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Der 11-jährige Malcolm lebt mit seinen Eltern und seinem Dæmon Asta in Oxford und geht in dem Kloster auf der anderen Seite der Themse aus und ein. Als die Nonnen ein Baby aufnehmen, von dem keiner wissen darf, ist es mit der Ruhe in dem alten Gemäuer vorbei. Auch Malcolm schließt das kleine Wesen, das in großer Gefahr zu sein scheint, sofort in sein Herz und setzt alles daran, es zu schützen. Es heißt: Lyra Belacqua. Die Vorgeschichte des Weltbestsellers »Der Goldene Kompass«. Alle Bände der unvergleichlichen Fantasy-Serie »His Dark Materials«: Über den wilden Fluss (Band 0) Der Goldene Kompass (Band 1) Das Magische Messer (Band 2) Das Bernstein-Teleskop (Band 3) Ans andere Ende der Welt (Band 4)
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Veröffentlichungsjahr: 2017
Die Serie »His Dark Materials« von Philip Pullman bei Carlsen:
Der Goldene Kompass (Band 1)
Das Magische Messer (Band 2)
Das Bernstein-Teleskop (Band 3)
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Alle deutschen Rechte bei CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2017
Originalcopyright © 2017 by Philip Pullman
Originalverlag: David Fickling Books in association with Penguin Random House Children’s Publishers UK, a division of The Penguin Random House Group Ltd
Originaltitel: The Book of Dust, Volume One. La Belle Sauvage
Umschlagbild: Bruno Gentile
Umschlaggestaltung und -typografie: formlabor
Aus dem Englischen von Antoinette Gittinger
Lektorat: Ulrike Schuldes
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN: 978-3-646-92819-8
Für Jude
»Die Welt ist verrückter, und es gibt mehr davon, als wir erahnen ...«
Louis MacNeice, Schnee
Vom Zentrum von Oxford aus drei Meilen die Themse aufwärts, nicht weit entfernt von der Stelle, wo die berühmten Colleges Jordan, Gabriel und Balliol und zwei Dutzend andere um den ersten Platz beim Wettrudern kämpften und wo die Stadt in der Ferne über den Nebelschwaden vom Port Meadow nur eine Ansammlung von Türmen und Dachgiebeln bildete, befand sich das Kloster Godstow, wo freundliche Nonnen ihren gottgefälligen Aufgaben nachgingen. Und auf der anderen Seite des Flusses stand das Gasthaus zur Forelle.
Das Gasthaus war ein altes, überwuchertes und gemütliches Steingebäude. Auf einer Terrasse zum Fluss hin stolzierten zwischen den Gästen Pfauen umher (einer davon hieß Norman, der andere Barry), die sich hemmungslos kleine Häppchen schnappten und gelegentlich den Kopf hoben, um heftige und sinnlose Schreie auszustoßen. Es gab einen vornehmeren Teil in diesem Lokal, wo die gehobene Gesellschaft – wenn Wissenschaftler eines Colleges als solche gelten – ihr Bier trank und Pfeife rauchte. Und es gab eine öffentliche Schankstube, wo Fährleute und Landarbeiter am Feuer saßen oder Darts spielten, sich am Tresen unterhielten, stritten oder sich einfach still und heimlich betranken. In der Küche bereitete die Ehefrau des Gastwirts täglich einen großen Braten zu, mit einer komplizierten Maschinerie aus Rädern und Ketten, die den Spieß über dem offenen Feuer drehte. Und es gab einen Kellner namens Malcolm Polstead.
Malcolm war das einzige Kind des Gastwirts. Er war elf Jahre alt, stämmig und hatte fuchsrotes Haar. Seinem Wesen nach war er freundlich und wissbegierig, und er besuchte die Ulvercote Elementary School eine Meile entfernt. Obwohl er jede Menge Freunde hatte, war er am liebsten mit seinem Dæmon Asta allein in seinem Kanu, das sie La Belle Sauvage getauft hatten. Ein launiger Bekannter fand es lustig, ein S über das V zu malen, und Malcolm besserte es geduldig drei Mal aus, ehe er wütend wurde und den Dummkopf ins Wasser stieß. Danach schlossen sie Frieden.
Wie jedes Kind eines Gastwirts musste Malcolm sich in der Schenke nützlich machen. Er spülte Gläser und Geschirr ab, servierte Mahlzeiten oder brachte den Gästen das Bier in Krügen, die er, wenn sie leer getrunken waren, wieder abräumte. Die Arbeit war für ihn selbstverständlich. Sein einziges Ärgernis war ein Mädchen namens Alice, das beim Geschirrspülen half. Sie war fünfzehn, hochgewachsen und dünn und hatte ihr glattes dunkles Haar zu einem unvorteilhaften Pferdeschwanz zusammengebunden. Auf ihrer Stirn und um ihren Mund herum zeigten sich bereits Falten der Unzufriedenheit. Seit sie im Gasthaus arbeitete, hänselte sie Malcolm: »Wer ist deine Freundin? Hast du etwa keine? Mit wem warst du gestern Abend aus? Hast du sie geküsst? Hast du überhaupt schon mal einen Kuss bekommen?«
Lange Zeit nahm er keine Notiz davon. Doch am Ende stürzte sich Asta auf Alice’ dürren Dohlendæmon und stieß ihn ins Geschirrspülwasser. Dann traktierte sie das triefende Geschöpf mit Bissen, bis Alice um Erbarmen flehte. Sie beklagte sich bitterlich bei Malcolms Mutter, doch die sagte nur: »Geschieht dir ganz recht. Ich habe kein Mitleid mit dir. Behalt deine schmutzigen Fantasien für dich.«
Was sie künftig auch tat. Sie und Malcolm schenkten sich fortan keinerlei Beachtung mehr. Er stellte die Gläser auf das Abtropfbrett, sie spülte sie, trocknete sie ab und trug sie zum Tresen zurück, ohne ein Wort zu verlieren oder einen Blick oder Gedanken an ihn zu verschwenden.
Aber er mochte das Leben im Gasthaus. Vor allem die Gespräche, die er aufschnappte, ganz egal ob sie sich um die korrupten Geschäfte des Wasseraufsichtsamtes drehten, um die hilflose Dummheit der Regierung oder um philosophischere Themen wie die Frage, ob die Sterne wohl genauso alt waren wie die Erde oder nicht.
