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Thomas und Monika: zwei junge Menschen, geprägt durch ihre zwar verschiedene, aber beiderseits schmerzhafte Kindheit. Eine Zeit, in der mangelnde Aufklärung und Entdecker- sowie Freiheitsdrang kollidieren. Eine Liebe, die von vornherein zum Scheitern verurteilt ist? "Hinter dem Horizont" erzählt eine Geschichte zweier Liebender und gleichsam die eines jungen Matrosen und seiner drängenden Sehnsucht, die Welt zu erkunden, um letztlich wohl jene versteckte nach Geborgenheit und Wärme zu stillen. Ein sinnstiftendes Buch voll tiefer Emotionalität, Reflexion und Erkenntnis.
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Seitenzahl: 385
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Irmtraut
Sie träumen von Liebe,
noch recht lebenunberührt –
auch wenn hat dieses
an ihren Seelen schon gerührt.
Sie haben einander
und doch auch wieder nicht;
weil ihr Lebenswandern
den zweien Unterschiedlich’s verspricht.
Was mag die Welt ihnen bringen,
bleibt ihr gemeinsam‘ Dasein bestehn?
Wird das Glück beiden dienen –
welchen Weg solln diese Seelen gehen …
(Carolin Kretzinger)
Schnellboote in der Ostsee
Erste Liebe
Manöver
Sturm im Skagerrak
Über die Treue
Jugend
Monika wird vorgestellt
Ein Staatsbesuch
Verführung
Die Folgen
Liebesglück
Liebesleid
Sehnsucht
Hinaus in die Welt
Der Suez-Kanal
Colombo
Nach Australien
Die Party
In der Südsee
Hawaii
Unendlicher Pazifik
Die Carnival Queen
Abschied
Nach Westindien
Ein Wiedersehen
Schuld und Erinnerung
Es heißt, dass wir die erste Liebe unseres Lebens niemals vergessen. Und wenn es so ist, war es denn dann überhaupt Liebe?
Oder ist es nicht viel mehr so, dass jene Erlebnisse, die wir in den frühen Zeiten unseres Erwachsenwerdens haben, uns gerade deshalb so tief empfinden lassen, weil sie so neu und einmalig sind und das Ich noch so wenig ausgebildet ist?
Lesen wir die Geschichte von Thomas und Monika, zweier Menschen, die bereits so unsagbar viel und doch erst so wenig vom Leben erfahren haben.
Dierk Breimeier
Sie hatten jetzt fast die Mündung der Flensburger Förde erreicht. Durch sein kleines Bullauge konnte Thomas bereits das offene Meer sehen. Den größten Teil der Förde waren ihre Boote geradezu entlanggeschlichen, nun aber gingen sie mit ihren jeweils vier Maschinen auf halbe Fahrt.
Sie, das waren drei Boote des Dritten Schnellbootgeschwaders aus Flensburg. Die Brücke des Bootes war nur halb gedeckt. Auf der Steuerbordseite ihres vorderen, aber gedeckten Teils hatte Thomas seinen Platz. Vor ihm an der eisernen Wand war sein Funksprechgerät angebracht, darunter ein kleines Pult mit dem Funkbuch, in das er alle empfangenen Funksprüche zu notieren hatte. In der Regel stand er mit seinen Kopfhörern auf den Ohren davor, aber es gab auch einen kleinen Klappsitz an der Innenwand der Brücke. Direkt hinter ihm, zwei Stufen höher auf dem offenen Teil der Brücke thronte sein Kommandant auf seinem schwenkbaren Sitz.
Die drei Boote, die jetzt in Kiellinie aus der Flensburger Förde in die Ostsee liefen, nahmen Fahrt auf. Sie ähnelten vielmehr schnittigen Motoryachten als Kriegsschiffen. Ihr schlanker Rumpf mit seinem kühnen, spitzen Steven war auffallend flach und von einer Farbe eines so hellen Graus, dass es schon fast weiß aussah.
Angetrieben wurden diese nicht sehr großen Schiffe von vier Schiffsschrauben und hinter jeder dieser Schrauben saß eine dreitausend PS starke Maschine mit sechzehn Zylindern. Diese vier Maschinen machten das verhältnismäßig kleine Schiff zu einem schieren Kraftpaket.
Aus seinem Bullauge konnte Thomas die letzten Uferstreifen der Förde dahingleiten sehen. Jetzt, kaum dass sie auf der offenen See waren, kam endlich das Kommando, worauf das Schiff scheinbar schon ungeduldig gewartet hatte; denn dieses war ein Renner, ein Vollblut. Ihm lag das langsame dahinschleichen nicht.
„Alle vier Maschinen volle Kraft voraus!“
Jetzt endlich konnte es zeigen, was es konnte. Der lange messerscharfe Steven hob sich aus dem Wasser und der Fahrtwind legte so mörderisch zu, dass man seinen Kopf besser nicht zu weit über den Süll der offenen Brücke steckte. Die Türen zu deren Nock bekam man jetzt nur noch mit allergrößter Kraftanstrengung auf und wenn man den Fehler machte, seinen Kopf allzu weit über das Schanzkleid zu erheben und einen die Gischt der gewaltigen Bugwelle erwischte, tat das so weh, als hätte einem jemand eine Ladung Kies ins Gesicht geworfen.
Die drei Boote schwenkten jetzt aus zu einer auseinandergezogenen Dreier-Formation. Die jeweils vier Schrauben warfen eine so gewaltige Bugwelle auf, dass von hinten gerade noch das kleine Signaldeck und der kurze Mast zu sehen waren. Sie liefen jetzt mit einer Geschwindigkeit von neununddreißig Knoten, das entspricht einem Tempo von etwas über siebzig Stundenkilometern, dem Ziel ihrer Fahrt entgegen, dem Finnischen Meerbusen.
Noch am Abend zuvor war Thomas mit zwei Freunden im „Goldenen Anker“ in Flensburg gewesen. Der Name mochte an alte Zeiten und Hafenkneipen erinnern und vermutlich war sie auch einst einmal eine dieser typischen Hafenkneipen gewesen; der jetzige Besitzer aber hatte sie der neuen Zeit angepasst und ein Tanzlokal daraus gemacht.
Flensburg war vor noch gar nicht so langer Zeit Marine-Stützpunkt geworden. Die Stadt lebte jetzt nicht nur von den vielen Tausenden von Marineangehörigen, auch deren Uniformen mit den schwarzen Flatterbändern an ihren Mützen bestimmten zu einem nicht zu übersehenden Teil das Stadtbild.
Der „Goldene Anker“ befand sich direkt am Innenhafen. Thomas hatte sich von seinen Kollegen überreden lassen, mitzugehen.
„Da kannst du jede Menge Mädchen aufreißen“, hatten sie ihm versprochen, und auch wenn er die Wahl ihrer Ausdrucksweise nicht sonderlich schätzte, natürlich hätte er durchaus gern ein Mädchen kennengelernt.
