Hinter die Zeit - Corinna Antelmann - E-Book

Hinter die Zeit E-Book

Corinna Antelmann

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Beschreibung

»Als Irina die Augen wieder öffnet, liegen gehäckselte Überbleibsel auf dem Feld, das Spreu ist vom Getreide getrennt, es ist still, der Spuk vorbei. Keine abgetrennten Gebeine sind zu sehen, keine gerissenen Saiten und keine Bratschenkastensplitter, nichts als frisch gemähtes Stroh, und Irina ist wieder allein unter dem weiten, wirklichkeitsgetreuen Himmel Tschechiens.« Irina bekommt den Auftrag, bei der Restaurierung einer Kirche in einem ehemals deutschen Gebiet in Tschechien mitzuwirken. Kaum angekommen, beginnt die Mauer, welche die »Zeit-Ebenen« gewöhnlich voneinander trennt, zu bröckeln und führt Irina unvermutet Hinter die Zeit: Sie begegnet der Vergangenheit des historisch aufgeladenen Ortes, die ihr Einblicke in ein Szenario während des Zweiten Weltkrieges gewährt. Beunruhigt negiert Irina die Geschehnisse und greift eilig zu bisher erfolgreichen Vermeidungsstrategien, doch je mehr sie vor den Bildern zu fliehen versucht, desto schlechter gelingt es. Sowohl bei der Arbeit als auch während gelegentlicher Streifzüge durch die Straßen des Ortes, stößt Irina weiterhin auf Spuren alter Wunden, die als Angst in ihr aufbrechen, bis sie schließlich vollends in die Geschehnisse des Krieges involviert scheint, als wären sie ein Teil von ihr und Spiegel ihres eigenen seelischen Status Quo. Plötzlich stellen sich Fragen, von denen sie nicht einmal wusste, dass sie in ihrem Leben eine Rolle spielten: Warum wollte sie nahe Bindungen bisher vermeiden? Warum der Wunsch nach Leistung, warum die Härte gegen sich und andere? Die Konfrontation mit der Geschichte von Vertreibung und Flucht hilft ihr schließlich, die Ursachen der diffusen Ängste aufzuspüren und dem Krieg in sich selbst zu begegnen.

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Autorin und Klappentext

Titelseite

Buchanfang

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

Leseproben

Corinna Antelmann - VIER

Jürgen Bauer - Das Fenster zur Welt

Jürgen Bauer - Was wir fürchten

Isabella Feimer - Der afghanische Koch

Isabella Feimer - Zeit etwas Sonderbares

Gudrun Büchler - Unter dem Apfelbaum

Corinna Antelmann, Hinter die Zeit

© 2015, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Das Gedicht am Beginn stammt von Ewa Lipska: VOM KRIEG, aus:

Ein Jahrhundert geht zu Ende, Suhrkamp, FFM 1984

Aus dem Polnischen von Karl Dedecius

Lektorat: Elisabeth Schöberl

Umschlagbild: © Heather Evans Smith

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-18-7

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-43-4

www.septime-verlag.at

www.facebook.com/septimeverlag

www.twitter.com/septimeverlag

Corinna Antelmann

wurde 1969 in Bremen geboren und lebt heute mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Linz. Nach ihrem Studium (Film, Literatur, Musik) arbeitete sie in der Theaterwerkstatt Hannover und der Trickompany Hamburg, inzwischen ist sie als freie Autorin und Dozentin für Storytelling tätig. Corinna Antelmann erhielt u. a. den »Frau-Ava-Literaturpreis« (2013) und das »Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium« (2015), ihr Jugendbuch Der Rabe ist Acht wurde mit dem »White Raven« ausgezeichnet.
Bei Septime veröffentlicht Corinna Antelmann ihre Romane: 2014 erschien ihr Roman VIER. Im Frühjahrsprogramm 2015 war sie in der Anthologie übergrenzen mitvertreten. Im Herbst erscheint ihr neuer Roman Hinter die Zeit.

Klappentext

»Als Irina die Augen wieder öffnet, liegen gehäckselte Überbleibsel auf dem Feld, das Spreu ist vom Getreide getrennt, es ist still, der Spuk vorbei. Keine abgetrennten Gebeine sind zu sehen, keine gerissenen Saiten und keine Bratschenkastensplitter, nichts als frisch gemähtes Stroh, und Irina ist wieder allein unter dem weiten, wirklichkeitsgetreuen Himmel Tschechiens.« 


Irina bekommt den Auftrag, bei der Restaurierung einer Kirche in einem ehemals deutschen Gebiet in Tschechien mitzuwirken. Kaum angekommen, beginnt die Mauer, welche die »Zeit-Ebenen« gewöhnlich voneinander trennt, zu bröckeln und führt Irina unvermutet hinter die Zeit: Sie begegnet der Vergangenheit des historisch aufgeladenen Ortes, die ihr Einblicke in ein Szenario während des Zweiten Weltkrieges gewährt. Beunruhigt negiert Irina die Geschehnisse und greift eilig zu bisher erfolgreichen Vermeidungsstrategien, doch je mehr sie vor den Bildern zu fliehen versucht, desto schlechter gelingt es. Sowohl bei der Arbeit als auch während gelegentlicher Streifzüge durch die Straßen des Ortes, stößt Irina weiterhin auf Spuren alter Wunden, die als Angst in ihr aufbrechen, bis sie schließlich vollends in die Geschehnisse des Krieges involviert scheint, als wären sie ein Teil von ihr und Spiegel ihres eigenen seelischen Status Quo.

Plötzlich stellen sich Fragen, von denen sie nicht einmal wusste, dass sie in ihrem Leben eine Rolle spielten: Warum wollte sie nahe Bindungen bisher vermeiden? Warum der Wunsch nach Leistung, warum die Härte gegen sich und andere? Die Konfrontation mit der Geschichte von Vertreibung und Flucht hilft ihr schließlich, die Ursachen der diffusen Ängste aufzuspüren und dem Krieg in sich selbst zu begegnen.

Corinna Antelmann

Hinter die Zeit

Roman | Septime Verlag

Der Krieg ist in uns

Der Krieg kommt mit uns auf die Welt.

Der erste Schrei.

Der erste Zorn.

Das Blut will die Adern sprengen.

Und wenn wir am Scheideweg stehen

und wenn wir uns zwischen zwei Kriegen lieben

[…]

– der Tod

steht uns wieder bevor.

Ewa Lipska

1

Gewöhnlich liegen die Wände eines Objekts wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihr, diese Kirche hingegen versteckt sich, als habe sie sich angesichts der umfassenden Zerstörung in sich zurückgezogen. Vor Kurzem hat es nicht einmal mehr einen Dachstuhl gegeben, nur die Glocke ist noch immer intakt, aber auf dem Papier bleibt sie tonlos, still wie die Münder der barocken Zeichnung, die als eine von vielen nachträglich auf die gotischen Mauern geschmiert wurde.

Auf die innere Haut.

Du hast mich hinunter in die Grube gelegt / in die Finsternis und in die Tiefe steht über der Darstellung des Psalms an der nördlichen Seite des Presbyteriums. Während Irina die Unterlagen betrachtet, die Bestandsaufnahmen von jetzt und vorher, drängen sie hinein in ihren Körper, ihren Geist, ihre Zeit, ja, Zeit!, die werden sie brauchen. Aber in ihrer Vorstellung ist bereits alles fertig, rekonstruiert und vervollständigt, in der Zukunft gelandet, der heilen Gestalt, die zugleich die Vergangenheit abbildet.

Du kannst Zeitsprünge machen, sagte Jona, da waren sie noch nicht einmal verheiratet, dein Gehirn ist so gebaut, dass es die Vergangenheit spiegelt, als diese noch kein Gestern war, sondern ein Heute.

In diesem Punkt hat er recht, denkt sie und schlägt die Unterlagen zu, mein Gehirn lässt den Ballast der Zeit außen vor und ist deshalb imstande, eine frische Zeit zu gebären, eine gewissermaßen unbelastete Zeit.

Platz für Neuanfänge, für Schönheit auch.

Sie verstaut die restlichen Akten in den zweiten Karton und klebt beide mit doppelseitigem Klebeband zu, um sie im Kofferraum stapeln zu können, geht noch einmal durch das aufgeräumte Büro, zieht den Stecker, kontrolliert auch den Müll, dann wuchtet sie alles durch die Tür und sperrt sorgfältig zu.

Präpariert für den Fall der Fälle.

Irina fährt zu schnell. Sie passiert das Tor, und als sie den Wagen abbremst, kommt er auf dem Schotter ins Schleudern, die Reifen sind nicht mehr die neuesten. Ein Besucher schaut ihr erschrocken nach, sicher vermutet er, jemand liege im Sterben, was sonst könnte diese Eile erklären? Die meisten Leute, die sich dem Altersheim nähern, verlangsamen ihren Schritt und werden still, alle wissen, der Tod lauert in allen Ecken und trifft am Ende alle.

Unverhofft und oft.

Im Flur riecht es nach Urin und dem Versuch, den Gestank mit billigen Desinfektionsmitteln zu überdecken. Zu überpinseln. Hier sind andere Bakterien unterwegs als solche, mit denen Irina während Restaurierungsarbeiten beinahe täglich hantiert, und sie widersteht dem Impuls, umzudrehen und hinauszustürzen, an die frische Luft, ins Leben, immer ins Leben, was um alles in der Welt hat ein zwölfjähriges Mädchen hier verloren?

Der Geruch beschwört Ahnungen herauf, wie die eigene Zukunft aussehen könnte, das eigene Sterben auch. Das Altersheim will Irina in sich gefangen nehmen, sie spürt es ja, es zwingt sie rückwärts, während sie selbst vorwärtsstrebt, vorwärts, immer vorwärts, warum also bleiben sie nicht unter sich, die Alten, lösen Kreuzworträtsel oder trinken aus Schnabeltassen?

