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Was wäre, wenn jemand behaupten würde, dass in unserer Welt nichts so ist, wie es uns erscheint? Dass wir alle in einer Welt der Lügen leben, die uns unser Glück und unsere Sehnsüchte nur vorgaukelt? Wir nur auf der Welt sind, um die Interessen einiger weniger mächtiger Menschen zu erfüllen? Die uns wie Hirten einer Schafherde hüten und eines Tages zur Schlachtbank führen werden. Das wäre doch zu unglaublich, oder? Genauso denkt Max Rilke. Zumindest so lange bis sein Kollege Paul Altmann spurlos verschwindet und er bei der Suche nach ihm auf die Verschwörung der Oosterbeek Society stößt. Einem Geheimbund, der die finanzielle, wirtschaftliche und politische Macht über die Welt in den Händen hält und der mit allen Mitteln zu verhindern weiß, dass sich das jemals ändert.
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Seitenzahl: 267
Veröffentlichungsjahr: 2023
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1. Kapitel
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24. Kapitel
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Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich begriff, was wirklich mit mir passiert war. In was für eine vertrackte Situation ich mich gebracht hatte und was dies in letzter Konsequenz für mich bedeutete. Ich konnte dem nicht nur stumm zuschauen. So wie ich es früher oft getan hatte. Ich musste irgendwas machen, auch wenn es mir schwerfiel.
Dann kamen mir jedoch Zweifel. War es nicht besser, es einfach auszusitzen und abzuwarten? Mich meinem Schicksal zu ergeben? Ich konnte doch eh nichts tun. War vollkommen machtlos. Und die Idee, alles was passiert war, niederzuschreiben, war tatsächlich nur hirnrissig. Wem sollte das denn was bringen?
Ich überlegte hin und her, wurde wütend über mich selbst. Vor kurzem war ich noch stolz auf mich gewesen, dass ich so viel riskiert hatte, und jetzt wollte ich einfach den Schwanz einziehen? Nein, nein, so funktionierte das nicht.
Was wäre denn, wenn das was ich erlebt hatte, nicht weitererzählt werden würde? All das Leid, all das vergossene Blut, all die guten Menschen, die dabei ums Leben gekommen waren, wären für immer verschwunden. Ganz so, als ob es sie nie gegeben hätte. Das hatten sie nicht verdient. Das Mindeste was ich für sie tun konnte, war, die Geschichte zu erzählen. Also habe ich den Stift hervorgeholt und damit begonnen, die Worte und Sätze, die mir im Kopf schwirrten, niederzuschreiben. Das konnte ich beileibe nicht offen tun. Ich musste mir heimlich Papier besorgen und die geschriebenen Blätter sorgfältig verstecken, denn ich wurde beobachtet.
Natürlich konnte ich nicht voraussehen, ob jemand diese Worte je wirklich lesen würde. Denn das würden die Mitglieder der Oosterbeek Society versuchen zu verhindern. Aber ich hoffte darauf. Genauso wie ich darauf vertraute, dass der Inhalt dieser Seiten nicht als Hirngespinst eines Verrückten angesehen werden würde.
Mich brauchten die Leute der Geheimgesellschaft nicht mehr zu fürchten. Ich saß dank ihnen in dieser Zelle fest und wartete darauf, was weiter mit mir passierte. Mir war klar, dass ihnen hier völlig ausgeliefert war. Meine Hände zitterten bei dem Gedanken, was sie alles mit mir anstellen könnten. Ich hatte noch nie so sehr Angst, wie in diesem Moment. Nicht davor, dass sie mich töteten, sondern eher, dass sie mich misshandelten. Oft arbeiteten sie mit unerträglichen Schmerzen, um dich zu brechen. Du tatest irgendwann alles, damit diese Pein endlich aufhörte. So erging es auch Paul Altmann. Er war mein Kollege beim BAkI (Bundesamt für künstliche Intelligenz).
Durch Paul erfuhr ich das erste Mal von der Oosterbeek Society. Ich glaubte ihm damals natürlich kein Wort. Wie sollte ich auch? Jetzt bedauerte ich es, dass ich nicht auf ihn gehört hatte. Ich war zu dieser Zeit noch frisch beim BAkI. Wechselte dorthin, da es mir als ein sicherer Arbeitsplatz in unseren krisengeschüttelten Zeiten erschien. Paul arbeitete mich seinerzeit ein. Dabei entwickelte sich eine lockere Freundschaft zwischen uns. Er war ein sehr netter Kerl. Überragte mich bestimmt um einen Kopf. War groß und schlaksig. Aber auch hochintelligent. Hatte genau wie ich einen Abschluss als Robotik Ingenieur gemacht. Paul war mir auf den ersten Blick sympathisch. Er hatte eine zwanglose Art drauf, nicht wie meine anderen Kollegen. Das waren eher typische deutsche Beamte.