Manchmal interessierte er sich so sehr für diese philosophischen Gespräche, dass er die leeren Gläser auf dem Tisch abstellte und sich einmischte, aber erst nachdem er aufmerksam zugehört hatte. Viele der Wissenschaftler und andere Besucher kannten ihn seit Langem und bedachten ihn großzügig mit Trinkgeld. Doch er strebte nicht nach Reichtum, schrieb diese Trinkgelder der Großmut des Schicksals zu und betrachtete sich im Grunde als glücklich, was in seinem späteren Leben nicht von Schaden für ihn war. Hätte er zu den Jungen gehört, die man mit einem Spitznamen bedachte, hätte man ihn sicher »Professor« genannt, aber zu denen gehörte er nicht. Wenn man ihn wahrnahm, mochte man ihn, doch man nahm ihn selten wahr, was ebenfalls nicht von Schaden war.
Malcolms zweites Betätigungsfeld lag gleich jenseits der Brücke außerhalb der Schenke, und zwar in den grauen Steingebäuden, die inmitten der grünen Wiesen und gepflegten Obst- und Gemüsegärten des Klosters der heiligen Rosamund standen. Die Nonnen waren weitgehend autark, sie bauten Obst und Gemüse an, züchteten Bienen und nähten feine Messgewänder, die sie für hart verhandeltes Gold verkauften. Doch gelegentlich gab es Besorgungen, die ein geschickter Junge machen konnte, oder es musste eine Leiter repariert werden unter der Aufsicht von Mr Taphouse, dem alten Zimmermann, oder er sollte ein paar Fische vom Medley Pond ein Stück flussabwärts holen. La Belle Sauvage wurde von den guten Nonnen häufig eingesetzt. Malcolm hatte Schwester Benedicta schon des Öfteren den Fluss hinunter zur Royal Mail Zeppelin Station gepaddelt. Sie hatte dann ein kostbares Bündel aus Chormänteln, Stolen oder Messgewändern für den Bischof von London dabei, der seine Gewänder stark zu strapazieren schien, da sie ungewöhnlich schnell abgenutzt waren. Während dieser gemächlichen Fahrten lernte Malcolm eine Menge.
»Wie schaffen Sie es nur, dass diese Bündels da so ordentlich aussehen, Schwester Benedicta?«, fragte er einmal.
»Diese Bündel«, erwiderte Schwester Benedicta.
»Diese Bündel. Wie schaffen Sie es, dass sie so ordentlich sind?«
»Wenn ich wieder eins schnüren muss, zeige ich es dir«, versprach Schwester Benedicta und sie hielt ihr Wort.
Malcolm bewunderte die Ordentlichkeit der Nonnen generell, die Art, wie sie ihre Obstbäume in geraden Reihen entlang der sonnigen Gartenmauer angepflanzt hatten, die Anmut, mit der sie mit ihren zarten Stimmen gemeinsam im Gottesdienst sangen, und ihre kleinen Liebenswürdigkeiten vielen Menschen gegenüber. Er mochte auch die Gespräche, die er mit ihnen über religiöse Themen führte.
»In der Bibel«, sagte er einmal, als er der alten Schwester Fenella in der Küche half, »heißt es, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat.«
»Das stimmt«, erwiderte Schwester Fenella, die gerade einen Teig knetete.
»Wie kommt es dann, dass es Fossilien und andere Sachen gibt, die Millionen Jahre alt sind?«
»Ach, weißt du, damals waren die Tage viel länger«, sagte die brave Schwester. »Hast du den Rhabarber schon geschnitten? Schau mal, ich werde noch vor dir fertig sein.«
»Warum benutzen wir für den Rhabarber dieses Messer und nicht die alten? Die alten sind doch schärfer.«
»Wegen der Kleesäure«, sagte Schwester Fenella und drückte den Teig in eine Backform. »Für Rhabarber ist Edelstahl besser. Reich mir bitte den Zucker.«
»Kleesäure«, wiederholte Malcolm, der den Begriff sehr mochte. »Schwester, was ist eigentlich ein Messgewand?«
»Es ist eine Art Kleidungsstück. Die Priester tragen es über ihren Messhemden.«
»Warum nähen Sie nicht, wie die anderen Schwestern auch?«
Schwester Fenellas Dæmon, ein Eichhörnchen, das auf der Rückenlehne eines Stuhls saß, stieß ein sanftes »Na, na!« aus.
»Wir tun alle das, was wir können«, sagte die Nonne. »Ich war nie sehr geschickt im Sticken – sieh dir meine großen, dicken Finger an! –, aber die anderen Schwestern mögen meinen Teig.«
»Ich mag ihn auch«, sagte Malcolm.
»Vielen Dank, mein Lieber.«
»Er ist fast so gut wie der von meiner Mutter, aber der ist dicker als Ihrer. Ich nehme an, Sie rollen ihn stärker aus.«
»Ja, das tue ich wohl.«
In der Klosterküche wurde nichts vergeudet. Die kleinen Teigstücke, die von Schwester Fenellas Rhabarberkuchen übrig blieben, wurden zu klobigen Kreuzen, Palmzweigen oder Fischen geformt, mit Rosinen gespickt, mit etwas Zucker bestreut und extra gebacken. Jede einzelne Form hatte eine religiöse Bedeutung, doch Schwester Fenella (»Meine großen, dicken Finger!«) gelang es nicht besonders gut, sie unterschiedlich aussehen zu lassen. Malcolm war geschickter darin, aber er musste seine Hände zuerst gründlich waschen.
»Schwester, wer isst denn diese Stückchen hier?«, fragte er.
»Oh, die werden am Ende alle aufgegessen. Manchmal werden sie Besuchern zum Tee gereicht.«
Das Kloster war wegen seiner günstigen Lage an der Stelle, wo die Straße über den Fluss führte, bei Reisenden aller Art sehr beliebt, und häufig hatten die Nonnen auch Übernachtungsgäste. Genauso verhielt es sich natürlich mit dem Gasthaus zur Forelle. Zwei bis drei Gäste blieben für gewöhnlich dort über Nacht und Malcolm musste ihnen das Frühstück bringen. Normalerweise handelte es sich um Fischer oder Geschäftsleute, wie sein Vater sie nannte: Reisende in Sachen Tabak, Eisenwaren oder Landmaschinen. Die Gäste im Kloster gehörten allesamt einer höheren Schicht an: adelige Herren und Damen, manchmal auch Bischöfe und Mitglieder des niederen Klerus. Es handelte sich um vornehme Leute, die keinerlei Verbindung zu einem der Colleges in der Stadt hatten und deshalb keine Gastfreundschaft dort erwarten konnten. Einmal blieb eine Prinzessin sechs Wochen lang, aber Malcolm bekam sie nur zwei Mal zu Gesicht. Sie war zur Strafe ins Kloster verbannt worden. Ihr Dæmon war ein Wiesel, das jeden anfauchte.