Tun, was Alte eben tun.

Sie nimmt sich eine Zigarette aus der frischen Packung und zündet sie an, das Nikotin schmeckt verwegen und lebensfroh, allen Krebswarnungen zum Trotz. Irina schichtet die Zigaretten in das Etui mit den eleganten Goldornamenten, es zeigt eine Blume und strahlt vor Gesundheit, und wirft die aufgedruckten Angstmachereien samt Schachtel in den Müll, wo sie hingehören. Angst hat sich schon immer als eine schlechte Richtschnur erwiesen, Irinas Mutter zum Beispiel hangelte sich die größte Strecke ihres Lebens daran entlang, bis sie vor lauter Angst erstarrte und sich in die Sprachlosigkeit mauerte, die ihr ein Gebäude der Zuflucht zu sein versprach.

Der eisigen Abwehr.

»Haben Sie nicht das Schild gesehen?«, fragt eine Stimme hinter ihr. – »Entschuldigen Sie, bitte«, sagt Irina lächelnd und legt dabei ihren ganzen Charme in dieses Lächeln, sodass die Schwester zurücklächeln muss.

Jona meinte einmal, Irina lächle das Lächeln der vermeintlich Sorglosen, ja, Glückseligen, und habe deshalb so einen Erfolg, weil alle daran teilhaben wollten, an diesem Glück. Erfolg, Erfolg, was, bitte, meinst du mit Erfolg?, wendete sie ein, zum Geldverdienen jedenfalls habe sie den falschen Beruf, aber davon ließ sich Jona nicht irritieren: Du nimmst einen Auftrag entgegen, und augenblicklich fühlen sich die Auftraggeber von aller Last befreit. – Ach, tatsächlich? – Ja, es gelingt dir, ihnen weiszumachen, du könntest jede Last in Leichtigkeit verwandeln, deine eigene Schwere bekommt keiner zu Gesicht.

Welche Schwere?

Sie drückt die Zigarette aus, geht den Gang hinunter und öffnet die Tür, ohne anzuklopfen, ihre Mutter kann ohnehin nichts mehr entscheiden, nicht, ob sie offen ist für ein Herein oder lieber allein bleiben will mit sich und der Stille, vermutlich macht das keinen Unterschied für jemanden, der stumm dahinvegetiert.

In sich eingeschlossen.

Ihr Innenleben bleibt unergründet, so war es immer schon, und alle Entscheidungen werden ihr abgenommen: So, Frau Kossak, dann wollen wir mal duschen, oder: Frau Kossak, ein bisschen frische Luft wird Ihnen gut tun. Dem eigenen Bewusstsein entzogen, werden ihre Handlungen von außen gesteuert, da gibt es keinen freien Willen, alles, was sie tut, tut sie fremdbestimmt und ohne Einwände zu erheben.

Nur einmal, als Irina eine Schwester anschrie, der klaren Sicht zuliebe doch wenigstens ab und zu ein Fenster zu putzen, nichts als die Trostlosigkeit des Zimmers mit seinen geschmacklosen Stickereien spiegele sich darin, Herrgottnochmal!, da wimmerte ihre Mutter und schniefte, und Irina dachte, die hört mich also doch, seht, seht, stellt sich taub und blind und hohl und belauscht mich dabei unauffällig von hinten.

Seither kommt sie noch seltener, und wäre Zoe nicht auf die Idee verfallen, ihrer Großmutter plötzlich regelmäßig Besuch abstatten zu wollen, wäre sie auch heute nicht hier, es gäbe ohnehin genug anderes zu tun.

Zoe sitzt auf einem Stuhl am Fenster, ihrer Großmutter gegenüber, und redet auf sie ein, aber die Oma regt sich nicht, ein Bauwerk aus Stein, mit einer Schicht aus Jahren überzogen, und was immer diese Jahre in sich geborgen haben mögen, die Fassade wurde von ihnen ruiniert.

»Vergiss es«, sagt Irina, »hat doch sowieso keinen Sinn, »und beeil dich, ich bekomme noch Gäste.« Ihre Tochter macht einen Schritt auf die Oma zu, streicht ihr über den Kopf und gibt ihr einen Kuss auf die Wange. Irina hingegen ist es unmöglich, die Mutter anzufassen, also verlässt sie das Zimmer einfach so.

Ohne Gruß und ohne Kuss.

Im Auto pfropft sich Zoe Musik ins Ohr und verkriecht sich damit in sich selbst. Ob sie schon gegessen habe, fragt Irina, und als ihre Tochter nach nochmaligem Fragen den Kopf schüttelt, lacht sie: »Bist ja schlimmer als ich.«

Zoe bleibt ernst, wie meist, der Ernst war immer schon Teil von ihr, ebenso wie die Traurigkeit in den Augen. Hinzu kommen jetzt zweieinhalb Stunden Oma in einem miefigen Zimmer, das dürfte nur wenig erhellend sein für ein kindliches Gemüt, vermutet Irina.

»Ich an deiner Stelle würde lieber eine Freundin besuchen, als im Altersheim herumzuhängen«, sagt sie, »oder was versprichst du dir davon, einmal in der Woche mit einer Beinahe-Toten zusammenzuhocken, plaudert es sich nett mit Großmütterchen?« Und nun schaut Zoe erstmals zu Irina hinüber, zieht sogar den Stöpsel aus dem Ohr: »Ich möchte wissen, wie es früher war, wie sie gelebt hat und so.« – »Trifft sich ja ausgezeichnet bei jemandem, der seit fünf Jahren schweigt«, sagt Irina und denkt, sei froh, wer weiß, was du dir alles anhören müsstest.

»Irgendwann, wenn niemand mehr damit rechnet, wird sie reden«, meint Zoe, »interessiert dich denn gar nicht, wie es ihr geht, was sie erlebt hat, was hinter dem Schweigen ist?« – »Sicher nicht, ich habe mich lange genug mit dem Vergangenen abgeschleppt, jetzt ist Schluss, vergangen ist vergangen und geht mich nichts mehr an.« – »Na dann.«

Zoe stöpselt sich wieder von ihr ab, und Irina fällt unvermittelt ein, wie sie selbst als kleines Mädchen auf den Schoß ihrer Großmutter geklettert ist: Zeig mir Fotos, Oma, erzähl mir was, und dann kam wieder nichts heraus als ein Seufzen und irgendein Wir-armen-Vertriebenen-Gedudel, an das Irina sich nicht mehr erinnert, die Erzählungen waren zu starr, wie es jetzt die Lippen der Mutter sind.

Starr und unbewegt.

Irina tritt fester aufs Gaspedal, um die Erinnerungen zu überholen, doch sofort gemahnt Zoe zur Langsamkeit, besonnen wie der Vater, darin ähnelt sie ihm. Tempolimit, Haushaltspläne, Jona liebte es, auf mögliche Regeln zu pochen, so als würden sie ihm dabei helfen, sein System zu stabilisieren und eine diffuse Angst zu verbannen, wann immer sie den Abwasch liegen ließ oder die Möbel umstellte oder sich erlaubte, kurzfristig langfristig angelegte Pläne zu verändern.

Wovor hast du eigentlich Angst?, fragte sie ihn einmal. – Jeder hat Angst, auch du, erwiderte er, schichtete ungerührt Zoes Wäsche in den Schrank und sortierte sie dabei nach Farben. – Du würdest einen prima Soldaten abgeben, stichelte sie, aber jaja, bla, bla, du hast recht, was rede ich von Soldaten, nichts verstehe ich davon, warum sollte ich auch?

Wen interessiert schon der Krieg?

»Komm jetzt«, sagt Irina und steigt aus. Sie muss noch die Koffer packen und das Wohnzimmer in einen akzeptablen Zustand versetzen, das wird schnell gehen, die Wohnung ist noch immer beinahe leer, seit Jona seine Tonnen an Jura-Büchern in den Wagen lud, um Irina für immer von dem Ballast zu befreien, der erst durch ihn und später dann durch vierzig Babystrampler ihr Leben erschwert hatte.

Irina geht sofort in die Küche, um Miso aufzulösen, und fordert auch Zoe auf, ihr ein wenig zu helfen, aber die Tochter lehnt dankend ab. Das Herumwirbeln mache sie nervös, Irina sei die Einzige, die sie kenne, die gleichzeitig Teller decke, Sushi-Platten balanciere und Zeitungen in den Korb räume. Und es stimmt ja, Irina kann dabei sogar noch den Lippenstrich nachziehen und den Reis überwachen und eine Liste erstellen, was sie für Tschechien mitnimmt.

Im Schlafzimmer wirft Irina die Hemden ungefaltet in den Koffer, die Sportschuhe liegen bereit, die Stiefeletten mit den Absätzen können im Schrank bleiben, vermutlich ist das Kaff nicht einmal asphaltiert, aber sie wirft sie dennoch obendrauf, das Unvermutete tritt häufiger ein als allgemein erwartet.

Man kann ja nie wissen.

»Auf der Flucht?«, fragt Zoe, die plötzlich im Türrahmen lehnt, und Irina lacht: »Fliehen, wovor?« Und denkt, vor eingemauerten Müttern vielleicht, vor Kindern und unersättlichen Forderungen nach Mehr, vor neunmalklugen Exmännern und Liebhabern, die nicht kapieren, wenn ich sage: Nein, du kannst nicht mitkommen. – Und warum nicht?

Was soll man auf so eine Frage antworten?

»Sieht leicht überhastet aus, was du da treibst, oder ziehen wir wieder einmal um?«, fragt Zoe und lässt sich auf das Bett fallen. Hängt das bereits mit der Pubertät zusammen, dieser passive Gang? Irina reißt sich zusammen, um nicht an Zoe herumzukritisieren, das wird sich sicher wieder ändern.