Ich besaß zu diesem Zeitpunkt noch die Sicherheitsstufe G, während er sich schon auf Stufe E befand. Somit besaß er vereinzelt Zugang zu Dokumenten der Geheimhaltungsstufe VERSCHLUSSSACHE – VERTRAULICH. Und Paul war neugierig. So neugierig, dass er sich auch für Dinge interessierte, die mit unserem Arbeitsbereich eigentlich gar nichts zu tun hatten. Das ging auch eine ganze Weile gut.
Doch eines Abends passierte es. Ich wollte gerade Feierabend machen, da stürzte er in mein Büro und war völlig außer sich. So aufgewühlt hatte ich Paul bis dahin noch niemals erlebt. Sein Gesicht war rot angelaufen und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Augen waren vor Nervosität ständig in Bewegung. Außerdem bemerkte ich, dass seine Hände zitterten. Ehe ich ihn fragen konnte, was geschehen war, fing er an zu erzählen:
„Du wirst nicht glauben, was mir eben passiert ist. Der Chef hat doch diese neue Sekretärin. Ulla Maier heißt die, glaube ich. Die so ein wenig gothicmäßig aussieht. Immer schwarze Kleidung an und dunkel geschminkt. Gar nicht so übel sieht die aus.“
„Ja, die kenne ich. Die ist wirklich ganz hübsch, übertreibt allerdings etwas mit der Schminke.“
„Genau die ist mir auf dem Flur begegnet. Da haben wir uns ein wenig über die Songs unterhalten, die sie derzeit hört. Schon ein bisschen abgefahren, aber auch hochinteressant. Am Schluss hat sie mir noch diese Umlaufmappe in die Hand gedrückt. Vom Chef war die schon abgezeichnet. Ulla hat bloß übersehen, dass daran ein Dokument mit dem Stempel STRENG GEHEIM hing. Das hat sie allerdings sehr bald bemerkt und kam mir nachgelaufen. Hat mir das Schriftstück wieder weggenommen.
Ich konnte trotzdem vorher einen kurzen Blick darauf werfen. Es war das Protokoll einer nicht öffentlichen Sitzung des Innenausschusses im Juni. In der Hektik konnte ich es allerdings nur überfliegen. Was mir aber sofort auffiel, war ein spezieller Tagesordnungspunkt. In der Sitzung wurde beschlossen, die Empfehlung auszusprechen, die Zuleitung des besagten Alkalimetalls wie geplant zu erhöhen, um die Gefährdung der kritischen Infrastruktur zu minimieren und widerstrebende B.t. ruhig zu stellen. Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Ich befürchte, das heißt, dass wir mit dem Wissen unserer Regierung vergiftet werden oder warum sollten sie sonst ein Alkalimetall einleiten, um aufsässige Bevölkerungsteile zu besänftigen?“
„So verstehst du das also? Mir kommt da eine ganz andere Bedeutung in den Sinn. Kann es nicht einfach sein, dass dieses Alkalimetall dazu benutzt werden soll, Bauteile von einsturzgefährdeten Gebäudeteilen der vorhandenen Infrastruktur zu stabilisieren. Wenn ich in der Schule richtig aufgepasst habe, werden Alkalimetalle doch dazu genutzt, verschiedene Arten von Metallen zu härten, oder nicht?“
„Ja, das stimmt. Aber eines der Alkalimetalle wird in seiner Form als Salz auch zur Dämpfung der Impulsivität und zur Verringerung des Aggressionspotenzials verwendet. Das Lithium.“
„Und du meinst ernsthaft, sie führen dieses Lithiumsalz dem Trinkwasser zu, um Aufstände zu verhindern und die Bevölkerung ruhig zu stellen? Und das hier in unserem Land, wo so viel Zufriedenheit und Wohlstand herrschen? Das ist doch ziemlich abwegig, oder meinst du nicht?“
„Das wäre vielleicht nur der erste Schritt.“
„Und was wäre der zweite?“
Jetzt wurde Paul still. Entweder konnte er es nicht einschätzen, ob er mir soweit vertrauen konnte, dass er mir auch den zweiten Schritt ohne Angst erzählen konnte, oder er kannte den zweiten Schritt nicht. Von Letzterem war ich zu diesem Zeitpunkt vollkommen überzeugt. Paul wusste nicht mehr weiter. Somit war unsere Diskussion beendet und Paul ging mir eine Weile aus dem Weg. Zumindest bis zu jenem Tag an dem er spurlos verschwand.
Diesmal war es früher Morgen, als er zu mir kam und mich darum bat, nach Feierabend mit ihm noch etwas trinken zu gehen. Paul sah sehr blass und ziemlich übernächtigt aus. Genau wie beim letzten Mal, fanden seine Augen keine Ruhe. Als ich von ihm wissen wollte, ob es einen besonderen Anlass für dieses Treffen gab, hielt er seinen Zeigefinger vor den Mund und schüttelte den Kopf. Das sollte wohl heißen, dass er mir das erst heute Abend erklären wollte. Ich lächelte ihn daraufhin an und sagte:
„Ja, das können wir gerne machen. Treffen wir uns kurz nach sieben bei Angelo?“ Er nickte und war dann wieder weg.
