Hinterm Jordan liegt Italien - Florian Stritzelberger - E-Book

Hinterm Jordan liegt Italien E-Book

Florian Stritzelberger

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Beschreibung

Ein Sportlerherz hat mit 17 noch reichlich Liebe zu verschenken. Aber nicht, wenn du in einem Jugendhospiz lebst. Raffael muss raus, nochmal das Leben spüren. Am besten mit der Sterbebegleiterin Nora, die mit 22 Jahren schon Ahnung vom Leben, viel wichtiger, vom Tod hat. Warum sonst schickt das Universum ihm die menschgewordene Entschuldigung für seine Krankheit. Jetzt ein Abenteuer, das nach Leben riecht, solange es noch duftet. Flucht nach vorne. Raffael überredet Nora, mit ihm den Fernwanderweg E5 bis nach Italien zu wandern. Den Rucksack gepackt voller Ängste, Wünsche und Hoffnungen. Mit dem Tod vor Augen wird der Weg für beide zum Ausrufezeichen an das Leben!

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Bunte Bummler, You‘re Mine - Original Mix

Fynn Kliemann, Regen

DAENS, eighteleven

Lord Huron, The Night We Met

The Proclaimers, I‘m Gonna Be 500 Miles

Hozier, Take Me To Church

Lost Frequencies; Zonderling; Kelvin Jones, Love to Go

The Ataris, The Boys of Summer

Birdy, Skinny Love

Al Bano And Romina Power, Felicità

El Profesor; HUGEL, Bella Ciao - HUGEL Remix

AnnenMayKantereit, Ausgehen

Enno Bunger, Bucketlist

Pink Floyd, Wish You Were Here

Tom Rosenthal, Go Solo

Tom Rosenthal, It‘s Ok

Kapelle Petra, An irgendeinem Tag wird die Welt untergehen

Mogli, Wanderer

Clara Louise, Deine Heimat

Clara Louise, Wenn es im Sommer schneit

Inhaltsverzeichnis

DIE MUSIK GEHT MIT

DIE FARBEN DER STILLE - NORA

WO IST DAS PROBLEM? - RAFFAEL

KLASSENTREFFEN - NORA

LAUFEN - RAFFAEL

HUNKE SCHREIBT - NORA

GEDANKENSTAUBSAUGER - RAFFAEL

VOEGEL, HASEN, FISCHE - RAFFAEL

DAS JUNGENZIMMER - NORA

X UND Y - RAFFAEL

FREUNDE - RAFFAEL

ICH TRAGE ES BEI MIR - NORA

AUF DEM DACH - NORA

TERRASSENPLAN - RAFFAEL

WERWOLF - RAFFAEL

VORBEREITUNGEN - NORA

SACHEN PACKEN - RAFFAEL

RICHTUNG SUEDEN - NORA

WANDERHOCHZEIT - RAFFAEL

LECH MICH - NORA

NACH UNTEN - RAFFAEL

FALLEN UND AUFSTEHEN - NORA

AM SEE - RAFFAEL

DURCH DIE NACHT - NORA

ANKOMMEN - RAFFAEL

MERAN - NORA

MANDARINENDUFT - RAFFAEL

RUECKSITZ - RAFFAEL

BLAUPAUSE - NORA

IM RUCKSACK - NORA

RAUMFORDERUNG - RAFFAEL

UNTER UNS FRAUEN - NORA

ALLEINE GEHEN - RAFFAEL

GEWITTER - NORA

ZEIT - NORA

NACHWORT

DIE MUSIK GEHT MIT

Lieder begleiten uns ein Leben lang. Sie saugen Erinnerungen wie Schwämme auf. Bei jedem Schritt, den du gehst, klingt Musik – ob es das Rauschen eines überquerten Flusses ist oder das dumpfe Grummeln eines Geröllfeldes unter deinen Wanderschuhen. Kein anderer Mensch hat bei diesen Liedern die gleichen Erinnerungen wie du sie hast. Es sind deine Schwingungen, deine Schritte, deine Fußstapfen und deine Bilder, die nur in deinem Kopf auftauchen. Es ist ein geheimer Code, ein Zwischen-den-Zeilen-Lesen. Nur die, die mit dir gehen, kennen ihn.

Die Spotify-Playlist zum Buch

DIE FARBEN DER STILLE - NORA

Der Tod war für mich immer wie eine nur schwer zu ertragende, launische Cousine, die uneingeladen zu Besuch kam.

Gott sei dank ließ sie einen dann wieder in Ruhe – jeder war froh, wenn sie wieder weg war. Das änderte sich, als sie an einem Samstagvormittag bei uns einzog und mein ganzes Leben auf den Kopf stellte – noch schlimmer: Ich musste mich mit ihr anfreunden.

Der Wochenendeinkauf ist voller Leben – da denkt keiner an den Tod. Wie Ameisen krabbeln die Menschen in den Gängen. Wir wollten nur Lebens-Mittel. Dinge, die das Leben braucht. Dazu gehören Brüder mehr als Rosinen.

Du mochtest nur die grasgrünen Äpfel – zum In-die-Tasche-Stecken für den Skaterplatz. Vier Obsttellerchen mussten es sein. Ich kann doch keinen Apfel in drei Teile schneiden! Wer ahnt da, dass das Piepen des Artikelscanners zu deinen letzten Herztönen wird?

Niemals hätte ich gedacht, dass beim Klicken des Chips aus dem Einkaufswagen Menschen sterben können.