Alles ändert sich immerzu.

»Was gibt es?«, fragt Irina heiter. »Alles klar?« – »Kannst du nicht hierbleiben, bitte, nur dieses eine Mal, ich will nicht, dass Frau Büchel auf mich aufpasst, immerzu bastelt sie mit mir und kapiert nicht, dass ich kein Kleinkind mehr bin.« – »Stell dich nicht so an, sei lieber froh, dass wenigstens eine hier mit dir bastelt, ohne Frau Büchel hätten wir nicht einmal Weihnachtsschmuck.«

Irina schließt die Schranktüren und den Kofferdeckel und will an Zoe vorbei ins Wohnzimmer gehen, um Kerzen anzuzünden und eine CD einzuschieben, Asia lounge, die fiel ihr gestern beim Tanken in die Hände, rechtzeitig für diesen japanischen Abend, gleich wird es klingeln. Zoe bleibt ihr auf den Fersen, zu nah, immer diesen Tick zu nah.

»Früher«, sagt Zoe, »als Oma noch zu Hause war, konnte ich wenigstens ab und zu bei ihr bleiben.« – »Früher, früher, du redest wie eine alte Frau.« – »Wir könnten Papa fragen.«

»Das fällt dir ja früh ein«, sagt Irina und sieht ihre Tochter gleichgültig mit den Schultern zucken, sie hätten schließlich keine Zeit zum Reden gefunden, und da muss Irina ihr recht geben, es ist wahr, die letzten Wochen waren hektisch: »Das weiß ich, aber ohne gründliche Vorbereitung stünde ich wie eine Vollidiotin da, das habe ich dir doch schon erklärt.« Sie dimmt das Deckenlicht. »Ich verspreche dir, wir finden eine Lösung, fahren muss ich auf jeden Fall.« – »Jaja, schon klar.«

Zoe schlurft aus dem Zimmer, und Irina überlegt, ihrer Tochter hinterherzugehen und ihr über die Haare zu streichen, aber … Außerdem klingelt es, also geht sie zur Haustür, um zu öffnen, und da stehen alle drei im Windfang, wie auf dem Gemälde der drei Grazien, nur dass die Gestalten in diesem Falle bekleidet sind und zu zwei Dritteln männlich.

»Stell dir vor, was für ein Zufall, wir haben uns alle vor der Tür getroffen«, sagt Henrik dämlich und zerstört den Eindruck von Schönheit und Freude durch die Ignoranz, mit der er an Astrid und Roman vorbei in den Flur und weiter ins Wohnzimmer stapft, als sei er hier zu Hause. Expandieren, immer fällt Irina im Zusammenhang mit ihm dieser Begriff ein, er will expandieren, sein kleines idiotisches Ich expandieren, und dafür braucht er andere, mich, in deren Räume er ungefragt seine Invasion starten kann.

Ja, Invasion ist das richtige Wort.

Die Schuhe hat er bereits im Flur abgestreift, jetzt streckt er seine bestrumpften Füße unter den langen Glastisch und gießt sich aus der Karaffe Rotwein ein. Irina wirft Astrid einen Blick zu, aber die hat nur Augen für ihren neuen Gemahl. Seit sie sich kennen, bestimmt er Astrids Denken und Fühlen, und sie interessiert sich noch weniger für die Arbeit, als sie es Irinas Ansicht nach ohnehin je getan hat.

Pass auf, dass du dich nicht von ihm besetzen lässt, sagte Irina, als Astrid das erste Mal von ihm erzählte, von ihm und nur noch von ihm und immer wieder nur von ihm. Du solltest rechtzeitig beginnen, dein Terrain zu verteidigen. – Wieso verteidigen, fragte Astrid, befinden wir uns im Krieg?

Der Krieg ist in uns.

»Bist du gerade eingezogen?«, fragt Roman. »Keine Bilder, keine Fotos, nichts, das sieht ungewöhnlich aus, beinahe unbewohnt.« Ich brauche Platz, denkt Irina und sagt lächelnd: »Ich wohne schon lange hier, zu lange, aber ich liebe Wände, die frei atmen können.« Die Hauptsache sei, dass alle sich wohlfühlen, fügt sie hinzu und bittet ihre Gäste, sich zu setzen.

»Ich war schon mal so frei«, sagt Henrik, und Irina beißt sich auf die Lippen, um sich die Erwiderung zu verkneifen, die ihrem Ärger Luft machen würde. Man muss nicht alles sagen, was einem durch den Kopf schießt, warnte ihre Mutter stets, man muss dies, man muss das, warum willst du die Leute unnötig verprellen? Und jetzt ist sie stumm, die Mutter, das hat sie nun von ihrem Schweigen, und deshalb …

Ach, was soll’s.

Die Sushi-Platten sind beinahe leer, Irina entkorkt den nächsten Wein und deutet die drei leeren Flaschen als Zeichen, dass der Abend gelungen ist. Alle unterhalten sich so unangestrengt und leicht, sogar Henrik schwimmt mit in diesem seichten Fluss, ohne allzu große Wellen zu schlagen.

»Wie muss ich mir das vorstellen?«, fragt Roman. »Es gab darüber kein Dach?« Ihre Schilderungen vom Presbyterium interessieren ihn tatsächlich, seit einer Stunde hängt er an ihren Lippen und fragt Irina über die Arbeit aus, die ihr und Astrid bevorsteht, über das Objekt in Tschechien, das sie restaurieren werden.

»Da war nichts außer einer provisorischen Holzkonstruktion«, erklärt Irina, »das ist ziemlich ungewöhnlich.« – »Keine Malereien?« – »Doch, es gibt eine Wandmalerei an der nördlichen Seite des Presbyteriums, offensichtlich ein Fragment des achtundachtzigsten Psalms, wenn es stimmt, was der Bubi-soundso dokumentiert hat.« – »Bubeniček heißt der gute Mann«, verbessert Astrid, »vielleicht solltest du noch einen Crashkurs in Tschechisch machen.« – »Meinen ersten Satz habe ich mir bereits zurechtgelegt«, sagt Irina, »außerdem erinnere ich mich, dass pivo Bier bedeutet.« – »In dem Fall sind wir natürlich auf der sicheren Seite.«

Alle lachen, nur Henrik sagt etwas im Sinne von im Biertrinken seien sie sicher unschlagbar, die Tschechen. »Du weißt nicht, wie sehr das tschechische Team seit Monaten schuftet«, fährt Irina dazwischen, »die Arbeit schreitet voran, sie haben bereits eine zwiebelförmige Haube mit Laterne errichtet, da ein Teil der Konstruktion vom Turm fehlte.«

Das verdient allen Respekt.

Und ist gleichzeitig der Grund für die subtile Angst, die Irina verspürt, seit der Auftrag auf ihrem Schreibtisch liegt. Angst, ob sie gut genug sein und ob ihre Arbeit anerkannt und gemocht werden wird. Da genügen all ihre unbestrittenen Erfolge auf ihrem Spezialgebiet der Mikrobiologie nicht, um den eigenen Leistungen zu trauen.

Und auch keine Lobhudeleien.

Ja, mein Kind, gut gemacht, darum geht es im Leben, schaffe, schaffe, Häusle baue, du machst das schon, wir haben das auch geschafft, pflegte Irinas Mutter zu sagen, was so viel hieß wie: Und deshalb wurden wir aufgenommen in die Gemeinschaft, obwohl wir doch Flüchtlinge waren, hart arbeiten konnten wir, das sahen alle, ohne dass wir es zur Schau stellten.

Nur nicht auffallen.

Und ohne es zu wollen, schmälert Irina ihre Arbeit, die ihr doch so wichtig ist, indem sie jetzt abfällig über ihre rosa Wurzelzwerge spricht, denen ihre heimliche Liebe gilt: »Und während die einen schuften, kümmern die anderen sich um irgendwelche rosa Bakterien, die in Wirklichkeit kein Schwein interessieren.«

»Red keinen Mist, Irina«, sagt Astrid, »ohne deine mikrobiologischen Zusatzkenntnisse könnte niemand auch nur einen einzigen Finger rühren, also was willst du?« – »Bewundert werden«, meint Henrik, und Irina würde ihn gern hinauswerfen.

Mindestens vier Wochen wird sie fort sein, fürs Erste, später vermutlich noch einmal vier, auf diese Art wird sich die Geschichte mit Henrik von selbst erledigen, adieu, meine Liebe, und tschüss.

Was für eine Liebe?

Du kannst nichts anderes lieben als deine Bakterien, sagte Henrik gestern, nachdem sie seinen Plan, sie in Tschechien besuchen zu wollen, abgeschmettert hatte. Und sie dachte, vielleicht ja, mein rosa Glück, dich zumindest übersteigt es.

»Natürlich will ich bewundert werden«, bestätigt sie und lächelt souverän, denn sie wird sich von dem Trottel sicher nicht den Abend verpatzen lassen, »sei froh, kein Narziss ohne Echo, du siehst, ich brauche dich, mein Schatz.« Henrik ist sprachlos, Astrid und Roman lachen, und Irina fällt in das erlösende Lachen ein, das erleichtert die Seele.

So einfach.