Als ich ein paar Minuten später als vereinbart an diesem Abend in die Kneipe kam, saß Paul schon an einem Tisch in der dunkelsten Ecke des Lokals und kaute nervös Fingernägel. Sein Blick schweifte in dem gut gefüllten Raum hektisch von einem Gast zu dem anderen. Dann entdeckte er mich und versuchte zu lächeln. Es gelang ihm nur ansatzweise. In diesem Moment sah ich in seinen Augen, dass Paul Angst hatte. Eine tief gehende schreckliche Furcht. Gleich darauf stand er auf, kam auf mich zu und umarmte mich zur Begrüßung.
Nach den geleerten Gläsern auf dem Tisch zu urteilen, hatte er zu dieser Zeit schon mindestens drei Bier intus und eine gewisse Schwere erreicht. Das sah ich auch seinem Gang an. Außerdem brannte ihm etwas auf den Fingernägeln, was er mir unbedingt erzählen wollte. Denn sobald ich mir etwas zu trinken bestellt und mich zu ihm gesetzt hatte, fing er auch schon an zu sprechen:
„Du kennst doch sicherlich 1984?“
„Du meinst das Buch von George Orwell?“
„Ja, genau.“
„Ja, das kenne ich. Was ist damit?“
„Das ist alles real, nur noch tausendmal schlimmer.“
„Du meinst, dass Deutschland ein totalitärer Überwachungsstaat ist?“
„Nicht nur Deutschland. Die ganze Welt wird von ihnen kontrolliert.“
„Von wem?“
„Es gibt eine kleine Anzahl von Menschen, die alles über dich wissen und denen so gut wie die ganze Welt gehört. Die sogenannte Oosterbeek Society. Keiner weiß, wie sie aussehen und keiner weiß, wer sie sind. Aber es gibt sie. Und sie sorgen dafür, dass sich die Menschen in Sicherheit wiegen und nichts davon mitbekommen, dass sie eigentlich über keinen freien Willen mehr verfügen. Die Menschen geben freiwillig alles über sich preis und werden dadurch lenkbar. Können ganz leicht zu dieser oder jener Handlung gebracht werden. Das geschieht mit Hilfe modernster Computersysteme und der Medien, die übrigens alle gekauft sind.“
„Du weißt, dass sich das ziemlich verrückt anhört? Hast du denn irgendwelche Belege dafür?“
„Ja, ich habe inzwischen eine Menge von Beweisen zusammengetragen. Sowohl in Papierform als auch digital. Aus Sicherheitsgründen habe ich sie aber nicht bei mir. Es wäre zu gefährlich. Sie wissen, dass ich ihnen auf die Schliche gekommen bin und lassen mich deswegen überwachen. Ich habe die Dokumente an einem sicheren Ort untergebracht. Aber das wird sie wahrscheinlich nicht davon abhalten, mich zur Strecke bringen zu wollen. Doch ehe sie das tun, muss ich mich irgendjemanden anvertrauen. Und dabei ist meine Wahl auf dich gefallen. Dir vertraue ich.“
Ich war mir in diesem Augenblick nicht sicher, ob ich mich über diese Ehre geschmeichelt fühlen sollte, oder ob es nicht besser wäre, schnellstmöglich das Weite zu suchen. Denn das klang alles ziemlich irre. Doch dann sah ich den verzweifelten Blick in Pauls Augen und blieb sitzen. Schließlich hatte er mich stets gut behandelt, war ein sehr netter Kollege und auch ein Freund.
Gerade setzte Paul an, mir ausführlich von den Dingen zu erzählen, die er herausgefunden hatte, da löste ein panischer Blick, der auf etwas hinter meinem Rücken gerichtet war, den eben noch verzagt wirkende Ausdruck auf seinem Gesicht ab. Als ich mich umdrehen wollte, um zu sehen, wer oder was diese Reaktion bei ihm ausgelöst hatte, hielt er meine Hand fest und sagte:
„Dreh dich jetzt nicht um! Wenn sie merken, dass du etwas von ihnen weißt, bist du deines Lebens nicht mehr sicher.“
Also ließ ich es bleiben und wartete darauf, dass Paul mir weitere Anweisungen gab. Die blieben jedoch aus, denn sein Gesicht war von einem Moment auf den anderen schmerzverzerrt. Er hielt sich mit beiden Fäusten so fest seine Schläfen, als ob sein Kopf drohte auseinanderzuplatzen. Voller Mühe und laut stöhnend stammelte er:
„Mein Kopf tut so weh. Das ist nicht auszuhalten. Jeden Tag überkommen mich diese schrecklichen Schmerzen, seitdem ich die Wahrheit entdeckt habe. Die wollen mich um den Verstand bringen. Ich kann nicht mehr. Muss hier raus.“ Kaum hatte er das hervorgestoßen, rannte er wie ein Wilder zur Ausgangstür und war kurz darauf verschwunden. Das war vorerst das letzte Mal, dass ich Paul gesehen habe. In diesem Augenblick ahnte ich noch nicht, dass sich ab diesem Tag die Ereignisse überstürzen und ich Dinge erleben würde, die ich mir auch in meinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können.