Unvorstellbar diese explodierende Stille auszuhalten, wenn jemand geht!

Nicht jemand, DU!

Alle Menschen, die sterben, hinterlassen ein »DU« und gehen nicht als »Jemand!«

Und jetzt helfe ich anderen, mit dieser Explosion umzugehen. Ein Teil meines neuen Lebens. Ich bin diejenige, die sich diesen gefährlichen Seelensprengstoff zutraut! Wann reden wir endlich über den Tod?

Doch immer erst dann, wenn es so weit ist. In der Familie. In der Schule oder im Verein. Als wäre der Tod ansteckend, wenn man zu oft über ihn spricht! Ich versuche mit meinen Worten in diese Stille vorzudringen, wo es doch so viel einfacher wäre zu schweigen.

Dieses »Auf Wiedersehen« der Kassiererin an der Kasse lässt mich nicht mehr los, weil es dich losgelassen hat.

Ich dachte immer, das wäre ein Versprechen.

Wieder-Sehen.

Wieder-Sehen!

Wieder!

Sehen!

Das ist das letzte Bild in meinem Kopf, das ich von dir habe, mein Bruder! Du an der Kasse. Blaulichter, die sich in den Gesichtern meiner Eltern drehten. Doch für mich war es nicht blau. Ein farbsaugender Filter legte sich auf die Welt, der meine Familie zerstört hat – Graulicht.

Dein letztes getragenes Schlaf-T-Shirt mit dem »Life is a Wheel«-Aufdruck liegt jetzt in meiner ersten eigenen Wohnung unter meinem Kopfkissen, und ich habe die leuchtenden Sterne wieder an die Decke geklebt, die wir als Kinder immer zum Einschlafen brauchten.

Nach deinem Tod, lieber Bruder, wusste ich nicht, dass hinter diesem Dunkel die ganze eingetrocknete Farbpalette des Lebens darauf wartet, wieder in der Welt zu malen. Pinselstriche in allen Formen und Farben. Duftende Heuhaufen, frische Buttermilch, endlose Felsformationen, die dir eine Gänsehaut verpassen. So unerreichbar, so wild! Hungrige Fabelwesen aus Gestein, die sich in Bergseen spiegeln. Sonnenuntergänge unter freiem Himmel. Regentropfen auf der Haut, die alles Dunkel von dir waschen.

Das alles hätte ich nie gedacht!

Aber es gibt die Gewissheit, dass es mit jedem Schritt besser wird. So war es bei mir. Ein Mensch geht nie ganz! Du warst bei allem dabei, mein Bruder, und auch für dich habe ich es aufgeschrieben.

Ich falle nicht um. Meine Füße tragen mich! Das sollte jeder wissen, auch wenn es noch dunkel ist.

Das Leben wartet in allen Farben hinter dieser Stille, ich verspreche es dir – und allen, die nicht mehr daran glauben!

WO IST DAS PROBLEM? - RAFFAEL

Ich hänge kopfüber in einer »Kerze« an der Wand. Das ist nicht nur mein Ritual gegen Schlaflosigkeit vor Wettkämpfen, sondern auch die Beschreibung meines ganzen Lebens. Lang, dünn und ich brenne für den Sport.

Der frühe Sommer treibt die Leute ins Freibad – nur ich darf heute meinen Körper in der Hitze bei den Kreismeisterschaften quälen. Stimmen hämmern mit dem Echo einer prähistorischen Höhle in meinem Schädel:

»Du wirst gewinnen!«(Füße, überdurchschnittlich, Größe 47).

»Und was ist mit deinem Liebesleben?« (Herz, großes Volumen, 17 Jahre).

»Du wirst beides verkacken!« (Kopf, chaotisch, 17 Jahre).

»Ich schließe mich dem Kopf an!« (Darm, leicht gereizt, Mitläufer, 17 Jahre).

Der Atem fließt – ich atme ein, wölbe den Bauch, zähle auf 4 – atme aus. Ich frage mich, warum ich nicht wie jeder 17-Jährige an einem stinknormalen Sonntag im Bett liegen kann. Ich könnte mir auf die Hand furzen und schauen wie es riecht, mich darüber aufregen, wie eklig das ist, oder wieder einschlafen. Noch besser wäre ein Mädchen, das neben mir liegt und ohne Unterwäsche eingeschlafen ist – und auch ohne wieder aufwachen würde. Sie muss nichts Besonders haben: Keinen besonderen Leberfleck oder Rehaugen, wie es in den Büchern steht. Sie kann auch Ticks haben, ehrlich, ich habe keine überzogenen Erwartungen an die Frauenwelt.

Ich wälze mich hin und her, schaue mir auf dem Smartphone die Namen meiner Gegner an. Einer klingt schon wie ein Auftragskiller oder Scharfschütze: Tobias Kyrictikcskow.

»Die Wettkampftaktik ist der Schlüssel zum Sieg«, höre ich meinen Trainer sagen.

»Du kannst, wenn du willst, Raffael, dein Problem ist der Kopf.«

Dieser Satz: ICH! HASSE! IHN! Er nagt wie ein Killereichhörnchen an mir – heute umso mehr.

Ich denke oft daran, die Sache sein zu lassen. Nur noch in der Natur Joggen gehen, ohne Pulsmesser und GPS-Tracker – unterwegs in der Augustsonne eine Brombeerhecke ausrauben, mit Vampirmund wieder heimkommen und glücklich in den Vorgarten pinkeln.