Als sie später die Teller wegräumen, öffnet sich die Tür, dort steht Zoe. Typisch, kaum sind alle fertig, da fällt es dem Fräulein Töchterchen ein, auch noch etwas essen zu wollen, Irina hat dieses ewige Auf- und Abdecken immer schon gehasst, und obwohl sie sich besser leiden kann, wenn sie nett ist, immerzu nett, sagt sie schroff: »Pünktlich zum Nachtisch.«

Zoe scheint der Unterton wenig zu beeindrucken, sie schnappt sich ein abgestandenes Sushi-Röllchen, stippt es in ein Schüsselchen mit Sojasauce, kaut und murmelt von irgendeiner Sendung, deren Name Irina nichts sagt. Aber Henrik kennt sich offenbar aus und fragt erstaunt, ob sie derartiges Zeug für zwölfjährige Mädchen tatsächlich geeignet fände. Zoe verdreht die Augen, und Irina beteuert sogleich, dass Zoe kaum fernsehe: »Du weißt, wie großartig sie unser chaotisches Leben meistert, da verdient sie ein bisschen Lockerheit, der süße Wurzelzwerg.«

Spontan streichelt sie Zoe über die Wange, denkt nicht erst nach, tut es einfach, aber ihre Tochter zuckt zurück und wirft mit Schwung und lautem Knall das Schüsselchen zu Boden.

Was für eine seltene und plötzliche Wut.

»Supersüß, ja«, schreit Zoe, »die süße, kleine Zoe schafft immer alles supersüß«, dann rauscht sie hinaus, und Irina steht mitten im Zimmer, erstarrt, stumm, verloren. Was war das denn?, überlegt sie und sieht Henrik grinsen, als freue er sich über ihr Leid, jedenfalls rotzt er seinen vermeintlich heiteren Kommentar ungefragt auf den Tisch: »Impulsiv wie die Mutter.«

Irina möchte etwas erwidern, aber die Worte mäandern in ihrem Kopfinneren, ohne einen Ausgang zu finden, verfehlen den Mund und prallen stattdessen gegen die Kuppel der harten Schädeldecke, die ihnen ihre Bedeutung verbiegt, Zoes Ausbruch kam zu unerwartet.

»Geh ihr hinterher«, schlägt Henrik vor, aber Irina bleibt stocksteif und rührt sich nicht: »Soll Zoe kommen und sich entschuldigen, die spinnt wohl, sich so aufzuführen.« Und sie unterdrückt ihren Zorn, um den Abend zu retten, und nimmt, in sich zusammengehalten, ein Küchenhandtuch aus der Schublade, um den Soja-Matsch wegzuwischen. Und ohne es zu wollen und obwohl sie ihn zu ignorieren versucht, ahnt sie, was Henrik sich zu sagen verkneift, nämlich, dass sie wohl doch nicht alles im Griff habe, wie sie immer behaupte. Er trabt in Richtung Küche, um den Handfeger zu holen, und Irina streckt ihm die Zunge hinterher.

Ja, verdammt.

Erst beim Zähneputzen fällt ihr der Streit wieder ein, war das überhaupt ein Streit, wie nennt sich das, wenn jemand plötzlich und grundlos eine Schüssel zerdeppert? Irina schleicht in Zoes Zimmer, um nach dem schlafenden Kind zu schauen, ausnahmsweise, die Zeiten, in denen sie sich als gute Mama verpflichtet gefühlt hatte, Zoes Atem zu lauschen, bevor sie selbst schlafen ging, sind lange vorbei.

Jona fand das ohnehin immer idiotisch: Was horchst du da, was ist das für ein seltsamer Tick, es wird schon nicht sterben, das Kind. Aber das war kein Tick, sondern eine Gewohnheit, Irina dachte nicht darüber nach, woher und warum, und tut es auch jetzt nicht, warum sollte es für alles einen Grund geben?

Erklärungswahn.

Zoe liegt auf dem Bett, angezogen, ein abgegriffenes, aufgeschlagenes Fotoalbum liegt neben ihr, wo kommt das plötzlich her?, grindig hebt es sich von den neuen Tapeten und weiß gestärkten Bettlaken ab, dennoch kann Irina es sich nicht verkneifen, einen Blick hineinzuwerfen, sie selbst ist dort zu sehen, unbewegt, erstarrt zu einer Fotografie, festgehalten als ein Mädchen von etwa sechs Jahren. Und neben Irina, dem Mädchen, steht die Mutter, vor ihr Irinas Großmutter in ihrem Rollstuhl, und alle starren sie dämlich in drei verschiedene Richtungen, es muss das letzte Mal gewesen sein, dass sie sich zusammen fotografieren ließen, kurze Zeit, bevor ihre Mutter aus unerklärten Gründen mit der Großmutter brach.

Abgespalten.

Irina schlägt das Album zu, beugt sich über Zoe und lauscht der Atmung, ein – aus, aus – ein, alles da, was zum Leben notwendig ist, und erst jetzt ist sie beruhigt, ohne gewusst zu haben, überhaupt beunruhigt gewesen zu sein. Zoe dreht sich im Halbschlaf auf die andere Seite, ohne sie wahrzunehmen.

Oder wahrnehmen zu wollen.

Irina schläft schlecht, immer wieder wird sie wach, und obendrein hat Henrik im Laufe der Nacht das gesamte Bett in Beschlag genommen. Lang ausgestreckt liegt er nackt und aufdringlich quer über der Decke und schnarcht. Sie tritt ihm in die Seite, umbringen könnte sie ihn, obwohl sie in Wirklichkeit eine friedliche Seele ist, solange man sie nur in Ruhe lässt.

Sie tritt noch einmal: »Hör auf zu schnarchen!« Und er wacht auf, um sich sogleich zu beschweren: »Ich habe Schnupfen, da darf ich ja wohl ein wenig verstopft klingen.« Aber Irina findet nicht, dass er das dürfe: »Du machst dir keine Vorstellung davon, wie es ist, die Verantwortung für dieses Projekt zu übernehmen, das ist dir scheißegal, da braucht es meine hundertprozentige Präsenz.« Jedenfalls habe sie keine Lust, an einem Burn-out-Syndrom zugrunde zu gehen, gerade in einem Beruf, in dem die Gesundheit durch die vielen Chemikalien ohnehin zusätzlich belastet sei, müsse sie vorsichtig sein.

Als sie noch für die Firma in Lübeck arbeitete, wurde permanent irgendjemand aus dem Kollegenkreis krank, Restaurierungen sind keine Tätigkeit für ewige Jugend. Meine Hände sehen wie die Hände einer alten Frau aus, denkt Irina, abgearbeitet und verwelkt, zumindest aber mein Herz soll weiterhin fit bleiben und jung.

Leistungsfähig.

Henrik versucht, sie in den Arm zu nehmen: »Keine Angst, wird schon alles gut gehen«, sagt er, aber das weiß sie ja, nur braucht sie dennoch ihren Schlaf, schwierig genug in der letzten Zeit, und deshalb bittet sie Henrik auf das Sofa im Wohnzimmer und erinnert ihn nebenbei daran, vor dem Frühstück zu verschwinden, damit sie vor ihrer Abfahrt noch einen Moment mit Zoe allein sein könne. Und weil sie seine raumgreifende Art unerträglich findet, aber das spricht sie nicht aus. Die Wahrheit jedoch ist, dass sie seine Anwesenheit am wenigsten zu einem Zeitpunkt erträgt, zu dem sie sich in Ruhe in den Tag hinein verbreiten will, und dann hockt da einer wie Henrik, der gleich nach dem Aufstehen drauflosredet, ohne auf schlaftrunkene Seelensplitter zu achten, die sich nach zerfledderten Träumen mühsam neu formieren, um stark genug zu sein, den ganzen Tag hindurch ihre Fassung zu bewahren.

Und mögliche Eindringlinge abzuwehren.

Der Rest der Nacht verläuft reich an Platz, aber unruhig, und kurz stellt Irina sich vor, wie schön es wäre, einen Arm um sich zu spüren, aber egal, egal, egal, wozu braucht sie einen Arm um sich, und als sie am nächsten Morgen Henriks Stimme aus der Küche dröhnen hört, begräbt sie ihren nächtlichen Wunsch in einer finsteren Grube. Henrik redet, und Zoe lacht, was gibt es am frühen Morgen zu erzählen, das so lustig sein könnte?

Irina würgt ihren Ärger herunter, um nicht den letzten Morgen mit Zoe zu überschatten, geht hinein und streicht um den Tisch herum, in einem eisigen Abstand zu Henrik, an dem er sich erkälten soll. Im Vorbeigehen überlegt sie, Zoe einen Guten-Morgen-Kuss zu geben, etwas in dieser Art, stattdessen greift sie stumm nach der Milchpackung.

»Tolle Stimmung«, sagt Henrik, erhebt sich und marschiert zur Einbauwand, um wie selbstverständlich darin zu kramen. Er schiebt Nudelpackungen und Gläser beiseite, bis Irina aufspringt und alle Türen wieder zuknallt. »Keine Panik, keine Panik«, sagt er und hebt die Arme, »ich suche Kaffee. – »Und warum fragst du nicht?« – »Ich wollte dich nicht bemühen.« – »Aha«, meint sie, allerdings werde sie lieber bemüht, als dass jemand ungefragt bis ins Innerste ihrer Küche eindringe. Und endlich kommen ihr die Worte für den überfälligen Rauswurf: »Ich glaube, du gehst lieber und trinkst deinen Kaffee zu Hause.« – »Schon in Ordnung, aber melde dich mal von Czecki-irgendwas.« – »Jaja«, sagt sie, aber als Henrik sie zu küssen versucht, weicht sie aus.

Raus jetzt!