Die Kollegen hatten nicht zu viel versprochen, denn als sie das Lokal betraten, waren in der Tat bereits auffallend viele Mädels da. Nun, es mochte hier ein wenig provinzieller hergehen als in Hamburg, aber das war sicher kein Nachteil. Im Gegenteil, Thomas schien die Atmosphäre hier sehr viel persönlicher zu sein. Freilich, es gab hier keine Live-Musik, wie er es aus Bremerhaven kannte. Hier tanzte man zur Musikbox und an den Tischen zu beiden Seiten der Tanzfläche tranken die Mädchen Apfelsaft und die Jungens Cola. Alkohol tranken im Grunde nur diejenigen, recht ausschließlich Kerle, deren Interesse nicht so sehr auf das Kennenlernen von Mädchen ausgerichtet war. Diese Spezies nun lümmelte auf den Barhockern am Tresen, nuckelte an ihren Longdrinks und schaute gelangweilt zur Tanzfläche hinüber.
Es herrschte ein schummeriges Dämmerlicht und die drei Freunde sahen sich nach einem Platz um. Hinten links entdeckte Thomas‘ Kumpel Jürgen einen Tisch, an dem drei Mädchen saßen.
Gerade eben hatte die Musik gewechselt. Aus der Jukebox erklang jetzt eine dieser bei Seeleuten so beliebten Schnulzen, in denen von Liebe gesungen wurde. Passend dazu war das Licht ausgegangen und schummeriges Dämmerlicht ließ die zu der Musik Tanzenden gerade noch eben erkennen. Man sah im Grunde nur noch bläulich weiß leuchtende Hemden und Blusen. Über der Tanzfläche hingen zwei, drei dieser Schwarzlicht-Strahler, die gerade in Mode waren und die die Nyltesthemden und Kleider der Leute in ein geisterhaftes Licht tauchten. Es war ein Effekt, der aussah, als würden sich lauter körperlose Kleidungsstücke im ansonsten stockdunklen Raum zum Takt der Musik bewegen.
Thomas hatte lange gezögert und seinen Blick schweifen lassen, bevor er eines der drei Mädchen zum Tanz aufforderte. Seine beiden Freunde hatten ihm zwei bereits vor der Nase weggeschnappt. Diejenige, die übriggeblieben war, schien ihm noch etwas sehr jung. Aber das störte ihn wenig, denn als er sie nun so anschaute, fand er sie viel hübscher als die anderen.
Er lächelte ihr zu und da sie sein Lächeln erwiderte, machte er eine knappe Verbeugung, so wie er es einst in der Tanzschule gelernt hatte. Sie erhob sich und zusammen betraten sie die Tanzfläche. Das Stück aus der Musikbox war gerade zu Ende und als Nächstes folgte:
„Geh‘n sie aus im Stadtpark die Lateeernen, bleibt uns zwei der Sternenschein. Und ich seh‘ auch ohne die Lateeernen Dir ganz tief ins Herz hinein!“
Es war die Edelschnulze schlechthin: Gitte und Rex Gildo.
Als die ersten Töne erklangen, umfasste Thomas die Hüften seiner Tanzpartnerin mit beiden Händen und zog sie an sich. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zusammen wiegten sie sich eng aneinandergeschmiegt zu dieser herzerwärmenden Schnulze aus der
„Wurlitzer“-Box. Es war eher das Ausleben einer ersten leidenschaftlichen Hingabe zweier junger Menschen, als dass man es hätte Tanzen nennen können. Alle machten es so und es war einfach nur schön.
Seine Partnerin war nur wenig kleiner als er. Sie sah wirklich ausgesprochen hübsch aus, mit ihren hochtoupierten Haaren und dem, wie bei einer Primaballerina, weit ausladenden, bis etwa zu den Knien reichenden Röckchen. Thomas wusste, dass die Mädchen bis zu vier oder fünf gestärkte Petticoats darunter trugen. Beim gegenseitigen Enganeinanderschmiegen gab das so einen Widerstand an den Beinen, an den man sich erst gewöhnen musste. Mit dem Parfum hatte es seine Tanzpartnerin vielleicht ein wenig übertrieben und bei Thomas‘ vorsichtigem Versuch, seine Nase in ihren Haaren zu vergraben, setzte ihm ihr vermeintlich literweise auf die hochtoupierte Frisur gesprayter Haarfestiger einen unerwarteten Widerstand entgegen. Das Ganze hatte so etwas Spinnennetzhaftes und es hatte statt verführerisch zu sein, eher die Wirkung eines Erotikkillers.
Ja, dachte er, damit musste er sich wohl abfinden, so war es eben mit der Mode. Andererseits, sie sahen schon verteufelt gut damit aus, die Mädchen. Die hoch aufgetürmten Frisuren, sie hatten so etwas Barockes, gaben die schönen Hälse und niedlichen Ohren frei, und das hatte etwas, dass einem schonmal ein bisschen warm werden konnte. Thomas fand, dass seine Tanzpartnerin sogar ganz besonders niedliche Ohren hatte, ja, sie verlockten ihn geradezu, ihr während des „Tanzens“ ganz zart daran herumzuknabbern. Der junge Mädchenkörper war so wundervoll warm und weich, dass es Thomas ganz komisch wurde. Er küsste sie nun ganz leicht hinter ihrem Ohr und ließ seine Lippen sanft an ihrem Hals hinuntergleiten. Es war wahnsinnig erregend.
Aus dem Kragen ihrer Bluse stieg ihm dabei der winzig zarte Hauch eines Duftes in die Nase, der von den Breitseiten diverser, wenig miteinander harmonierender Gerüche von Haarspray, Deodorant und Parfum kaum wahrnehmbar war.
Es war ein ganz anderer, eher gegensätzlicher, ein leicht herber, aber zugleich höchst verführerischer Duft. Es war der Duft von jungen Mädchen, zart und verlockend. Aber kaum, dass Thomas die ersten Zeichen einer ungestüm aufkeimenden Leidenschaft zu spüren bekam, war das Lied von der romantischen Liebe auch schon zu Ende, und mit ihm schwand fast schlagartig dieses schöne Gefühl einer himmlisch anmutenden Verzauberung.
Das Licht ging an, der Zauber war verflogen, fortgeweht wie von einer plötzlichen Windbö.
„I’m sittin here, la, la, waiting for my ya ya …”,
dröhnte es jetzt aus der Musikbox und alle Tänzer und Tänzerinnen begannen plötzlich wie auf Kommando mit den Armen zu rudern, die Hüften zu schwenken und zu drehen, so als ließe man einen Hulareifen kreisen. Man nannte das Twist und es mochte vielleicht für einen unaufgeklärten Beobachter ein ziemlich albernes Bild abgegeben haben.
Und so war die Zeit schnell vergangen, als Schlag zehn helles Licht anging. Vorbei war es mit dem Tanzen, zumindest für die Unter-Achtzehnjährigen, und die drei Herren der Marine begleiteten ihre Tanzpartnerinnen zu ihrem allerletzten Bus nach Hause, den die drei Mädchen nach einem letzten minutenlangen Knutschen zum Abschied nur widerwillig bestiegen. Thomas war ein wenig überrascht, mit welch unerwarteter Leidenschaft ihn das fremde Mädchen küsste.
Sie kannten sich ja gerade erst seit etwa knapp zwei Stunden.
Inzwischen hatten die drei Schnellboote die Insel Fehmarn fast querab gelassen und schickten sich an, die Lübecker Bucht zu kreuzen. Da geschah es, dass plötzlich der Funk-Gefreite aus seiner Hütte geschossen kam und aufgeregt meldete:
„Funkspruch vom Minensuchgeschwader, fremdes Kriegsschiff am Ausgang der Lübecker Bucht gemeldet. Sein Name: ‚Craig’.“
Sowohl der Kommandant als auch der Erste Offizier stutzten.
