Hinter dem Haus | Der mitreißende Psychothriller, der dich an dir selbst zweifeln lässt - Drea Summer - E-Book

Hinter dem Haus | Der mitreißende Psychothriller, der dich an dir selbst zweifeln lässt E-Book

Drea Summer

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Beschreibung

Bedrohliche Geheimnisse, verschüttete Erinnerungen und ein verbotener Garten …

Nach einer aufreibenden Trennung in die Heimat geflüchtet, möchte Gwen einen Neuanfang wagen – inklusive eigener Tierarztpraxis auf dem familieneigenen Grundstück. Doch da ihr Bruder nach einem folgenschweren Unfall im Koma liegt, bittet sie ihr Vater, das traditionsreiche Familienhotel zu übernehmen. Erneut mit dem Haus ihrer Jugend konfrontiert und verstärkt durch das vehemente Verbot ihrer Familie, den alten Beerengarten zu betreten, erwachen in Gwen nach und nach dunkle Erinnerungen an eben diesen Ort …

Während sie versucht, der Situation gerecht zu werden und die wahren Motive ihres Vaters zu verstehen, versinkt sie in einer Welt der Lügen, Schuld und unbeantworteter Fragen:

Warum hat ihr Vater sie jahrelang angelogen?
Was geschah wirklich in ihrer Kindheit?
Und was – oder wer? – liegt unter der Erde begraben?

Erste Leser:innenstimmen
„Packender Psychothriller mit Suchtpotential! Ich wollte ihn gar nicht mehr aus der Hand legen.“
„Die parallelen Zeitstränge haben der spannungsreichen Handlung den letzten Schliff verliehen.“
„Absolut überraschender Plottwist am Ende dieses fesselnden Thrillers.“
„Drea Summer versteht einfach, wie komplexe Charaktere und schockierende Wendungen geschrieben werden müssen.“

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Seitenzahl: 363

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses E-Book

Nach einer aufreibenden Trennung in die Heimat geflüchtet, möchte Gwen einen Neuanfang wagen – inklusive eigener Tierarztpraxis auf dem familieneigenen Grundstück. Doch da ihr Bruder nach einem folgenschweren Unfall im Koma liegt, bittet sie ihr Vater, das traditionsreiche Familienhotel zu übernehmen. Erneut mit dem Haus ihrer Jugend konfrontiert und verstärkt durch das vehemente Verbot ihrer Familie, den alten Beerengarten zu betreten, erwachen in Gwen nach und nach dunkle Erinnerungen an eben diesen Ort …

Während sie versucht, der Situation gerecht zu werden und die wahren Motive ihres Vaters zu verstehen, versinkt sie in einer Welt der Lügen, Schuld und unbeantworteter Fragen:

Warum hat ihr Vater sie jahrelang angelogen? Was geschah wirklich in ihrer Kindheit? Und was – oder wer? – liegt unter der Erde begraben?

Impressum

Erstausgabe August 2025

Copyright © 2025 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-69090-124-6

Covergestaltung: Nadine Most unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Dzmitrock, © Ibenk_88, © Darya_Kisialiova, © mcajan, © Wichai Prasomsri1, © Sarawut Opkhonburi Lektorat: Katrin Gönnewig

E-Book-Version 11.08.2025, 16:24:39.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Damals

Die Sonne brannte auf ihrer Haut, und der Stich mit dem Messer traf sie völlig unerwartet. Feige, rücksichtslos, von hinten. Im ersten Moment dachte sie an einen grausamen Scherz, einen sehr schmerzhaften Witz. Schlagartig drehte sie sich um. Doch als sie in die Augen ihres Gegenübers blickte, sah sie nur noch ihren Tod. Angst empfand sie keine, auch Panik breitete sich nicht in ihr aus. Ihr Körper schien zu schweben. Im Takt der Stiche wiegte er sich hin und her, bis sie in einen Schlaf fiel, aus dem sie nie wieder erwachen sollte. Die Blutlache um sie herum wurde langsam größer. Auch den unbändigen Hass ihres Gegenübers konnte sie nicht mehr fühlen. Sie war davongeglitten, ihre Seele emporgestiegen. Aus. Ende.

1

»Gwen!« Mein Vater keuchte und nahm einen tiefen Atemzug durch seine Sauerstoffmaske. Es hörte sich an wie ein Blubbern, und es ließ mich jedes Mal aufs Neue erschaudern. Dabei befand er sich seit über drei Monaten in diesem Zustand, und die Sauerstoffflasche war sein ständiger Begleiter, sein bester Freund. Papa lag im Bett, zugedeckt mit zwei Decken, in einem Zimmer im hinteren Trakt des Landhotels Waldblick. Schon immer war hier der Privatbereich für unsere Familie gewesen. Sofern man uns als Familie bezeichnen konnte.

Trotz des offenen Fensters, durch das eine Frühlingsbrise in den Raum kam, war die Luft abgestanden, faulig, stickig, knapp vor dem Tod. Papa hatte mich heute zu sich bestellt, weil er mir etwas Wichtiges mitteilen wollte. Als ob er mich nicht jeden Tag sehen würde, hatte er heute die Uhrzeit meines Erscheinens vorgegeben. Sehr ungewöhnlich für ihn, da er mir sonst nie etwas vorschrieb.

»Du musst mein Hotel weiterführen«, sagte er mit heiserer Stimme. »Es ist das Hotel unserer Familie. Dein Großvater hat es mit eigenen Händen gebaut. Du musst mir versprechen, dass du dem Hotel treu bleibst. Ich weiß, deine Pläne waren andere. Doch dein Bruder … Du musst ihn unterstützen. Du musst das Hotel weiterführen, wenn er es nicht kann.«

Natürlich musste ich Erik unterstützen. Schon immer war ich für ihn da gewesen. Dabei war er mein großer Bruder, und gerade deswegen sollte er doch eigentlich für mich da sein. Vater hatte einmal im Scherz gesagt, dass Erik wohl mehr Gene einer Frau hatte, weil er doch … na ja … ein kleines Sensibelchen war. Doch der Grund dafür lag vermutlich sehr viel tiefer, früher in unserem Leben. In einer Kindheitserinnerung, die man so wohl keinem Kind wünschte.

Wir hatten ohne Mutter aufwachsen müssen. Zumindest ich. Erik konnte sich noch schemenhaft an sie erinnern. Für mich war sie nicht mehr als eine Fremde auf den Fotos in unserem Familienalbum.

Besonders als ich noch jünger war, hatte ich mich oft selbst dabei ertappt, dass ich mich mit ihr verglich. Ihre Haarfarbe, ein dunkles Braun, die kleine Stupsnase und auch die zierliche Figur. All das sah ich tagtäglich im Spiegel. Allerdings, die Grübchen in meinen Wangen und die buschigen Augenbrauen stammten eher von Vaters Seite.