Clara Zweig konnte es kaum fassen, so ungewohnt war es für sie. Sie horchte nochmals in sich hinein und fand es bestätigt, dass es ihr richtig gut ging. Sie war zufrieden mit sich und der Welt, fühlte sich beinahe schon glücklich. Das letzte Mal, dass sie sich so wohl gefühlt hatte, war eine kleine Ewigkeit her.
Bis vor kurzem sah das noch ganz anders aus. Da war Dunkelgrau die bestimmende Farbe ihres Lebens gewesen. Jetzt schimmerte warmes Licht aus jeder Ecke. Das war sehr schön, aber nicht von allein geschehen. Sie hatte es sich selbst zu verdanken, dass es so war. Hatte etwas geschafft, was vor einiger Zeit noch undenkbar gewesen wäre. Nämlich ihn zu verlassen. Hatte einfach ihre Sachen gepackt und war abgehauen. Jetzt musste er zusehen, wie er ohne sie zurechtkam, dieses Arschloch. Sich jemanden anderes suchen, den er klein und hilflos halten konnte. Er war ein Narzisst wie er im Buche stand. War stets der erfolgreiche Geschäftsmann gewesen, attraktiv und von allen bewundert. Sie war die graue Maus, die froh sein konnte, etwas von seinem strahlenden Glanz abzubekommen. Damit war jetzt endlich Schluss.
Clara hatte es in ihrem Leben nie einfach gehabt. Auch wenn man es ihr dank ihres kleinen und zierlichen Körperbaus nicht ansah, war sie jedoch durchaus in der Lage, sich durchzusetzen und große Willenskraft zu zeigen. Zumindest in ihrem beruflichen Umfeld war ihr das stets gelungen. Dort war das auch zwingend notwendig, denn sie war Fachkrankenschwester für Psychiatrie. Ein Beruf, der ihr viel Freude bereitete. Besonders der Umgang mit den Verrückten, wie sie liebevoll ihre Patienten nannte, gab ihr sehr viel.
Ihre großen Probleme waren immer privater Natur gewesen. Sie war im Haushalt einer Mutter aufgewachsen, die manisch-depressiv war, und sich daher nur unzureichend um sie kümmern konnte. Ihr Leben damals war so wechselhaft gewesen, dass es kaum auszuhalten war. Um dem zu entfliehen, hatte sie sich sehr früh an ihren späteren Mann gebunden, der zehn Jahre älter war als sie und ihr auf Dauer nicht guttat. Am Anfang war sie von seinem Einfallsreichtum, mit der er um sie warb, und seinem Charme überwältigt gewesen. Sobald er sie jedoch fest in seiner Hand wusste, zeigte er sein wahres Gesicht. Viele Jahre war sie wie eine Fliege im Netz einer bösartigen Spinne gefangen gewesen. Zehn Jahre hatte es gedauert, ehe es ihr gelungen war, sich aus seiner Umklammerung zu befreien. Das war jetzt ein halbes Jahr her. Erst nachdem sie fortgelaufen war, hatte sie zum ersten Mal wieder richtig und unbeschwert atmen können.
Zum gleichen Zeitpunkt hatte sie die Chance gehabt, in der Klinik für forensische Psychiatrie Traisa anzufangen. Sie hoffte, so würde ihr ein Neubeginn gelingen. Es war eine gut dotierte, aber auch sehr verantwortungsvolle Stelle. Sie war dort direkt dem Pflegedirektor unterstellt und als Stationsleiterin tätig.
Schon bei ihrem ersten Rundgang fiel ihr allerdings ein Mann auf, der irgendwie nicht hierher passte. Er war in einer Einzelzelle eingesperrt und sollte drei Frauen gewissenlos und grausam ermordet haben. Diesen Eindruck machte er jedoch ganz und gar nicht auf sie. Natürlich wusste sie, dass psychotische Patienten nur selten auf Anhieb zu erkennen waren, aber dennoch hatte sie schon genügend viele von ihnen kennengelernt, um an gewissen Verhaltensmustern zu erkennen, dass mit diesem oder jenen Menschen etwas nicht stimmte. Auch wenn die äußere Fassade auf den ersten Blick makellos war, verfügte sie häufig nach wenigen Augenblicken über eine Anfangsdiagnose, die sich oft als zutreffend herausstellte.
Bei diesem Mann war es aber anders. Er war nicht nur sehr gebildet, sondern auch äußerst charmant und ausgesprochen freundlich. Wenn er wirklich so wahnsinnig war wie alle sagten, dann war er ein hervorragender Schauspieler. Aber das Tag und Nacht und über Wochen und Monate durchzuhalten, würde schon an ein Wunder grenzen. Nein, Clara hatte sich vorgenommen, herauszufinden, was es mit diesem Mann wirklich auf sich hatte. Sie würde sich um eine Gelegenheit bemühen, mit ihm ins Gespräch zu kommen und ihn etwas auszufragen. Und ihre Chance dazu kam schneller als sie es sich vorgestellt hatte.