„‘Craig‘? Nie gehört, den Namen.“
Plötzlich, man konnte es förmlich an seinem Gesicht sehen, schien dem Kommandanten der Hauch einer Ahnung zu kommen.
„Sagen Sie, Gefreiter Hohmann, buchstabieren Sie doch bitte mal.“
„K-R-A-K E.“
Der Kommandant lachte.
„Mensch, Hohmann, das spricht man doch nicht englisch aus. Das ist ein ostdeutsches Schiff, es heißt ‚Krake’, ein umgebauter Fischdampfer, ein Spionageschiff. Es kommt aus Wismar, aus der Ostzone.“
Alle auf der Brücke Versammelten lachten und es waren nicht wenige, die sich dort aufhielten: Da waren zunächst neben dem Kommandanten der Erste (und einzige) Offizier, Michael, der Rudergänger, und Ralph, der an den vier Maschinentelegrafen saß. Im Signalstand, hinter und knapp einen Meter über ihnen stand der Signalgast und zwei Stufen tiefer Thomas mit seinem Sprechfunkgerät.
Von diesem Tag an hatte Paul Hohmann seinen Spitznamen weg, er wurde nur noch ‚Craig‘ genannt.
Die „Krake“ kam auch bald darauf in Sicht. Das Schiff war von dunkelgrauer Farbe, am Rumpf liefen lange Rostfahnen herunter und gespickt war es mit einem wahren Wald von Antennen.
Die Kommandanten der drei Schnellboote schien nun der Hafer zu stechen. In Formation und mit rauschender Bugwelle liefen sie jetzt auf die „Krake“ zu, um dann, sozusagen im allerletzten Augenblick, wieder abzudrehen. Das Spionageschiff kam ihnen dabei so nah, dass Thomas dessen Alarmpfeifen hören und sehen konnte, wie dessen Besatzung hektisch auf ihre Stationen rannte. Die Schnellboote drosselten abrupt ihr Tempo und fuhren in einem großen Bogen um den ehemaligen Fischdampfer herum.
‚Das hätte auch schiefgehen können‘, dachte Thomas.
Tatsächlich schien dies ein altes Spiel zwischen „Ost“ und „West“, fast schon ein Ritual, was „die da drüben“ allerdings nicht daran hinderte, wütend zu sein. Zu allem Überfluss nahm nun der Kommandant sein Megafon und rief hinüber:
„Dürfen wir vielleicht mit ein paar Eimern Farbe aushelfen?“
Das aber fanden die gar nicht witzig und drohten ihnen mit den Fäusten.
Scheiß Kapitalisten, mochten sie wohl denken, ging es Thomas durch den Kopf.
Ihm war gar nicht wohl dabei, schließlich herrschte Kalter Krieg und „unsere Brüder und Schwestern aus der Zone“, wie sie genannt wurden, waren in Wirklichkeit der Todfeind.
Das schien aber niemandem hier auf der Brücke wirklich bewusst zu sein. Nachdem sie ihren „Spaß“ gehabt hatten, drehten die drei Boote ab und gaben wieder Vollgas.
Ein langer anstrengender Törn stand ihnen bevor und von nun an entlang einer „feindlichen Küste“.
Ein Schiff, das auf dem Meer unterwegs war, machte niemals Pause, es fuhr am Tag und in der Nacht und so lange, bis es sein Ziel erreicht hatte. Deshalb musste seine Besatzung rund um die Uhr auf all den Stationen sein, die nötig waren, ein Schiff in Fahrt zu halten. Aus diesem Grund gab es bereits seit Jahrhunderten und in aller Welt das System der vierstündig wechselnden Wache. Das alles wusste Thomas natürlich, wenngleich er das erste Mal in seinem Leben als ein Angehöriger der Besatzung auf einem Schiff beziehungsweise Boot unterwegs war.
Aber auf einem Schnellboot gab es aufgrund seiner Größe dafür nicht genügend Leute. Hier bedeutete es, dass jeder auf seinem Posten ausharren musste, solange es in Fahrt war. Das galt selbst noch für den Koch, der die Mannschaft all die Zeit über mit heißen Getränken und kalten Schnitten bei Laune zu halten versuchte. Hinzu kam, dass ein großer Teil der Schlafkojen sich vorne im Steven befand und dorthin durfte man während der Fahrt sowieso nicht. Es war bei der Geschwindigkeit und wegen des Fahrens im Verband einfach zu gefährlich.
Von Flensburg bis in den Finnischen Meerbusen waren die Boote trotz ihrer hohen Geschwindigkeit volle zwei Tage und eine Nacht unterwegs. Es war absolut mörderisch. Das stundenlange Stehen im Fahrtwind, das Sitzen am Ruder oder der Aufenthalt im heißen Maschinenraum, dazu das permanente Röhren der vier Hochleistungsmaschinen im Ohr, das machte die Männer auf die Dauer regelrecht fertig.
Zwölf Stunden hielt man das noch gut aus, zu Anfang machte es sogar noch Spaß. Aber dann in stockdunkler Nacht, wo nichts geschah, außer dass die Boote mit einer wahnwitzigen Geschwindigkeit durch die See stoben und die Leute auf der Brücke stundenlang nur auf die zwei kleinen schwachen, blauen Positionsleuchten des Vordermanns starrten, da ging die Zeit einfach nicht voran. Zwei, drei Stunden wurden so zur Ewigkeit.
Ein Blick auf die Uhr: erst Mitternacht!
Dabei hatte Thomas gehofft, es wäre schon sechs Uhr in der Früh. Da halfen auch der Kaffee und die belegten Brote nichts, die der Koch immer wieder servierte. Der Signalgast hatte immerhin nach Einbruch der Dunkelheit seinen Signalstand verlassen dürfen und hielt sich nun bei den anderen auf der Brücke auf, wo der Wind nicht so erbarmungslos an der Kleidung zerrte. Auf dem offenen Teil der Brücke wurde der Wind durch Leitbleche an der Brückenkante über die ganz vorn Stehenden hinweggelenkt.
Thomas, der wie seine beiden Kollegen am Ruder und an den Maschinentelegrafen immerhin ein Stück Dach über sich hatte, wurde es zudem zunehmend langweilig. Im Äther des Sprechfunks war es jetzt auch still geworden. Nur einmal kam ein Anruf der Radarstation Fehmarn, die ihnen die Position eines nicht identifizierten schwimmenden Objektes durchgab. Eines der Boote scherte daraufhin aus der Linie, um nachzusehen, was es damit auf sich haben könnte. Es stellte sich heraus, dass es ein russischer Frachter war, der allerdings recht merkwürdige Kapriolen bei der Beibehaltung seines Kurses gemacht hatte. Vielleicht hatten die da oben auf seiner Brücke ja lediglich etwas zu tief ins Glas geschaut. Bei den Russen wusste man ja nie. Ob sie wohl ahnten, dass sich ganz dicht in ihrer Nähe gerade drei Schnellboote der deutschen Marine befanden?
