.

Ich selbst habe damals diesen Blick auf meinen Bauch gehasst, deshalb reiße ich meinen los und will schnell irgendwas sagen. »Äh, Glückwunsch. Wann … kommt es denn?«

Anabel lächelt und streicht sich mit einer unwillkürlichen Bewegung über den Bauch. »Im Januar ist es so weit. Wir hoffen, dass es nicht schon zu Weihnachten kommt. Aber Hauptsache gesund. Du solltest Rob sehen, der macht sich echt verrückt und mich dazu. Am liebsten würde er mich in Watte packen.«

Ich nicke und möchte weg. Doch Anabel hält mir einladend einen Teller mit Plätzchen hin. »Probier wenigstens einen Keks. Die sind einfach himmlisch.«

Nur aus Höflichkeit greife ich nach einer Kokosmakrone und schiebe sie in den Mund. Zart und süß zerfällt sie auf meiner Zunge. »Wow, die sind wirklich gut.«

Anabel grinst zufrieden. »Sag ich doch. Nimm ruhig noch mehr.«

Ich schüttle den Kopf. »Nein danke, ich muss los.« Damit sie es nicht persönlich nimmt, füge ich hinzu: »Aber du kannst wirklich toll backen.«

Sie lacht. »Die sind gar nicht von mir. Für Plätzchen ist Maike zuständig, das ist ihr Spezialgebiet. Da komme ich einfach nicht ran.«

Ich runzle die Stirn. Maike? Irgendwas hatte Kaya erzählt von einer neuen Mitarbeiterin im Buch-Café, aber ich habe nur mit halbem Ohr zugehört. Doch eins ist mir im Gedächtnis geblieben. »Ist das die mit den Nilpferden?«

Anabel schmunzelt. »Oh ja, die Nilpferdsammlung in ihrer Wohnung ist wirklich beeindruckend. Ungefähr so sehr wie ihre Backkünste. Warte, ich hole Maike eben her, dann kannst du sie kennenlernen.«

Bitte nicht. Nicht nötig. Wirklich nicht. Aber Anabel hat sich schon entfernt. Ich seufze. Warum wird auf dem Dorf immer alles gleich persönlich? Jetzt stehe ich hier und esse Kekse, dabei wollte ich doch einfach nur zu meiner Schwester. Weil mir nichts anderes übrigbleibt als zu warten, nehme ich mir eine Nussecke vom Gebäckteller. Die können wirklich süchtig machen und das nicht nur, weil ich den ganzen Tag noch nichts gegessen habe. Als Anabel mit Maike zurückkommt, habe ich mich einmal quer durch den bunten Teller probiert, was mir ziemlich unangenehm ist.

Die Nilpferdsammlerin sieht nett aus mit kurzen rotblonden Haaren, geröteten Wangen und einem strahlenden Lächeln. Sie trägt einen Overall, der mit frischen bunten Farbklecksen übersät ist.

Fröhlich bemerkt sie meinen Blick. »Ich bemale gerade die Wand in der Kinderleseecke.« Sie streckt mir die Hand hin. »Hallo, ich bin Maike, die Neue im Buch-Café.«

Anabel nickt ihr zu. »Und ohne deine Hilfe wären wir hier aufgeschmissen.«

Ich drücke die Hand kurz und fühle mich überfordert. Und jetzt? »Ich bin Cordula, Kayas Schwester.«

»Und Millis Mutter«, ergänzt Anabel unnötigerweise.

Maike strahlt. »Wie schön. Milli gibt mir ab und zu Reitunterricht, wenn sie am Wochenende hier ist.«

»Nett«, sage ich. Und wie komme ich jetzt endlich hier weg?

»Cordula ist übrigens verrückt nach deinen Plätzchen. Wie wir alle.« Anabel lacht und zeigt auf den wirklich ziemlich abgegrasten Teller.

Maike zwinkert mir zu. »Das freut mich. Ich kann dir gern die Rezepte geben.«

Vielleicht liegt es daran, dass ich mich inzwischen völlig erschöpft fühle, oder es sind diese wirklich unwiderstehlichen Kokosmakronen. Jedenfalls lasse ich zu, dass mir Maike gut gelaunt einen Zutatenzettel schreibt, und folge ihr sogar, als sie mir die Wandmalerei zeigen möchte. Irgendwie tut es mir leid, dass ich nicht die Begeisterung zeigen kann, die sie wahrscheinlich erwartet. Und verdient. Sie hat mit leuchtenden Farben Bauernhoftiere an die Wand gemalt, das Pony sieht tatsächlich aus wie Achterbahn und die Kuh hat einen ähnlichen Stern wie Mitternacht auf der Stirn. Da mir jede künstlerische Ader fehlt, bewundere ich so ein Talent sehr. Was aber nichts daran ändert, dass ich dafür gerade keinerlei Kapazitäten habe und ich sowieso nicht der »Hallo-ich-bin’s-eine-neue-Freundin«-Typ bin. Falls Maike das auffällt, lässt sie es sich nicht anmerken. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie sich mit Anabel und Kaya blendend versteht. Und mit Milli.

»Möchtest du vielleicht einen Kaffee? Oder ein Stück Kirsch-Crumble?«

Bitte. Nicht. Soll sie mich doch für unhöflich halten, das ist mir egal, es reicht jetzt. »Nein danke, ich habe es wirklich eilig. Vielen Dank.«

Ich drehe mich einfach um und verlasse das »Kopfkino«, ohne auf die Blicke hinter meinem Rücken zu achten.