Aber nein – ich bin ja für den Leistungssport geboren. Bei mir zählt der Untergrund, auf dem ich laufe (Waldboden und Gegenwind kosten wertvolle Sekunden!).

So kommt es, dass ich nicht mehr schlafen kann, jetzt hier im Kopfstand hänge und seit 5:30 Uhr Entspannungsübungen mache. Die Übung im Kopfstand heißt ›Shirshasana.‹ Ein heißer Tipp aus der Yoga-Lifehack-Kiste meiner Mutter. Sie hilft dir gegen innere Anspannung vor körperlichen Höchstleistungen und löst Blockaden. Die Wunderwaffe gegen all meine Probleme. Bestimmt gibt es im Yoga-Vokabular auch einen Ausdruck dafür, dass gleich ein riesen Unglück passiert, falls man nicht S-O-F-O-R-T diesen Kopfstand verlässt und die Toilette aufsucht.

Ich schlage als Namen vor: ›Shitwasndasda‹. Die große innere Unruhe vor der nach außen drängenden Erleichterung. Ich muss immer auf den Topf vor Wettkämpfen - auch wenn nichts mehr da ist. Das hat wohl irgendwie mit Stress zu tun, behauptet meine Mutter.

»Raffael, dein Frühstück!«

Ich höre, wie mein Vater das Auto aus der Garage fährt. Er prüft wahrscheinlich den Tankstand und wischt die Spiegel mit einem frischen Tuch nach, auch wenn sie gar nicht beschlagen sind.

»Hast du deine richtigen Laufsocken an?«, fragt meine Mutter.

Ich nicke, sitze erschlagen vor meinem Sportlermüsli. Wohl überlegt aus einer separaten Box mit der Aufschrift »Wettkampfnahrung«. Als wäre ich ein Zuchtkaninchen.

»In 5 Minuten solltest du fertig sein mit deinem Frühstück, du weißt, dass du sonst Probleme mit der Verdauung hast«, ruft mein Vater durch die offene Haustür.

Es gibt nichts Schöneres als sonntagmorgens mit deinem Vater über deine Stuhlgewohnheiten zu diskutieren.

Im Auto läuft zuerst die Klassik-CD meiner Mutter, dann die Motivations-CD meines Vaters: »Runners High – Lieder, die es laufen lassen«. Die lächerliche Dramaturgie eines Sonntags.

Wir kommen an, und ich sehe den Volvo meines Trainers. Ich spule mein gewohntes Aufwärmprogramm ab. Hopserlauf, Springen, Anwärmen, Steigerungsläufe, kleine Schritte, große Schritte, Arm kreisen und einen längeren Sprint.

Mein Trainer klatscht mich ab und fragt jedes Mal mit: »Fit?«

Ich nicke und binde meine Schuhe neu. Das wäre dann mein Tick: Ich habe höllische Angst davor, dass die Schnürsenkel aufgehen und ich stürze. Anfängerfehler!

Doppelknoten. Die Laufsocken ziehe ich noch ein Stückchen strammer. Renne wieder aufs Klo und würde mich am liebsten durch die Kanalisation in ein weit entferntes Meer runterspülen.

Aufstellung.

»Denk daran, deine Arme mitzunehmen!« Als hätte ich die schon mal vergessen! Danke Trainer!

Der Duft von Anspannung, isotonischen Getränken und angeschwitzten Sportklamotten hängt über den Startblöcken. Metallisch beißende Zähne schauen mich aus dem Startblock an.

Meine Mutter steht an der Begrenzungsstange neben der Bahn und zeigt mir ihre zusammengedrückten Daumen. Ich lache zurück – äußerlich. Will so tun, als wäre ich entschlossen – als hätte ich die Sache im Griff.

Die Startblöcke drehen sich vor meinen Augen – ich will nur nicht kotzen. Jegliches Rot aus dem Bahnbelag ist in meinen Kopf gewandert. Mein Herz rast, jetzt gibt es kein Zurück. Ich habe die Innenbahn, schaue nach links, nicke kurz.

Startposition.

Der Schuss reißt mich nach oben, und die geübten Bewegungen drücken mich nach vorne. Perfekte Bedingungen, kein Wind, die Gedanken frieren ein, und die Zellen arbeiten – ich funktioniere wie geplant. Meine Augen nach links und rechts. Keiner da. Ich bin Erster. Spüre wie sich die Blicke auf mich richten. Der Scharfschütze zielt bestimmt schon auf mich. Aber ich bin der Leitwolf. Der Sprecher sagt meinen Namen, und ich führe immer noch.

Zahlen, Rundenzeiten prallen an mein Ohr, mein Trainer feuert mich an. Er läuft neben mir. Ich laufe noch schneller, weil ich ihn schnell hinter mir lassen will. Ich bin auf dem besten Weg. 5 Sekunden Vorsprung. Noch zwei Runden, dann habe ich 3000 Meter hinter mir.

NEIN!

Ein verschissenes rotes T-Shirt hinter mir wird immer größer, überholt mich und – als wäre das nicht genug – tut das der Kerl mit der Laufbrille auch noch. Jetzt ein Gehfehler!

ZIELEINLAUF!

Platz 3

Dafür trainiere ich sogar vor der Schule? Fresse dieses Müsli und hänge morgens verkehrt herum an der Wand?

Keuchen – Luft – keuchen – Luft – KEINE LUFT – noch mehr keuchen – Luft – Luft – ATMEN!