Die Zeit schlich dahin, Thomas überwältigte Müdigkeit. Zwei- oder dreimal schlief er fast im Stehen ein, wachte aber jedes Mal in dem Augenblick erschrocken auf, als er kurz in den Knien einknickte. Anderen mochte es ähnlich ergehen, aber der Rudergänger musste stets hellwach sein. Er konnte sich nicht den geringsten Schlenker erlauben, die Kollisionsgefahr beim Fahren ohne Licht war allzu groß.
Nach einer Ewigkeit begann es endlich zu dämmern. Jetzt durfte jeder umschichtig für eine halbe Stunde in die warme Kombüse nach achtern und zum Frühstück gehen. Nur für den Kommandanten und seinen Ersten Offizier galt dies nicht.
Dabei hätten sie sich doch auch ablösen können, dachte Thomas. War das zu verstehen? Andererseits setzte sich der Kommandant für die Zeit, da Thomas nach achtern zum Frühstück ging, selber den Hörer des Sprechfunkgerätes auf, um ihn abzulösen. Das fand Thomas recht nobel von ihm und auch der Rudergänger wurde vom Untersteuermann aus dem Kartenraum abgelöst.
Es wurde Tag, die Stunden verstrichen und wieder kam die Nacht. Es war nun die zweite und immer noch ohne Schlaf und nun wurde es noch einmal richtig schlimm. Sie waren jetzt so übermüdet, dass sie nicht einmal mehr einnickten. Eine Art von Überreizung hatte sich aller bemächtigt. Es war fast noch schlimmer zu ertragen.
Angekommen in ihrem Zielgebiet wartete dort bereits das Versorgungsschiff auf sie, ein sogenannter Tender. Die drei Schnellboote des Geschwaders, die vorher dieses Seegebiet überwacht hatten, machten sich nun kurz nach dem Eintreffen der Ablösung auf den Heimweg. Stattdessen gingen nun der „Leopard“, der „Panther“ und der „Löwe“ längsseits an den Versorger. Als alle drei Boote gut vertäut waren, kletterten die völlig Übermüdeten die Luke zu ihren Kojen im Bug und im Heck hinunter, fielen todmüde auf die Matratzen und waren im selben Moment auch schon eingeschlafen.
Hier im Eingang zum Finnischen Meerbusen sollten die Boote nun drei Wochen lang Streife fahren und die „feindliche“ Küste beobachten.
Die ganze Zeit über waren sie in Kontakt mit den Radarstationen von Fehmarn und Dahme, die ihnen alle nicht identifizierten Objekte auf ihren Radarschirmen meldeten und sie im Bedarfsfall baten, einmal „nachzuschauen“. Zu diesem Zweck fuhren die drei Boote abwechselnd rund um die Uhr in dem Seegebiet Streife, wobei ein jedes acht Stunden unterwegs war. Das war natürlich im Vergleich zu der Hinfahrt gut auszuhalten, aber Thomas wusste nur zu genau, dass nach Ablauf der drei Wochen wieder der sechsunddreißig Stunden dauernde Trip nach Hause auf ihn zukam. Und dieses Mal fiel es ihm noch schwerer.
Als die drei Schiffe aber endlich am Morgen nach der schrecklichen, zweiten durchwachten Nacht in die Flensburger Förde einliefen, schien es, als wären plötzlich alle wieder putzmunter. Das täuschte jedoch gewaltig. Die Besatzung brachte es eben gerade noch fertig, die Boote nebeneinander an der Pier festzumachen und wankte zu ihren Unterkünften im Stützpunkt. Kaum, dass sie ausgezogen, oder nicht, waren, fielen sie in ihre Kojen und schliefen wie die Steine.
Thomas erwachte gerade noch rechtzeitig, um noch etwas vom Frühstück abzubekommen und pünktlich um neun auf seinem Schiff zur Musterung zu erscheinen. Vorher hatte er noch schnell die Post durchgesehen, die sie inzwischen bekommen hatten. Es war nicht viel, ein Brief vom Postscheckamt, einer von seiner Mutter und ein weiterer von seiner Schwester. Aber es befand sich noch ein vierter dabei. Er war rosa und die Adresse in einer fast kindlichen, weiblichen Handschrift. Thomas hob ihn hoch, um daran zu schnüffeln. Nein, er hatte sich nicht getäuscht, der Brief duftete zart nach irgendeinem Parfüm. Er ahnte schon etwas. Er drehte ihn herum. „Monika Höfner“ stand darauf, aus Holnis. Ihn las er nun als Erstes. Ja, es war ein Liebesbrief und er war von seiner Tanzpartnerin aus dem „Goldenen Anker“. Sie würde so gern seine Freundin sein, schrieb sie, und: „Wenn ich dir nicht so jung bin.“
‚Oje!‘, dachte Thomas, ‚nicht einmal richtig deutsch kann sie!‘
Das hatte ihm gerade noch gefehlt. In einer Aufwallung knüllte er ihn zusammen und warf ihn in den Papierkorb.
Als er sich wenig später auf seinem Schiff meldete, hatte er ihn schon fast wieder vergessen.
Da heute Sonnabend war, wurde nach der langen und, wie er fand, anstrengenden Reise nur noch Reinschiff gemacht, das hieß, die Wohndecks wurden aufgeräumt und das Deck sowie die Aufbauten mit dem Schlauch abgespritzt und vom Salzwasser befreit, und dann war Wochenende.
Der Himmel war bis auf ein paar malerisch weiße Quellwolken blau und die Sonne knallte vom Himmel.
„Wollen wir nicht für den Rest des Nachmittages an den Strand gehen?“, schlug Michael vor.
„Gute Idee!“, stimmte Thomas zu.
Michael war Rudergänger auf ihrem Boot, dem „Panther“, und pflegte, während sie auf See unterwegs waren, etwa zwei Meter neben ihm am Steuerruder zu sitzen. Zwischen ihnen ging es drei Stufen hinunter zum Kartenhaus, dessen Tür während der Fahrt stets offen stand.
Ihre Unterhaltung während der langen Stunden auf See beschränkte sich allerdings auf den Austausch eines Mienenspiels. Sie hatten es im Laufe der Zeit darin zu einer Perfektion gebracht, sodass eine Nähe entstanden war, die mit der Zeit zu einer Art Freundschaft geführt hatte. So hatten sie es sich angewöhnt, ihre Unternehmungen außerhalb ihres Dienstes gemeinsam zu machen. Als Dritter gesellte sich gelegentlich noch Ralph dazu, der noch etwas weiter weg am Maschinentelegrafen saß.
Der Stützpunkt hatte ein eigenes etwa fünf- bis sechshundert Meter langes Stück Strand. Er lag zwischen dem Marinehafen und der Offizierschule Mürwick. Sie konnten sich also bereits auf ihrem Zimmer die Badehose anziehen, ein paar Sachen zusammenpacken wie Handtuch, Sonnenbrille, Sonnenöl und vielleicht auch ein Buch. Alles in allem war das Leben hier im Stützpunkt ganz angenehm, aber dennoch waren sie immer aufs Neue wie elektrisiert, wenn es wieder hinausging. Diese unmittelbare Auseinandersetzung ihres kleinen Bootes mit all den Launen der See gefiel ihnen. Unter den Besatzungen all der anderen Schiffe, den Zerstörern und den Minensuchern, fühlten sie sich wie eine Elite. Sie waren die wirklichen, die echten Seeleute und das ließen sie die anderen auch spüren.