Am Anfang der Woche wurde vom ärztlichen Direktor probeweise eine leichte Lockerung der Maßnahmen für Max Rilke angeordnet, weswegen er sich zwei Stunden täglich nach dem Abendessen im Aufenthaltsraum Zeit verbringen durfte, und nicht mehr nur in seiner Zelle. Während einer dieser Abende suchte er ihre Nähe und sprach sie an. Da gerade ein Fußball-Länderspiel im Fernsehen lief, das sich viele der Patienten und der Pflegekräfte anschauen wollten, hatten sie die entsprechende Ruhe und waren fast unter sich:
„Darf ich Sie etwas fragen?“
„Natürlich, tun Sie sich keinen Zwang an.“
„Sie haben meistens ein so nettes Lächeln auf ihren Lippen, so als ob es Ihnen gut gehen würde. Daher nehme ich an, dass Sie sich als neue Stationsleiterin bereits gut eingelebt haben und Ihre Arbeit mögen. Liege ich damit richtig?“
„Ja, das haben Sie gut erkannt. Alle waren sehr freundlich und auch sehr hilfsbereit zu mir. Ich fühle mich hier sehr wohl. Die Klinik war mir dabei behilflich, ein kleines Häuschen in der Nähe zu finden, von wo aus ich innerhalb von wenigen Minuten bei der Arbeit sein kann. Das passt alles sehr gut. Und bei Ihnen? Wie geht es Ihnen?“
„Ich bin auf einem guten Weg. Die Medikamente machen mich zwar etwas träge und müde, aber ich bin froh, dass sich der Chefarzt darauf eingelassen hat, mir etwas mehr Freiraum zu geben.
Sehr schön finde ich allerdings auch, dass Sie die Leitung der Station übernommen haben. Ihre Vorgängerin war eine richtige Schreckschraube.“
„Und das bin ich nicht?“
„Nein, beileibe nicht. Sie sind die anziehendste Frau, die ich seit vielen Jahren zu Gesicht bekommen habe. Außerdem haben Sie sich mir gegenüber immer sehr fair benommen, was ich nicht von allen Pflegekräften und Ärzten behaupten kann.“
„Versuchen Sie gerade mit mir zu flirten?“ Ein jungenhaftes Schmunzeln ging über sein Gesicht.
„Um Gottes Willen, das würde ich niemals wagen. Die starken Medikamente, die ich zu mir nehmen muss, sorgen dafür, dass kaum noch über irgendwelchen sexuellen Regungen verfüge. Falls Sie also den Eindruck haben sollten, dass ich dabei bin, Ihnen zu nahe zu treten, dann bitte ich das zu entschuldigen. Gerne können Sie mir auch in einem solchen Fall auf die Finger klopfen.“
„Gut, das werde ich bei Gelegenheit tun.“ Sein Blick wurde ernst, ehe er sie fragte:
„Haben Sie denn keine Angst vor mir? Immerhin gelte ich hier als ein schreckliches Ungeheuer, das drei Frauen kaltblütig ermordet hat.“
„Im Augenblick fühle ich mich nicht von Ihnen bedroht. Haben Sie denn die Frauen wirklich umgebracht?“
„Auch, wenn ich jetzt behaupten würde, dass ich noch nie in meinem Leben einem anderen Menschen etwas zuleide getan habe, so würden Sie nie mit Sicherheit wissen, ob dies wirklich so ist. Ich gelte als gefährlicher Psychopath. Zu diesem Krankheitsbild gehört auch, dass Psychopathen hervorragende Lügner sind und sehr gut schauspielern und manipulieren können. Und vielleicht bin ich ja gerade dabei, dieses Talent bei Ihnen anzuwenden.“
„Ja, das könnte sein. Aber ich gehe davon aus, dass ich das mit meinen weiblichen Instinkten und meinen langjährigen Erfahrungen im Umgang mit psychisch kranken Menschen erkennen würde. Vielleicht nicht sofort, aber doch recht schnell.“
Max fing an zu grinsen, dann sagte er mit einem ironischen Unterton in der Stimme:
„Gut, dann kann ich es ja zugeben. Ich bin vollkommen unschuldig. Zwar ein bisschen verrückt, aber ich habe diese Frauen nicht ermordet.“
„Und wer hat diese Frauen dann umgebracht?“
„Wenn ich das wüsste, und es auch noch beweisen könnte, dann hätte ich wahrscheinlich niemals die Gelegenheit bekommen, mich mit einer so netten und entzückenden Frau wie Ihnen über so ein schreckliches Thema zu unterhalten.“ Das charmante Lächeln, das auf Max Gesicht erschien, verführte Clara dazu, es ihm gleichzutun und es zu erwidern. Gleichzeitig erschien ein leichtes Funkeln in ihren Augen, so als ob sie soeben eine Einladung zu einem Geplänkel erhalten und diese angenommen hatte.