Ich will mich hinlegen, darf aber nicht – das zeigt Schwäche. Stehen bleiben. Arme hoch. Sauerstoff. Leckt mich alle am Arsch, ich lege mich jetzt hin!

»Raffael, aufstehen, die Arme hoch, du warst zu schnell am Anfang.«

Ich stehe wieder auf, beuge mich über die Stange, mein Kreislauf poltert sich nur schwer wieder ein. Ausnahmezustand in meinem Körper. Ich kann meinen Gegnern nicht gratulieren, trete einen Getränkebecher um und verziehe mich Richtung Hochsprungmatte. Wie oft saß ich da schon. An diesen blauen Hochsprungmatten und habe geflennt. Meine Tränen hinter professionell aussehenden Dehnübungen versteckt. Die verzogenen Mundwinkel meines Trainers. Die Enttäuschung in seinen Händen auf dem Rücken gefaltet. Der schlendernde Gang, seine Form von Kritik. Mein Vater schreibt meine Rundenzeiten in sein Handy. Meine Mutter kommt auf mich zu. Sie beugt sich zu mir runter, gibt mir einen Kuss auf die Stirn und ihre Handtasche baumelt im roten Dreck. Sie nimmt meinen Kopf in beide Hände, als hätte ich eben erst das Licht dieser Welt erblickt. Diese Mütter. Bedingungslose Liebe. Es tut gut. Ich will es aber nicht zugeben.

»Du hast gewonnen, Raffael.«

Ich bin zu erschöpft, um mich zu schämen. Ich weiß genau, was kommt, verlange es fast: Aufmunterung.

»Ich bin Dritter, nur weil ich zu viel wollte – ich war wieder zu schnell in der ersten Hälfte.«

Pausenmusik in miserabler Tonqualität aus den Charts.

»Du hast alle Runden gewonnen – bis auf die letzten zwei.«

Sie meint es gut, ich winke ab und verschwinde, dusche und verziehe mich lautlos auf den Rücksitz unseres Autos. Mein Körper zittert vor Erschöpfung, erzeugt Energie, die er nicht hat.

Ich glaube, ich hätte gern einen Bruder oder eine Schwester. Es ist so verdammt einsam auf diesen Autofahrten auf dem Rücksitz. Es wäre schön, die Erwartungen meines Vaters auf Geschwister verteilen zu können. Ich fühle mich elend. Meine Mutter reicht mir eine Sprudelflasche, weil ich stechende Kopfschmerzen bekomme und verschwommen sehe. Das war das Problem. Nicht meine Eltern oder der Wettkampf.

Wie herrlich ›relativ‹ die Welt doch ist. Alles nur so schlimm, wie du es durch deine Brille siehst. Dein Maßstab über Glück und Unglück bist du. Keiner sagt einem, wann du zufrieden sein sollst. Es gibt keine Anleitung, wie du mit deinem Leben klarkommst. Da kommen Bagger mit Abrissbirnen in dein Leben, und all das, von dem du denkst, es wäre wichtig, wird platt gemacht. Fehlversuch. Neustart. Auf die Plätze. Fertig. Los. Allem einen neuen Sinn geben.

Was die wahre »Bestzeit« im Leben ist und wie wunderschön ein dritter Platz ist, habe ich an diesem Tag eben noch nicht kapiert.

Es braucht keinen Kopfstand, um das Leben auf den Kopf zu stellen.

KLASSENTREFFEN - NORA

»Hast du Zeit?«

Ich sehe die Nummer des Absenders – habe noch keinen Namen in meinen Handyspeicher getippt, obwohl er es verdient hätte, weil er nett ist – ich könnte mich mit ihm treffen. Etwas in mir weigert sich.

Ich antworte ihm nicht, auch wenn ich es vielleicht gern würde. Ich habe keine Zeit, weil meine Gäste hier keine Zeit haben und weil ich keine Zeit für meinen Bruder hatte. In diesem einen Moment. Als hätte mir jemand in dieser einen Situation vor dem Supermarkt ein paar entscheidende Sekunden Zeit aus der Hosentasche geklaut. Zeit-Taschendiebstahl! Aber die können sie alle haben, meine Sekunden, das ist mir viel zu genau. Sekunden passen nicht zu mir.

Der Alltag geht von Montag bis Freitag. So war es in der Schule. Seit ich hier im Hospiz arbeite, sind Wochentage nur Buchstaben auf vergessenen Kalenderblättern. Meine Zeitrechnung beginnt bei der Diagnose und das letzte Blatt ist der Abschiedsraum.

Keine Routine, nicht etwas, an das du dich gewöhnst: Diese Menschen hier können einander nicht die Zeit stehlen, sie geben sich Zeit.

Die Filterkaffeemaschine brodelt in unserem Büro wie ein Vulkan, der einiges nachzuholen hat. Wassergeräusche des schmatzenden Kaffees – Nachmittagsgemütlichkeit liegt über dem Eichenforst.

Auch bei uns kann es gemütlich sein, das verstehen viele nicht. Hospiz hat aber was mit Hoffnung zu tun. Ein kleines Wäldchen voller krummer Eichen und eine Klinik mit Schloss-Charakter. Die Parkanlage mit den Teichen und dem großen See. Der Bach mit den Fröschen, den Jonas immer den »Jordan« nennt: Die Schwelle zwischen Leben und Tod, gleich neben der Einfahrt. Er lässt einen so viel Lebewesen vermuten: Insekten, Fische, Frösche und Vögel. Es gibt so viele Dinge hier, die lebendig sind. Die Landstraße mit den gleich gekämmten Bäumen und dem Freibad daneben.