Am Strand war seltsamerweise so gut wie nichts los. Sie beide waren fast die einzigen Badegäste. Sie sprachen wenig miteinander, lagen entspannt in der Sonne oder schwammen einige Mal im Wasser der Förde, bis die Sonne sich anschickte, sich langsam dem Abend zuzuneigen. Da erst packten sie ihre Sachen, um, nachdem sie das Mittagsessen schon hatten ausfallen lassen, wenigstens das Abendessen nicht zu verpassen.
„Kommste mit in den Anker, heut Abend?“, fragte Michael, während sie ihre Handtücher aufrollten.
„Och ja, warum eigentlich nicht“, stimmte Thomas zu.
Als Dritter hatte sich ihnen dann wie so oft Ralph angeschlossen. Als sie gegen acht den „Goldenen Anker“ betraten und sich umschauten, sahen sie hinten an einem Tisch unweit der Tanzfläche bereits die drei Mädchen sitzen.
„Ach du Scheiße!“, entfuhr es Thomas halblaut, er hatte den Liebesbrief völlig vergessen.
Als sich sein Blick mit dem einen der Mädchen kreuzte, wie war doch gleich ihr Name, sah er einen kurzen Anflug von Schreck, oder war es nur Verlegenheit, in ihren Augen.
‚Monika!‘ schoss es ihm durch den Kopf.
Im gleichen Moment glitt ihr Blick auch schon zur Seite. Sie wurde puterrot im Gesicht. Seine beiden Freunde bekamen natürlich nichts von alldem mit und mit einem allgemeinen großen Hallo und einer flüchtigen Umarmung nahmen alle Platz. Thomas indes trat mit einem verlegenen Lächeln zu Monika, die als Einzige sitzen geblieben war. Er reichte ihr die Hand.
„Hallo Monika!“, begrüßte er die nicht wenig Verlegene und ließ sich neben ihr nieder. Es waren noch nicht viele Gäste im Lokal und die Musikbox schwieg.
Und so entspann sich sehr bald eine muntere Konversation zwischen ihnen. Thomas nahm jedoch nur wenig an ihr Teil. Er nutzte vielmehr die Zeit, um Monika unauffällig zu mustern.
‚Mein Gott‘, dachte er, ‚sie ist wirklich noch recht jung.‘ Monika indes nahm auffallend lebhaft an dem Gespräch der anderen teil.
‚Sie versucht, ihre Verlegenheit zu überspielen‘ vermutete Thomas. ‚Ihr Gesicht hat etwas sehr Weiches, fast noch Kindliches. Nicht jedoch ihre Augen.‘
In ihnen lag ein Ausdruck, Thomas konnte ihn zunächst nicht deuten. Er wirkte wie der Blick eines jungen Menschen, der zu früh die Schlechtigkeit anderer Menschen erlebt, aber seine Träume dennoch nicht verloren hatte. Irgendetwas löste es in Thomas aus. Er fühlte sich ihr plötzlich sehr viel näher.
Er hatte mit ihr, seit er hier Platz genommen hatte, noch nicht ein einziges Wort gewechselt. Dennoch schien sie zu spüren, dass etwas in ihm vorgegangen war, denn plötzlich sah sie ihn direkt an. Sie wirkte für einen kurzen Moment überrascht von der Wärme seines Blickes. Aus einem Impuls heraus legte er ihr seine Hand auf den Arm und drückte ihn sanft. Da glitt ein Lächeln über ihr Gesicht.
Entschlossen erhob er sich jetzt, und während er zu der Musikbox hinüberschlenderte, kramte er einige Münzen aus seiner Tasche. Er wählte ein paar Titel, drehte sich um, mit vier fünf Schritten war er zurück an ihrem Tisch und mit einer eleganten Verbeugung, ganz im alten Stil, forderte er Monika zum Tanz auf. Schon als die ersten Töne aus der „Wurlitzer“ erklangen, folgten ihnen nun auch andere Paare.
Thomas hatte ganz bewusst einige Schnulzen gedrückt. Zu Hause bei seinen Eltern waren diese verpönt, aber wenn er sich auch ihrer Trivialität bewusst war, heimlich und in ganz bestimmten Situationen liebte er sie. Und in genau so einer Situation war er jetzt. Der Barkeeper hinter seinem Tresen blickte kurz zu den Tanzenden hinüber und reagierte. Das Licht verlöschte.
Wieder einmal war nur noch das Schwarzlicht an, das die weißen Nyltest-Hemden, Blusen und Kleider der Gäste zum Leuchten brachte. Die Tanzfläche hatte sich inzwischen sehr schnell gefüllt.
Wie schon bereits beim letzten Mal schmiegte sich Monika eng an Thomas an. Er neigte sein Gesicht zu ihr hin und wieder genoss er das herrliche Gefühl, ihre zierliche Ohrmuschel an seinen Lippen zu fühlen.
Was war mit ihm geschehen? Er erkannte sich nicht wieder. Seine Sinne erinnerten sich an den betörenden Duft, der trotz ihrer nicht eben geringen Parfümierung so zart aus dem Kragen ihrer Bluse gewichen war, und wie zuvor tasteten sich seine Lippen und Nase an ihrem Hals hinab. Beide hatten sie ihre Umwelt völlig vergessen. Aber Thomas wusste, er hatte drei Titel gewählt, und ihr Traum dauerte eben diese drei Titel lang. Für die Dauer dieser drei Musikstücke blieb für sie die Welt stehen.
„Little Richard“, der „most crazy“ Rock’n‘Roll-Sänger, beendete ziemlich abrupt ihren Traum. Flackerndes buntes Licht verwandelte die Szene und Thomas zog seine Tanzpartnerin mit sich zurück zu ihrem Tisch. Monika rückte ihren Stuhl dichter an ihn heran und er fasste ihre Hand. Für eine Unterhaltung war es zu laut, aber in ihrem gemeinsamen Schweigen lag keine Verlegenheit mehr.
‚Das ging jetzt aber schnell‘, dachte Thomas. Ein etwas ungutes Gefühl begann ihn zu beschleichen. ‚Mein Gott, ich kann mich doch nicht mit einem Schulmädchen einlassen.‘ War sie überhaupt schon sechzehn?‘
Im gleichen Augenblick beugte er sich zu ihr herunter.
„Bist du eigentlich wirklich schon sechzehn?“, fragte er sie, dicht an ihrem Ohr.
„Natürlich!“ Sie schien beleidigt. „Sonst würden die mich hier doch gar nicht reinlassen!“, setzte sie noch hinzu.
‚Na, hoffentlich ist es so‘, zweifelte er, erhob sich und zog sie mit sich auf die Tanzfläche.
Sie konnte deutlich besser Rock‘n‘Roll tanzen als er selber und Thomas begrüßte es im Stillen, als zur Abwechslung mal ein Twist kam. Im Grunde hielt er diese Art zu tanzen für albern, aber es war das Beste, was er in dieser Situation tun konnte. Und als danach wieder ein langsames Stück kam, nahm er Monika an der Hand und verließ mit ihr die Tanzfläche.
Nun endlich gab es eine Gelegenheit, ein paar weitere Worte mit ihr zu wechseln. Er erinnerte sich, dass er sie das letzte Mal mit seinen Freunden zum Bus gebracht hatte.