Ich wusste aus Erzählungen, dass Mama damals ihre Koffer gepackt und einfach gegangen war. Sie hatte uns alleingelassen, sich einfach in Luft aufgelöst. Ohne Nachricht, ohne Erklärung. Einfach weg. Nicht dass Vater und die Angestellten des Hotels sich nicht gut um uns gesorgt hätten. Wir hatten alles, wirklich alles. Außer einer leiblichen Mutter. Dafür ein Kindermädchen, das uns geliebt hatte, als wären wir ihre eigenen Kinder gewesen. Sonnengeküsste Haut, lautes Organ, herzhaftes Lachen, warme Küsse, zahlreiche Umarmungen. Mamacita Nona.

Ich wusste nicht, was meinen Vater dazu bewegte, ausgerechnet jetzt über das Landhotel sprechen zu wollen. Er hatte doch schon vor Monaten, als er die Diagnose Lungenkrebs bekommen hatte, seine Erbschaft geregelt. Ich hatte auf jeden Fall nicht zur Auswahl gestanden, als es um die Leitung des Hotels ging. Was mich damals nicht gewundert hatte, und ehrlich gesagt, hatte ich auch die Hoffnung, dass mich niemand diesbezüglich fragte. Was sollte eine Tierärztin mit einem Hotel anfangen? Das wäre das Gleiche, als wenn du einem Elefanten Zeichnen beibringen möchtest. Gut, es gab Elefanten, die mit ihrem Rüssel … Chance eins zu einer Million, dass das funktioniert.

Papa würde bald nicht mehr sein, und Erik und ich wären auf uns gestellt. Und obwohl wir schon lange erwachsen waren – immerhin war ich knapp dreißig –, schmerzte dieser Gedanke sehr.

»Papa, du weißt, ich würde Erik nie alleinlassen. Aber ich kann das Hotel nicht weiterführen. Erik ist derjenige, der die Hotelfachschule in Bad Gleichenberg besucht hat, weißt du das nicht mehr? Ich bin Tierärztin und keine Hotelchefin. Deswegen hat dieses Hotel auch einen eigenen Streichelzoo, weil ich schon als kleines Mädchen wusste, was meine Berufung ist. Davon abgesehen hast du Erik die Stelle als Geschäftsführer übertragen. Kannst du dich daran nicht mehr erinnern?« Ich zweifelte gerade wirklich an seiner geistigen Zurechnungsfähigkeit.

Er runzelte für einen Moment die Stirn. Dann legte sich ein wissendes Lächeln auf sein Gesicht. »Natürlich, Gweni.« Vater griff nach meiner Hand. »Versprichst du mir etwas?«

»Alles, Papa. Alles.« Eine Träne bahnte sich meine Wange hinunter. Ich wusste nicht, wie oft ich ihm noch etwas versprechen konnte. Wie oft ich noch an seinem Bett sitzen durfte. Wie oft ich noch seine knochige, aber warme Hand in meiner spüren würde. Bald schon würden ihn seine Kräfte verlassen. Sein ganzer Körper war ausgemergelt, ausgelutscht von der Chemotherapie. Es war die letzte Chance gewesen, doch es schien, dass Vater diesen Kampf nicht gewinnen würde.

Der Arzt hatte bei der Untersuchung vor wenigen Tagen gesagt, dass es jede Minute mit ihm vorbei sein könne. Es war schon kaum zu ertragen gewesen, als Vater mit der Diagnose herausgeplatzt war und nur wenige Wochen später irgendetwas von drei Monaten verbleibender Lebenszeit erzählt hatte. Aber Minuten statt Stunden, Tagen oder Wochen … Er war noch keine sechzig Jahre alt. Hatte sein Leben lang gearbeitet, auf alles verzichtet, nur damit seine Kinder ein besseres Leben hatten als er. Und dann hatte er es nicht mal verdient, seinen Ruhestand zu erleben. Das Leben war ein riesiges Arschloch!

Es schmerzte jetzt schon in meiner Brust, wenn ich an meinen Verlust dachte. Ich war ein Papakind gewesen. Immer schon. Ja, natürlich hatte ich auch Mamacita Nona geliebt, aber Papa … Ich war eben immer seine Prinzessin gewesen. War es immer noch.

»Du musst mir versprechen, dass du hier niemals etwas veränderst. Weder am Hotel noch hier oben im Garten. Versprich mir das.« Er krächzte die letzten Worte, und es endete in einem Hustenanfall, der sogar mir im Brustkorb wehtat. Ich fragte mich, was hier vor sich ging. Was hatte diese Bitte zu bedeuten?

»Aber, Papa«, sagte ich. »Das kann ich dir nicht versprechen. Ich will doch meine Praxis hier auf dem Grundstück bauen lassen. Kannst du dich nicht erinnern? Erik hat mit dir vor zwei Tagen erst darüber gesprochen und dir auch die Pläne gezeigt. Du weißt doch …« Ich kam nicht weiter. Er unterbrach mich unsanft und sprach mit so einem festen Tonfall, dass ich zurückschrak.

»Ich erlaube es dir nicht. Hörst du? Such dir einen anderen Platz, wenn du unbedingt etwas bauen willst. Das Grundstück ist groß genug. Hier oben wird nichts verändert.«

Damit hatte er recht. Wir waren sozusagen Großgrundbesitzer. Mit über zwölf Hektar Land … Gut, das klang verlockend, aber die zwölf Hektar bestanden größtenteils aus einem Abhang mit einem nicht asphaltierten, von Obstbäumen gesäumten Weg, der an die Landstraße unten anknüpfte. Diese Straße, die durch ein Dorf führte, in dem man die Bewohner mit der Hand zählen konnte. Und Monat für Monat wurde das Dorf leerer und die Autos, die auf der Landstraße fuhren, weniger.

Und – unter uns gesagt – der einzige Platz für meine Tierarztpraxis war dort, wo ich sie nun offenbar nicht bauen durfte. Bei den Beerensträuchern, die ich als Kind schon gehasst hatte, weil ich mich ständig an den Dornen verletzte, wenn ich dort naschen wollte. Trotzdem hatte es mich nicht davon abgehalten, die Beeren zu pflücken. Und nun … Nun hasste ich die Sträucher mit ihren verdammten Dornen gleich noch ein Stückchen mehr.

Es war der einzige ebenerdige, unbebaute Teil des Grundstückes, der direkt an der einladenden Einfahrt zum kleinen Landhotel Waldblick lag und perfekt für zwei, drei Parkplätze vor der Tür war. Genau diese Stelle, die perfekt für meinen gerade zerplatzenden Traum gewesen war. Buff.