An der nächsten Straßenecke bleibe ich unschlüssig stehen. Natürlich wird Anabel meiner Schwester erzählen, dass ich da gewesen bin, was zwangsläufig zu Fragen führen würde, wenn ich jetzt einfach wieder abhaue. Mal ganz abgesehen davon, dass ich dann immer noch keine Idee hätte, wohin. Einfach nur weg ist noch keine Richtung. Rumstehen aber auch nicht, deshalb mache ich mich doch auf den Weg zu Kaya. Es ist nicht weit bis zu meinem Elternhaus, in dem jetzt meine Schwester mit ihrer Familie wohnt. Ich kann ja einfach kurz hallo sagen und behaupten, dass ich gerade in der Gegend war.

Obwohl das Haus meiner Kindheit doch sprühen müsste vor Erinnerungen, wirkt es kühl und fremd wie ein Foto von einem Moment, den man im Gedächtnis nicht wiederfindet. Jedes Mal, wenn ich davorstehe, frage ich mich, wann ich das Gefühl für das Haus verloren habe. Oder ob es vielleicht nie da gewesen war.

Lasse öffnet mir die Tür und schafft es, nicht überrascht auszusehen. Ich bin noch nie spontan vorbeigekommen. Meine Besuche sind geplante Wochenendnachmittage, bei denen wir uns zwar unterhalten, aber eigentlich wenig zu sagen haben. Immer wirkt es, als ob sich alle bemühen. Und froh sind, wenn es vorbei ist. Dabei mag ich Kaya und Lasse, meine Neffen sowieso. Es könnte so leicht sein, doch es fällt mir schwer.

»Cordula, komm doch rein. Ich habe gerade eine große Kanne Kaffee gekocht. Ohne Koffein sind die Englischarbeiten der Elfer nicht zu ertragen.« Lasse lächelt verschmitzt und ich folge ihm durch den großen Flur ins Wohnzimmer, in dem mal der Buchladen untergebracht war. Kaya und er haben die hohen Regale an allen Wänden belassen. Sie sind immer noch gefüllt mit Büchern, aber inzwischen auch mit Fotografien in Bilderrahmen, Spielzeug für die Zwillinge und einer wilden Mischung aus Kunst, Schnickschnack und ungeordneten Papierstapeln. Auf dem Boden liegt zwischen mehreren angefangenen Puzzeln aus Holz, Malstiften und Gummitieren ein angebissenes Rosinenbrötchen.

»Schau dich besser nicht um«, bittet Lasse schmunzelnd. »Ich bin ja schon gegen Kayas Unordnung kaum angekommen, aber Henry und Philipp haben ihr Chaosgen geerbt und bei drei gegen einen muss ich kapitulieren. Ich weiß ja, dass du von der angeborenen Unfähigkeit zum Ordnunghalten verschont wurdest.«

Ja, dass sie einfach nicht anders kann, ist Kayas Lieblingsausrede. Das hat schon früher für reichlich Geschwisterstreit gesorgt, weil ich schon immer fand, dass Ordnung eine Frage von Struktur ist. Und auch von Respekt. Bei Milli habe ich von Anfang an darauf Wert gelegt.

Lasse greift nach einer Thermoskanne und einem Kaffeebecher, die neben einem Heftstapel auf dem Schreibtisch in der Ecke stehen. »Lass uns in die Küche gehen. Nicht dass es dort besser …«

»Ich wollte eigentlich zu Kaya«, unterbreche ich ihn und merke selbst, dass das ziemlich unhöflich wirkt. Aber Lasse lächelt immer noch freundlich und nickt. »Klar. Sie ist mit den Jungs am Stall. Wenn du magst, fahr doch einfach dorthin. Sie werden sich freuen, dich zu sehen.«

*

Ich parke auf dem Hof neben Kayas Kombi, doch als ich aussteige, ist von ihr und den Zwillingen nichts zu sehen. Das Stalltor steht offen und ich gehe an den leeren Boxen entlang. Alles ist still, anscheinend sind die Pferde noch auf der Sommerweide.

Kaya war das geborene Pferdemädchen und anders als viele andere ist sie den Rössern über die Pubertät hinaus treu geblieben. So wie Milli. Auch meine Tochter war durch nichts von ihrem Pferdevirus zu heilen, am Ende hat es sogar ihre Berufswahl beeinflusst. Sie hätte sich sonst nie für ein naturwissenschaftliches Studium entschieden, Sprachen haben ihr immer mehr gelegen.

An jeder Boxentür hängt ein Holzschild mit eingebranntem Namen. Am letzten links bleibe ich stehen: Mitternacht. Der Grund für den großen Streit, der alles verändert hat.

Ein eigenes Pferd stand natürlich wie bei fast jedem Mädchen irgendwann ganz oben auf Millis Wunschliste. Und wie jede Mutter war ich dagegen. Geld, Zeit, Zukunft – all meine Argumente stießen auf taube Ohren. Dann sollte ein Fohlen geboren werden und für Milli stand sofort fest, dass das eines Tages ihr Pferd sein würde. Wahrscheinlich hätte sie recht behalten, denn sie war zu diesem Zeitpunkt sechzehn und das Erwachsensein schon zum Greifen nah. Doch das Fohlen starb bei der Geburt. Milli war so herzzerreißend unglücklich, dass ich heimlich anfing, im Internet nach einem Pferd für sie zu suchen. Allerdings merkte ich schnell, dass ich damit ziemlich überfordert war. Kaya um Hilfe zu bitten kam nicht in Frage, denn ich wollte Milli ihren Wunschtraum ganz allein erfüllen. Sie sollte wissen, dass ich als ihre Mutter immer für sie da war und versuchte, ihr alles zu ermöglichen, was sie sich wünschte, auch wenn ich ihre Begeisterung für Tiere nicht teilte. Also entschied ich mich, Milli in den Plan vom Pferdekauf einzuweihen. Doch statt mir freudig um den Hals zu fallen, lächelte sie nur zart und ihre blauen Augen strahlten.