Als er endlich fort ist und sie allein sind, kann Irina ihrer Tochter in aller Ruhe erklären, dass sie es unmöglich finde, wenn einer herumschnüffle, ohne ein Gefühl für etwaige Grenzüberschreitungen zu entwickeln: »Henrik rückt mir permanent auf die Pelle und weiter noch, durch sie hindurch, das kann ich auf den Tod nicht leiden.« Zoes darauffolgende Frage, warum sie dann überhaupt mit ihm zusammen sei, lässt sie unbeantwortet. »Erklär mir lieber«, sagt sie stattdessen, »was das für eine Nummer sein sollte, gestern Abend«, und jetzt ist Zoe diejenige, die mit den Schultern zuckt. Sie steht auf und sucht schweigend ihre Stifte zusammen: »Ich gehe nach der Schule zu Annette.«

Annette, Annette, Irina kann sich nicht erinnern, wer Annette sein soll, der Name zündet nicht, glimmt nur leicht, und Zoes Gesicht verrät, was sie davon hält, dass Irina keine Vorstellung davon zu haben scheint, wer Annette sein könnte: »Du weißt nicht einmal, wer das ist, richtig, meine Freunde sind dir vollkommen gleichgültig.«

Und tatsächlich interessiert Irina gerade etwas völlig anderes, nämlich, dass sie beide sich nun vor der Abfahrt nicht mehr sehen werden, ohne dass es bisher zu einer versöhnlichen Geste gekommen wäre, und, ohne es geplant zu haben, verspricht sie zu ihrer eigenen Überraschung, Jona zu fragen, ob er Zeit habe, Zoe zu sich zu nehmen, dieses dämliche Versprechen ist das Einzige, was ihr einfällt, um ihre Tochter milde zu stimmen, auf dass sie sich ihr gegenüber wieder normal benähme.

Liebend oder wenigstens zugeneigt.

Aber obwohl sie ihr nun weit, weit entgegenkommt, ist von Versöhnung nach wie vor wenig zu spüren, dabei bedeutete die Änderung der Pläne neben einem unliebsamen Anruf, noch schnell einen weiteren Koffer packen zu müssen. Dazu käme die Odyssee zu Jonas neuem Domizil im Nirgendwo, bevor sie dann endlich nach Tschechien aufbrechen könnte.

Zusätzliche Umwege, zusätzliche Arbeit, wen interessiert das schon, denkt Irina, und Dankbarkeit kannst du auch nicht erwarten dafür, nein, natürlich nicht, Dankbarkeit kann nicht eingefordert werden, schon gar nicht von den eigenen Kindern, ist doch klar. Und dennoch muss Irina sich angesichts dieser Gleichgültigkeit zusammenreißen, um nicht auszurasten: »Wenn Jona einverstanden ist, hole ich dich nach der Schule ab und bringe dich bei ihm vorbei, aber du musst versprechen, zu lernen.« – »Jaja«, sagt Zoe, schnappt den Schulrucksack und geht.

Ohne Kuss, ohne Gruß.

Jetzt sind alle Stühle leer, auf dem Tisch liegt ein Toast mit Butter und Marmelade, von Henrik geschmiert erkaltet er an Ort und Stelle, dort, wo er abgelegt wurde, verlassen nach einem unerwarteten Aufbruch, Irina kann nicht erklären, warum der Anblick sie schmerzt, dieses Überbleibsel, das Zeugnis davon gibt, dass jemand gegangen ist, der noch hatte bleiben wollen, der anzeigt, wie anders der Morgen von dem einen oder anderen Beteiligten geplant war.

Der unwürdige Tod zurückgelassener Dinge.

Mach einen Plan, wenn du Gott zum Lachen bringen willst, sagte Jona oft im Scherz, denn immer kam alles anders, als sie dachten, weil Irina es nicht lassen konnte, von einem Ort zum nächsten zu ziehen, es nicht lassen konnte, die Möbel umzustellen, die Wohnung anzumalen, die Freunde zu wechseln. Nur nicht festlegen, sagte er außerdem, und Letzteres klang schon weniger scherzhaft als vielmehr anklagend, aber niemand weiß, was die Zukunft bringen wird, nicht einmal dieser idiotische Toast, der niemals mehr gegessen werden wird, weil derjenige, der ihn gewollt hätte, rausgeschmissen wurde.

Ab in den Müll.

Irina öffnet eine der Schranktüren, ihr gehören sie, ihr ganz allein, schnappt sich den Kaffee und steckt eine Scheibe Brot in den Toaster, während sie abräumt, Zoes Sachen zusammensammelt und gleichzeitig zwei, drei Artikel im restauro und im Denkmal! überfliegt, ihr tägliches Pensum und vermutlich der Grund dafür, dass sie in einem branchenmöglichen Maße bekannt ist wie ein bunter Hund, und das liegt nicht an den bunten Hemden, die sie bei der Arbeit trägt.

Erfolg gehört erarbeitet.

Dann spült sie die Tasse unter fließendem Wasser, fegt die Krümel zusammen, zieht auch hier die Stecker, dreht die Pumpe ab und schließt die Fenster, sodass alles eine Weile unbewohnt bleiben könnte, ohne zu schimmeln, zu vermodern, zu verwesen. Nie wird sie böse Überraschungen erleben, wenn sie zurückkommt, denn sie beugt vor, deshalb wird sie, egal, ob sich die Rückkehr verzögert, was immer leicht passieren kann, nie eine verendete Kuh vorfinden, die sich in die Küche verirrt hat, weil niemand sich um sie kümmern konnte, ja, solche Dinge erzählte man sich in der Familie. Manche Geschichten hocken im Schädel fest, um dort auf immer zu bleiben.

Vertriebenen-Mist.

2

Als Irina gesteht, einen Umweg über Jonas Haus machen zu müssen, weiß Astrid sofort Bescheid. »Welche Schuld versuchst denn du abzutragen?«, fragt sie spöttisch, »deine Anstrengungen kannst du dir sparen, davon lässt Zoe sich sicher nicht beeindrucken.« – »Schade eigentlich.« – »Schlechtes Gewissen?« – »Quatsch«, sagt Irina, »ich habe mich breitschlagen lassen, das ist alles.«

Aber natürlich wird sie immerzu von dem schlechten Gewissen getrieben, zu wenig für das Kind und zu viel für den Beruf da zu sein. Rabenmutter, so denken doch alle, die wissen, dass Irina in regelmäßigen Abständen für eine Weile im Staub der Zeit verschwindet, statt sich den Mutterpflichten zu widmen. Das arme Kind, flüstert es von überall her, und Irina kann dieses Wispern nicht abschalten, irgendjemand oder irgendetwas setzt ihr das vorwurfsvolle Raunen in den Gehörgang und von dort aus ins Gehirn, die Gesellschaft, die Erziehung, Jona, das System, welches System? Ihr eigener Anspruch zerrt an den Nerven, sie halten dem Gequatsche nicht stand.

Tinnitus im Dienste des Genügen-Wollens.

Sie biegt zur Schule ab, um Zoe aufzulesen, die grußlos zu ihnen ins Auto schlüpft. Erwarte niemals Dankbarkeit von deinen eigenen Kindern, dito, Irina selbst war ein undankbares Kind, wenn sie ihrer Mutter Glauben schenken darf, und ist es noch immer, wenn sie Dankbarkeit daran misst, mit welcher Abscheu sie sich zu den wenigen Besuchen im Altersheim aufrafft.

Zoe plaudert angeregt mit Astrid, sie redet und redet, bis sie das Kaff erreichen, in dem Jona seine vorläufige Ruhe zu finden hofft, sein Nest, das zu bauen ihnen gemeinsam nie gelang, und natürlich ist er überzeugt davon, dass Irina die Schuld an diesem Versäumnis trägt, Irina, die Unruhige, Irina, die Flüchtige, so nannte er sie.

Bevor Zoe aussteigt, drückt sie zärtlich Astrids Arm, Irina sieht es wohl. Mit anderen kann ihre Tochter lachen und reden, leicht und normal, nur das Zusammensein mit ihr produziert offenbar immerzu Missverständnisse, zum Beispiel, wenn sie Kosenamen verwendet wie: Mein süßer Wurzelzwerg. Astrid hingegen darf sagen, was sie will, und auch Jona gibt ungestraft von sich, was ihm gerade durch den Kopf schießt.

Wie ungerecht ist das?

Langsam folgt Irina der Tochter den Weg zum Haus hinauf, die ungeduldig klingelt, bis Jona endlich öffnet, um sie stürmisch zu begrüßen. Und auch Zoe fällt Jona um den Hals: »Papa!«

Warum können die beiden das, sich umarmen? Immerzu ist er der tolle Papa, es gibt keine Rabenväter, und Mädchen in diesem Alter hängen sich alle an das männliche Geschlecht, während sie die Mutter zum Teufel wünschen, das ist ein offenes Geheimnis, trotzdem steht Irina ratlos neben ihnen und nickt nur kurz in Jonas Richtung, sie müsse weiter, dann geht sie zum Auto zurück, läuft beinahe, schließlich wartet Astrid bereits, um Irina einen Vorwand zu liefern, gleich weiterfahren zu können. Aber sie brauchen keinen Vorwand, denn sie sind ohnehin spät dran, weil Jona eben schrecklich weit draußen wohnt, wie konnte sie sich nur darauf einlassen, hierherzufahren, wer soll es ihr danken?

Dito.

»Wahre Liebe«, sagt Astrid, als Irina einsteigt, aber Irina klemmt sich hinter das Lenkrad und ignoriert ihr Spötteln, ja, solange man frisch verheiratet ist, sind Umarmungen noch normal, da gibt es nicht einmal eine Spur von dieser Kälte, die zwischen zwei Menschen tritt, wenn sie einander vor lauter Nähe nicht länger zu berühren imstande sind, nach soundsovielen Jahren Ehe, soundsovielen Jahren Muttersein, da kann dir diese verdammte Nähe schon mal zu viel werden, Herrgottnochmal!

Sie dreht den Schlüssel im Zündschloss, endlich fort von hier, nur fort, aber jetzt klopft Jona von außen an die Scheibe, und sie muss das Fenster herunterkurbeln, alles andere könnte und würde man ihr als Feigheit auslegen.