Ein Klopfen an der Zimmertür riss mich aus meinen Gedanken, und ich schaute auf, als diese geöffnet wurde. Onkel Helmut steckte seinen Kopf in den Raum. Er war nicht mein richtiger Onkel, sondern der beste Freund meines Vaters von Kindheitstagen an. Und trotzdem hatte ich ihn noch nie nur mit seinem Vornamen angesprochen. Er hatte immer zur Familie gehört.

»Gwen? Darf ich dich kurz sprechen?«, fragte er fast tonlos, und ich nickte. Vater hatte seine Augen geschlossen, sein Brustkorb hob und senkte sich und wurde von einem leisen Zischen aus der Sauerstoffflasche begleitet. Ich löste meine Hand aus Vaters und stand so leise wie möglich auf. Auf Zehenspitzen tapste ich aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter mir.

Onkel Helmut wartete im Flur auf mich. Die leuchtend gelbe Wand hatte sich mein Bruder in den Kopf gesetzt und die schummrige Beleuchtung in Form von Lampen, die aussahen wie Kerzenständer, mein Vater. Mein Stil war das nicht, aber was ging mich dieses Hotel an? Nichts.

Ich lächelte meinen Onkel an, der auf seiner Unterlippe kaute, als wäre sie ein Kaugummi. Mein Lächeln erstarb. Ich wusste, er würde mir jetzt etwas sagen, was mir nicht passen würde. In meinem Magen schwoll ein seltsames Gefühl an, und mir wurde von jetzt auf gleich kotzübel.

»Gwendolin«, sagte er und stockte wieder. Dann nahm er anscheinend all seinen Mut zusammen und schaute mir tief in die Augen. Mir war bewusst, dass es etwas sehr Ernstes sein musste, da er mich mit meinem vollen Namen angesprochen hatte. »Wir … Also du … Gwen, es ist nicht leicht für mich, das zu sagen, aber …« Seine Hände begannen zu zittern. »Wir müssen jetzt stark sein.«

Ehrlich gesagt, ich verstand kein Wort. »Onkel Helmut! Was ist los?«

»Es gab einen Unfall. Und Erik … Also, er ist …« Onkel Helmut atmete so stark ein, dass ich glaubte, sein Brustkorb würde jeden Moment platzen.

»Jetzt sag endlich, was los ist!«, schrie ich ihn an. »Was ist mit Erik? Er ist nicht tot! Oder doch? Nein, oder?« Obwohl Onkel Helmut mich um einen ganzen Kopf überragte, musste ich mich zurückhalten, ihn nicht an seinen Schultern zu packen, um die Wahrheit aus ihm herauszuschütteln. Stattdessen knetete ich meine Finger wie einen Strudelteig.

»Er liegt im Krankenhaus«, sagte er, senkte seinen Blick und fuhr sich durch sein immer grauer werdendes dunkles Haar. »Ein Unfall mit dem Motorrad auf der Landstraße Richtung Feldbach. Der andere Fahrer hat ihn nicht kommen sehen … Er hat ihn seitlich erwischt. Erik wird nie wieder laufen können, sagen die Ärzte. Und das ist sogar noch die beste Diagnose.«

»Was?«, kreischte ich, mir wurde plötzlich eiskalt. »Aber er lebt, ja? Er lebt, oder? Er wird das schaffen, ja?« Ich trat ganz dicht an Onkel Helmut heran, sodass ich seine Wärme spüren konnte. Ich brauchte ihn jetzt, wollte ihn aber gleichzeitig von mir stoßen.

»Also, er hat Kopfverletzungen erlitten, trotz seines Helmes. Aber die Ärzte sagen, dass er eine Chance hat durchzukommen, wenn er die nächsten achtundvierzig Stunden überlebt. Er liegt in einem künstlichen Koma. Wie stark die Schädigungen des Gehirns sind, können die Ärzte derzeit noch nicht feststellen. Was sie wissen, ist, dass das Rückenmark schwer geschädigt wurde. Eine Heilung ist nahezu ausgeschlossen. Dein Bruder … wenn er dann aus dem Krankenhaus kommt, wird er es nur in einem Rollstuhl verlassen können. Gwen, du musst das Hotel ab heute leiten. Verstehst du? Du musst das Erbe deines Vaters weiterführen.« Er breitete seine Arme aus und wollte mich umarmen, aber ich wich zurück.

»Was soll das? Was redest du da? Papa ist nicht tot. Und Erik … Erik ist ein Kämpfer. Du wirst sehen, er wird sich vollständig erholen. Ich werde Papa nichts von Eriks Unfall erzählen, das würde ihn nur unnötig aufregen.« Entschlossen drehte ich mich zur Tür um und umfasste den Knauf. Auf einmal zerlegte mein Hirn das eben Gehörte in seine Einzelteile und sortierte es neu. Urplötzlich traf mich die Erkenntnis mit voller Wucht. Ich wandte mich wieder Onkel Helmut zu und zischte: »Vater weiß schon von dem Unfall. Stimmt’s? Stimmt’s? Deswegen hat er mir gesagt, dass ich die Leitung des Hotels übernehmen soll. Sag die Wahrheit. Wann ist der Unfall passiert?«

»Gestern Nachmittag«, antwortete Onkel Helmut nach einem langen Zögern. Er konnte mir nicht einmal in die Augen sehen, so sehr nagte das schlechte Gewissen an ihm.

»Und du wusstest seit gestern davon.« Meine Stimme klang ruhig, aber innerlich brodelte ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand, und die Lava würde meterhoch herausschießen, wenn er explodierte. »Ich war gestern Abend noch bei Vater, und er hat mir nichts gesagt. Auch dich habe ich gestern gesehen, kannst du dich erinnern? Er ist mein Bruder, verdammt! Mein Fleisch und Blut. Ich habe schon meine Mutter verloren, weil sie einfach gegangen ist, und schon sehr bald verliere ich auch meinen geliebten Vater. Und ihr beide haltet es nicht für nötig, mir zu sagen, dass mein Bruder einen Unfall hatte? Dass ich ihn auch verlieren könnte?« Ich schlug mit meinen Fäusten auf seinen Oberkörper ein. Wie konnte er nur so ein Geheimnis aus dem Unfall machen? Wieso haben die beiden mir das angetan? Ich verstand die Welt nicht mehr. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich Erik bis vor wenigen Minuten nicht einmal vermisst hatte. Zu sehr war ich mit mir selbst beschäftigt gewesen, als dass ich darauf geachtet hätte, dass ein wichtiger Teil meiner Familie fehlt. Ich bin ein richtiges Egoferkel.