»Das ist lieb von dir, Mama. Aber ich hab doch jetzt Mitternacht.«

Sie hatte natürlich ständig von diesem Kälbchen geredet, das Kaya und ihre Freunde angeschafft hatten, um die Mutter von dem Fohlen über den Verlust hinwegzutrösten. Trotzdem konnte ich nicht fassen, dass Milli ihren Traum vom eigenen Pferd für ein Kalb aufgeben wollte. Doch sie war nicht umzustimmen.

Enttäuscht und wütend funkelte ich sie an. »Du lässt dir also lieber von deiner Tante ein dummes Rindvieh schenken als von deiner Mutter ein Wunschpferd?«

Es tat mir sofort leid, doch es war zu spät. Milli musterte mich kühl und schob das Kinn vor. »Das ist nicht wahr, aber Kaya würde Mitternacht nie als Rindvieh bezeichnen. Sie weiß nämlich, dass er etwas ganz Besonderes ist.«

Die perfekte Kaya mal wieder. Es verging kaum ein Tag, an dem mich Milli nicht spüren ließ, wie großartig sie alles fand, was ihre Tante machte und sagte.

Ich schluckte. »Von mir aus. Dann behalte dein Kalb. Viel Spaß beim Reiten!«

»Den werde ich haben!« Sie drehte sich um und verschwand in ihrem Zimmer.

Jetzt stehe ich vor der Box von Mitternacht und fahre mit den Fingern die dunklen Buchstabenfurchen im Schild nach. Milli hat recht behalten: Sie reitet den Ochsen tatsächlich. Ein riesiges Tier mit gefährlich großen Hörnern und sie sitzt auf seinem Rücken, als wäre er ein stinknormales Reitpferd. Ich habe Fotos und Videos davon gesehen. Reitsport gilt ja grundsätzlich schon als sehr riskant, in diesem Fall halte ich es für absolut gefährlichen Leichtsinn. Aber ich bin damit natürlich nur wieder die überbesorgte Mutter, die für keinen Spaß zu haben ist.

Als draußen auf dem Hof ein Kind heult, höre ich Kayas genervte Stimme.

»Philipp, gib Henry den Striegel wieder, er hatte ihn zuerst. Nimm du den Hufkratzer.«

Ich trete ans Stalltor und sehe, wie meine Schwester ihr altes Shetlandpony am Balken anbindet und gleichzeitig versucht, den Streit zwischen den Brüdern zu schlichten, die beide vehement an einer großen Pferdebürste ziehen. Der eine bringt sie schließlich mit einem beherzten Ruck in seinen Besitz, während der, der sowieso schon heult, auf den Hosenboden plumpst und die Lautstärke seines Geschreis auf ein Maximum aufdreht. Kaya hebt ihn auf ihren Arm und drückt ihm ein Plastikteil aus der Putzkiste in die Hand, während der Bruder schon das Interesse an dem erbeuteten Stück verloren hat, es fallen lässt, und stattdessen das Pony mit ungestümen Streicheleinheiten überschüttet. Achterbahn lässt es stoisch über sich ergehen. Ich überschlage im Kopf, dass er bereits über dreißig sein muss. Sein rotbraunes Fell ist an vielen Stellen ergraut und sein Rücken hängt ein wenig durch. Wir werden alle nicht jünger, denke ich, und das passt gerade so gut, dass ich schmunzeln muss. In diesem Moment schaut Kaya auf und sieht mich. Nur kurz wirkt sie überrascht, dann grinst sie.

»Da steht meine Schwester und amüsiert sich darüber, wie die beiden Bengel mich in den Wahnsinn treiben.«

Sie setzt den einen ab, kommt auf mich zu und nimmt mich kurz in den Arm. Sie riecht nach Stroh und Stall. Über ihre Schulter sehe ich meine Neffen, die ihr zögernd hinterherstapfen.

»Hey, ihr zwei!« Ich mache einen Schritt an Kaya vorbei und gehe in die Hocke. Unsicher bleiben die beiden stehen. Ich sollte wirklich mehr mit ihnen machen, sie scheinen mich kaum noch zu kennen.

»Sagt hallo zu Tante Cordula«, ruft Kaya den beiden zu. Und ganz unvermittelt fragt sie in meinen Rücken: »Was machst du hier?«

Tja, was mache ich hier?

Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, ohne völlig falsch verstanden zu werden. Es geht mir nicht um verletzten Stolz oder gekränkte Eitelkeit, auch wenn es für Außenstehende wahrscheinlich so wirkt. Die wissen ja nicht, wie es ist, sich monatelang auf ein Forschungsprojekt vorzubereiten und an nichts anderes mehr zu denken. Unzählige Telefonate und E-Mails, intensive Recherche, die Beschaffung von Publikationen und das Anwerben geeigneter Absolventen, denen es nicht einfach nur wahllos um ein Thema für ihren möglichst schmerzfreien und schnellen Doktortitel geht. Zeitpläne, Kostenaufstellungen, Mittelbeschaffung. Seit Wochen hatte ich mich mit nichts anderem befasst. Das ganze nächste Semester habe ich mir dafür freigeschaufelt, vorgearbeitet, Lehraufträge abgelehnt und die Vorlesungsreihe abgetreten. Dabei hätte ich mir selbst das Projekt nicht mal ausgesucht und hatte es von Anfang an als wenig vielversprechend empfunden. Aber weil es der Vorschlag von Susanne war, habe ich mich voll und ganz dahintergestellt. Nicht weil sie Dekanin ist und damit meine Vorgesetzte, sondern weil ich sie schätze und respektiere und ihr unfassbar viel verdanke. Von Beginn an hat sie mich unterstützt, schon im Studium als meine Mentorin, dann als Doktormutter und schließlich in meiner Laufbahn an der Universität. Sie hat in mir nie die überforderte Alleinerziehende gesehen, es gab von ihr weder Mitleid noch Vorwurf. Nie. Sie hat mich gefordert und gefördert mit höchsten Ansprüchen, meine Tochter galt für sie nicht als Ausrede, aber auch nicht als Einschränkung. Ohne Susanne hätte ich es bestimmt nicht so weit gebracht. Deshalb habe ich auch nicht gezögert, als sie das große Projekt an mich herangetragen hat, obwohl es mich nicht überzeugte. Ich war bereit, für sie ins kalte Wasser zu springen. Aber heute war da plötzlich gar kein Wasser mehr, sondern nur noch harter Stein. Und Susanne ließ mich aufschlagen. Vor allen anderen in der Sitzung und ohne Vorwarnung.

»Nach Abwägung der geschätzten Kosten und des Aufwands und aufgrund der fraglichen Perspektive auf signifikante Ergebnisse wird das Projekt auf unbestimmte Zeit verschoben.« Ich war wie erstarrt und spürte jeden einzelnen Blick auf mir. Irgendwie war ich mir sicher, dass alle davon gewusst hatten außer mir, und dass sie gespannt darauf warteten, wie ich reagieren würde. Meine wochenlange Arbeit war mit einer Handbewegung zur Seite gewischt, meine Position als Projektleitung mal eben gekippt zu »unter ferner liefen«.

Ich nickte ruhig und machte eine kleine Notiz in meinen Planer, als wäre nicht mein gesamtes Semesterprojekt, sondern nur ein belangloses Mittagessen abgesagt worden. Ich brachte sogar ein kühles Lächeln zustande, doch ohne Blickkontakt. Ich wollte es nicht sehen. Die Schadenfreude, das Mitleid, das Gossip-gierige Begehren, mir Kränkung oder Enttäuschung anzumerken. Trotz der vielen Jahre am gleichen Institut bin ich eine Außenseiterin geblieben. Damit habe ich kein Problem. Ich bin gern allein und sehr gut darin. Ebenso wie in meiner Arbeit. Das wissen alle. Und am besten von allen sollte das Susanne wissen.

»Bist du okay damit, Cordula?«, fragte sie, als die anderen den Sitzungsraum verlassen hatten. Ich hätte mit ihnen gehen sollen, schnelle Schritte ohne Blick zurück, dann wäre mir das erspart geblieben. Ich nickte nachdrücklich mit zusammengebissenen Zähnen, doch sie wusste, dass es nicht so war.

Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mir gegenüber. »Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich das Projekt abgesagt habe.« Sie suchte meinen Blick, und ich kniff hinter den Brillengläsern die Augen leicht zusammen.

»Ich wollte dir einen Gefallen tun, als ich dir das Projekt übertragen habe, aber es war ein Fehler. Ich hatte wohl gehofft, du fängst vielleicht wieder Feuer.«

Fassungslos starrte ich sie an. »Wie meinst du das?«

Sie schwieg einen Moment, bevor sie Luft holte. »Viele Jahre hast du für deine Projekte gebrannt. Ich kenne kaum jemanden, der sich so fasziniert und wissbegierig einer Thematik widmen kann wie du. Aber in letzter Zeit gelingt dir das nicht mehr. Du arbeitest nur noch ab.«

Empört schluckte ich. »Wie kannst du das sagen? Ich habe für dein Projekt wirklich alles getan.«

Sie lächelte traurig. »Siehst du. Du nennst es mein Projekt. Wann war etwas zum letzten Mal ganz deine Sache? Eine Frage von innen heraus, die dich nicht losgelassen hat?«

Das kurze Gefühl, dass sie recht haben könnte, ließ mich umso aufgebrachter antworten. »Ich nehme jede einzelne Forschungsarbeit sehr ernst und widme mich ihr über die Maße.«

Beschwichtigend wollte Susanne ihre Hand auf meine legen, aber ich zog sie ruckartig zurück. Sie schaute auf die Tischplatte. »Das weiß ich. Aber wo ist die Frau hin, die über ein Thema stolpert und es zu ihrem eigenen macht. Zu einem persönlichen Anliegen. Ich vermisse sie. Du warst immer voll von solchen Ideen, Cordula.«

Ich schwieg.

»Ganz ehrlich, als junge Mutter mit Kleinkind hattest du mehr Biss und Ehrgeiz als jetzt, wo deine Tochter aus dem Haus ist und sich dir alle Türen öffnen könnten.«

»Lass Milli aus dem Spiel.« Meine kalte, distanzierte Stimme baute eine Mauer zwischen uns.