Malcolm half auch bei diesen Gästen aus. Er versorgte ihre Pferde, putzte ihre Stiefel, erledigte Botengänge für sie und bekam gelegentlich ein Trinkgeld dafür. Sein ganzes Geld wanderte in eine Spardose in Form eines Walrosses, die er in seinem Schlafzimmer aufbewahrte. Drückte man auf den Schwanz, öffnete es das Maul, und man steckte die Münzen zwischen seine Stoßzähne, von denen einer abgebrochen und wieder angeklebt worden war. Malcolm wusste nicht, wie viel Geld er besaß, aber die Spardose war schwer. Er überlegte, ob er, wenn er genug gespart hätte, ein Gewehr kaufen sollte, doch das würde sein Vater vermutlich nicht erlauben. Also musste er sich in Geduld üben. In der Zwischenzeit gewöhnte er sich an die Gepflogenheiten der unterschiedlichen Gäste.
Er dachte, dass man wohl nirgendwo so viel über die Welt erfahren konnte wie an dieser kleinen Flussbiegung, mit dem Gasthaus auf der einen Seite und dem Kloster auf der anderen. Wenn er erwachsen wäre, würde er seinem Vater sicher in der Schenke helfen und dann das Gasthaus übernehmen, wenn seine Eltern zu alt geworden wären. Darüber war er recht glücklich. Es würde viel besser sein, das Gasthaus zur Forelle zu führen als irgendein anderes, da hier die große Welt ein und aus ging und man sich oft mit Wissenschaftlern und anderen bedeutenden Menschen unterhalten konnte. Doch was er wirklich gern getan hätte, hatte mit alldem nichts zu tun. Er wäre selbst gern ein Wissenschaftler geworden, vielleicht ein Astronom oder ein Experimentaltheologe, um große Entdeckungen über das innerste Wesen der Dinge zu machen. Es wäre wunderbar, wenn er bei einem Philosophen in die Lehre gehen könnte. Aber das war eher unwahrscheinlich, denn die Ulvercote Elementary School bereitete die Schüler auf einen Handwerksberuf oder allenfalls auf eine Bürotätigkeit vor, bevor sie sie mit vierzehn in die Welt entließ. Und soweit Malcolm bekannt war, gab es für einen schlauen Jungen mit einem Kanu keine Möglichkeit, ein Stipendium zu erhalten.
Eines Tages, mitten im Winter, kamen ein paar Gäste in das Gasthaus zur Forelle, die anders waren als die üblichen. Drei Männer fuhren mit einem anbarischen Auto vor und begaben sich schnurstracks in das Terrassenzimmer, das von allen Speisezimmern im Gasthaus das kleinste war und zur Terrasse, zum Fluss und dem dahinter liegenden Kloster wies. Es befand sich am Ende des Flurs und wurde weder im Winter noch im Sommer viel benutzt, da die Fenster klein waren und trotz des irreführenden Namens keine Tür zur Terrasse hinausführte.
Malcolm hatte seine wenigen Hausaufgaben (Geometrie) beendet und schlang gerade ein Stück Rinderbraten und Yorkshirepudding hinunter, und noch einen Bratapfel mit Vanillesoße, als sein Vater nach ihm rief.
»Sieh mal nach, was die Herren im Terrassenzimmer wünschen«, sagte er. »Vielleicht sind sie fremd hier und wissen nicht, dass man sich die Drinks an der Bar selbst holt. Die wollen wahrscheinlich bedient werden.«
Malcolm, der sich über diese Abwechslung freute, ging zu dem kleinen Zimmer hinunter und fand dort drei Herren vor (er erkannte auf den ersten Blick, zu welcher Sorte sie gehörten), sie standen am Fenster und schauten hinaus.
»Meine Herren, kann ich Ihnen etwas bringen?«, fragte er.
Sie drehten sich sofort zu ihm um. Zwei von ihnen bestellten Rotwein, der dritte wollte Rum. Als Malcolm zurückkam und ihnen die Getränke brachte, erkundigten sie sich, ob sie hier zu Abend essen könnten und was angeboten würde.
»Unser berühmter Rinderbraten, Sir. Er schmeckt sehr gut. Ich weiß es, weil ich gerade ein Stück davon gegessen habe.«
»Oh, le patron mange ici, was?«, bemerkte der älteste der Herren, während sie ihre Stühle an den kleinen Tisch rückten. Sein Dæmon, ein hübscher schwarz-weißer Lemur, saß ruhig auf seiner Schulter.
»Ich wohne hier und der Besitzer des Gasthauses ist mein Vater«, erklärte Malcolm. »Und meine Mutter ist die Köchin.«
»Wie heißt du?«, fragte der größte und schlankste der Besucher, ein gelehrt aussehender Mann mit dichtem grauem Haar, dessen Dæmon ein Grünfink war.
»Malcolm Polstead, Sir.«
»Was ist das für ein Gebäude da auf der anderen Seite des Flusses?«, fragte der Dritte, ein Mann mit großen dunklen Augen und einem schwarzen Schnurrbart. Sein Dæmon, was auch immer es sein mochte, lag zusammengerollt zu seinen Füßen.
Inzwischen war die Nacht hereingebrochen und sie konnten am anderen Flussufer nur die schwach beleuchteten Buntglasfenster der Kapelle sehen und das Licht, das immer über dem Pförtnerhaus brannte.
»Das ist das Kloster der Schwestern vom Orden der heiligen Rosamund.«
»Und wer war die heilige Rosamund?«
»Ich habe die Nonnen nie danach gefragt. Sie ist auf einem der Kirchenfenster abgebildet, mitten in einer prachtvollen großen Rose. Wahrscheinlich ist sie danach benannt. Ich muss mal Schwester Benedicta fragen.«
»Oh, du kennst die Nonnen also gut?«
»Ich rede fast täglich mit ihnen, Sir. Ich mache, was im Kloster an Arbeit anfällt, erledige Botengänge und solche Sachen.«
»Und empfangen diese Nonnen jemals Besucher?«, erkundigte sich der älteste der Männer.
»Ja, mein Herr, recht oft. Alle möglichen Leute. Ich will ja nicht ablenken, aber ich finde, es ist bitterkalt hier drinnen. Soll ich ein Feuer anzünden? Oder wollen Sie vielleicht in die Schenke kommen. Dort ist es warm und gemütlich.«
»Nein danke, Malcolm, wir bleiben hier. Aber ein Feuer wäre äußerst willkommen, kümmere dich bitte darum.«
Malcolm zündete ein Streichholz an und das Feuer brannte sofort. Sein Vater beherrschte die Kunst des Feueranzündens sehr gut, und Malcolm hatte ihm oft dabei zugesehen. Es waren genug Holzscheite für den ganzen Abend vorhanden, falls diese Männer bleiben wollten.
»Sind heute Abend viele Leute hier?«, sagte der dunkeläugige Mann.