„Wohnst du in Glücksburg?“, fragte er Monika nun.
„Nicht direkt“, entgegnete sie ihm, „ich wohne in Holnis, aber ich gehe in Glücksburg zur Schule.“
‚Also doch‘, dachte er, ‚ein Schulmädchen!‘
„… Auf die Realschule, zehnte Klasse“, fuhr sie fort.
‚Realschule?‘, staunte er. Und dann macht sie solche Fehler in der Grammatik?‘
Er war nur wenig „beruhigt“. Auf was hatte er sich hier eingelassen ... Doch dann haderte er weiter mit sich: ‚Sie ist schon verteufelt hübsch‘, und widersprach sich nach einer kleinen Pause: ‚Wenn sie sich nur nicht so aufdonnern würde – aber das tun sie ja alle hier, besonders die vom Dorfe.‘
Thomas kam aus Hamburg und da war diese seltsame Jungmädchenmode lange vorbei.
Jetzt gesellten sich auch die zwei anderen Paare wieder zu ihnen. Neue Getränke wurden geholt, die Mädchen tranken Apfelsaft, die Männer Bier, Thomas als Einziger trank Cola.
Als die Uhr schließlich auf zehn ging, brach die Gruppe auf. Die Mädchen durften den letzten Bus nach Glücksburg nicht verpassen. Dazu kam, dass um zehn Uhr ja ohnehin alle unter achtzehn Jahren das Lokal verlassen mussten.
Wie alt mochten die anderen beiden sein, rätselte Thomas im Stillen, zumindest eine von ihnen sah aus, als wäre sie schon achtzehn, vielleicht sogar beide. Ihm selber fehlten nur vier Monate zu zwanzig und der Grund, warum er sich zur Marine gemeldet hatte, war, dass er von zu Hause wegwollte. Es war für ihn eine Art Flucht gewesen und in vier Jahren, wenn seine Dienstzeit vorüber war, würde man weitersehen. Er machte sich keine Sorgen.
Der Bus stand bereits abfahrbereit, als sie an der Haltestelle eintrafen.
‚Ob ich sie wohl zum Abschied küssen soll?‘, fragte sich Thomas zaudernd.
Aber Monika enthob ihn dieser Frage, indem sie ihn mit beiden Händen umschlang und ihn an sich drückte. Da konnte er gar nicht mehr anders und er drückte ihr seine Lippen auf ihren leicht geöffneten Mund. Er spürte eine überraschende Energie in Monikas Kuss, dennoch gab er ihren Lippen nur zögerlich nach.
„Bis zum nächsten Mal!“, riefen sie alle, winkten noch einmal, bevor sich die Tür hinter ihnen schloss und der Bus von dannen fuhr.
In der kommenden Woche blieben die Boote im Hafen. Für die Besatzung bedeutete das mehr oder weniger langweilige Bordroutine. Wenn er nicht gerade Wache hatte, war für Thomas um siebzehn Uhr Feierabend. In der Regel aß er noch in der Kantine zu Abend und fuhr dann mit der Straßenbahn in die Stadt. Niemand blieb freiwillig im Stützpunkt, wenn er frei hatte. Er schlenderte dann gewöhnlich ziellos durch die Straßen und Gassen des Städtchens, schaute sich in den Schaufenstern schöne Sakkos an, die er sich nicht leisten konnte, kehrte auch mal irgendwo ein oder ging ins Kino. Er ging überhaupt recht oft ins Kino. Seine Freunde hingegen besuchten fast jeden oder jeden zweiten Abend Tanzlokale wie den „Goldenen Anker“. Die Wirtsleute der Stadt hatten sich mit den Jahren auf die Gewohnheiten der jungen Leute von der Marine eingestellt und fast jede ehemalige Schankwirtschaft besaß inzwischen eine Musikbox und eine kleine Tanzfläche. Dort traf man sich dann Abend für Abend und flirtete mit den Mädchen.
Thomas lag das nicht so, dieser tägliche Zug durch die Kneipen. Er hatte das Pech, noch keine feste Freundin in der Stadt zu haben. Aber hatte er nicht gar schon eine? Er tat sich ein wenig schwer mit alldem. Dennoch, seit dem letzten Sonnabend dachte er oft an Monika. Warum hatte er sich nicht für den kommenden Samstag fest mit ihr verabredet? Es war vielleicht doch ein wenig dumm von ihm, nun jeden Sonnabend auf gut Glück den „Goldenen Anker“ zu besuchen, in der Hoffnung, dass Monika auch wieder da sein würde. Aber immerhin wusste er den Ort, wo sie wohnte, und er besaß ein Auto. Er hatte sich nämlich Anfang des Jahres einen acht Jahre alten kleinen Fiat angeschafft.
Genau bis zum Donnerstag hielt er es aus und an diesem Tag setzte er sich, ohne sich noch groß mit Abendessen aufzuhalten, in seinen Fiat und fuhr auf einfach los, Richtung Holnis. Eine Adresse hatte er zwar nicht, aber er dachte, dass es doch in solch einem kleinen Nest möglich sein sollte, durch irgendeinen Zufall auf Monika zu stoßen. Allerdings, so ganz sicher war er sich immer noch nicht, ob er sie überhaupt als feste Freundin haben wollte.
Ihr Liebesbrief geisterte ihm immer noch im Kopf herum: „Wenn ich dir nicht so jung bin“. Aber er wusste ja nun, dass sie zur Realschule ging. Mehr hatte auch er nicht zu bieten. Warum also der Dünkel? Es könnte ja eine ganz einfache Erklärung dafür geben. Sie war halt ein wenig durcheinander oder besser noch, aufgeregt gewesen. Vielleich wollte sie schreiben: Wo ich doch noch so jung bin. Sie lebte zweifellos in dem Glauben, für eine Beziehung mit einem Zwanzigjährigen noch zu jung zu sein, und das stimmte möglicherweise sogar. Ihre Freundinnen waren ja beide älter.
Aber trotz allem, er wurde den Gedanken an Monika nicht los. Warum musste es gerade sie sein? Gab es nicht genug andere Mädchen? Und doch! Sie hatte irgendwie etwas, das ihn mit aller Macht zu ihr hinzog. Aber war er nicht vielleicht völlig verrückt? Einfach so loszufahren, zu dem Ort, in dem sie wohnte, und nicht einmal die Straße zu kennen?
Hin- und hergerissen zwischen Verstand und Gefühl war er inzwischen durch Glücksburg gefahren und näherte sich Holnis. Er kannte Holnis, aber nur von der Wasserseite. Es war eher eine langgezogene, bewohnte Halbinsel als ein Ort. Wenn sie mit dem Geschwader unterwegs zum Meer waren, änderten sie an dieser Stelle immer ihren Kurs. Die Flensburger Förde beschrieb hier einen rechtwinkligen Knick. Ihr Kommandant hatte bei einer ihrer Fahrten gesagt, dies sei Deutschlands nördlichstes Kap.
Thomas grinste plötzlich still vor sich hin: Sein Kap der guten Hoffnung, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Wie passend!
Wie er seinen Fiat so durch die schmalen Sträßchen lenkte, erstaunte ihn nun doch: Es gab hier deutlich mehr Häuser, als er erwartet hatte. Thomas wusste ja, dass es ein beliebter Badeort war, mit einem der schönsten Strände hier oben im Norden.