»Gwendolin.« Onkel Helmut umfasste meine Arme mit seinen Händen und zog mich an sich heran. Ich wehrte mich, schlug weiter auf ihn ein, doch er hielt mich einfach fest. Hielt meine Schläge aus, bis ich mich heulend gegen seinen Brustkorb drückte. Erst dann redete er weiter. »Hör zu. Ich weiß, du verstehst das gerade nicht, aber hör mir einfach nur zu, ja? Dein Vater konnte dir nicht sagen, was mit Erik geschehen war. Er bekam gestern starke Beruhigungsmittel vom Arzt, damit er diese schreckliche Nachricht halbwegs ertragen kann. Und ich … ich durfte dir nichts sagen. Dein Vater hat es mir verboten. Du solltest ihm an seinem Sterbebett das Versprechen, dass du das Waldblick weiterführst, aus freien Stücken geben. Nicht, weil du dich dazu gezwungen fühlst.«

»Aber … ich bin doch keine Hotelmanagerin. Ich habe davon keine Ahnung. Erik …«

»Erik wird für längere Zeit ausfallen. Du kannst alles lernen, was du brauchst, um das Hotel zu führen. Von mir, Nona und von Magda. Wir werden alles tun, damit du gut in deinen Job hineinfindest.«

»Onkel Helmut? Wieso übernimmst nicht du das Hotel, bis Erik es wieder leiten kann?«

Er atmete tief ein, stemmte mich von sich weg und legte dann seine Hände auf meine klatschnassen Wangen. »Es ist der Wille deines Vaters, dass du das Hotel führst. Verstehst du? Es ist und bleibt ein Familienbetrieb.«

»Du gehörst doch zur Familie«, entgegnete ich. »Bitte! Ich will das alles nicht. Erik zu unterstützen, ist die eine Sache, aber das ganze Hotel zu leiten, ist eine andere. Und Magda … Magda ist schon weit über achtzig.« Magda, die gute Seele des Hauses. Sie war schon immer alt gewesen, seit ich denken konnte. Und sie stand immer an der Seite meines Vaters. Immer da. Immer erreichbar. Nie krank. Nie verhindert. Fast wie eine Maschine, nur mit tiefen Falten im Gesicht.

»Gwendolin. Wenn ich die Leitung des Hotels übernehme, übernimmst du dann die Restaurantführung und die Küche? Kochst du den Gästen und auch dem Personal etwas Leckeres?« Es lag ein Unterton in seiner Stimme, der keinen Zweifel zuließ. Ja, Onkel Helmut war nicht nur Restaurantleiter, sondern auch der Chefkoch des Hotels. Familienunternehmen halt. Jeder packte dort an, wo er gebraucht wurde. Und als die Restaurantleiterin vor einigen Monaten gekündigt hatte, hatte Onkel Helmut diesen Job übernommen. Erst jetzt fiel mir auf, wie fertig er aussah. Tiefe dunkle Ringe unter den blutunterlaufenen Augen. Ich konnte ihm auf keinen Fall noch mehr Arbeit aufdrücken. Allerdings hieß das für mich, dass nicht nur der Traum meiner eigenen Praxis vor dem Hotel zerplatzt war, sondern auch mein ganzer Traum als selbstständige Tierärztin auf dem Land. Und doch wuchs die Hoffnung in mir, dass alles nur von kurzer Dauer wäre. Bis Erik wiederkam. Bis alles wieder gut werden würde.

Dabei war ich extra für die eigene Praxis aus Wien zurückgekommen. Gut, vielleicht lag es auch daran, dass ich mich von meinem langjährigen Freund getrennt hatte und mir nun im Südburgenland – da komme ich her, da gehöre ich hin – ein neues Leben aufbauen wollte. Vorzugsweise ohne Mann. Aber dass ich schon vier Monate nach meiner Ankunft alles über den Haufen werfen würde und etwas machen musste, was ich nicht wollte … darauf war ich nicht vorbereitet.

Morgen hätte ich mit dem Architekten Gerry einen Termin gehabt, der mit mir die restlichen Kleinigkeiten besprechen wollte, bevor am Montag die Bauarbeiten beginnen würden. Es grenzte an ein Wunder, dass ich überhaupt so schnell eine Baufirma gefunden hatte, die meine Wünsche umsetzen konnte. Vielleicht lag es auch an dem Umstand, dass der Chef dieser Baufirma ein guter Bekannter von Erik war. Ich war mir unsicher, ob ich mich gegen den Willen meines Vaters stellen sollte. Sollte ich mir wirklich alles verbauen lassen? Ich wollte nicht, dass meine glitzernde Zukunft als Tierärztin einfach das Klo hinuntergespült wird. Noch nie war ich der Mensch gewesen, der einfach so aufgab, nur weil ein Stein im Weg lag. Wobei es sich hier eher um einen fetten Felsbrocken handelte. Es ging hier nicht mehr allein um mich, sondern um alles, was sich meine Familie jemals aufgebaut hatte. Die Praxis könnte ich ja doch bauen lassen. Vielleicht nicht direkt am Montag, aber Träume darf man nicht einfach aufgeben, nur weil es gerade schwierig wird.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Onkel Helmut. Auf seinem hellen Hemd war ein nasser, großer Fleck von meinen Tränen zu sehen.

»Ja, ich höre dir zu. Ich möchte zu Erik ins Krankenhaus. Ich muss ihn sehen.«

»Nein, das ist derzeit nicht möglich. Er hängt an etlichen Schläuchen und ist noch nicht bei Bewusstsein. Vielleicht kannst du morgen zu ihm, aber heute … heute nicht, okay?«

»Momentan ist das alles ein wenig viel für mich. Ich habe Kopfschmerzen und würde mich gerne …«

»Es tut mir leid, Gwen. Aber du kannst dich jetzt nicht so einfach aus der Verantwortung ziehen. Du hast das Hotel zu leiten. Dich um deine Gäste und deine Mitarbeiter zu kümmern. Du musst, ob du willst oder nicht. Ich habe den Mitarbeitern Bescheid gegeben, dass du dich von nun an um alles Wichtige kümmerst. Ich werde in der Zwischenzeit für deinen Vater da sein. Ich habe Pause bis um achtzehn Uhr. Dann gibt es Abendessen. Also, du hast gute vier Stunden, um schon mal in deine neue Position hineinzuschnuppern. Mach das Beste draus.« Onkel Helmut ließ mich einfach im Flur stehen und schloss die Tür zu Vaters Schlafzimmer hinter sich. Klick.