»Ich schätze, etwa ein Dutzend, Sir. Wie sonst auch.«
»Nun gut«, sagte der älteste der Männer. »Dann bring uns etwas von dem Rinderbraten.«
»Zuerst vielleicht eine Suppe, Sir? Es gibt heute eine würzige Pastinakensuppe.«
»Ja, warum nicht? Also, eine Suppe für alle, dann den berühmten Rinderbraten und noch eine Flasche Rotwein.«
Malcolm dachte nicht, dass der Rinderbraten tatsächlich berühmt war, aber das sagte man eben so. Er ging, um Besteck zu besorgen und die Bestellung in der Küche an seine Mutter weiterzugeben.
Asta flüsterte ihm in Gestalt eines Goldzeisigs ins Ohr: »Sie wussten schon über die Nonnen Bescheid.«
»Warum haben sie sich dann nach ihnen erkundigt?«, flüsterte Malcolm zurück.
»Es war ein Test, um herauszukriegen, ob wir die Wahrheit sagen«, erwiderte Asta, ebenfalls im Flüsterton.
»Ich frage mich, was sie hier wollen.«
»Sie sehen nicht gerade wie Wissenschaftler aus.«
»Ein bisschen schon.«
»Sie sehen eher wie Politiker aus«, beharrte der Dæmon.
»Woher willst du wissen, wie Politiker aussehen?«
»Das hab ich einfach im Gefühl.«
Malcolm legte sich nicht mit ihr an, denn er musste sich um die anderen Gäste kümmern und hatte daher genug zu tun. Im Übrigen vertraute er auf Astas Gefühle. Er selbst hatte selten ein solches Gespür, was Menschen betraf – wenn sie nett zu ihm waren, mochte er sie –, aber die Intuition seines Dæmons hatte sich viele Male bewährt. Natürlich waren er und Asta ein einziges Wesen, sodass ihre Intuition ohnehin die seine war, genauso wie sein Gefühl auch ihres.
Malcolms Vater brachte den drei Männern die Speisen persönlich und öffnete die Weinflasche. Malcolm beherrschte die Kunst, drei heiße Teller gleichzeitig zu tragen, noch nicht richtig. Als Mr Polstead in den Schankraum zurückkehrte, gab er Malcolm ein Zeichen und fragte ihn leise: »Was haben diese Männer mit dir gesprochen?«
»Sie haben sich nach dem Kloster erkundigt.«
»Sie wollen noch einmal mit dir reden. Sie sagten, du seist ein schlauer Bursche. Aber achte auf deine Manieren. Weißt du, wer sie sind?«
Malcolm machte große Augen und schüttelte den Kopf.
»Der Alte ist Lord Nugent. Er war früher der Lordkanzler von England.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe ein Foto von ihm in der Zeitung gesehen. Geh jetzt zu ihnen und beantworte all ihre Fragen.«
Als Malcolm sich auf den Weg machte, flüsterte Asta ihm zu: »Siehst du? Wer hatte also recht? Es ist kein Geringerer als der Lordkanzler von England.«
Die Männer ließen sich ihren Rinderbraten schmecken (Malcolms Mutter hatte jedem ein zusätzliches Stück abgeschnitten) und unterhielten sich leise, doch sie verstummten, als Malcolm hereinkam.
»Ich wollte nur sehen, ob Sie noch Licht brauchen«, sagte er. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen eine Naphthalampe für den Tisch bringen.«
»Gern, Malcolm, das ist eine gute Idee«, erwiderte der Lordkanzler. »Aber sag, wie alt bist du?«
»Elf, Sir.«
Vielleicht hätte er »gnädiger Herr« sagen sollen, aber der ehemalige Lordkanzler von England schien sich an dem »Sir« nicht zu stören. Vielleicht reiste er ja inkognito; in diesem Fall hätte er seine korrekte Anrede sowieso nicht hören wollen.
»Und wo gehst du zur Schule?«
»Auf die Ulvercote Elementary, Sir, gleich auf der anderen Seite vom Port Meadow.«
»Was willst du mal werden, wenn du groß bist?«
»Höchstwahrscheinlich werde ich Gastwirt wie mein Vater, Sir.«
»Ist ein ziemlich interessanter Beruf, nehme ich an.«
»Das glaube ich auch, Sir.«
»Man hat mit allen möglichen Leuten zu tun.«
»Stimmt, Sir. Wissenschaftler von der Universität und Fährleute von überallher steigen bei uns ab.«
»Ihr bekommt gut mit, was los ist, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt, Sir.«
»Den Schiffsverkehr flussaufwärts und -abwärts, und so weiter.«
»Die interessanten Dinge spielen sich meistens auf dem Kanal ab, Sir. Dort fahren gyptische Schiffe hin und her, und im Juli findet der Pferdemarkt statt. Dann wimmelt es nur so von Passagierschiffen auf dem Kanal.«
»Der Pferdemarkt ... Gypter ...?«
»Sie kommen von überallher, um Pferde zu kaufen und zu verkaufen.«
Der gelehrte Mann sagte: »Diese Nonnen im Koster, wie verdienen die ihren Lebensunterhalt? Stellen sie Parfüms her oder etwas dergleichen?«
»Sie bauen jede Menge Gemüse an«, erwiderte Malcolm. »Meine Mutter kauft ihr Gemüse und ihr Obst immer bei den Nonnen. Und den Honig. Außerdem nähen und besticken sie Gewänder für die Priester. Messgewänder und so was. Ich glaube, sie bekommen viel Geld dafür. Sie müssen Geld haben, denn sie kaufen den Fisch vom Medley Pond ein Stück weiter flussabwärts.«
»Und wenn das Kloster Besuch hat«, fragte der Exlordkanzler, »welche Art von Besuch ist das dann, Malcolm?«
»Nun, manchmal Damen ... junge Damen ... manchmal vielleicht auch ein alter Priester oder Bischof. Ich glaube, sie kommen hierher, um sich zu erholen.«
»Zu erholen?«
»Das hat Schwester Benedicta mir erzählt. Sie hat gesagt, dass die Menschen in Klöstern und Abteien übernachtet hätten, als es noch keine Gasthäuser wie dieses oder Hotels und vor allem noch keine Hospitäler gab, aber heutzutage wären es eher Geistliche oder vielleicht auch Nonnen von anderen Klöstern und sie wären Rekon... Rekon...«
»Rekonvaleszenten«, ergänzte Lord Nugent.
»Ja genau, Sir. Leute, die wieder zu Kräften kommen wollen.«
Der dunkeläugige Mann, der als Letzter seine Mahlzeit beendet hatte, legte das Messer neben die Gabel. »Hält sich im Augenblick jemand dort auf?«, fragte er.