Susanne klopfte mit den Fingerspitzen auf den Tisch. »Vielleicht solltest du dir eine kleine Auszeit nehmen. Ich denke, du bist überarbeitet und vielleicht auch ein wenig gelangweilt. Ab und zu sollte man mal loslassen. Dann kommt auch das Feuer zurück.«

Ich sah das anders. Ich hatte genug Feuer. Aber ich war halt nicht mehr das junge Ding, das sich von ihr voller Begeisterung jede Arbeit aufdrücken ließ. Wollte sie mich deshalb loswerden?

»Alles klar«, sagte ich, schaute ihr in die Augen und lächelte unverbindlich. Sie lächelte zurück und schaffte es sogar, dass es warmherzig wirkte. »Fahr doch jetzt erst mal runter nach München und dann siehst du weiter.«

Der Kongress in München. Den hatte ich ganz vergessen. Mein gepackter Koffer lag schon im Auto. Doch es kam nicht in Frage, dass ich jetzt dort hinfuhr, nach dieser fiesen Absage und allem, was Susanne mir mit ihrer sachlichen Art noch an den Kopf geworfen hatte. Ich wollte raus aus der Stadt, aber bestimmt nicht nach München.

Ich nickte noch mal ergeben wie eine junge Studentin. »Das mache ich.«

»Sehr gut«, lobte sie wohlwollend. Und damit war das Thema erledigt.

*

Ich drehe mich zu Kaya um. Nur ganz kurz, denn auch wenn wir uns oft fremd sind, ist sie meine Schwester. Sie kann in meinen Augen mehr lesen, als ich bereit bin preiszugeben, da helfen auch die dicken Brillengläser nicht.

»Ach, ich hatte etwas Ärger bei der Arbeit und musste mal raus.«

Ich spüre ihren Blick in meinem Nacken und weiß, dass sie sich mit dieser Antwort nicht zufriedengeben wird. Bevor sie nachhaken kann, schnappe ich mir einen der beiden Zwillinge und hebe ihn auf meine Hüfte, ohne darauf zu achten, dass seine kleinen Stiefel wahrscheinlich Spuren an meinem Hosenanzug hinterlassen werden.

»Na, Kleiner, du bist aber gewachsen.« Keine Ahnung, welchen der beiden Zwillinge ich gerade auf dem Arm habe, aber wenigstens fängt er nicht an zu heulen. Stattdessen streckt er seine schmutzige Hand aus, um nach meiner Brille zu greifen. Als ich den Kopf zurückziehe, lacht er begeistert und strampelt. Schnell stelle ich ihn wieder auf dem Boden ab. Wahrscheinlich muss ich gerechterweise den anderen jetzt auch noch hochheben, doch dessen mit Rotz und Staub verschmiertes Gesicht begeistert mich wenig. Zum Glück scheint es ihm ähnlich zu gehen, denn er beäugt mich skeptisch und macht zur Sicherheit einen Schritt rückwärts.

Kaya lacht sanft. »Henry musst du ein bisschen Zeit geben. Er braucht immer etwas zum Warmwerden.« I feel you, denke ich und nicke ihm freundlich zu. Selbst das scheint zu viel zu sein, denn er flitzt los und sucht Deckung hinter Kayas Bein. Die wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr.

»Rob müsste gleich kommen. Achterbahn braucht nur eine Impfung, danach können wir zu Hause Kaffee trinken und du erzählst, was bei der Arbeit los ist, okay?«

Es war ja klar, dass sie es genauer wissen will, aber ich möchte überhaupt nicht darüber reden – mit meiner Schwester, die einen eigenen Laden, einen Stall voller Pferde und zwei Kleinkinder gleichzeitig jongliert und gar nicht verstehen wird, was mein Problem ist. Im schlimmsten Fall wird sie knallhart Susanne recht geben und vorschlagen, dass ich die Auszeit doch einfach genießen solle, ohne zu merken, dass sie damit alles in Frage stellt, was mich ausmacht.

Ich muss nicht antworten, weil Kayas Handy klingelt. Sie zieht es aus der Potasche ihrer Jeans und hält es ans Ohr, während sie gleichzeitig Henry auf ihren Arm hievt und Philipp mit wildem Kopfschütteln zu verstehen gibt, dass er das Apfelstück vom Boden nicht aufheben soll, was er natürlich trotzdem macht. Bevor er reinbeißen kann, bin ich bei ihm und nehme es ihm aus der Hand.

»Komm, das geben wir Achterbahn.« Ich nehme meinen Neffen an die Hand. Sie ist warm und winzig. Ganz weich schließt sie sich um meine.

»Möchtest du?« Ich halte Philipp das Apfelstück hin. Er nimmt es und reicht es an Achterbahn weiter. Das Tier schnappt so gierig danach, dass ich blutige Finger erwarte. Erschrocken halte ich die Luft an. Ich hätte dem Jungen zeigen müssen, wie er die Hand beim Füttern flach halten muss. Aber er lacht und das Pony kaut zufrieden.

»Achtabahm ist lieb«, strahlt Philipp mich an, als könne er Gedanken lesen.

»Ja, super, wir telefonieren heute Abend noch mal. Ich freu mich so!« Kaya beendet ihr Telefonat und kommt mit Henry auf dem Arm zu uns.

»Das war Milli. Hast du es schon gehört?«

Milli?

»Sie hat Anatomie bestanden. Mit einer Eins. Ist das nicht Wahnsinn?« Sie macht eine freudige Drehung, was Henry begeistert glucksen lässt.

Ich rücke meine Brille zurecht. »Anatomie? Wann war denn die Prüfung?«

Kaya schaut mich verständnislos an. »Na, heute! Sie sind gerade erst rausgekommen. Isa hat es übrigens auch geschafft. Ach, das ist so toll.«

Sie macht noch eine Drehung und weil Philipp beide Arme hebt, nimmt sie ihn ebenfalls hoch für eine dritte.