Und ich … Ich stand da wie ein Kind, das gerade mit Hausarrest bestraft worden war, ohne etwas angestellt zu haben. Mit dem Handrücken wischte ich mir die heißen Tränen von den Wangen. Ich hatte nicht mal eine Ahnung, welche Aufgaben mir mein neuer Job abverlangte. Ob ich ab sofort stundenlang über irgendwelche Statistiken zur Optimierung des Hotels brüten müsste, die ich sowieso nicht verstand, oder wie eine Irre von einer Station im Hotel zu einer anderen hasten würde, nur um Katastrophen zu verhindern. Mir wurde schmerzhaft bewusst, dass ich nicht plötzlich zu einer Businessfrau mutieren könnte, ohne mich dabei selbst aufgeben zu müssen. Wie aus dem Nichts kribbelte es in meinem Nacken, als würde mich jemand anschauen. Jemand, der mich beobachtete. Doch der Flur war leer und ich allein. Diese unsichtbare Präsenz konnte ich zwischen meinen Fingerspitzen fühlen. Dieses beklemmende Gefühl, dass ich nicht alleine war, ließ meinen Pulsschlag in die Höhe schnellen. Summen. Ich hörte ein Summen einer Melodie. Es klang, als käme es zwischen den Wänden hervor. Plötzlich war alles weg. Das Summen, das Gefühl. Ich hasste es, wenn mir mein Verstand einen Streich spielte.

In der Gesäßtasche meiner Jeans vibrierte mein Telefon, und ich holte es heraus. Für einen Moment war ich gewillt, den Anruf wegzudrücken, widerstand aber diesem Drang. Die Traurigkeit war der Wut gewichen, und vielleicht konnte ich bei ihm zumindest einen Teil meines Frustes loswerden. »Was willst du, Rainer? Du hast definitiv den ungünstigsten Zeitpunkt erwischt, um mich heute anzurufen.«

»Gwen, du weißt doch, wie sehr ich dich liebe?«

»Ich weiß nur, wie sehr du auch andere Frauen liebst.«

»Aber, Gwen. Wieso bist du so nachtragend? Sie hat mir nichts bedeutet. Ich schwöre!«

»Klar. Was willst du?« Während ich das Smartphone an mein Ohr presste, verließ ich den privaten Bereich des Hotels, schlüpfte durch die einzige Verbindungstür ins Haupthaus und kam in einem Nebenraum, der die Teeküche und einen kleinen Aufenthaltsbereich beinhaltete, hinter der Rezeption hinaus. Zu dieser Tür hatten nur wenige Personen einen Schlüssel. Ich trug meinen immer bei mir, wenn ich hier im Hotel war. Es gab einen Notfallschlüssel, der versteckt an dem offenen Schlüsselschrank hinter der Rezeption hing.

»Meinen Zimmerschlüssel«, hörte ich Rainer durchs Telefon, und es kam mir so vor, als hallten seine Worte vom Rezeptionstresen wider.

»Natürlich, Herr Peschke«, hörte ich eine vertraute weibliche Stimme. »Ihr Zimmer ist schon für Sie vorbereitet, und auch die Champagnerflasche ist gekühlt, wie Sie es bestellt haben.«

Ich stürmte aus der Teeküche und traute meinen Augen nicht. Rainer strahlte mich mit seinem unnatürlichen Zahnpastawerbungslächeln an. Seine blonden Haare waren so perfekt unordentlich, dass er mit Sicherheit eine Stunde vor dem Spiegel verbracht hatte. Die Haare! Sein Heiligtum.

»Überraschung!«, sagte er und breitete die Arme aus, als wollte er die ganze Welt umarmen. Er trug eines seiner maßgeschneiderten Hemden, die seinen Bodybuilder-Körper betonten. Das dunkle Grün seines Hemdes brachte seine blaugrünen Augen so richtig zum Leuchten. Eine Denim-Jeans rundete sein Gesamtbild ab. Er sah zum Anbeißen aus. Und das wusste er auch. Er war der perfekte Charmeur, der perfekte Liebhaber, der perfekte Mann zum Heiraten. Wenn man von seinen zahlreichen Affären absah. Er stank vor lauter Geld. Er war eine gute Partie – wie mein Vater immer zu sagen pflegte. Doch hatten weder er noch ich gewusst, dass ich nicht die Einzige in Rainers Leben gewesen war.

2

Ich war wie erstarrt und blieb vor dem Rezeptionstresen stehen. Rainer strahlte, und auch Sigi, die Rezeptionistin, blickte mich mit einem fast schon verliebten Blick an. Fand sie Rainers Auftauchen etwa süß? Hatte ich mich nicht klar und deutlich ausgedrückt, dass ich ihn nicht sprechen wollte? Wie kam Sigi auf die Idee, mich über seine Buchung in unserem Hotel nicht zu informieren? Um sie würde ich mich später kümmern, jetzt wollte ich zuerst Rainer die Leviten lesen.

Noch bevor ich ihn beschimpfen konnte, was für ein Idiot er doch sei, was er ausgerechnet hier in dem Hotel wolle, öffnete sich die Eingangstür der lichtdurchfluteten Lobby, die mit viel Liebe und hellem Holz gestaltet worden war, und ein älteres Pärchen spazierte herein. Beide weit über siebzig. Sie hatte ihren Arm bei ihm eingehakt. Plötzlich blieb der Mann stehen und beugte sich zu ihr hinunter. Ein Kuss auf ihre Wange folgte, und die Frau strahlte, als wäre sie gerade zum ersten Mal von ihm geküsst worden. Bei diesem Anblick schmolz jeder Eisblock, sogar ich. Für einen Miniaugenblick dachte ich darüber nach, dass dieses alte Ehepaar auch wir hätten sein können. Rainer und ich.

»Herr und Frau Meister, nehme ich an?«, fragte Sigi, die immer ein Dirndlkleid trug und ihre braunen Haare stets zu Zöpfen geflochten hatte. Auch wenn die Haare einige weiße Strähnchen durchblitzen ließen, sah man Sigi ihre knapp sechzig nicht an.

Familie Meister nickte.

»Franz? Hilf Herrn Meister mit dem Koffer, bitte.« Sigi winkte den schlanken Hotelpagen heran, der noch vor wenigen Sekunden gelangweilt auf seinem Handy herumgetippt hatte.

Ich wandte mich von dieser Situation ab und schaute in Rainers immer noch strahlendes Gesicht. Hier und jetzt eine Szene zu machen, wäre undenkbar. Ich stapfte auf ihn zu und zerrte ihn am Unterarm vom Rezeptionstresen weg.

»Aua. Du tust mir weh«, sagte er und verzog schmerzhaft sein Gesicht. Ich umgriff seinen Unterarm fester.

»Sei still. Ansonsten zeige ich dir gleich, was wehtut.« Meine Worte trafen anscheinend ins Schwarze, denn obwohl sich meine pink lackierten Fingernägel in sein Fleisch bohrten, gab er keinen Mucks von sich. Ich zog ihn zu dem hellen Ledersofa, das für ankommende Gäste angedacht war, wenn sie einen Augenblick warten mussten. »Was tust du hier?«, zischte ich.