»Ich glaube nicht, Sir. Sonst müsste er überwiegend drinnen sein. Normalerweise gehen die Besucher gern im Garten spazieren, aber das Wetter war in letzter Zeit nicht sehr freundlich, also ... Darf ich Ihnen jetzt den Nachtisch bringen, meine Herren?«
»Was gibt es denn?«
»Bratapfel mit Vanillesoße. Äpfel aus dem Klostergarten.«
»Nun, die Gelegenheit, sie zu probieren, dürfen wir uns nicht entgehen lassen«, sagte der gelehrte Mann. »Ja, bring uns die Bratäpfel mit der Soße.«
Malcolm räumte die Teller und das Besteck ab.
»Hast du dein Leben lang hier gewohnt, Malcolm?«, fragte Lord Nugent.
»Ja, Sir, ich wurde hier geboren.«
»Kannst du dich erinnern, dass die Nonnen je ein kleines Kind in ihrer Obhut hatten?«
»Ein sehr kleines Kind, Sir?«
»Ja. Ein Kind, das noch nicht zur Schule geht, vielleicht sogar ein Baby. Hast du jemals davon gehört?«
Malcolm dachte gründlich nach und sagte dann: »Nein, Sir, nie. Es waren Damen und Herren dort, und auch Geistliche, aber nie ein Baby.«
»Verstehe. Danke, Malcolm.«
Indem er die Stiele der Weingläser zwischen die Finger klemmte, schaffte er es, drei Gläser und die Teller gleichzeitig abzuräumen.
»Ein Baby?«, flüsterte Asta auf dem Weg zur Küche.
»Das ist ein Geheimnis«, stellte Malcolm mit Genugtuung fest. »Vielleicht ein Waisenkind.«
»Oder noch schlimmer«, brummelte Asta unheilvoll.
Malcolm stellte die Teller auf das Abtropfbrett, während er Alice, wie üblich, keines Blickes würdigte, und gab die Bestellung für den Nachtisch auf.
»Dein Vater«, sagte Malcolms Mutter und verteilte die Äpfel auf die Teller, »glaubt, dass einer dieser Gäste der ehemalige Lordkanzler ist.«
»Dann solltest du ihm einen besonders schönen Apfel geben«, sagte Malcolm.
»Was wollten sie wissen?«, fragte sie, während sie heiße Soße über die Äpfel goss.
»Oh, nur Sachen über das Kloster.«
»Kannst du das alles tragen? Die Schälchen sind heiß.«
»Ja, aber sie sind nicht groß. Ich schaff das, ehrlich.«
»Das solltest du auch. Denn wenn du den Apfel des Lordkanzlers fallen lässt, wanderst du ins Gefängnis.«
Er trug die Schalen geschickt, obwohl sie immer heißer wurden. Diesmal hatten die Herren keine Fragen mehr, sie bestellten lediglich Kaffee für alle. Bevor Malcolm in die Küche ging, um Tassen zu holen, brachte er den Herren eine Naphthalampe.
»Mum, du weißt doch, dass das Kloster manchmal Gäste aufnimmt? Hast du jemals davon gehört, dass die Nonnen sich um ein Baby gekümmert hätten?«
»Weshalb willst du das wissen?«
»Sie haben mich danach gefragt. Der Lordkanzler und die anderen.«
»Was hast du geantwortet?«
»Ich sagte, ich glaube nicht.«
»Das ist genau die richtige Antwort. Mach jetzt weiter und bring mir noch ein paar Gläser.«
Im großen Schankraum flüsterte Asta ihm inmitten von Stimmen und Gelächter unbemerkt zu: »Sie ist zusammengezuckt, als du das gefragt hast. Und Kerin wurde munter und hat die Ohren gespitzt.«
Kerin war Mrs Polsteads Dæmon, ein ruppiger, aber duldsamer Dachs.
»Das liegt nur daran, dass die Frage völlig überraschend kam«, sagte Malcolm. »Du sahst sicher auch überrascht aus, als sie mich das gefragt haben.«
»Nein, man konnte es mir nicht ansehen.«
»Also, ich glaube, sie haben bemerkt, dass ich überrascht war.«
»Sollen wir die Nonnen fragen?«
»Ja«, erwiderte Malcolm. »Morgen. Sie sollten erfahren, dass sich jemand nach ihnen erkundigt hat.«
Malcolms Vater hatte recht: Lord Nugent war Lordkanzler gewesen, aber unter einer früheren Regierung, einer liberaleren als der aktuellen, die in liberaleren Zeiten regierte. Heutzutage herrschte in der Politik größtenteils servile Unterwürfigkeit gegenüber religiösen Instanzen, ja, letztlich Genf gegenüber. Demzufolge hatten einige Institutionen der bevorzugten religiösen Richtung deutlich an Macht und Einfluss gewonnen, während Beamte und Minister, die den mittlerweile missliebigen säkularen Kurs befürwortet hatten, eine andere Beschäftigung finden oder im Geheimen arbeiten mussten und dabei ständig der Gefahr ausgesetzt waren, entdeckt zu werden.
Zu diesem Personenkreis gehörte Thomas Nugent. Für die Welt, die Presse und die Regierung war er ein pensionierter Rechtsanwalt, dessen Ansehen dahinschwand, ein Mann von gestern. Doch in Wirklichkeit leitete er eine Organisation, die ähnlich wie ein Geheimdienst arbeitete und wenige Jahre zuvor noch ein Teil des königlichen Geheimdienstes gewesen war. Unter Lord Nugent hatte sie es sich jedoch zum Ziel gesetzt, die Arbeit der religiösen Einrichtungen zu behindern, im Hintergrund zu agieren und nach außen hin harmlos zu wirken. Dies erforderte Einfallsreichtum, Mut und Glück, und bisher waren sie unentdeckt geblieben. Unter einem unauffälligen und irreführenden Namen organisierten sie alle möglichen Aktionen, die gefährlich, kompliziert, langwierig und manchmal schlichtweg illegal waren. Aber noch nie zuvor hatten sie ein sechs Monate altes Baby schützen müssen, ein Mädchen, das umgebracht werden sollte.
Malcolm hatte am Samstag frei, nachdem er seine morgendlichen Pflichten im Gasthaus zur Forelle erfüllt hatte, und begab sich über die Brücke zum Kloster.
Er klopfte an die Küchentür, ging hinein und traf dort auf Schwester Fenella, die Kartoffeln schabte. Er wusste von seiner Mutter, dass es eine leichtere Art des Kartoffelschälens gab, und hätte Malcolm ein scharfes Messer zur Hand gehabt, dann hätte er es der braven Nonne zeigen können, doch er hielt sich zurück.