Isa? Ich glaube, das ist Millis Mitbewohnerin, die mir gerade ziemlich egal ist. Warum wusste ich nicht, dass meine Tochter heute eine Prüfung hat? Kaya hat sie es ja anscheinend erzählt. Ich versuche, den eifersüchtigen Stich zu ignorieren, der mir nicht neu ist.

 

Ein großer VW fährt auf den Hof und hält neben dem Stalltor. Der Tierarzt ist da. Ich kenne Rob Schürmann schon ewig. Seit ich denken kann, ist er Kayas bester Freund und wie viele andere hätte ich gewettet, dass die beiden eines Tages heiraten. Aber sie sind einfach beste Freunde geblieben und ich glaube, damit haben sie alles richtig gemacht. Ihr Mann Lasse und seine Freundin Anabel sehen das bestimmt genauso.

Rob steigt aus und wird von den beiden Jungs auf Kayas Armen überschwänglich begrüßt. Zappelnd strecken sie sich ihm entgegen, so dass ihre Mutter sie lachend absetzen muss, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er geht in die Hocke und klatscht mit den beiden Zwergen ab.

»Na, ihr Racker, seid ihr denn schon fertig mit Striegeln? Ihr wisst ja, für die Impfung muss Achterbahn blitzsauber sein.«

Die Zwillinge schauen sich an und stürmen dann zu dem geduldigen Pony, um es mit Bürsten zu bearbeiten. Rob blickt ihnen grinsend hinterher und richtet sich auf, um Kaya und mich zu begrüßen.

»Cordula, ich wusste gar nicht, dass du hier bist.« Er lächelt und zwinkert dabei, als hätten wir ein Geheimnis. Das macht er immer, ich glaube nicht, dass es ihm bewusst ist, aber die meisten Frauen macht er damit ziemlich nervös. Wir sind im gleichen Alter, doch während meine ersten Fältchen um Mund und Augen nicht gerade ein Geschenk sind, sieht er mit seinen und den grauen Spuren im dunklen Haar noch besser aus als sowieso schon. Das ist ungerecht, aber nicht zu ändern. Ich nicke ihm zu, ohne zurückzuzwinkern oder dämlich zu lächeln.

»Hallo, Rob. Ich bin auch nur spontan vorbeigekommen und eigentlich schon wieder auf dem Sprung.« Das klingt gut. Es ist höchste Zeit, der Dorfidylle zu entfliehen.

»Gerade hat deine Tochter angerufen. Wisst ihr es schon?« Er schaut von mir zu Kaya, die begeistert nickt.

»Ja, eine Eins in Anatomie. Unsere Milli ist unschlagbar!«

Meine Milli, denke ich, was völlig unpassend ist. Vor allem, weil ich anscheinend die Einzige bin, die nichts von der Prüfung wusste und auch keinen Anruf kriegt. Unwillkürlich ziehe ich mein Handy aus der Tasche. Voller Empfang, nicht stummgeschaltet, kein Anruf in Abwesenheit.

»Alles okay?«

Ich schaue vom Telefon hoch in Kayas fragendes Gesicht.

»Ja, alles bestens. Ich muss jetzt los, ich …«

Jetzt schaut auch Rob mich abwartend an. Ist ihnen überhaupt aufgefallen, dass Milli mich nicht angerufen hat? Oder ist es für sie ganz selbstverständlich, dass meine Tochter zu ihnen wohl mehr Bindung hat als zu mir? Warum überrascht mich das überhaupt? Plötzlich weiß ich genau, wo ich hin will.

»Ich bin auf dem Weg zu Milli. Ich will sie überraschen. Wegen der Prüfung und so.«

Das ist es. Ich werde eine Flasche Champagner kaufen und mit ihr anstoßen. Ich sehe es vor mir, und es fühlt sich richtig an.

»Aha«, sagt Kaya skeptisch und betrachtet mich interessiert. »Und was ist mit dem Problem bei der Arbeit?«

Ich winke ab. »Ach, das war nur eine Kleinigkeit. Ist nicht so wichtig.«

Ich verabschiede mich und lasse die beiden gar nicht mehr zu Wort kommen. Auf dem Weg zum Auto fällt mir etwas ein, deshalb drehe ich mich noch mal um. »Wehe, du sagst Milli, dass ich komme!«

Sofort sehe ich an Kayas Gesicht, dass sie genau das vorhatte. Und Drohungen haben bei ihr noch nie gewirkt. Deshalb hole ich Luft und ändere meinen Ton. »Bitte, Kaya, es soll wirklich eine Überraschung sein. Mach mir das nicht kaputt, ja?«

Sie zögert und wirft Rob einen Blick zu. Dann nickt sie und ich atme auf. »Drück Milli ganz lieb, ja?«

Das werde ich. Der Gedanke daran fühlt sich so gut an wie schon lange nichts mehr.

3

Milli

»Wann kommt eigentlich die Französin an? Ich hab schon wieder ihren Namen vergessen.« Isa lässt sich auf die kleine Couch in meinem Zimmer fallen und zückt ihr Nagellackfläschchen. Weil wir kein Wohnzimmer haben und die Küche zu klein ist, um gemütlich drin zu sitzen, haben wir die Regel der offenen Tür. Jede darf das Zimmer der anderen wie ihr eigenes mitbenutzen, wenn die Zimmertür nicht geschlossen ist. Wir schließen sie so gut wie nie.