Doch ehe sich die Situation noch mehr anheizen konnte, neigte sich die Übertragung des Fußballspiels im Fernsehen dem Ende zu und Max musste sich in seine Einzelzelle zurückbegeben. Dabei ließ es sich Clara aber nicht nehmen, ihn persönlich dorthin zu begleiten und ihm eine gute Nacht zu wünschen. Das belohnte er wiederum mit einem einnehmenden Lächeln.
Im Laufe der nächsten Wochen ergriffen Clara und Max so oft wie möglich die Gelegenheit, sich über dies und jenes zu unterhalten. Dabei erwies sich Max als äußerst gebildeter und vielseitig interessierter Gesprächspartner. Ihm waren die verschiedensten Fragen der Philosophie genauso geläufig, wie die Geschichte der Popmusik seit den 50er Jahren. Clara konnte es nicht verhindern, dass ihre Faszination für diesen Mann immer stärker wurde, sie immer mehr Gefallen an ihm fand. In jeder Hinsicht. Doch ihr gegenseitiges Interesse blieb nicht unbeobachtet und führte bald darauf zu einer Ermahnung durch den ärztlichen Direktor der forensischen Klinik.
Von einem Tag auf den anderen musste sich Clara von Max zurückziehen. Aber ihr Interesse an ihm wurde durch diese erzwungene Distanz nur noch erhöht. Sie wollte und konnte nicht die Finger von ihm lassen. Nur wie konnte ihr das gelingen, ihm so nah zu kommen, wie sie sich das wünschte? Ohne dabei ihre Karriere in Gefahr zu bringen?
Viele Tage wusste sie nicht, was sie tun sollte und fühlte sich sehr niedergeschlagen. Sie schleppte sich voller Wehmut durch ihren Alltag. Wagte es kaum, Max auch nur anzublicken. Wollte nicht ständig so schwermütig sein. Doch dann hatte sie eine rettende Idee. Sie würde ihm Briefe schreiben und versuchen ihm dadurch näherzukommen.
Gleich am Abend begann sie damit, den ersten Brief zu verfassen. So als ob sie beide auf zwei weit voneinander entfernten Kontinenten leben würden und nur schriftlich Kontakt halten konnten, schrieb sie ihm von ihrem Alltag zu Hause und was sie sich von ihrem Leben erträumte. Übergab ihm das Schreiben dann heimlich.
Er antwortete ihr gleich am darauffolgenden Tag. Beschrieb ihr eine Welt, die er sich in seiner Fantasie erdacht hatte und in der sie keine Zellentüren und dicke Mauern trennten, sondern sie frei und ungezwungen miteinander umgehen konnten.
Bald darauf erzählte sie ihm in diesen Briefen von ihrem früheren Leben. Was für eine schwere Kindheit sie hinter sich hatte. Mit einer Mutter, die psychisch krank war. Die Clara nachts voller überschwänglicher Freude aus dem Bett geholt hatte, um ihr ihr neuestes gemaltes Kunstwerk zu zeigen. Sich am nächsten Tag nicht mehr aus dem Haus traute, da sie Angst davor hatte, jemanden ihrer Nachbarn zu begegnen. Was wiederum für Clara hieß, dass sie wieder einmal nicht in die Schule gehen konnte, sondern stattdessen etwas zum Mittagessen einkaufen und kochen musste. Dann die Wochen, in denen ihre Mutter in ihrem Bett liegen blieb, einfach nicht aufstehen konnte. Tag und Nacht die Rollläden geschlossen bleiben mussten. Dass irgendwann deswegen in ihr der Wunsch entstand, Krankenschwester zu werden und psychisch kranken Menschen zu helfen.
Aber auch, dass sie, um der Krankheit ihrer Mutter und ihrem Zuhause zu entfliehen, an einen Mann geriet, der hochgradig narzisstisch war. Der versuchte, sie so klein zu halten, dass sie drohte, wie eine Blume ohne Wasser zu verdorren. Wenn sie es wagte, Kritik an ihm zu üben, war er sogleich zu Tode beleidigt. Sah sich immer im Recht und benötigte stets ihre größte Bewunderung. Nutzte sie immer aus, ohne auf ihre Gefühle Rücksicht zu nehmen oder diese überhaupt wahrzunehmen. Bis sie schließlich die Kraft fand, ihn zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Hier in der Klinik, wo sie letztlich Max traf und sich in ihn verliebte.
Auch Max machte irgendwann keinen Hehl mehr daraus, wie er zu ihr stand, und schrieb, wie froh er sei, dass sie in sein Leben getreten sei und seinen Aufenthalt in dieser Anstalt einigermaßen erträglich machte. Sich so sehr wünschte, zusammen mit ihr zu fliehen und irgendwo unterzutauchen, wo sie keiner kannte – und sie glücklich zusammenleben konnten. Dass er in den wenigen Stunden, die er schlief, nur noch von ihr träumte, er ihre Nähe entsetzlich vermisse.