»Was gibt es?«, fragt sie, und er schaut sie an, auf diese Art, wie Irina sie von Zoe kennt, ein wenig frech sieht das aus, als machten sie sich lustig über sie, die selbst nie etwas vergisst, wenn sie irgendwohin fährt, denn darum geht es doch sicher: »Hat Zoe etwas liegen lassen?« – »Ihre Kopfhörer«, sagt Jona, »ohne Musik ist Zoe verloren.« Und Irina nickt erbost, das wisse sie selbst, Jona sei nicht der Einzige, der sich mit dem Kind beschäftige. »Pass gut auf sie auf«, sagt sie noch, und für einen Moment fühlt sie sich wie eine Mutter, eine richtige Mutter, Mama, hörst du!, dann legt sie den Gang ein und los.

»Auf der Flucht?«, fragt Astrid, die Frage kommt Irina bekannt vor und trifft haarscharf daneben, entsprechend belustigt lacht sie: »Wie wäre es mit gern unterwegs?« Aber darauf geht Astrid nicht ein: »Hast einen schlechten Tausch gemacht, Schätzchen. Jona hat eine andere Größe als Henrik oder Dietmar oder wie sie alle heißen. Ich verstehe ohnehin nicht, was du von Henrik willst.«

»Ich auch nicht«, lacht Irina und fügt hinzu, das Thema habe sich ja nun erledigt, Jona allerdings wolle sie auch nicht zurückhaben, nicht einmal für Geld, und als Astrid fragt, was sie stattdessen wolle: »Frei sein, tun und lassen können, was ich will.«

Ein Kind bindet ohnehin unfreiwillig.

»Was heißt schon frei?«, sagt Astrid und gähnt, und Irina denkt, was weiß Astrid von Freiheit, dieses Küken. Kaum verheiratet lauert in ihr bereits das Familientier, dem die Auswärtstermine im Job zu viel werden, weil es sich dabei kurz einmal von dem lieben Mann trennen muss.

»Statt neugierig in die Welt hinein zu marschieren«, sagt Irina, »sehnst du dich an deinen neuen Herd mit Ceranfeld zurück, bevor wir überhaupt losgefahren sind, ist es nicht so?« – »Und wenn schon, ich bin eben gern mit meinem Liebsten zusammen.« So schnell lässt sich Irina nicht zum Schweigen bringen, fehle nur noch ein Kindlein, meint sie, dann könne sie Astrid nie mehr von zu Hause loseisen.

»Kann durchaus passieren«, sagt Astrid, »wenn ich meiner Mutter Glauben schenke, bin ich längst überfällig, wart nur ab, vielleicht heiratest auch du eines Tages noch mal.« – »Sich noch einmal freiwillig einkerkern? Ich glaube, ich spinne.« Sie wirke möglicherweise ein wenig seltsam, aber verrückt sei sie noch lange nicht.

Astrid zuckt mit den Schultern und lehnt sich vor, um einen Sender im Radio zu suchen. Aus den Boxen erklingt Streichmusik, das Stück kommt Irina bekannt vor, ja, es erinnert sie an die Zeit, in der sie auf Wunsch der Mutter Viola spielen lernen sollte, ausgerechnet Viola, die Außenseiterin unter den Streichern, üb, mein Kind!, ohne Fleiß kein Preis, aber die Mühe war vergebens, immer vergebens, Irina blieb hinter allen Ansprüchen zurück und gab den Suiten die Schuld dafür, dass es ihr nicht gelingen wollte, sie fehlerfrei zu spielen. Hier aber zittern die Töne sauber gestrichen im Wageninneren, sie kriechen ins Ohr und machen es sich gemütlich, sie breiten sich im Kopf aus und wecken eine seltsame Hitze, die brennt und wärmt zugleich.

Sehnsucht vielleicht, aber wonach?

In die Arme der Musik geschmiegt, hebt Irina den Wagen in die Höhe, um ein Stück des Weges zu fliegen, der Welt enthoben, den Beziehungen, der Schwere, ein Flug in die Zukunft, in der allein das Bild der Kirche existiert, umgeben von Musik, besetzt sie den Platz im Zentrum von Irinas Denken, vom Kinn bis zur Schädeldecke, füllt sie und wächst in ihr heran, um endlich geboren zu werden, in voller Pracht, so, wie sie war, als sie erbaut wurde, unzernagt, unzerbombt, ohne Geschichte und Erbe.

Eine Kopfgeburt, frisch aus dem Ei gepellt.

So leicht ist jetzt alles, leicht und schnell, und Astrid, die kleine, süße Astrid, hat nichts einzuwenden gegen Irinas Fahrweise, ja, vermutlich kontrolliert sie nicht einmal den Tacho. Stattdessen erzählt sie von Roman und dessen Tumorpatienten Herrn von Kahl, obwohl Irina über dessen diverse Krankheitsstadien bereits bestens informiert ist. Das gesamte letzte Jahr hindurch gab es jeden Morgen vor Arbeitsbeginn ungefragt einen kurzen Bericht über den Verlauf der Krankheit, da Roman den armen Herrn in einer Forschungsarbeit zu verwursten versucht.

Astrid ist so stolz auf die Leistungen ihres Gatten, das kann ja nur Liebe sein, denkt Irina und hört dennoch kaum zu, sondern versucht, das Gespräch auf die Kirche zu lenken: »Siehst du sie auch immerzu vor deinem geistigen Auge, unsere Kirche?«

Astrid gähnt und schweigt, natürlich, denkt Irina, für sie ist die Kirche nichts als eine alte Kirche, die Kirche, an der sie arbeiten werden, die Kirche, wie sie auf den Fotos abgebildet ist, eine alte Kirche, nichts anderes als eine alte Kirche, wie einfallslos sie sein kann.

»Ich fürchte, wir haben uns verfahren«, sagt Astrid plötzlich und dreht die Karte auf ihrem Schoß auf den Kopf.

Verirrt.

Wenig später haben sie sich zum dritten Mal verfahren, der Abend bricht bereits an, dennoch lehnt Irina das Angebot ab, sich beim Fahren ablösen zu lassen, obwohl sie es kaum aushält, Astrid beim Kartenlesen zu beobachten. Allein die Art, wie sie den Plan abermals wendet, verspricht nichts Gutes.

»Es gibt Menschen«, sagt Irina, »die können Karten lesen und andere, die sehen nur Striche und Abzweigungen, bitte, dreh das Innenlicht auf.« Astrid tut, wie ihr geheißen, und nach gerade einmal einer Viertelstunde liegt vor ihnen wieder eines der vielen Dörfer, deren Namen Astrid befremden, während Irina in ihnen wiederfindet, was sie suchen, und als sie den Ortskern erreichen, zeichnen sich in der Dämmerung die Umrisse einer gotischen Kirche ab, dieser einen gotischen Kirche, die auf sie wartet, mit der gleichen Sehnsucht wartet, die aus der Suite spricht, die plötzlich wieder aus dem Radio ertönt.

Von Geisterhand gestartet, haha.

Irina bekommt Herzklopfen. Eben noch durchquerten sie nichts als dunkle Wälder, Wildnis, lebendig gewordene Mythenwelt, und nun, direkt vor ihnen, konkret und lebendig und live und in Farbe liegt das Ziel, ihr Projekt. Langsam fahren sie auf die Kirche zu, bis Irina hält, ungern hält, denn das Fahren brachte sie zum Schwingen, die gefressenen Kilometer entsprachen der Bewegung, mit der sie ihrer ungewohnten Aufregung, in die sie die bevorstehende Begegnung mit der dunklen Kirche versetzt, Ausdruck verleihen konnte, nun aber gibt es kein Ziel mehr, auf das sie zusteuern könnten, nichts, wohin sie noch fahren könnten.

Angekommen.

Irina stößt ihre Wagentür auf, aber Astrid macht keine Anstalten, es ihr gleichzutun, sondern drückt sich an Irinas Schulter, da sie sich fürchte, wie sie zögernd bekennt, es wunderte sie wenig, wenn hier Gespenster hausten, so mitten in der mährischen Wildnis.

»Böhmische Wildnis«, verbessert Irina, »aber mit den Gespenstern könntest du womöglich recht haben.« Kaum ausgesprochen, verstummt das Radio, stattdessen weht ein Zittern oder Wispern zur geöffneten Tür der Fahrerseite hinein, und Astrid klammert sich regelrecht an Irinas Ärmel, kurz nur, aber lang genug, dass Irina es bemerkt, und auch sie erschauert, als eine dunkle Gestalt vor der Windschutzscheibe auftaucht.

»Ein Gespenst in schwarzer Kutte«, flüstert sie, und Astrid nickt erleichtert: »Natürlich, das ist Kašička, der Pfarrer, du weißt schon, er wartet, um die neue Restauratorin, die sich an seiner Kirche vergreifen wird, höchstpersönlich zu empfangen.«

Sie steigen aus, Kašička lächelt, gibt ihnen herzlich die Hand und heißt sie in ausgezeichnetem Deutsch willkommen. Und weil Irina ihn, ausgehend von den Kategorien gut und böse, auf Anhieb für gut befindet, traut sie sich, ihn nach den üblichen Begrüßungsfloskeln sogleich um den Schlüssel zu bitten.

»Noch vor dem Abendessen?«, fragt Kašička irritiert und fügt hinzu, dass er ihnen gern die Zimmer im Pfarrhaus zeigen würde, in dem sie untergebracht seien, aber Irina winkt ab: »Sofort, wenn es möglich ist.« – »Freundlich empfangen werden Sie aber nicht in der Kirche, kalt ist es und dunkel.«

Vor den Kopf gestoßen.