»Sie heißt Zoé Dubrasquet. Und sie kommt am Sonntag an. Am Montag ist ja schon unser erster Kliniktag.« Ich werfe die Mascara zurück in die Schublade und einen letzten Blick in den Spiegel. Mit beiden Händen versuche ich, ein wenig Volumen in meine glatten, blonden Haare zu kneten, auch wenn ich weiß, dass sie in wenigen Minuten wieder platt auf meine Schultern fallen werden. Dann drehe ich mich um. Voilà, ich bin ausgehbereit. Im Gegensatz zu meiner Mitbewohnerin im Bademantel und mit tropfnassen Haaren, die sich in aller Seelenruhe die Fingernägel lackiert.

»Bist du aufgeregt wegen der Famulatur?« Sie schaut kurz von ihren Händen auf, um mich prüfend anzusehen.

»Ja, schon ziemlich. Aber ich freue mich trotzdem sehr.« Nervös machen mich weniger die Tiere, mit Rindern kenne ich mich wirklich gut aus. Aber der Klinikleiter soll sehr streng sein und immer viele Fragen stellen. Wenn man die nicht beantworten kann, wird er wohl schnell cholerisch. Außerdem ist mir ziemlich mulmig, weil so vieles neu sein wird und ich alles erst kennenlernen muss. Die Abläufe, die Klinikmitarbeiter, die ungeschriebenen Regeln. Ich will nicht gleich in irgendein Fettnäpfchen treten. Deshalb bin ich sehr froh, dass diese Zoé gleichzeitig mit mir dort anfängt, gemeinsam fällt das bestimmt leichter. Sie ist bestimmt cool, schon allein, weil sie sich auch für Rindermedizin interessiert. Und ich kann ihr helfen, sich in der Uni zurechtzufinden. Schließlich müssen wir neben der Famulatur auch ganz normal weiterstudieren.

»Bis Sonntag wohnst du aber noch hier, oder?«

Ich setze mich neben Isa auf die Couch und lehne meinen Kopf an ihre Schulter, worauf sie sich am kleinen Finger vermalt.

»Milli!«, seufzt sie vorwurfsvoll, aber sie grinst dabei.

»Natürlich bleibe ich bis Sonntag hier. Und ich ziehe ja nicht für immer aus. Nur bis zum Frühling.«

Sie legt ihren Kopf auf meinen. »Das will ich dir auch geraten haben. Nicht dass du mir plötzlich mit irgendeinem Kuhoberarzt durchbrennst.«

Ich muss lachen. »Keine Sorge! Für einen Kerl habe ich ganz bestimmt nicht auch noch Zeit.«

*

Endlich ist auch Isa abmarschbereit und wir sind schon fast an der Tür, als ihr auffällt, dass ihr Schlüssel nicht am Haken neben der Garderobe hängt und sie eine wilde Sucherei in allen Räumen beginnt. Manchmal erinnert sie mich total an meine chaotische Tante Kaya und wahrscheinlich habe ich sie gerade deshalb so gern.

»Hast du in deiner Jackentasche nachgesehen?«

»Da ist er nicht«, murrt sie und öffnet den Kühlschrank. Völlig ausgeschlossen ist tatsächlich nicht, dass Isa ihren Schlüssel gedankenverloren hineingelegt haben könnte. Ich will gerade anfangen, doch lieber alle Jackentaschen an der überfüllten Garderobe zu durchsuchen, werde aber von der Türklingel unterbrochen. Eigentlich wollten wir die anderen beim »Krokodil«, unserer Lieblingskneipe, treffen, aber vielleicht sind sie spontan vorbeigekommen. Ich drücke den Summer für die Haustür und öffne die Wohnungstür einen Spalt. In der Jeansjacke von Isa finde ich zwei Pfefferminzbonbons, ein zerknülltes Taschentuch, drei Wertmarken und einen halben Bierdeckel mit einer verschmierten Telefonnummer, aber keinen Schlüssel.

Es klopft an der Tür. Was ist mit den Mädels los? Normalerweise stürmen sie in die Wohnung, als wären sie hier zu Hause. Ich reiße die Tür auf und will einen Scherz machen, halte jedoch mitten in der Bewegung inne.

Vor der Tür steht meine Mutter. Sie sieht gut aus wie immer. Dunkler Hosenanzug, weiße Bluse, straffer Dutt, der ihre Gesichtsform betont. Sie gehört zu den Frauen, bei denen eine Brille die Ausstrahlung noch zusätzlich betont. Ich sehe damit im besten Fall aus wie ein Nerd, eher aber wie ein Mauerblümchen aus einem Neunziger-Film, deshalb trage ich lieber Kontaktlinsen.

Eigentlich sieht Mama also aus wie immer und irgendwie doch nicht. Der Anzug wirkt etwas mitgenommen, am Hosenbein ist ein Fleck, der eingetrockneter Schlamm sein könnte. Ich starre darauf, dann auf den Arm, den sie hinter den Rücken hält und schließlich in ihr erwartungsvolles Gesicht. Was macht sie hier?

»Ist etwas passiert?« Im Kopf spule ich alle Katastrophen durch. Es muss eine so schlechte Nachricht sein, dass man sie nur persönlich überbringen kann.