»Malcolm, bist du gekommen, um mir zu helfen?«, sagte sie.
»Wenn Sie es wünschen. Aber ich wollte Ihnen eigentlich etwas erzählen.«
»Du könntest diesen Rosenkohl putzen.«
»Gut«, sagte Malcolm, holte das schärfste Messer aus der Schublade und zog einige Rosenkohlröschen über den Tisch in die fahle Februarsonne.
»Vergiss nicht das Kreuz unten hineinzuschneiden«, mahnte ihn Schwester Fenella.
Sie hatte ihm einmal erklärt, dass damit jeder Strunk das Zeichen des Erlösers trage und der Teufel nicht hineinfahren könne. Damals war er davon beeindruckt gewesen, doch inzwischen wusste er, dass man so lediglich dafür sorgte, dass der Kohl richtig garte, wie seine Mutter ihm erklärt hatte. Doch sie hatte gesagt: »Widersprich Schwester Fenella nicht. Sie ist eine liebe alte Dame, und wenn sie das glaubt, dann lass sie und verärgere sie nicht.«
Nichts lag Malcolm ferner, als Schwester Fenella zu verärgern, die er unumwunden und voller Hingabe liebte.
»Also, was willst du mir erzählen?«, fragte sie, nachdem Malcolm sich auf dem alten Hocker neben ihr niedergelassen hatte.
»Wissen Sie, wer gestern Abend bei uns in der Forelle war? Drei Herren haben da zu Abend gegessen und einer davon war Lord Nugent, der Lordkanzler von England. Der Exlordkanzler. Und das ist noch nicht alles. Sie haben vom Fenster aus zum Kloster hinübergeblickt und waren sehr neugierig. Sie stellten alle möglichen Fragen – welchem Orden Sie angehören, ob Sie Gäste aufnehmen und welche das seien – und schließlich wollten sie wissen, ob Sie jemals ein Baby beherbergt hätten ...«
»Ein kleines Kind«, warf Asta ein.
»Ja, ein kleines Kind. Haben Sie jemals ein Kind hier aufgenommen?«
Schwester Fenella hielt mit dem Schaben inne. »Der Lordkanzler von England?«, fragte sie. »Bist du sicher?«
»Dad hat sein Bild in der Zeitung gesehen und ihn wiedererkannt. Die Herren wollten ihr Essen im Terrassenzimmer allein einnehmen.«
»Der Lordkanzler persönlich?«
»Der Exlordkanzler. Schwester Fenella, was tut ein Lordkanzler eigentlich?«
»Oh, er ist ein hohes Tier, sehr wichtig. Es würde mich nicht wundern, wenn er etwas mit dem Gesetz zu tun hätte. Oder der Regierung. War er sehr vornehm und stolz?«
»Nein. Na ja, er war ein Gentleman, das war völlig klar, aber er war nett und freundlich.«
»Und er wollte wissen ...«
»Ob jemals ein Baby im Kloster aufgenommen wurde. Ich glaube, er meinte, ein Baby, um das Sie sich im Kloster gekümmert haben.«
»Und was hast du ihm geantwortet?«,
»Ich habe gesagt, ich denke, nein. Aber hatten Sie mal ein Baby hier?«
»Nicht zu meiner Zeit. Ach du lieber Himmel! Ob ich das wohl Schwester Benedicta sagen sollte?«
»Wahrscheinlich schon. Ich dachte, dass er vielleicht einen Platz sucht, um ein kleines Kind von Rang unterzubringen, vielleicht zur Rekonvaleszenz. Vielleicht gibt es ein kleines Kind königlicher Abstammung, von dem wir nichts wissen, weil es krank war oder von einer Schlange gebissen wurde ...«
»Warum sollte es von einer Schlange gebissen worden sein?«
»Weil sein Kindermädchen nicht aufgepasst hat, vielleicht gerade in einer Zeitschrift geblättert oder sich mit jemandem unterhalten hat. Und plötzlich taucht diese Schlange auf und das Kindermädchen hört einen Schrei. Es dreht sich um und sieht das Baby, an dem eine Schlange herunterhängt. Das arme Kindermädchen würde tief in Schwierigkeiten stecken und müsste vielleicht sogar ins Gefängnis. Wenn das Baby von dem Schlangenbiss geheilt wäre, müsste es sich noch ein wenig erholen. Also würden sich der König, der Premierminister und der Lordkanzler nach einem Ort umsehen, wo sich das Baby erholen könnte. Und das müsste natürlich irgendwo sein, wo man schon Erfahrung mit Babys hat.«
»Ja, klar«, sagte Schwester Fenella. »Das klingt einleuchtend. Ich glaube, ich sollte es wirklich zumindest Schwester Benedicta erzählen. Sie weiß, was zu tun ist.«
»Wenn sie es ernst gemeint haben, werden sie sicher hierherkommen und Fragen stellen. Wir in der Forelle wissen ja viel, aber die Leute, die man eigentlich dazu befragen sollte, sind hier, nicht wahr?«
»Es sei denn, sie wollen nicht, dass wir Bescheid wissen«, erwiderte Schwester Fenella.
»Aber sie haben mich doch gefragt, ob ich mit Ihnen rede, und ich habe gesagt, dass ich das sehr oft tue, da ich ja für Sie arbeite. Sie gehen also sicher davon aus, dass ich Ihnen etwas darüber erzähle, und sie haben mich nicht gebeten, es nicht zu tun.«
»Das ist ein gutes Argument«, sagte Schwester Fenella und ließ die letzte Kartoffel in den großen Kochtopf fallen. »Aber es klingt trotzdem nach Neugier. Vielleicht schreiben sie der Mutter Oberin, statt persönlich im Kloster vorzusprechen. Ich frage mich, ob sie nicht eher ein Asyl suchen.«
»Asyl?« Malcolm liebte den Klang dieses Wortes, und er hatte bereits vor Augen, wie man es buchstabierte. »Was ist das?«
»Wenn jemand gegen das Gesetz verstößt und von der Justiz verfolgt wird, kann er in eine Kapelle fliehen und um Zuflucht bitten. Das bedeutet, dass er, solange er sich in der Kapelle aufhält, nicht festgenommen werden darf.«
»Aber dieses Baby kann doch gar kein Gesetz gebrochen haben. Jedenfalls jetzt noch nicht.«
»Nein. Aber dieses Recht galt auch für Flüchtlinge. Für Menschen, die ohne eigenes Verschulden in Gefahr geraten sind. Keiner durfte sie festnehmen, wenn sie Zuflucht erhalten hatten. Manche Colleges durften es früher Wissenschaftlern gewähren. Ich weiß nicht, ob das heute noch geht.«
»Aber das Baby ist ja auch kein Wissenschaftler, denke ich. Soll ich den ganzen Rosenkohl putzen?«
»Bis auf zwei Strünke. Die heben wir für morgen auf.«
Schwester Fenella sammelte alle Rosenkohlblätter auf, schnitt die leeren Strünke in kleine Stücke und warf sie in einen Eimer, der für die Schweine vorgesehen war.