Wie oft schon wurde Irinas Wunsch, als Allererstes das Objekt sehen zu dürfen, missverstanden. Allein Astrid ist inzwischen ausreichend mit den Grundzügen des Rituals vertraut, um begreifen zu können, worum es dabei geht. Aber wie sollen Außenstehende verstehen, was es bedeutet, sich einen Ort aneignen zu wollen, ja, so nennt Irina ihren ersten Besuch, das erste Betasten: den Ort aneignen, und es ist wichtiger als alles, was dann folgt. Wie kann sie sich verständlich machen, wie ihre Gefühle teilen, unmöglich ist das, im Gegenteil, nahezu alle fühlen sich abgewiesen von ihrer Bitte, dagegen hilft nur ihr gottgegebener Charme, oder der angeeignete Charme, und deshalb lächelt Irina werbend, als sie erwidert: »Freundlich empfangen worden bin ich bereits.«

Pfarrer Kašička lächelt zurück, reicht ihr den Kirchenschlüssel, und Irina nimmt ihn demütig entgegen, schwer und kalt und gut wiegt der Schatz, schmiegt sich formvollendet in ihre Handinnenfläche. Dies ist der Schlüssel zu einer anderen Welt, ihrer Welt, ihren Bildern, ein Sog geht von ihm aus und zieht sie hinein in die neue Arbeit, fort von ihrem Standort, hundert Meter weiter, den Kieselweg hinauf.

Die Ungeduld treibt sie zur Eile und drückt von innen gegen die Fußsohlen, dennoch fragt Irina noch einmal, ob sie dem Herrn Pfarrer auch nicht allzu unhöflich erscheine, einen schlechten Eindruck will sie schließlich nicht hinterlassen, denk an deine Wirkung, Kind!, und jetzt antwortet er ähnlich charmant wie sie, wenngleich mit einer Spur von Ironie, für ihn sei es mehr als verständlich, wenn eine schöne Frau die alte Kirche einem alten Mann vorziehe.

Und weil aus ihm dabei tatsächlich der enttäuschte Liebhaber spricht, muss Irina lachen, und er fällt in dieses Lachen ein, und auch Astrid kann sich das Lachen nicht verkneifen, also lachen sie nun alle drei, und somit kann der kontaktpflegende Teil der Arbeit Astrid überantwortet werden, eine Freude ist das, wie sie sich plötzlich ins Spiel zu bringen versteht und eine Verbindung knüpft, damit Irina der Verpflichtung entgeht, sich um die Beziehungen kümmern zu müssen, wieso sind Beziehungen für manche weniger anstrengend als für andere?

Weniger auszehrend.

Tatsächlich widmet der Pfarrer sich nun Astrid, sie scherzen, er scheint zufrieden mit dieser Wendung und lässt Irina frei, die den großen, schweren Schlüssel gen Himmel hebt, sich umdreht und die beiden stehen lässt, um zur Kirche hinauf zu gehen, nein, sie rennt bereits und stößt im Rennen beinahe das Schild um, auf dem Vstup pouze na vlastní nebezpečí steht, fünf Wörter, vermutlich bedeutet das etwas in der Art von Hier wird die Kirche restauriert. Und ebendiese Kirche empfängt sie jetzt mit ihrem kalten Atem, küsst Irina auf die Stirn und flüstert ihr unverständliche Worte ins Ohr.

»Endlich allein«, flüstert Irina zurück, »nur du und ich, ist es nicht so?« Ohne Team, ohne Fragen und ohne Konzepte. Sie blinzelt in die Dunkelheit, die sich eine Spur zu schwarz zeigt, zu schattig, dann folgt sie dem Verlauf der Kabeltrommel und steckt eine Arbeitslampe in die entsprechende Buchse.

Das Licht wirft einen Kegel auf das eingerüstete Presbyterium, das auf zweistufigen Stützen fußt, am Abschluss strahlenförmig überwölbt mit gekehlten Rippen, ein strahlender Engel zwinkert zu Irina herunter, und unter ihm zeigen sich feuchte Wände, von denen der Putz abblättert, obwohl sie in dem Bild, das der Blick auf die Zukunft erzeugte, cremefarben aussahen.

Cremefarben und plan.

Die Zukunft beginnt mit dem Moment, in dem Irina mit ihrer Arbeit fertig und alles wieder heil sein wird, die Gegenwart hingegen zeigt barocke Malereien in desolatem Zustand, während große Teile vom Gewölbe bereits saniert wurden. Irina geht näher an eine der Darstellungen heran und stolpert, weil der Boden an einigen Stellen aufgerissen ist, dann stellt sie sich dicht an die Wand, berührt die Malerei beinahe mit der Nase, muss alles ertasten, riechen, in sich aufnehmen.

Den Körper des Gebäudes kapern.

Irina schreitet weiter durch den Raum, in der aufrechten Haltung derer, die sich zu Hause wähnt, und ihr eigener Körper vibriert vom Zittern der Besitzenden, die Kirche ist mein, und sobald dir etwas gehört, gibt es keine Rücksicht mehr und keine Grenzen, da kannst du dich ausbreiten in die Tiefe des Raumes und auch die Kordel zum Altarraum überschreiten.

Ja, nun gehört das Gebäude ihr, sie wird es durch die Zeit tragen, dem Verfall den Erhalt entgegensetzen, dem Alter das Neue, Narben cremen, Wunden heilen, es behandeln wie ein Kind, wie Zoe, die sich allen Cremes zum Trotz dennoch nicht verjüngte und Irina hassen würde für den Vergleich von Kirche und Kind, für die Anmaßung, in Zusammenhang mit ihr von Besitz zu reden, obwohl es ja ein offenes Geheimnis ist, dass Kinder sich selbst gehören und Kirchen …

Je nachdem.

Du bist mein, denkt Irina abermals, in sich versunken und allein in der Zeit, so glaubt sie, aber noch im selben Moment schrickt sie zusammen, als sie unerwartet fremde, tschechische Worte hört, die ihre Illusion, diese Welt mit niemandem teilen zu müssen, in sich zusammenfallen lässt. Die Worte klingen der Melodie nach wie ein Gebet, und tatsächlich, als Irina in dem ärmlichen Licht die vier einzelnen Kirchenreihen entlang späht, die noch stehen gelassen wurden, da sieht sie einen Mann in der ersten Reihe knien. Er betet, ohne sich stören zu lassen, bleibt weiterhin bei sich, ohne sie zur Kenntnis zu nehmen oder nehmen zu wollen.

Dem Allein-Sein ergeben.

Irina lässt sich von der Ignoranz dieses Eindringlings nicht abschrecken, der sich ungefragt in ihre Zweisamkeit mit dem neuen Kind drängt, sondern setzt ihn weiterhin ihren Blicken aus, auf dass es ihm unmöglich werde, sich weiterhin unbeobachtet zu geben. Und tatsächlich schaut er auf, kurz nur, aus schmalen Augen schickt er einen Gruß in Irinas Richtung, schmale Augen in einem ebenmäßigen Gesicht, aus dem hervorsticht, was Irina spontan als slawische Wangenknochen tituliert.

Als sei nichts geschehen, senkt er die Lider sogleich wieder und fährt mit seinem Gebet fort: »Sedí po pravici Boha, Otce všemohoucího; odtud přijde soudit živé i mrtvé.«

Das Vaterunser, vermutet Irina und wundert sich, dass es sich in dieser fremden Sprache mit einem Mal auf unerklärliche Weise erhebend anhört, während es auf Deutsch in ihren Ohren stets unsinnlich und leer klang. Im Tschechischen aber scheint sich ein Zittern in die Worte zu mischen, möglicherweise ist es der Nachhall ihres eigenen Zitterns, mit dem sie die Kirche genommen hat. Die Erregung war es auch, die ihr den Grund zum Verweilen lieferte, nun jedoch zieht sie sich zurück und verpufft.

Gestörte Beziehungsfelder.

Stockdunkel ist es draußen, und auch wenn sich Irinas Augen durch den Aufenthalt in der Kirche bereits an das Dunkle gewöhnen konnten, so legt sich die schwarze Nacht dennoch schwer auf ihre Schultern. Eine vergleichbare Finsternis gibt es weder in München noch auf dem Lande, wo Jona wohnt, an den meisten Orten bleibt die Stadt stets spürbar, nur hier nicht, umgeben von böhmischen Wäldern, die wirken, als seien sie aus der Zeit gefallen. Und als Irina die Tür vom Pfarrhaus aufstößt, schließt sie instinktiv die Lider, das Licht der Neonröhren blendet, und kurz wundert sie sich darüber, dass sie sich in einer Ära befindet, in der die Elektrizität bereits erfunden wurde.

Willkommen in der Gegenwart.

Um den robusten, großen Holztisch in der Mitte sitzen einige Männer, zwischen ihnen Astrid und der Pfarrer. Kaum sieht er Irina, springt Kašička auf, eilt ihr entgegen und rückt einen Stuhl zurecht. Sie nickt den anderen zu, setzt ihr souveränes Lächeln auf und betet den vorbereiteten Text herunter, mit dem sie sich vorstellt, unterstützt von Kašička, der ihr als Dolmetscher zur Seite steht. In knappen Sätzen versucht sie in ihrer kleinen Rede, vorhersehbare Bedenken, mögliche Kritik und Ressentiments vorwegzunehmen, um zu zeigen, dass sie imstande sein wird, ins Team einzusteigen, ohne sich über die Dinge zu erheben, ohne die präpotente Deutsche zu sein, die allen zu erzählen versucht, was wie zu sein hat.

Demütig.