Rainer setzte sich neben mich und rutschte sogleich ein wenig näher. »Ich hatte Sehnsucht nach dir und dachte, dass uns ein verlängertes Wochenende guttun würde.«

»Warum?«, fragte ich, aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, dann wollte ich die Antwort gar nicht wissen. Vor vier Monaten noch hatte ich Rotz und Wasser geheult, weil er mich so sehr verletzt und ich ihn so sehr geliebt hatte. Aber heute hatte ich meine Tränen schon verbraucht und fühlte mich im Moment außerstande, irgendetwas anderes als Trauer zu empfinden. Kein Hass, kein gebrochenes Herz. Nichts von alledem. Ausgebrannt und leer.

»Ich liebe dich viel zu sehr, um dich einfach so gehen zu lassen«, sagte er. »Es ist viel zu lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Du hast nicht auf meine Anrufe reagiert. Du hast dich nicht mehr gemeldet. Ich musste dich einfach sehen.«

Ich räusperte mich. Vor wenigen Minuten hatte ich erfahren, dass mein Bruder schwer verletzt im Krankenhaus lag. Dass ich seine Arbeit im Hotel übernehmen musste. Meinen Traum an den berühmt-berüchtigten Nagel hängen sollte … und dann kam Rainer. Mir wurde schwummrig vor den Augen, und mein Mund wurde von einer Sekunde auf die andere so trocken, dass jede Wüste dieser Welt neidisch gewesen wäre. »Rainer. Im Moment passt es wirklich nicht.« Ich griff nach der Wasserflasche, die auf dem hellen Holztischchen neben mir stand, und trank einen kräftigen Zug daraus. Es war sonst nicht meine Art, aus einer Flasche zu trinken, aber heute war alles anders.

Rainer klopfte mit den Fingern auf seinen Oberschenkel. Das machte er immer, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. »Mein Schatz«, sagte er und rutschte vom Sofa. So schnell konnte ich nicht reagieren, da kniete er schon vor mir. Erdboden, bitte geh auf und verschluck mich, dachte ich, aber leider tat sich vor mir kein Loch auf. Das ältere Ehepaar stand nun direkt vor uns, und sie hatte Herzen in den Augen, als sie Rainer vor mir knien sahen. Vermutlich wurden sie gerade in die Vergangenheit zurückversetzt, als der Mann seiner Liebsten einen Antrag gemacht hatte. Wahrscheinlich vor Ewigkeiten. »Ich liebe dich bis zum Mars und wieder zurück. Ich wollte noch bis Sonntag warten, aber du lässt mir keine andere Wahl, als dich jetzt zu fragen, ob du meine Frau werden willst.«

Wie durch Zauberei hielt er plötzlich eine kleine Schachtel in der Hand. Der Diamant funkelte, und das Gold des Ringes glänzte. Unschlüssig sah ich mich um. Die alte Dame nickte und strahlte mich mit ihrem Kukidentlächeln an. Ihr Ehemann tätschelte zufrieden ihre Hand. Und Sigi … ja, Sigi hatte die Hände vor ihrem Mund zu Fäusten geballt, und es sah fast so aus, als würde sie Rainer die Daumen drücken, dass ich mein Jawort geben würde. Die hatten doch alle den Schuss nicht gehört, oder?

»Also, Rainer, derzeit kommt das wirklich ungünstig. Und … ich muss mich erst mal sammeln. Ich habe gerade erfahren, dass Erik einen schweren Unfall hatte und im Krankenhaus liegt.« Ich schob die Ringschachtel von mir weg und stand auf. Rainer wirkte irritiert. Er bekam immer, was er wollte. Nur eben heute nicht.

»Erik? Dein Bruder? Das ist schrecklich«, sagte er und stand auch auf. Die romantische Stimmung, in der er sich noch vor Sekunden befunden hatte, war weggeblasen. »Wieso hast du mir das nicht vorher erzählt?«

Fast hätte ich losgelacht. Vor wenigen Minuten noch wusste ich nicht einmal, dass er im Hotel auftauchen würde, geschweige denn mir in aller Öffentlichkeit einen Antrag machen würde. »Es ist gut, Rainer. Geh einfach auf dein Zimmer, okay? Wir werden beim Abendessen darüber sprechen, ja?« Keine Ahnung, wieso ich das gesagt hatte. Ich wollte ihn faktisch betrachtet gar nicht sehen und schon gar nicht in seiner unmittelbaren Nähe sein. Und dann schlug ich Idiotin ihm ausgerechnet ein gemeinsames Abendessen vor.

»Da freue ich mich jetzt schon drauf. Sagen wir um sieben? Dein Onkel ist ja der beste Koch der Welt, und sein Schwammerlgulasch mit Serviettenknödel ist reinster Gaumensex.« Rainer ging zurück zur Rezeption und drehte seinen Handgepäckkoffer einige Male um die eigene Achse. Dann kam er wieder auf mich zu, legte seine Hand um meine Taille und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. Mein Körper bebte unter seiner Berührung, und ich wand mich aus seinem Griff. »Bis später, Liebste.« Er legte einen bühnenreifen Abgang hin und verschwand mit dem Ping des Liftes, der ihn verschluckt hatte.

Ein leises »Oh« erklang neben mir, und ich begriff, dass die alte Frau sich wohl ein romantischeres Ende erhofft hatte. »Darf ich Ihnen einen Rat geben?«, fragte sie mit ihrer sonoren Stimme. »Prüfen Sie zuerst, ob Ihr Herz wirklich für das seine schlägt. Sie dürfen diesen jungen Mann nicht enttäuschen. Er hat so ein reines Herz.« Natürlich dachte sie das. Sein Herz war für alle offen. Sein Hosenstall auch.

»Ja, das werde ich tun«, antwortete ich und zwang mir ein Lächeln auf die Lippen. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt.«

»Sie sehen Ihrem Vater so ähnlich. Diese dunkelbraunen Augen und auch diese Grübchen an den Wangen, wenn Sie lachen. Wo ist er denn überhaupt?«

»Er ist krank«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Deswegen bin ich da und werde mich um Ihr Wohl kümmern.«

»Und das mit Erik tut mir wirklich leid. Er kommt wieder auf die Beine. Er ist so ein starker junger Mann geworden. Wissen Sie, wir beide kommen schon seit fünfundfünfzig Jahren in Ihr Hotel. Zweimal im Jahr für ein paar Tage. Immer um unseren Kennenlerntag am zweiten Oktober herum und an unserem Hochzeitstag am 19. April. Also morgen vor fünfundfünfzig Jahren haben wir uns das Jawort gegeben, und ich bereue keine Sekunde. Wir haben uns hier kennengelernt, wissen Sie? Ich war hier Zimmermädchen, und mein Mann war für ein paar Tage zu Gast. Es hat zwischen uns zwei sofort gefunkt. Ich war eine der ersten Angestellten Ihres Großvaters. Ja, ich habe sogar das Kennenlernen Ihrer Eltern miterlebt.« Einen Moment leuchteten ihre Augen auf, doch dieses Feuer erlosch sofort. »Es tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen, nachdem sie doch so früh gestorben ist. Das war wirklich unpassend von mir.«

»Meine Mutter … Es passt schon. Sie haben nichts Falsches gesagt. Ich muss jetzt wieder an die Arbeit. Einen wunderschönen Tag Ihnen beiden.« Mit diesen Worten ergriff ich die Flucht und rannte fast schon aus der Lobby hinaus. Ich brauchte jetzt dringend frische Luft. Keine Ahnung, was da heute los war, aber irgendwie schien es wie verhext zu sein. Das Gefühlschaos in mir passte so gar nicht zu mir.