»Malcolm, was hast du heute noch vor?«, fragte sie.
»Ich hole mein Kanu. Der Fluss führt ziemlich viel Wasser, sodass ich aufpassen muss, aber ich will es reinigen, damit es auf Vordermann ist.«
»Planst du irgendwelche langen Fahrten?«
»Das würde ich gern. Aber ich kann Mum und Dad nicht im Stich lassen. Sie brauchen meine Hilfe.«
»Sie würden sich Sorgen um dich machen.«
»Ich würde ihnen schreiben.«
»Wohin würdest du fahren?«
»Den Fluss hinunter bis nach London. Vielleicht sogar bis zum Meer. Doch ich fürchte, mein Boot ist nicht unbedingt für eine Fahrt auf dem Meer geeignet. Es könnte bei einer großen Welle umkippen. Vielleicht müsste ich es vertäuen und auf ein anderes Boot überwechseln. Das werde ich irgendwann einmal tun.«
»Wirst du uns eine Postkarte schicken?«
»Natürlich. Oder Sie kommen mit mir.«
»Wer würde dann für die Schwestern kochen?«
»Sie könnten ja Picknicks machen oder in unserem Gasthaus essen.«
Sie lachte und klatschte in die Hände. Im fahlen Sonnenlicht, das durch die staubigen Fenster drang, bemerkte Malcolm, wie aufgesprungen und rissig die Haut ihrer Finger war, wie rot und rau. Sicher tut es jedes Mal weh, wenn sie die in heißes Wasser taucht, dachte er, aber über ihre Lippen war noch nie ein Wort der Klage gekommen.
An diesem Nachmittag begab sich Malcolm zu dem angebauten Schuppen neben dem Haus und zerrte die Abdeckplane von seinem Kanu. Er inspizierte es vom Bug bis zum Heck, kratzte den Grünspan ab, der sich während des Winters angesammelt hatte, und untersuchte dabei jeden Zentimeter. Norman, der Pfau, stolzierte heran, um nachzusehen, ob es etwas zum Fressen gab. Er schüttelte voller Verdruss die Federn, als er feststellte, dass nichts geboten war.
Das Holz von Belle Sauvage war tadellos, doch die Farbe begann allmählich abzublättern. Malcolm erwog, den Namenszug abzukratzen und ihn neu aufzumalen, damit er besser aussah. Und statt Grün wollte er eine rote Farbe wählen, die sich besser abhob. Vielleicht konnte er ein paar Gelegenheitsjobs für die Werft in Medley erledigen, um dafür einen kleinen Topf roter Farbe zu erhalten. Er zog das Kanu über den Wiesenhang zum Flussufer, überlegte kurz, gleich flussabwärts zur Werft zu rudern, um mit ihnen zu verhandeln, beschloss dann aber, noch einen Tag zu warten. Stattdessen ruderte er flussaufwärts und bog dann rechts in den Duke’s Cut ein, einen der Wasserläufe, die den Fluss mit dem Oxford-Kanal verbanden.
Er hatte Glück: Ein Kanalboot lag gerade bereit, um in die Schleuse einzufahren, also reihte er sich schnell daneben ein. Manchmal musste er eine Stunde warten und versuchen, Mr Parsons zu überreden, die Schleuse nur für ihn zu öffnen, doch der Schleusenwärter nahm es mit den Vorschriften ganz genau und war außerdem darauf bedacht, keinesfalls mehr zu tun, als unbedingt nötig war. Er hatte allerdings nichts dagegen, wenn Malcolm neben einem anderen Boot in die Schleuse hinein- und wieder herausfuhr.
»Was hast du vor, Malcolm?«, rief er zu ihm hinunter, während das Wasser am anderen Ende herausströmte und der Wasserstand sank.
»Ich möchte fischen gehen«, rief Malcolm zurück.
Das war seine übliche Antwort und manchmal entsprach sie sogar der Wahrheit. Doch heute ging ihm dieser Topf mit roter Farbe nicht aus dem Kopf, und er überlegte, ob er nicht zu dem Schiffsausrüster in Jericho rudern sollte, um eine Preisvorstellung zu bekommen. Vielleicht hatten sie auch gar keine rote Farbe, aber er besuchte den Laden immer gern.
Auf dem Kanal ruderte er in gleichmäßigem Rhythmus an Kleingärten und Sportplätzen von Schulen vorbei, bis er zum nördlichen Ende von Jericho gelangte, einer Ansammlung von Reihenhäusern aus Ziegelsteinen, wo die Arbeiter der Presswerke und der Eagle Ironworks mit ihren Familien lebten. Das Gebiet war inzwischen zum Teil saniert worden, aber es gab immer noch finstere Ecken und dunkle Gassen, einen verlassenen Friedhof und eine Kirche mit einem Glockenturm im italienischen Stil, der über der Werft und dem Schiffsausrüster thronte.
Auf der Westseite des Flusses – zu Malcolms Rechten – führte ein Treidelpfad entlang, der dringend der Rodung bedurfte. Am Rand wuchsen üppig Wasserpflanzen, und als Malcolm etwas langsamer ruderte, erregte eine Bewegung im Schilf seine Aufmerksamkeit. Er brachte das Kanu zum Stehen, glitt lautlos zwischen die Schilfrohre und beobachtete, wie ein Haubentaucher auf den Treidelpfad hüpfte, wenig anmutig über den Pfad watschelte und sich dann in das kleine Nebengewässer auf der anderen Seite fallen ließ. Malcolm steuerte das Kanu noch tiefer ins Schilf, er verhielt sich so leise wie möglich und bewegte sich nur ganz langsam vorwärts. Er beobachtete, wie der Vogel den Kopf schüttelte und zu seinem Gefährten schwamm.
Malcolm hatte gehört, dass es hier Haubentaucher gab, es aber nicht recht geglaubt. Nun hatte er den Beweis. Er würde mit Sicherheit ein paar Monate später wieder hierherkommen, um nachzusehen, ob sie brüteten.
Die Schilfrohre überragten ihn auf seinem Platz im Kanu, und er vermutete, dass er nicht gesehen werden konnte, wenn er sich ganz ruhig verhielt. Hinter sich hörte er die Stimmen eines Mannes und einer Frau, und während sie vorübergingen, völlig ineinander vertieft, saß er wie erstarrt da. Er war schon vorher an ihnen vorbeigekommen: Die beiden waren ein Liebespaar und gingen Hand in Hand. Ihre Dæmonen, zwei kleine Vögel, flogen vor ihnen her, hielten kurz inne, um miteinander zu flüstern, und flogen dann wieder weiter.