Langsam und kreuz und quer fuhr er durch schmale Straßen.
‚Verrückte Idee!‘, schalt er sich selber.
Es waren reichlich Menschen unterwegs: Urlauber, Familien mit Kindern, mit Badesachen bepackt, Gummibooten, Sandschaufeln.
Am Ende folgte er der Straße, die bis zur Spitze der Halbinsel führte. Er wusste dort oben ein Naturschutzgebiet. Je weiter er nach Norden kam, desto spärlicher wurden die Spaziergänger. Kurz vor dem Ende des Weges, er hatte gerade den Leuchtturm passiert, überholte er ein junges Mädchen, das mit seinem Hund spazieren ging.
Nun war er ganz am Ende des Weges angelangt. Bevor er seinen Wagen wendete, hielt er kurz an.
„Blödsinnige Idee!“, schimpfte er mit sich selber halblaut. Aber, nun gut! Er legte den ersten Gang ein, um zurückzufahren.
‚Ich kurve noch einmal durch das Wohnviertel und dann fahre ich zurück nach Flensburg‘, beschloss er.
Auf dem Rückweg kam ihm das Mädchen mit dem Hund entgegen und er verlangsamte noch mehr seine Fahrt, um sie nicht zu belästigen. Thomas lächelte ihr freundlich zu, und dann stieg er plötzlich voll auf die Bremse.
Das Mädchen war Monika!
Sie trug ihre glatten zurückgekämmten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen- gebunden, deshalb hatte er sie nicht gleich erkannt.
Er beugte sich über den Beifahrersitz und kurbelte nicht ohne Mühen das Fenster herunter.
„Hallo Monika!“, rief er ihr zu und nahm wahr, wie sich ihr erstauntes Gesicht in ein Lächeln verwandelte.
„Thomas! Was machst du denn hier?“
„Ich wollte dich besuchen.“
Monika blickte einmal nach vorn und einmal nach hinten und dann öffnete sie entschlossen die Autotür.
„Warte!“, meinte sie und klappte, ohne noch etwas zu sagen, den Beifahrersitz nach vorn.
„Dina, hopp!“, kommandierte sie und der kleine schwarze Pudel sprang nach hinten ins Auto. Dann setzte sie sich neben Thomas und schlug die Tür zu.
„Kannst du ein Stück zurückfahren?“, wandte sie sich an ihn.
Der tat, wie ihm geheißen, bis sie endlich „Stopp“ rief.
Nun sah es auch er: Rechterhand zweigte ein Weg ab.
„Fahr bitte ein Stück hier hinein“, bat sie. „Da kommt gleich ein kleiner Platz, wo wir halten können.“
Thomas fuhr nun langsam weiter und als sie kurz darauf einen ringsum mit Büschen gesäumten Platz erreichten, fuhr er einen kleinen Bogen, hielt und stellte den Motor ab.
„Muss ja nicht jeder sehen, dass ich mich hier mit fremden Männern treffe“, meinte Monika scherzend.
„Erzähl, wie kommt es, dass du auf einmal hier bist?“
Thomas sah ihr nun direkt ins Gesicht, und als er bemerkte, wie ihre Augen glücklich leuchteten, sagte er: „Ich hatte Sehnsucht nach dir.“
Es stimmte ja, musste er sich eingestehen, auch wenn er zunächst voller Zweifel gewesen war.
Beide blickten sich nun lange schweigend an, forschten jeweils im Gesicht des anderen.
Schließlich beugte sich Thomas, ohne etwas gesagt zu haben, weit über sie hinüber, um nach der Fensterkurbel zu greifen.
„Wart“, meinte er, „ich will nur das Fenster etwas weiter schließen.“
Ihre Gesichter kamen sich dabei so nahe, dass ihre Augen nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Er fühlte ihre Wärme und ihr Duft ließ ihn erschauern.
Und ganz plötzlich, ohne dass sich einer von ihnen spürbar gerührt hätte, berührten sich ihre Lippen. Monika schlang beide Arme um seinen Hals und von einem spontanen und unbändigen Verlangen getrieben, saugten sich ihre Lippen förmlich aneinander. Thomas fühlte ihre Zunge geradezu gierig in seinen halbgeöffneten Mund eindringen.
Es gab jetzt nur noch sie beide auf dieser Welt. Heftig durch ihre Nasen schnaufend wanden sich ihre Zungen umeinander.
Thomas hätte hinterher nicht einmal sagen können, ob er von diesem so plötzlich über ihn hereinbrechenden Gefühl überrascht gewesen war, oder nicht. Er hatte etwas dergleichen noch nie erlebt. Es war einfach so über sie gekommen.
Die Zeit blieb für sie stehen und endlich, es war tatsächlich fast eine halbe Stunde vergangen, da sie schließlich heftig keuchend voneinander abließen.
„Ich muss nach Hause“, brachte Monika immer noch ganz außer Atem heraus.
Thomas schwieg. Widerstrebend trennten sie sich. Monika öffnete die Seitentür, stieg aus, rief ihr Hündchen und knallte die Tür hinter sich zu. Dann kam sie um das Auto herum und beugte sich zu seinem geöffneten Fenster hinunter.
„Bis Samstagabend!“, verabschiedete sie sich mit strahlenden Augen.
Dann drehte sie sich um, rief ihren Hund zu sich und ging fort.
Thomas blickte ihr fast ungläubig hinterher.
‚Was zum Teufel war das da eben gerade?‘, staunte er. Monika drehte sich noch einmal zu ihm um.
„Übrigens“, rief sie, „ich bin jeden Tag um diese Zeit hier unterwegs!“
Thomas sah ihr weiter nach, bis sie um die Ecke verschwunden war. Dann stieg er aus, folgte einem Pfad, der hier weiterführte, bis er schließlich oben am Steilufer ankam. Dort stand er lange Zeit und blickte sinnend über die weite Wasserfläche der Förde.
Am Montagmorgen war es dann so weit: Im Minutentakt ließ ein Boot nach dem anderen seine vier Maschinen an, um sie warmlaufen zu lassen. Ein zunehmendes Röhren erfüllte die Luft über dem Hafen. Das Geschwader, bestehend aus allen zehn Booten, machte sich bereit, um zu einem großen NATO-Manöver in die westliche Ostsee auszulaufen.
Auf der freien See würden Schnellboote aus Dänemark, Norwegen und England zu ihnen stoßen. Die Dänen nahmen teil mit sechs Schnellbooten und ihrem Versorgungsschiff „Valkyrien“, die Norweger kamen mit fünf von ihren kleineren Küstenschnellbooten, die speziell für ihre Fjorde entwickelt worden waren. Nur die Engländer beteiligten sich lediglich mit zwei Booten. Die allerdings hatten es in sich, wie Thomas später noch erfahren sollte. Dazu kamen deren eigener Tender, ein Tanker und zwei Schlepper, die die Aufgabe hatten, eine Zielscheibe hinter sich herzuschleppen.