Ich blieb auf der kleinen Terrasse vor dem Hoteleingang stehen, nahm einen tiefen Atemzug, und die Sonne schien mir ins Gesicht. Eine leichte Brise küsste meine Haut, und nur für ein paar Sekunden schloss ich die Augen. Als ich ein Summen hörte, öffnete ich sie wieder, schaute mich um, sah aber niemanden. Verwundert drehte ich mich einmal im Kreis, aber ich war allein. Mein Herz klopfte gegen meine Brust. Schon mehrmals hatte ich so ein Summen vernommen von einer Melodie, die mir bekannt vorkam. Meist half es, einmal tief durchzuatmen, dann verschwand es wieder von allein. Ich schob diese Einbildung auf mein derzeit angespanntes Nervenkostüm, atmete tief durch und blickte gen Himmel. Das Summen verstummte, und ich lenkte meine Gedanken auf etwas anderes. Schwarze Wolken zogen auf, und vermutlich würde es in den nächsten Stunden wieder regnen. Solange es nur bei Regen blieb, war das sehr gut für die Natur. Hauptsache nicht schon wieder so ein Unwetter mit Starkregen, riesigen Hagelkörnern und orkanartigen Sturmböen wie vor einigen Tagen erst. Ich fühlte mich genauso. In dem einen Moment noch fröhlich, und im nächsten brach meine heile Welt wie ein Kartenhaus im Sturm zusammen. Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu sortieren, und richtete meinen Blick auf den weitläufigen Garten, der einige Schritte rechts von mir ans Landhotel anschloss. Direkt neben der Einfahrt. Der Ort war nahezu perfekt für mein Vorhaben. Gedanklich blendete ich schon die mit Holz eingefassten Blumenbeete inklusive der Hochbeete aus. Auch die Beerensträucher schienen in meiner Fantasie nicht mehr existent zu sein. Ich seufzte laut. Würde ich schon bald auf eine kleine Baustelle schauen dürfen? Sollte ich mich wirklich trauen, meinem Vater nicht zu gehorchen?

Ich ging die beiden Stufen von der Terrasse hinunter und schlenderte über die Einfahrt, die als Kreis angelegt war, den schmalen Trampelpfad entlang Richtung Waldrand und kam an der Auffangstation für verletzte Tiere an, die mitunter auch als Streichelzoo diente. Hier hatte sich in den letzten Jahren nicht viel verändert. Die Ställe waren sauber und gepflegt, aber ich sah weniger Tiere als früher. Es gab nur den Hausmeister, der sich um die Tiere gekümmert hatte, während ich nicht da war. Bei meiner Rückkehr hatte ich dies wieder übernommen und ihn tatkräftig unterstützt. Hier war mein Zufluchtsort, wenn mir alles zu viel werden würde. War er schon immer gewesen. Mein Herz erwärmte sich sogleich. Tiere waren die besseren Menschen.

Mehrere einzelne Gehege erstreckten sich wie Strahlen von einer großen Hütte. Ich pflückte einige große Blätter vom Löwenzahn, die im abgegrenzten Wildwiesenbereich wuchsen, und schmiss welche davon zu den Hasen und ins angrenzende Gehege der Meerschweinchen hinein. Die Entenmama beobachtete ich nur, die mit ihren Jungen quakend den Teich ansteuerte, der nur wenige Schritte von dem Gehege entfernt war. Einem der beiden Minischweine, das sofort zum Zaun des nächsten Geheges gerannt war, als es mich gesehen hatte, streichelte ich über das Köpfchen und verfütterte den Rest der Löwenzahnblätter an die beiden. Die einzelnen Gehege waren so angelegt, dass jederzeit die Zaunfelder geöffnet werden konnten. Es gab auch ein Gehege für die verletzten Tiere, das im Moment leer war. Die große Hütte war in verschiedene Bereiche unterteilt, die all den Tieren ihre geeignete Schlaf- und Brutstätte bot. Daran hatte ich lange getüftelt, und erst als es perfekt war, hatte ich den Plan meinem Vater präsentiert, der das Streichelgehege in Windeseile von einem Arbeiter hatte anfertigen lassen. Ich bekam immer noch Herzrasen bei dem Gefühl, als ich die ersten Wildhasen ins Gehege gebracht und gesehen hatte, dass diese sich wohlfühlten und sich von ihren Verletzungen erholen konnten. Ich war zur Tierärztin berufen. Schon als kleines Mädchen hatte ich eine Eule als Haustier. Na, vielleicht nicht so ganz als Haustier. Die Eule lebte im Wald, aber ich war es, die ihren gebrochenen Flügel fixiert hatte.

Mein Telefon unterbrach die mollig warme Stimmung. »Ja?«

»Gwendolin, wir brauchen die Getränke. Wo bist du?« Die männliche Stimme kam mir bekannt vor, aber mir fiel der dazugehörige Name nicht ein.

»Welche Getränke? Wovon sprichst du? Wer ist da überhaupt?«

»Markus. Der Kellner, Barmann, Mädchen für alles? Erinnerst du dich an mich?« Er klang belustigt.

»Ja, klar weiß ich, wer du bist«, antwortete ich schnell. »Du brauchst also Getränke? Sind keine mehr im Lager?«

»Die Einkaufsliste. Hast du die Liste nicht bekommen? Ich hab sie dir heute Morgen als Mail geschickt. Für den Einkauf im Großmarkt. Du weißt schon, drüben in Jennersdorf. Normalerweise schicke ich das immer Erik, aber … Es tut mir übrigens leid.«

»Also, du wusstest auch schon Bescheid über den Unfall von Erik. Mir kommt es langsam so vor, als ob es alle gewusst haben, nur ich nicht.«

»Also, ich …«, sagte Markus, machte eine kurze Pause und fuhr dann fort. »Wenn du es nicht schaffst, zum Großmarkt zu fahren, dann mach ich das. Keine Sorge. Es wäre für mich nicht das erste Mal, dass ich diese Besorgungen mache. Aber Helmut sagte … egal. Soll ich fahren, Gwen?«

»Ja, mach du das bitte. Entschuldige, ich muss mich erst mal reinfinden in das Ganze.« Sehnsüchtig schaute ich auf die Blumenbeete, die in allen Farben zu leuchten schienen. Ich werde meinen Traum nicht aufgeben. Auf keinen Fall. An Träumen muss man festhalten, damit sie eines Tages in Erfüllung gehen.