Ihr vermeintlicher Eigenhumor scheint die anderen zu erfreuen, und auch ihr Aussehen erweist sich wie gewöhnlich als hilfreich, Irina kennt die Wirkung und spiegelt sich immer wieder gern in den Blicken der anderen, die bestätigen, was sie bereits weiß: Hier steht die schöne Amazone. Und um die Gunst der Stunde zu nutzen, schickt sie gleich noch einen Satz hinterher, den sie sich auf Tschechisch zurechtgelegt hat: »A kdo jste vy pánové? – Und wer sind Sie, meine Herren?«

Ihre Aussprache ist ungelenk und klingt vermutlich wenig tschechisch, also erntet sie wie geplant wohlgefälliges Gelächter und ein Durcheinander aus für sie unverständlichen Worten, die sie mit einem Lachen quittiert und der abermaligen Demut, zuzugeben, dass sie spätestens jetzt lieber wieder auf die Hilfe ihres Dolmetschers zurückgreifen wolle.

Kašička aber lacht nur und schenkt ihr stattdessen einen Begrüßungsschnaps ein. Er reicht ihr das Glas, und Irina trinkt in einem Zug, auch das wird von ihr erwartet, und sie ist geübt genug, dass sie nicht ohne Weiteres Gefahr läuft, die Kontrolle über sich zu verlieren. Das Glas ist bereits wieder voll, Irina greift nach einer Scheibe Brot und lässt sich von Kašička über die Identitäten der anderen aufklären, oder zumindest über deren Funktionen, aber im Großen und Ganzen dachte sie sich bereits alles so oder ähnlich, nämlich, dass diese Männer nur die Handwerker aus Budweis sein können.

»Prost«, sagt Irina und erfährt unversehens doch noch weitere Neuigkeiten, nämlich, dass die Gemeinde ein unvermutetes kleines Unterbringungsproblem habe, da der Restaurator Bubeniček eine Woche früher als geplant aus Prag zurückgekehrt sei, und dann seien da noch die vielen Handwerker von außerhalb, das wäre so nicht abzusehen gewesen. Kašička lächelt bedauernd, es ist ihm anzumerken, wie peinlich ihm die Geschichte ist, als er fortfährt, die Sache sei die, dass aus diesem Grund vorübergehend ein Zimmer im Haus fehle.

»Ich habe mit ihrer Assistentin schon gesprochen«, sagt Kašička und schaut hilfesuchend zu Astrid, »aber das ändert natürlich nichts an der Tatsache.« Und Irina schmiert sich Schmalz auf ihr Brot, streut Salz darüber und kippt ihr drittes Glas Schnaps, bevor sie anbietet, sie könne ja in ein Hotel gehen.

Absentieren.

Das Wort Hotel wird von den anderen offensichtlich verstanden, denn es löst allgemeine Heiterkeit aus. Und bevor Irina begreift, warum die anderen lachen, zaubert Kašička wieder ein entschuldigendes Lächeln auf sein Gesicht, als er erklärt, sie seien froh, überhaupt das Nötigste instand halten zu können.

»Ein Hotel hatten wir hier noch nie«, sagt er, »und ich glaube kaum, dass in nächster Zukunft eines gebaut wird, dafür fehlt das Geld.« Es grenze bereits an ein Wunder, endlich etwas für die Kirche tun zu können, bevor sie ganz auseinanderfalle. Und obwohl Irina aufgrund der unangenehmen Überraschung des Abends unter Schock steht, noch kann sie nicht abschätzen, was dieses Es fehlt ein Zimmer für sie bedeuten wird, setzt sie ebenfalls ein Lächeln auf und sagt das einzig Richtige, was ihr zum Thema Wir-können-etwas-für-die-Kirche-tun einfällt: »Vielleicht war da ja Gottes Hilfe im Spiel.«

Bingo.

Kašička lächelt ihr dankbar zu: »Ihre Sichtweise gefällt mir, die meisten Leute glauben nur an das, was sie sehen, alles andere verstehen die nicht.« – »Wir werden einfach zusammenrücken«, sagt Irina, um Kašička Freude zu bereiten und das leidige Zimmer-Thema abzuschließen, »nicht wahr, Astrid?« Und auch Astrid nickt, obwohl sie offensichtlich irritiert ist, dass Irina so schnell einer Lösung zustimmt, die nicht zu ihr passen will, denn gewöhnlich besteht sie auf einem Einzelzimmer, egal wo und gleichgültig auch, wie knapp das Budget sein mag, was eher oft als selten der Fall ist in ihrem Job.

Irina beugt sich zu Astrid: »Ein hübscher Mann wäre mir zwar lieber gewesen, aber zur Not nehme ich eben dich.« Und Astrid legt kichernd den Zeigefinger auf ihre Lippen: »Doch nicht vor einem Gottesmann!« – »Hauptsache, du schnarchst nicht«, flüstert Irina und kichert nun ebenfalls, unauffällig, um nicht zu albern zu wirken, schließlich steht sie nach wie vor unter Beobachtung und ist sich dessen bewusst, und tatsächlich erweist sich ihre Achtsamkeit als klug, denn nun geht die Tür auf, und ein Mann kommt herein, mit slawischen Wangenknochen, harmonisch gebaut, wie der Klang, mit dem sie ihn beten hörte.

»Der da zum Beispiel«, entfährt es ihr spontan, und nur Astrid weiß, worauf ihre Bemerkung zielt, nämlich, dass Irina einen Mann im gemeinsamen Zimmer bevorzugt hätte, was so auch wieder nicht stimmt, denn am liebsten schläft sie allein, und den Spruch erlaubt sie sich allein deshalb, um die frisch vermählte Astrid zu schockieren, die noch an die Liebe glaubt.

Die hehre Liebe.

Irinas eigene Liebschaften hingegen waren wenig berauschend in letzter Zeit, wenn sie es genau bedenkt, obwohl Henrik zunächst so forsch und wohlschmeckend riechend daherkam, dass sie einfach nicht Nein sagen konnte, denn er verkörperte die leibhaftig gewordene Hoffnung, nach diesem Idioten Dietmar, der außer dem Bau einer Schrankwand wenig zu bieten hatte, endlich wieder ihre Wildheit ausleben zu dürfen. Wenigstens diese Hoffnung enttäuschte Henrik nicht, das war es, mehr ist nicht möglich zwischen ihnen, und Irina stellt erstaunt fest, dass sie an ihn bereits als an etwas abgeschlossen Vergangenes denkt, vermutlich sollte sie es ihn bald wissen lassen.

Um Komplikationen zu vermeiden.

»Da ist er ja«, sagt Kašička, »darf ich vorstellen? – Tomáš Bubeniček.« Ja, natürlich ist das Bubeniček, wer sonst hätte das sein können? Dennoch freut sich Irina über die Bestätigung ihrer Annahme, dass dieser Bubeniček hier der gesuchte Bubeniček ist, denn mit einem wie Henrik oder Dietmar oder Jona an ihrer Seite könnten die drei Monate, die sie an dem Projekt voraussichtlich gemeinsam arbeiten werden, zur Hölle werden. Und dank ihrer weisen Voraussicht, die Schnäpse trotz der inzwischen ausgelassenen Stimmung noch immer zählen zu können, statt betrunken unter dem Tisch zu liegen, ist es Irina möglich, sich ohne nennenswerte Probleme zu erheben.

Königlich.

Sie streckt Bubeniček ihren Arm entgegen und drückt ihm, der angenehmen Überraschung des Abends, die Hand, eine warme Hand ist das, rau von der Arbeit, ebenso wie die ihre. Im Grunde genommen sind ihre gesamten Handinnenflächen ein Grauen, angegriffen von Chemikalien und Handwerkszeug, verhornt und verschorft, schlimmer noch, als es die Hände einer Bäuerin je sein könnten, vermutet Irina. Aber diese geschundene Hand in der Hand eines ebenso Geschundenen, das wiederum ergibt Sinn. Rau und rau fassen ineinander und formen sich zu einer Einheit.

Bubeniček löst ihren Händedruck, gießt sich einen Pfefferminztee auf und setzt sich neben sie. Er nippt an der Tasse, pustet in den Dampf und sagt dann in lupenreinem Deutsch: »Schön, dass Sie da sind, Irina, ich darf doch Irina sagen?« – »Natürlich, ja.«

Willkommen in der Vertrautheit.

3

Mit einem Ruck erwacht Irina mitten in der Nacht und begreift sofort, was sie geweckt haben muss. Unter ihr schnarcht Astrid, Irina hat es befürchtet und gleichzeitig gehofft, nur Männer würden schnarchen, was für ein alberner Gedanke, aber sie teilt ja selten das Zimmer mit Frauen, ihre Mutter duldete es nicht, gemeinsam zu schlafen.

Als Kind, damals, gab es das gemeinsame Zimmer mit den anderen Mädchen im Landschulheim und später das gemeinsame Bett mit Zoe, als diese noch klein war und in Irinas Bett kroch, wann immer sie schlecht träumte, von Krieg und Dingen, die ein Mädchen in diesem Alter nicht kennen kann. Irina nahm sie auf und tröstete sie, dennoch störte es sie zunehmend, das Bett mit ihr teilen zu müssen, sie brauchte ihn immer schon, den eigenen Raum in der Nacht.

Am Tag auch.

Warum nur hat sie sich dazu bereit erklärt, sich in dieses Etagenbett zu quälen, aus Nettigkeit wahrscheinlich, oder aus dem Wunsch heraus, sympathisch zu wirken. Bloß nicht anecken, so wurde es ihr beigebracht. Früher, im Landschulheim, ja, da konnte sie für kurze Zeit in Etagenbetten liegen und kichern und andere schnaufen hören, aber als erwachsene Frau? – Nein, danke.

Schluss mit den Zugeständnissen.

Irinas Zehen betasten das kalte Metall des Gestänges, sie liegt zu weit oben, zu weit entfernt von dem, was sie den festen Grund unter den Füßen