Verschwenderisches Leben drüben jenseits der Landstraße, in Badehosen und Bikini – alles in Sichtweite. Aber trotzdem liegen Welten zwischen den Gästen des Freibads und unseren Gästen. Es wundert die Leute, dass bei uns auch gelacht wird und dass wir in ihren Augen so gar nicht wirken wie ein Krankenhaus für Sterbende. Das ist zum Aus-der-Haut-Fahren.

Das sind die gleichen Leute, die behaupten, man darf auf Beerdigungen nicht lachen oder keine bunten Kleider anziehen. Jedenfalls hat das ganze Anwesen hier eher etwas von Internat oder Reiterhof – nur ohne Pferde und Schüler – und wirkt so gar nicht lebensgefährlich.

Ich schaue dem Wasser zu, wie es im Filter versinkt und der Kaffeesatz sich immer mehr verdickt. Meine Rettung nach zwei Stunden Supervisionsgespräch mit meiner Chefin Frau Kerstens, der Leiterin des Kinder- und Jugendhospizes am Eichenforst.

Mein Handy klingelt – ich lasse meinen Kaffee alleine Kaffee werden.

»Nora Schelling.«

»Hunke, Realschule Niederstett, also damals, früher Realschule Niederstett – Nora, bist du es?«

Ich brauche ein paar Sekunden, bis die Information in meinem Langzeitgedächtnis ankommt.

»Hallo, hörst du mich?«

»Herr Hunke, das ist aber eine Überraschung!«

»Nora, ich, äh, hör mal – Sebastian hat aus Salzburg angerufen, der will ein Klassentreffen planen und gab mir deine Nummer… ihr wart doch Klassensprecher, du und der Sebastian, deswegen… dachte ich…«

Hunke höchstpersönlich. Mein Klassenlehrer aus der Realschule. Er ging mit uns in den Ruhestand und wir in die Welt hinaus.

»Wie geht es Ihnen denn, Herr Hunke?«

»Gut, gut, der Zucker und die Augen, aber hör mal … also ich finde, der Sebastian hat recht. Ich habe euer Fotoalbum wieder angeschaut und dachte an ein Klassentreffen bei mir im Garten, der Freitag in zwei Wochen? Ist ja jetzt auch schon ein paar Jährchen her. Aber, ich will nicht stören!«

Während der Schulzeit waren wir gefühlt öfter bei Hunke im Garten, als im Klassenzimmer. Biologie, Deutsch und Weltwissen. Vor allem Weltwissen. Wann immer er den Unterricht nach draußen verlegen konnte, stand an der Tafel »Außerschulischer Lernort, Hunke.«

Die meisten Mitschüler haben ihn belächelt. Von lächerlichen Lehrern kann man wenigsten das Lachen lernen. Wobei er eher ein Lehrer zum Mitlachen war, als ein lächerlicher Lehrer. Das ist ein großer Unterschied. Er gibt an der Uni noch immer Kurse in »Die Kraft des Schreibens« – mit seinen Füllern, die mehr als sein alter Jeep kosten.

Jola klopft. Sie will einen neuen Verband haben und ich muss heute noch Schmerzmittel nachbestellen. Also würge ich Hunke ab mit: »Gute Idee« und »Warum nicht! Ich freue mich!« Dann eben: Klassentreffen bei Hunke.

An besagtem Abend sitzt dann die damalige 10a der Realschule Niederstett bei Lachsbrötchen und Bowle im Garten bei Hunke. Ich bin mit gemischten Gefühlen hin, bitte kein »Mein-Auto«-, »Mein Studienplatz«-, »mein neuer Freund-Gerede!«

Aber Hunke wäre nicht Hunke, wenn er nicht einen Plan für den Abend hätte. Auf jedem Platz liegt ein »Schreibauftrag«, wie früher.

»Ein guter Text sagt mehr als ein belangloses Gespräch. Wer schreibt, der bleibt. Das Leben hat euch überall hin verschlagen, deswegen: umso schöner, dass ihr da seid! Wie wäre es mit einem Text, der euch persönlich in eurer Lebenssituation vorstellt – was ist aus euch geworden? Was ist das Besondere an eurem Leben und was ist euch passiert, was bewegt euch?«

Einen Text selber schreiben? Über sich selbst Gedanken machen? Dürfte für einige meiner Mitschüler schwierig werden, aus 500 Instagrambildern nur einen Text zu machen.

»Ach, Herr Hunke, Sie haben uns schon damals mit Ihrer Schreiberei gequält!«

Hier und da ein Spicken, ein Glucksen, trotzdem verebben langsam die Gespräche, weil jeder versucht sich und sein Leben auf Papier zu bringen.

Ich lasse gerne anderen den Vortritt. Musste nie die erste Geige spielen – das machte bereits Sebastian mit seinen Kaschmir-Pullovern. Ich korrigiere noch ein, zwei Absätze unter dem Tisch, so dass es die anderen nicht sehen. Neben der Feuerschale liegt Hunkes Hund »Antonov«, ein Golden Retriever. Es gibt da ein Gerücht über ihn: Hunke habe sich nur einen Hund angeschafft, weil Hunke und Hund denselben Anfangslaut haben. Ein Hunke hat keine Katze. Er liebt literarische Stilmittel. Hunkes’ Hund eben. Das geht gut über die Zunge.