Alles schien sich, trotz der Hindernisse die ihnen im Weg lagen, gut zu entwickeln. Doch dann passierte es. Sie merkte es sofort, als sie morgens ihren Dienst antrat. Etwas stimmte nicht mit Max. Sie hörte ihn schon von weitem in seiner Zelle schreien. Er klang wie ein verwundetes Tier. Schlug in ihrem Beisein seinen Kopf immer wieder gegen die Wand. Hielt sich die Schläfen, als ob er furchtbare Kopfschmerzen erdulden musste. Schließlich wurde er von mehreren Pflegern festgehalten, damit sie ihn auf Anordnung des Arztes mit Hilfe einer starken Beruhigungsspritze sedieren konnte. In diesem Moment schaute er ihr direkt in ihre Augen und flüsterte ihr zu:
„Hilf mir. Bitte hilf mir. Ich halte es nicht mehr aus.“ Sie strich sanft über seine Stirn und antwortete:
„Keine Sorge, ich werde dich nicht im Stich lassen. Jetzt schlaf erst einmal.“ Kurz darauf wirkte die Spritze und schlief er ein. Was war nur mit ihm geschehen? So hatte sie ihn noch nie erlebt. Glücklicherweise konnte sie den Arzt davon überzeugen, ihr zu erlauben, in Max Nähe zu bleiben, bis er wieder aufwachte. Allerdings wurde er vorher an seinem Bett fixiert, sodass er sich kaum noch bewegen konnte. Nachdem er wieder zu Bewusstsein kam, blickte er sie orientierungslos und verwirrt an. In diesem Moment war Clara voller Sorgen, dass irgendetwas in Max zerbrochen war und er nie mehr der Mann sein würde, den sie kannte.
Dann trat ein Ausdruck des Erkennens auf sein Gesicht, der sie ein wenig beruhigte. Er schien sich wieder daran zu erinnern, wo er sich befand und wer sie war. Er versuchte sogar zu lächeln. Aber das gelang ihm nur ansatzweise. Er sprach ganz leise und stockend zu ihr:
„Die Schmerzen in meinem Kopf waren so furchtbar. Ich hätte sie keinen Moment länger ertragen können, ohne meinen Verstand zu verlieren. Jetzt sind sie fast verschwunden, aber sie werden wiederkehren. Da bin ich mir sicher. Sie werden schon dafür sorgen. Solange bis sie ihr Ziel erreicht haben.“
„Wer wird sein Ziel erreicht haben?“
„Die Oosterbeek Society.“
„Hat die Oosterbeek Society dich auch gezwungen, die drei Frauen zu ermorden?“
„Ich habe niemanden ermordet. Die Oosterbeek Society hat es nur so aussehen lassen, als ob ich es gewesen wäre. Und da mich ohnehin alle für verrückt hielten, haben die Ermittler gar nicht weiter nachgeforscht. Obwohl ich ihnen einige hilfreiche Hinweise gegeben habe.“
„Und jetzt will die Oosterbeek Society dich töten?“
„Wohl eher in den Wahnsinn treiben, damit ich auch noch meinen letzten Rest Glaubwürdigkeit verliere.“
„Daran glaubst du wirklich?“
„Ja, denn es ist die Wahrheit. Denkst du jetzt etwa auch, dass ich verrückt bin?“ Max Blick war nun so niedergeschlagen, dass er Clara tief in ihrem Inneren berührte und sie zögern ließ, ihm zu sagen, was sie wirklich dachte.
„Ich weiß nicht, was ich glauben soll.“
„Ich dachte, du vertraust mir?“
„Ja, das tue ich, aber das mit der Oosterbeek Society klingt doch sehr seltsam. Wie soll es ihnen möglich sein, solch starke Kopfschmerzen bei dir auszulösen? Und wie sollen sie hier drinnen überhaupt in deine Nähe gelangen. Die Klinik ist ein Hochsicherheitstrakt mit meterhohen Stahlzäunen, vergitterte Fenstern, Überwachungskameras und diversen Sicherheitsschleusen. Hier kommt niemand rein oder raus, ohne dass es bemerkt wird.“
„Keine Ahnung wie es ihnen gelingen konnte, aber sie haben es geschafft. Irgendwie haben sie es fertiggebracht, diese Schmerzen in mir zu erzeugen.“
„Du weißt sicherlich, wie das klingt?“
„Klar, es klingt verrückt. Doch was kann ich dir anderes sagen als die Wahrheit? Inzwischen müsstest du mich so gut kennen, dass du weißt, dass ich dich niemals anlügen würde.“
„Das schon. Aber ist das, was du als deine Realität wahrnimmst, wirklich real? Oder findet das alles nur in deiner Vorstellung statt?“
„Du meinst also, dass ich an einer schizophrenen Psychose leide. Dass ich Wahnvorstellungen habe?“
„Vielleicht?“
„Du brauchst also Beweise dafür, dass ich nicht irgendwelchen Blödsinn erzähle? Nun gut. Ich wollte dich eigentlich aus dieser Sache heraushalten. Aber wenn es nicht anders geht, sollst du deine Beweise haben. Dazu musst du in meinem Haus in Groß-Umstadt vorbeischauen. Dort habe ich einen USB-Stick versteckt. Die Dokumente darauf werden dir helfen zu verstehen, was in dieser Welt wirklich vorgeht.“ Clara bekam ein seltsames Gefühl, als Max das gesagt hatte. So als ob sie soeben eine Tür aufgestoßen hatte, die sie direkt zu ihrem Verderben führen würde.