Das Manöver war für drei Wochen geplant und sollte aus drei Teilen bestehen: der erste im Kattegat, Teil zwei in den norwegischen Fjorden und der dritte schließlich in der Nordsee. Und das Besondere an alldem war, dass nach Beendigung eines jeden Teils ein offizieller Staatsbesuch in den jeweiligen Hauptstädten der beteiligten Nationen geplant war, sofern jene am Meer lagen. Sie hießen: Kopenhagen, Oslo und für die Bundesrepublik Hamburg. Hamburg war zwar nicht die Hauptstadt der Bundesrepublik, aber Bonn lag ja nicht am Meer. London indes wurde nicht besucht. Das war schade. Sollte es vielleicht daran liegen, dass die Engländer nur mit zwei Booten teilnahmen? Thomas wusste es nicht. Auf jeden Fall war er voller Aufregung bei der Aussicht auf dieses Erlebnis. Schiffe wurden nicht gebaut, um in den Häfen zu liegen. Sie wollten hinaus auf See und ihre Besatzungen selbstverständlich auch. Dass es sich hierbei um Kriegsschiffe handelte und nicht um Frachtschiffe, fiel hier für die Beteiligten nicht ins Gewicht. Es war wie ein Spiel, absolut niemand, na ja, vielleicht bis auf die Offiziere, dachte dabei an Krieg.
Thomas war bis auf die kleine dänische Stadt Frederikshavn, die die zweite Heimat ihres Geschwaders war, noch nie im Ausland gewesen. Er freute sich auf Kopenhagen und auf Oslo und ein Staatsbesuch in Hamburg, seiner Heimatstadt, war etwas ganz Besonderes für ihn. Sein Bruder würde kommen und ganz sicher auch der Vater. Er hoffte ebenso auf seine Mutter und die Schwester.
Jetzt löste sich ein Schiff nach dem anderen von der Mole und schwenkte mit röhrenden Maschinen in den Fjord ein. Ein letzter Blick zurück war Thomas ja verwehrt. Sein kleines Bullauge zeigte nach vorn, aber zum ersten Mal, seit er bei der Marine war, hatte er das Gefühl, etwas zurückzulassen.
Er dachte an Monika. Gleich am nächsten Tag nach ihrem Treffen in Holnis, als es wie der Ausbruch eines plötzlichen Sturmes über sie beide gekommen war, hatte es ihn wieder dorthin gezogen.
„Übrigens, ich bin jeden Tag um diese Zeit hier unterwegs“, hatte sie ihm zum Abschied ja zugerufen und wie am Tag zuvor hatten sie eng aneinandergeschmiegt in seinem kleinen Fiat gesessen, ihr kleiner Pudel auf dem Rücksitz, um sich ein weiteres Mal dem Sturm ihrer Gefühle hinzugeben. Vielleicht hatte dieser nicht gar so lange wie beim ersten Mal in ihnen getobt, denn anschließend waren sie noch ein kurzes Stück Hand in Hand, mit dem Hündchen, oben auf dem Steilufer spazieren gegangen. Thomas hatte ihr erzählt, dass er am übernächsten Tag für drei Wochen unterwegs sein würde.
Monika war daraufhin still geworden. Würde der kurze Rausch, den sie miteinander erlebt hatten, solange halten?
Die erste Woche beschäftigten sich die drei internationalen Flotten mit Schießübungen. Natürlich, dafür war ein Kriegsschiff ja da, wozu hatten sie sonst ihre Kanonen? Und vor allem Torpedos, denn die Hauptwaffe der Schnellboote waren ja die Torpedos.
Zu diesem Zweck zog einer der Schlepper eine schwimmende Zielscheibe hinter sich her. Die Leine war dabei, aus Gründen der Sicherheit für den Schlepper, so lang, dass man sie nicht einmal mehr sehen konnte, so tief tauchte sie bei ihrer Länge ins Wasser. Und irgendwo, weit hinten, so weit, dass man denken konnte, er gehörte gar nicht mehr dazu, konnten die Leute auf der Brücke des „Panther“ den Schlepper sehen. Sein dänischer Kapitän war offensichtlich sehr klug und schien den Schießkünsten nicht sehr zu trauen, was, wie sich dann herausstellte, auch sehr berechtigt war.
Die unterschiedlichen Formationen der Boote bei ihrer Zielfahrt, und ihrem Wechseln bei voller Fahrt, war im Grunde den Formationen von Kampfjets am Himmel nicht unähnlich. Wegen ihres geradezu wahnwitzigen Tempos war das alles höchst riskant und hatte schon häufig zu Karambolagen geführt.
Für die Nacht suchte sich das Geschwader einen idyllischen Ankerplatz irgendwo in der Dänischen See. Im Gebiet rund um den „Lillebælt“ gab es äußerst malerische Buchten.
Wenn die Schiffe dort eintrafen, lag ihr Tender jedes Mal bereits dort vor Anker und die Boote gingen mit jeweils fünf Booten an jeder Seite an ihm längsseits. Es hatte etwas von einer Henne, die ihre Küken für die Nacht um sich scharte.
Am Abend saßen alle noch eine Weile an Deck, tranken bei fröhlicher Unterhaltung ein Bier oder träumten nur so vor sich hin. Das Meer war nachtschwarz und von ferne leuchteten die Lichter der Stadt Ærøskøbing herüber, die sich irrlichternd im Spiel der Wellen spiegelten. Das waren romantische Stunden für die Mannschaft und manch einer träumte wohl auch von seiner Liebsten im Hafen oder zu Hause in seiner Heimatstadt.
Thomas gehörte ebenfalls eher zu den Träumern. Das Leben auf See, so hatte er es sich gewünscht, als er von zu Hause fortgegangen war. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich völlig frei und auch er träumte von seiner Liebe im Hafen.
Seemannsromantik!
Von Liebe indes konnte bei ihm vielleicht noch nicht wirklich die Rede sein. Er kannte Monika im Grunde noch so gut wie gar nicht, ein paar getauschte Küsse im Sinnesrausch der Gefühle, aber es genügte ihm, um das erste Mal in seinem Leben von der Liebe zu träumen.
Seine Koje befand sich, zusammen mit jenen von elf weiteren Kollegen, vorne im Bug des Schiffes. Es war dort unglaublich eng, die Kojen verliefen, immer zwei übereinander, in Dreierreihen links und rechts an der Bordwand entlang. Nach vorn, zum Steven des Bootes hin, wurde es zwischen ihnen immer enger, sodass sich die vorderen Kojen an ihrem Ende fast berührten. Thomas war heilfroh, dass seine nicht da ganz vorne lag.
Um in dieses Deck zu kommen, musste man vorne durch eine Luke einen steilen Niedergang hinuntersteigen und man kann sich sicher gut vorstellen, was für eine Luft dort in dieser Enge, bei zwölf schlafenden Personen herrschte. Aus diesem Grund stand denn auch die Luke zum Niedergang stets offen, egal, ob Sommer oder Winter war oder ob es regnete oder gar schneite. Thomas‘ Koje war die erste rechts, gleich unterhalb des Niederganges. Ja, im Grunde schlief er dort so gut wie im Freien. Das hatte den großen Vorteil, dass zumindest er immer frische Luft hatte. Wenn es allerdings regnete, regnete es auf das untere Ende seiner Bettdecke und sein ganzes Bettzeug wurde nass. Im Winter war es zudem sehr kalt dort vorn und er brauchte mehrere Decken, die er tagsüber im Maschinenraum zum Trocknen über das Geländer hängen musste.