Es ist schon nach Mitternacht, und ich hoffe, dass ich vergessen werde und wir alle schon »genug« von den Geschichten haben. Von Auslandsstipendien in Südamerika, International-Management-Studiengängen und den ersten Nachwuchserzählungen. Aber Hunke wäre nicht Hunke, wenn er nicht jedem zuhören würde und von jedem einen Beitrag einforderte. Wie der Kapitän der MS Hunke sitzt er in seinem Strandkorb, die Beine übereinandergeschlagen. Er konnte auch früher schon die Stille aushalten, wenn keiner sich meldete. Und er kann nun warten, bis die Bowle fast leer ist und das Feuerholz nur noch blaues Glühen hervorbringt.

Ich dachte nicht an mich – wollte keinen Lebenslauf erzählen. Weil das Leben nicht nach Plan läuft. Nichts ist bei mir gelaufen, wie das Leben eigentlich laufen sollte. Ich dachte an meinen Bruder Freddi und vor allem an Jonas. An diesen Moment, als er gestern mit nassen Rastas barfuß vor dem Hospiz stand – atemlos, gerade als ich mein Rad anschließen wollte. Also traue ich mich, weil Menschen wie Jonas allen wichtig sein sollten. Ich beginne vorzulesen:

Ihr kennt mich als die Nora Schelling,

nicht verheiratet, habe auch keinen Freund, aber jede Menge gute Menschen um mich.

Ich habe in meiner Familie eine Sache erlebt, die mich nie mehr losgelassen hat.

Dieses Gefühl wünsche ich keinem Menschen, aber ich befürchte, wir alle, die wir hier mit Bowle im Kopf sitzen, müssen uns diesem Gefühl einmal stellen. Es kann dich an einem Dienstag treffen oder auch an einem Samstagabend. Es ist irgendwann da, tarnt sich lange und die meisten haben lange Glück. Dieses Gefühl ist zu meiner Lebensaufgabe geworden.

Ich arbeite als Sterbebegleiterin draußen am Eichenforst, das wissen vielleicht einige von euch. Ich kümmere mich um Menschen, die keine Zeit mehr haben, eine Familie zu gründen oder den Studiengang zu wechseln. Ich möchte euch von Jonas erzählen. Er hat Lungenkrebs und mir beigebracht, warum Sprungtürme die Berge der Stadt sind und warum jeder Sonnenaufgang zählt.

Jonas liebt die Berge – nur sind die Berge für ihn leider zu weit weg. Kurzerhand erklärte Jonas nachts den Sprungturm zum ›Mount Everlast.‹ ›Der Berg der Ewigkeit.‹ Er liebt es, Dingen einen Namen zu geben.

Er ist nachts getürmt. Er hat sich oben auf den 5-Meter-Sprungturm gesetzt, die Beine baumeln lassen und den Wecker auf 4 Uhr 59 gestellt, Sonnenaufgang. Er hat alle Foo-Fighters-Alben durchgehört und ist dabei eingepennt. Der Bademeister hat ihn am nächsten Morgen erwischt. Deshalb ist Jonas vom Turm ins Wasser gesprungen und mit letzter Kraft zurück zum Eichenforst gerannt – Kopfhörer, Handy – alles kaputt – Wasserschaden.

»Das Gefühl war es wert, Nora!«

So ganz trocken, hat er mir das erzählt. Obwohl er komplett nass war. Dann ist er hoch duschen gegangen. Zwei Stunden später stand ein Streifenwagen vor der Klinik – ein Polizist stieg aus mit einem abgerissenen Stück Jeansstoff und einer Edelweißkette als »Beweis« in der Hand. Klar, das war Jonas gewesen. Er hatte das am Zaun verloren.

Der Polizist meinte, dass er die Anzeige des Bademeisters in eine Verwarnung umbiegen könne. Er wisse Bescheid. Es gibt auch noch gute Seelen. Wir haben zusammen Kaffee getrunken. Zweifacher Familienvater. Er ist hochgekommen, damit der grantige Bademeister sieht: »Die verfolgen den Schwerverbrecher!« Er ist mit Blaulicht am Kassenhäuschen vorbeigefahren, damit der Schwachkopf zufrieden ist.

Hey, Leute, ich freue mich, euch alle wiederzusehen, über eure Babys und eure beruflichen Erfolge, und ich finde, Sonnenaufgänge hier bei uns können wunderschön sein. Und manchmal kann auch die rostige Leiter eines Sprungturms eine andere Welt bedeuten. Ich würde gern mit euch hierbleiben, bei Herrn Hunke und Antonov – auf die gute Schulzeit anstoßen. Bis zum Sonnenaufgang, bis dass die Polizei kommt. Denn das Leben kann schnell vorbei sein.

Zuerst ist es ruhig, was mir Angst macht. Ich überlege, ob das jetzt alles angebracht ist. Das Feuer knistert und Antonov hechelt. Dann kommt der Lärm des Lebens und der Vergangenheit. Der Lärm des Klassenzimmers, der jetzt in einem Garten sitzt.

Inas Glas fällt um, sie holt sofort einen Lappen. Sebastian steigt auf die Bank und hebt sein Glas.

»Auf uns, Nora und die zerbrochenen Gläser, die uns allen Glück bringen werden.«

Ina kann so gut pfeifen und hört erst auf, als Antonov sich ins Haus verdrückt vor lauter Lärm.

Es war schon lange nicht mehr so laut in meinem Leben.