Aber sie zieht lächelnd die Augenbrauen hoch, eine Flasche hinter dem Rücken hervor und streckt sie mir entgegen. »Herzlichen Glückwunsch zum bestandenen Physikum! Ich bin stolz auf dich.«

Entgeistert starre ich auf die Flasche. Woher weiß sie …

»Mütter wissen alles!«, beantwortet sie meinen Gedanken kryptisch und nickt mir auffordernd zu. »Das ist Champagner. Zum Anstoßen. Ich wollte gern mit dir feiern, dass du …« Sie spricht nicht weiter und wirkt plötzlich verunsichert. Zögernd lässt sie die Flasche sinken. »Störe ich?«

Ich bin mit der Situation überfordert. Irgendwie freue ich mich schon, sie zu sehen, aber es ist vor allem merkwürdig. Sie hat mich noch nie spontan besucht, das ist überhaupt nicht ihre Art.

»Wir wollten eigentlich gerade …«

»Oh Mann, ich hab ihn. Er war ganz unten in der verdammten Handtasche. Das Teil ist einfach zu groß. Äh … hallo?« Isa ist hinter mir aufgetaucht und hat den Überraschungsgast im Türrahmen erblickt. »Wow, Sie müssen Millis Mutter sein. Die Ähnlichkeit ist ja der Wahnsinn. Schön, Sie mal kennenzulernen. Ich bin Isa.«

Sie schiebt sich an mir vorbei und streckt meiner Mutter die Hand entgegen, die sie dankbar annimmt.

»Ah, Isa. Ich habe schon von Ihnen gehört. Ihnen auch herzlichen Glückwunsch zur bestandenen Prüfung.«

So langsam wird mir das unheimlich. Sie kann nicht wissen, dass wir in einer Prüfungsgruppe sind. Das ganze Physikumsthema habe ich in Gesprächen mit ihr immer vermieden und bei Fragen nur ausweichend geantwortet. Immer hatte ich das Gefühl, mich sonst rechtfertigen zu müssen für meine Unsicherheit und Überforderung mit dem Lernstoff, weil meine Mutter das überhaupt nicht kennt. Ich glaube, sie erwartet, dass mir das Lernen ebenso leichtfällt wie ihr früher und ich genauso diszipliniert und fokussiert die Bücher durcharbeite wie sie. Ich versuche es ja, aber natürlich lasse ich mich auch mal ablenken oder schiebe etwas vor mir her. Und trotzdem kostet mich die ganze Paukerei ziemlich Kraft und Nerven. Aber das würde nicht in das Bild passen, das meine Mutter von mir hat.

»Du musst Isa nicht siezen«, sage ich und das ist wahrscheinlich das Dämlichste, was mir einfallen konnte. Doch Mama lacht und zwinkert sogar. »Dann möchte ich aber auch geduzt werden. Ich bin Cordula.«

Bevor ich etwas tun kann, hat Isa meiner Mutter schon den Champagner abgenommen und winkt sie herein. Ich tappe den beiden hinterher und komme mir vor wie im falschen Film. Aber Isa scheint das Drehbuch zu kennen. Als wäre der Besuch geplant gewesen, führt sie meine Mutter in die Küche, holt drei Sektgläser aus dem Hängeschrank, öffnet die Flasche und gießt großzügig ein.

Währenddessen beobachte ich Mama, die sich seelenruhig umschaut. Sie hat mich in den zwei Jahren noch nie in meiner Wohnung besucht, aber ich wäre auch nicht auf die Idee gekommen, sie hierher einzuladen. Wir haben uns sowieso eher selten gesehen, ab und zu bin ich mal zu ihr gefahren und habe eine Nacht in meinem alten Zimmer verbracht. Viel häufiger war ich in Neuberg, schon allein wegen Mitternacht und des Nebenjobs in der Tierarztpraxis.

Isa verteilt die Gläser und hebt ihres. »Na dann. Anatomie, verlass mich nie!« Sie grinst und wir stoßen die Gläser aneinander.

»Auf euch«, sagt meine Mutter leise und schaut mich dabei durchdringend an. Ist sie sauer, weil ich ihr von der Prüfung nichts gesagt habe? Will sie mich kontrollieren? Was will sie mir mit ihrem Besuch sagen?

Es fällt mir schwer, ihrem Blick nicht auszuweichen, deshalb nippe ich an meinem Glas. Ich mache mir nichts aus dem teuren Sprudelzeug. Auch meine Mutter nimmt nur einen kleinen Schluck.

»Milli, ich wollte dich zur Feier des Tages zum Essen einladen. Wo möchtest du gern hin?«

Ich schlucke. »Isa und ich wollten eigentlich …«

Meine Mitbewohnerin winkt ab. »Quatsch, Milli! Geh mit deiner Mama essen. Wir beide können morgen feiern.«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, Isa, ich finde es komisch, wenn wir heute Abend nicht zusammen sind.« Schließlich sollte es unser Abend werden als Abschluss der harten Prüfungszeit, aber auch als Abschiedsabend vor meinem vorübergehenden Auszug.

»Isa kann gern mitkommen«, wirft meine Mutter ein und lächelt ihr zu. »Du bist natürlich auch eingeladen.«

Isas Augen leuchten, aber sie wirft mir einen fragenden Blick zu. »Aber nur, wenn es für Milli okay ist.«

Mehr als okay. Mama wird nicht ohne Grund hier sein, und was auch immer sie mit mir besprechen will, wird wahrscheinlich leichter, wenn Isa dabei ist. Außerdem wirkt es nicht so, als würde meine Mutter sich noch abwimmeln lassen. Also nicke ich. »Klar. Sehr gern.«

Die beiden strahlen mich an. Als Mama sich kurz entschuldigt, um sich im Bad frisch zu machen, nimmt Isa