Ich ließ meinen Blick schweifen. Über die Sonnenterrasse, die zu dieser Uhrzeit gut besucht war. Vorbei an dem Wintergarten, der aufgrund des grünen Daumens meines Bruders eher einem Urwald glich. Die gelbe Fassade des Hotels entlang. Die weißen Fensterrahmen erinnerten mich an Augen. Diese Vorstellung fand ich als Kind schon beängstigend.

Ein kalter Schauder rann mir urplötzlich den Rücken hinab. Ich wurde beobachtet, und die eisigen Blicke brannten förmlich auf meiner Haut. Panisch ließ ich meine Augen über die Fenster huschen, fand aber niemanden. Der Vorhang im mittleren Zimmer im dritten Stock bewegte sich sanft. Aber erkennen … nein, erkennen konnte ich keinen Menschen. Vielleicht war es ein Schatten gewesen, der für Millisekunden hinter dem Vorhang aufgetaucht war. Vielleicht auch nur ein Hirngespinst meiner Fantasie. Ich nahm einen tiefen Atemzug und redete mir selbst gut zu. Auf keinen Fall durfte ich meine Nerven verlieren. Nicht schon wieder. Ich musste stark sein für meinen Vater. Für meinen Bruder. Für unsere auseinanderbrechende Familie.

3

Das Abendessen mit Rainer glich eher einem Spießrutenlauf als einem geselligen Beisammensein. Ich hätte mir gerne noch ein Glas Rotwein gegönnt, aber ich hatte Angst davor, betrunken zu werden und dem Charme meines Ex-Freundes doch noch zu erliegen. Oder etwas Falsches zu sagen, wenn die Zunge lockerer sitzen würde.

Der Speisesaal des Hotels befand sich zwischen dem ersten Stock und dem Keller – im sogenannten Souterrain – und hatte eine beeindruckende Fensterfront, durch die man die Bäume ringsherum sah. Und es kam oft vor, dass wilde Hasen vor dem Fenster vorbeihoppelten oder eine Rehfamilie am Waldrand graste.

Das Restaurant fasste fünfzehn Tische, und auf jedem der Stühle, die mit weißen Stuhlhussen bezogen waren, saßen Gäste. Leise Gespräche wurden geführt. Und hin und wieder hörte ich ein Lachen. Mir war nicht zum Lachen zumute, und ehrlich gesagt hätte ich mir lieber die Bettdecke über meinen Kopf gezogen, als mit Rainer hier zu sitzen und Onkel Helmuts Speisen zu essen. Wobei das Essen wirklich vorzüglich war, nur der Gesprächspartner eben nicht so.

Rainer und ich waren schon einige Male hier im Hotel zu Gast gewesen. Natürlich. Ich hatte oft Sehnsucht nach meinem Zuhause gehabt. Dem einsamen Hotel. Dem Wald, der sich kilometerweit ringsherum erstreckte. Der Ruhe. In Wien hatte ich mit Rainer in einer Wohnung gelebt. Zwar mit Balkon und Dachterrasse, irgendwo im fünften Stock, mit Lift und nach Geld stinkendem Treppenhaus.

»Möchtest du das probieren?«, fragte Rainer und hielt mir seine mit Pilzen gefüllte Gabel hin. Immer, wirklich abends täglich, wenn wir hier im Hotel zu Gast waren, bestellte er sich das Schwammerlgulasch mit Serviettenknödel. Und das war schon in den letzten fünf Jahren so gewesen.

»Nein, danke.« Ich winkte ab und nippte an meinem leeren Weinglas. »Ich muss mich wieder an die Arbeit machen. War nett mit dir.« Es graute mich davor, weiter die Buchungs- und Reservierungslisten der nächsten Wochen durchzusehen. Sigi hatte sie mir vor knapp zwei Stunden auf den Tisch gelegt. Mit einem Lächeln und ihrem Hilfsangebot, das ich ablehnen musste, da sie schon Feierabend hatte und ich sie nicht noch länger mit meinem Unwissen belasten wollte. Ich stand abrupt auf und legte die Serviette, die bisher auf meinem Schoß geruht hatte, auf die weiße Tischdecke.

Rainer sprang so schnell auf, dass sein Stuhl fast umgefallen wäre, hätte der Kellner diesen nicht geistesgegenwärtig festgehalten und wieder ordentlich hingestellt. »Du kannst noch nicht gehen. Du musst unbedingt dein Essen aufessen. Mit Sicherheit hast du seit unserer Trennung drei Kilo abgenommen. Wenn du nicht aufpasst, bist du bald nur noch Haut und Knochen.«

Es stimmte sogar, was Rainer sagte. Ich hatte tatsächlich an Gewicht verloren. Allerdings lag das nicht am fehlenden Essen. Ich aß wie ein Scheunendrescher. Es lag an dem regelmäßigen Sport. Frühmorgens liebte ich es, durch die Wälder zu joggen. Auch im Regen, so wie es heute der Fall gewesen war. Allein der Geruch von nassem Holz erinnerte mich daran, ein waschechtes Landkind zu sein, in der Stadt fühlte ich mich wie Heidi damals bei Klara.

»Ich habe morgen einen Termin mit dem Architekten«, sagte ich. »Wir haben ab Montag eine kleine Baustelle im Garten. Ich werde hier meine Tierarztpraxis bauen lassen.« So bestimmt wie mein Tonfall war, fühlte ich mich leider nicht. Noch immer war ich unsicher, ob ich es wirklich tun sollte. Ich nahm mir fest vor, heute nochmals mit Papa darüber zu sprechen. Er sollte erfahren, wie wichtig es mir war und dass ich meinen Traum niemals aufgeben würde. Natürlich würde ich das Hotel leiten, bis Erik dazu wieder imstande war. Aber danach … danach würde ich mein eigenes Ding durchziehen. Und dafür musste ich jetzt schon meine Vorkehrungen treffen.

»Echt? Du willst hier eine Praxis für Tiere eröffnen? Mitten im Nirgendwo?«

»Es gibt genug Bauernhöfe in der Nähe, die eine gute Tierärztin brauchen. Und wir sind nicht im Nirgendwo, sondern auf dem Land. Umgeben von Wald, und bis zum nächsten Nachbarn sind es halt ein paar Hundert Meter. Aber das kannst du nicht nachvollziehen. Das ist mir klar.« Ich lächelte. Rainer war eben ein Stadtkind und kannte nicht einmal den Unterschied zwischen Heu und Stroh.