Die Polizei kommt nicht – aber der Nachbar mit Schnaps. Ich spüre ein Hüpfen in der Stimme und bin betrunken von Hunkes Bowle. Dann trommeln wir auf die Tische und johlen: »Hunke, Hunke, Hunke« – Antonov kommt wieder und bellt mit. Was für ein schöner Abend – so voller Geschichten von früher und Erinnerungen.

Ich liege erst im Bett, als es schon hell ist. Zum Glück habe ich am nächsten Tag frei. Es war kein Sonnenaufgang auf einem Sprungturm, aber einen Sonnenaufgang auf Sebastians Gepäckträger – meinem ehemaligen Schwarm aus der 7. Klasse. Sebastian, der so gut Geige spielen kann und jetzt in Salzburg Musik studiert. Ich hoffe, ich habe ihm nichts Falsches erzählt. Er ist extra angereist fürs Klassentreffen. Wir haben versprochen, wieder mal zu telefonieren. Er ist an Weihnachten bei seinen Eltern. Dabei weiß jeder, wie selten sich ein »man könnte« in ein »es ist« verwandelt.

Als Schülerin war die Schule immer Alltag – so ganz selbstverständlich. Jetzt ist sie was Besonderes – eine besonders schöne Erinnerung aus der Vogelperspektive. Mit der Sicht vom Sprungturm auf das Leben. Mein Jonas wäre bestimmt auch ein guter Klassensprecher und der Clown auf jeder Abschlussfahrt.

LAUFEN - RAFFAEL

Das Laufen zu trainieren, das macht so was von Sinn. Im Gegenteil zu Fußball. Ich denke da zum Beispiel an Verfolgungsrennen, Banküberfälle, Gefängnisausbrüche, Klingelstreiche und Kampfhundattacken. Das wissen nur die meisten nicht. Schon so ein bisschen eine Sportart für die Schlauen, ohne jetzt arrogant sein zu wollen.

Aber Laufen ist Kopfsache. Das weiß ich, weil ich seit meinem neunten Lebensjahr Leichtathletik mache. Keine Ahnung wer auf die Idee gekommen ist, Menschen im Kreis rennen zu lassen und sich danach die Zeit aufzuschreiben. Bestimmt war das so was von den alten Griechen. Bis zu diesem Termin im Juni letzten Jahres dachte ich, dass das Leben eine Tartanbahn und alles ein Kreislauf sei. Wir haben Zeit, unsere Runden zu rennen. Da ist irgendjemand, der die Zeit vorgibt wie mein Leichtathletiktrainer. Er steht mit der Stoppuhr im Schatten einer Pappel und ruft die Rundenzeiten durch.

Nach Wettkämpfen fühle ich mich wie ein ausgepresster, zu oft benutzter Spüllappen, da kann es schon mal vorkommen, dass ich Kopfweh bekomme. Das Hämmern in meinem Schädel ging aber seit diesem Tag nicht mehr weg. Es gehört seitdem zu meinem Leben. Da hilft auch kein Kopfstand und kein herabschauender Yoga-Hund.

Als ich an diesem Sonntag Ende Mai von den Kreismeisterschaften heimkam, hatte ich nur noch die Kraft, mich mit meinem Jogginganzug aufs Bett zu schmeißen. Ich weiß noch, dass an diesem Tag die deutsche Fußballnationalmannschaft ihr erstes Gruppenspiel bei der WM gespielt hat. Seit ich denken kann, war es das erste Spiel einer Nationalmannschaft, das ich nicht angeschaut habe. So ein teuflischer Fußballhasser bin ich dann auch nicht.

Ich kenne das Gefühl, wenn man gegen den eigenen Schweinehund kämpft, denn wir Läufer haben unsere Psychotricks, die einen weiterlaufen lassen. Ich stelle mir zum Beispiel eine Flasche Grapefruit-Iso-Sprudel vor, die in einem Gefrierfach im Ziel auf mich wartet. Auch wenn es bescheuert ist, hilft mir dieses Bild: Irgendwo ist dieses kalte Getränk und wartet auf mich. Dann trinke ich innerlich, und zwar in kleinen Schlucken.

Ein weiterer Trick ist die Dusche. Läufer duschen nicht nur. Duschen ist wie eine Siegerehrung, jeder einzelne Wassertropfen klatscht auf der beanspruchten Haut Beifall und gibt dir das Gefühl: »Du hast es geschafft!« Es ist ein stilles, nacktes Feiern des eigenen Körpers, eine Entschädigung für die harte Schinderei, die ich ihm angetan habe.

Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, habe verzweifelt versucht, eine Lage im Bett zu finden, in der das Druckgefühl in meinem Kopf erträglich ist. Es war eine dieser Nächte, in der ich erst dann einschlief, als der Wecker gleich darauf klingelte. An Schule war an diesem Tag nicht zu denken. Meine Mutter gab mir eine Nackenmassage und danach fuhren wir zu unserer Hausärztin Frau Dr. Schmeiler. Sie hat mir Krankengymnastik für meine Halswirbelsäule verschrieben.