Dass Paul am nächsten Tag nicht zur Arbeit kam, hatte ich vorausgesehen. So viel Bier wie er getrunken hatte. Doch als er auch am zweiten und dritten Tag nicht auftauchte, begann ich mir Sorgen um ihn zu machen. Daher fuhr ich am vierten Tag nach der Arbeit zu ihm, um nach ihm zu schauen. Soweit ich wusste, lebte er allein. Wir hatten uns einmal in der Nähe seiner Wohnung zum Spazierengehen getroffen, nur deswegen wusste ich überhaupt, wo er wohnte.
Doch als ich vor dem Hauseingang trat, erlebte ich eine Überraschung. Das Klingelschild von Paul existierte nicht mehr. Statt seinem Namen stand auf der Klingel eine gewisse Petra Winkler. Das durfte doch nicht wahr sein. So schnell konnte Paul auf keinen Fall ausgezogen sein. Nun bekam ich Zweifel, ob es wirklich das richtige Gebäude war. Ich ging zurück auf die Straße und schaute mir alles nochmals genau an. Das Haus war das einzige Mehrfamilienhaus in dieser Gegend, außerdem wies es einen alten Baumbestand auf, der seinesgleichen suchte. Ich war hier richtig. Ich war mir sicher.
Also ging ich erneut zur Haustür, drückte auf die Klingel von Petra Winkler. Es dauerte eine Weile, ehe ihre Stimme aus der Wechselsprachanlage erklang:
„Ja, hallo.“
„Hallo, mein Name ist Max Rilke. Ich bin auf der Suche nach meinem Freund Paul Altmann, der bis vor kurzem hier gewohnt hat.“
„Hier gibt es keinen Paul Altmann.“
„Ich bin mir sehr sicher, dass er hier gelebt hat. Sagt ihnen der Name gar nichts?“
„Ich wohne hier schon seit über fünf Jahren. Hier in dem Haus gibt es keinen Paul Altmann und hat es ihn auch nicht gegeben, solange ich hier wohne. Tut mir leid.“
„Sind Sie sich da sicher?“ Etwas genervt antwortete sie:
„Absolut sicher.“ Ein Klicken, dann war die Verbindung unterbrochen und ich war wieder für mich. Irgendetwas stimmte hier doch nicht. Das war das Haus, von dem ich Paul vor nicht allzu langer Zeit abgeholt hatte. Und ich war mir hundertprozentig sicher, dass sein Name auf der Klingel gestanden hatte. Er musste hier gewohnt haben.
Wer konnte wissen, wo er sich aufhielt? Hatte er mir von irgendwelchen Verwandten erzählt, die in der Nähe wohnten? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Hatte er irgendwelche Freunde im BAkI? Ich wusste von Keinem. Vielleicht sollte ich Ulla Maier fragen? Sie hatte Paul gefallen und eventuell waren sie sich irgendwann ein wenig nähergekommen. Ja, das war eine gute Idee. Ich würde sie gleich morgen früh ansprechen. Doch jetzt fuhr ich erst einmal nach Hause und aß zu Abend.
Ich konnte nicht verhindern, dass meine Sorge um Paul von Minute zu Minute wuchs. So war meine Nacht ziemlich unruhig und ich machte kaum ein Auge zu. Wenn es mir zwischendurch gelang einzuschlafen, hatte ich Alpträume. Immer wieder sah ich Paul, wie er aus unserer Stammkneipe schreiend hinauslief. Und ich bemerkte, wie eine dunkle Gestalt ihn verfolgte.
Ich war froh, als der Wecker klingelte und ich endlich zur Arbeit gehen konnte. Doch dort erwartete mich eine weitere Merkwürdigkeit. Nachdem ich meine E-Mails beantwortet hatte, ging ich auf die Suche nach Ulla Maier. Ich traf sie in der kleinen Teeküche im Flur der Fachabteilung I. Paul hatte wirklich recht gehabt. Durch ihre Art sich gothicmäßig zu kleiden und zu schminken, übte sie eine seltsame Anziehungskraft aus und hatte mächtig viel Sexappeal. Aber ich war ja nicht hier, um mit ihr zu flirten, sondern um herauszufinden, wo Paul sich befand. Also ließ ich mich nicht länger ablenken und sprach sie auf Paul an:
„Du kennst doch Paul Altmann? Ihr habt Euch öfters über Songs aus der Gothic-Szene unterhalten? Kannst du mir sagen, wo er steckt?“
„Ich kenne keinen Paul Altmann. Du musst dich irren.“
„Du weißt doch. So ein großer hagerer Mann. Mit kurzen roten Haaren und blauen Augen. Überragt mich um einen Kopf.“
„Nein, tut mir leid, den kenne ich nicht. Ich weiß nicht, von wem du sprichst.“
„Bist du dir sicher? Ich dachte, ich hätte Euch öfters zusammen gesehen?“