»Ich gehe davon aus, Raffael, dass deine Kopfschmerzen von der Überanstrengung kommen, deinem Wachstum oder auch einem verrenkten Wirbel.« Dienstags hatte ich dann das Gefühl, dass mir jemand eine Piratenaugenklappe auf das rechte Auge gelegt hat, und ich konnte meinen Schreibtisch und meine Hände nur noch verschwommen sehen. Das Nervige daran: Es war weg, es kam wieder. Andauernd hielt ich mir Gegenstände vor die Augen, um zu überprüfen, wie scharf ich sehe. Das Lineal war unscharf, mein rechter Birkenstock dagegen wieder scharf. Ich ging ins Bad und suchte nach einem Fremdkörper, der sich ausreiben lässt. Wie gern hätte ich die alte Regel angewendet: »Den Fremdkörper zur Nase reiben, dann wird es besser.«

In der Woche darauf waren die Kopfschmerzen weg. Die Probleme mit dem Scharfsehen blieben. Dann kamen die Gerüche. Ich wurde richtig kratzig und befahl meiner Mutter, im ganzen Haus nach einer Gasflasche zu suchen. Ich war felsenfest der Meinung, in unserem Haus rieche es nach Gas, also musste das Gas ja irgendwo herkommen.

Meine Eltern dagegen rochen nichts. Wir durchsuchten das ganze Haus, inklusive Hobbykeller. Wir haben nicht mal einen Gasgrill, da mein Vater einer dieser Holzkohle-Liebhaber ist. Laut ihm funktioniert echtes Grillen nur mit Holzkohle. Nicht einmal eine Camping-Kartusche war in unserem Keller zu finden. Trotzdem suchten wir alles ab. Sogar mein Onkel und alle möglichen Verwandten mussten zum Proberiechen kommen. Keiner roch etwas. Selbst meine Mutter nicht, und sie hatte immer schon ein feines Näschen: Sie konnte es auf unserer Terrasse riechen, wenn vier Straßen weiter jemand einen Hundekotbeutel auf dem Gehweg liegengelassen hatte oder wenn die Kläranlage in der Sommerhitze wieder stank. Meine Eltern beauftragten eine Wartungsfirma, die unseren Gasheizungsanschluss überprüfte. Mit der Heizung war alles in Ordnung, aber ab da ahnte ich, dass mein Anschluss nicht mehr funktionierte. Die Drähte in meinem Hirn hatten einen Kurzschluss, so als wäre der zentrale Rechner im System von einem Virus befallen. Es hagelte nur noch Fehlermeldungen, und ich traute mir und meinem Körper überhaupt nicht mehr. Nach der Gas-Geschichte wusste ich, dass etwas gewaltig faul an mir war.

Ich kannte Sportverletzungen: Da war die Zeit dein Freund, mit Ruhigstellen und ein paar Tagen Geduld konnte man die meisten Wehwehchen aus der Welt schaffen.

Aber jetzt war da dieses Gefühl, als hätte die Zeit die Seiten gewechselt und arbeitete nun gegen mich. Je mehr Zeit verstrich, desto schlimmer wurden die Sachen. Dann schmiss ich den allzeit verlässlichen Dr. Google an: »Phantosmie« heißt also die Krankheit, bei der du dir Gerüche einbildest. Es ist ein Geruch in der Nase, der keinen Ursprung hat, kein Duftmolekül, das dir diesen Geruch in die Nase legt. Es ist eine riesengroße Verarsche der Sinneszellen, die Ursachen für diese Krankheit sind unbekannt. Also ging ich zweimal die Woche zu unserem kroatischen Knochenbrecher. Ante hat eine Praxis für Physiotherapie und die stärksten Hände, die ich kenne. Mit einer päpstlichen Hoffnung auf die Erlösung allen Übels, knetete er an meinem Rücken herum, mal an der Wirbelsäule, mal eher am Hals.

Manchmal wurde das Kopfweh stärker und ich hatte dieses Gefühl, dass Ante mir einen Wirbel eingerenkt hatte, aber zwei wieder aus. Dennoch ging ich gerne hin, weil ich das Gefühl brauchte: Da ist etwas, das dir vielleicht helfen könnte. Und jedes Mal, wenn ich den automatischen Türöffner der Praxis surren hörte, war meine auf den Kopf gestellte Welt für ein paar Minuten in Ordnung. Aus diesem Grund ging ich lieber zu Ante als zu Frau Dr. Schmeiler. Bei ihr hatte ich immer das Gefühl, dass sie das Rezept schon vor der Untersuchung ausgefüllt hatte. Für sie gab es nichts, was sich nicht mit Antibiotika regeln ließe. Bei Ante dachte ich mir immer, der Typ hat ein Händchen für seine Patienten. Allein schon seine Praxis hat Stil, mit abstrakter Kunst an der Wand und Apfelringen am Tresen, den seine Frau managt.

Es war ein Dienstag Ende Juni. Ich lag bereits zwanzig Minuten auf der Krankenliege und Ante massierte einen Muskel, den ich mir als »Spinatmuskel« gemerkt habe. Richtig heißt er »Supraspinatus«, und eine Verspannung kann dort auch zu Kopfschmerzen führen.

Ante klopfte mir auf den Rücken, das ist sein Signal, dass wir fertig sind und ich mein T-Shirt wieder anziehen kann. Er griff nach seinem orthopädisch-optimalen Behandlungsstuhl und blickte mir in die Augen. Wer Ante kennt, der hört auf seine Worte.

»Raffa, ich glaube, deine Kopfschmerzen, deine Sehprobleme und deine Gerüche haben nichts mit deiner Wirbelsäule zu tun. Das müsste längst wieder weg sein.«

Und da bekam ich Angst. Ante macht nicht umsonst Angst. Aber dennoch hatte ich das Gefühl, ein Geist wäre ohne Erlaubnis in seine Stimme geschlüpft.