Malcolms Dæmon Asta, der auf dem Bootsrand hockte, hatte gerade die Gestalt eines Eisvogels angenommen. Als das Liebespaar vorbeigegangen war, flog er ihm auf die Schulter und flüsterte: »Der Mann dort – schau mal ...«
Malcolm hatte ihn nicht bemerkt. Ein paar Meter weiter vorn auf dem Treidelpfad war durch das Schilf ein Mann zu sehen. Er trug einen Regenmantel und einen grauen Filzhut und stand unter einer Eiche. Er wirkte, als suchte er Schutz vor dem Regen, doch es regnete nicht. Sein Mantel und sein Hut hatten fast dieselbe Farbe wie dieser späte Nachmittag. Er war genauso schlecht zu erkennen wie die Haubentaucher, sogar noch schlechter, dachte Malcolm, da er keine Federhaube besaß.
»Was macht er da?«, flüsterte Malcolm.
Asta verwandelte sich in eine Fliege und flog so weit wie möglich von Malcolm weg. Sie verlangsamte ihren Flug erst, als sie Schmerzen bekam, und ließ sich auf einem der Schilfrohre nieder, um den Mann ausgiebig betrachten zu können. Er versuchte, unauffällig zu bleiben, verhielt sich aber so unbeholfen und wirkte so unglücklich darüber, dass er genauso gut eine Fahne hätte schwenken können.
Asta sah, wie sein Dæmon – eine Katze – auf den niedrigsten Ästen der Eiche herumstrich, während der Mann darunter stand und den Blick in beide Richtungen des Treidelpfads schweifen ließ. Plötzlich gab die Katze ein leises Geräusch von sich. Der Mann blickte hoch und sie sprang auf seine Schulter – doch dabei fiel ihr etwas aus dem Maul.
Der Mann stieß einen kleinen Unmutslaut aus und sein Dæmon hüpfte auf den Boden. Die beiden sahen sich überall um, suchten unter dem Baum, am Ufer und zwischen dem struppigen Gras.
»Was hat sie fallen lassen?«, flüsterte Malcolm.
»Sah aus wie eine Nuss, zumindest hatte es dieselbe Größe.«
»Hast du gesehen, wohin sie gefallen ist?«
»Ich glaube schon. Das Ding ist vom Baumstamm unten abgeprallt und dort unter den Busch gefallen. Schau, sie tun so, als würden sie gar nicht danach suchen ...«
Doch genau das taten sie. Ein anderer Mann kam den Pfad entlang, mit seinem Hundedæmon. Und während der Mann im Regenmantel darauf wartete, dass die beiden vorübergingen, tat er so, als blickte er auf seine Uhr, schüttelte sein Handgelenk, hielt die Uhr ans Ohr, schüttelte erneut das Handgelenk, nahm die Uhr ab und zog sie auf ... Nachdem der andere Mann sich entfernt hatte, legte sich der Mann im grauen Mantel die Uhr wieder ums Handgelenk und widmete sich erneut der Suche nach dem Gegenstand, den sein Dæmon hatte fallen lassen. Er war besorgt, das war offensichtlich, und sein Dæmon sah aus, als würde es ihm von Herzen leidtun. Die beiden boten ein Bild des Jammers.
»Wir könnten ihnen helfen«, sagte Asta.
Malcolm war hin und her gerissen. Er sah immer noch die Haubentaucher und wollte sie wirklich gern beobachten, doch der Mann schien Hilfe zu brauchen. Malcolm war überzeugt davon, dass Asta diesen Gegenstand mit ihrem scharfen Blick ausfindig machen würde, was auch immer es sein mochte. Es würde nicht lange dauern.
Doch noch bevor er irgendetwas unternehmen konnte, bückte sich der Mann, nahm seinen Katzendæmon hoch und eilte den Treidelpfad entlang, als hätte er beschlossen, nun Hilfe zu holen. Malcolm ruderte das Kanu aus dem Schilf und lenkte es rasch zu der Stelle unter der Eiche, wo der Mann gestanden hatte. Kurz darauf sprang er heraus, die Vorleine in der Hand, und Asta huschte in Gestalt einer Maus über den Weg, direkt unter den Busch. Blätter raschelten, Stille, erneutes Rascheln, erneute Stille. Malcolm beobachtete, wie der Mann zu dem kleinen eisernen Steg beim Marktplatz gelangte und die Stufen hinaufstieg. Dann stieß Asta ein aufgeregtes Piepsen aus, und Malcolm wusste, dass sie den Gegenstand gefunden hatte. In ein Eichhörnchen verwandelt, sauste sie auf ihn zu, kletterte schnell seinen Arm hinauf bis zur Schulter und ließ etwas in seine Hand fallen.
»Das muss es sein«, sagte sie. »Das muss das Ding sein.«
Auf den ersten Blick sah es wie eine Eichel aus, doch sie war seltsam schwer, und als er genauer hinsah, bemerkte er, dass das Teil aus fein gemasertem Holz geschnitzt war. Eigentlich bestand es aus zwei Teilen: dem hölzernen Fruchtbecher, der mit seinen rauen überlappenden Schuppen wie der einer echten Eichel aussah und an der Oberfläche leicht grün gefleckt war, und der eigentlichen Nuss, die blitzblank poliert war und in einem perfekten Hellbraun glänzte. Sie war sehr schön und Asta hatte recht: Das musste der Gegenstand sein, den der Mann verloren hatte.
»Komm, wir fangen ihn ab, bevor er über der Brücke ist«, sagte Malcolm und setzte den Fuß ins Boot, aber Asta hielt ihn zurück: »Warte. Sieh mal.«
Asta hatte sich in eine Eule verwandelt, was sie immer tat, wenn sie etwas ganz besonders scharf sehen wollte. Sie hatte den Kopf dem Kanal zugewandt. Als Malcolm ihrem Blick folgte, sah er, dass der Mann nun die Mitte des Stegs erreicht hatte und stehen blieb, da von der anderen Seite her ein Mann auf ihn zukam, ein untersetzter Mann, der schwarz gekleidet war, mit einer leichtfüßigen Füchsin als Dæmon. Malcolm und Asta sahen, dass der zweite Mann den Mann im Regenmantel aufhalten wollte und dass der Mann im Mantel Angst hatte. Sie beobachteten, wie er sich umdrehte, ein, zwei hastige Schritte machte, und dann erneut stehen blieb, da hinter ihm ein dritter Mann auf der Brücke aufgetaucht war. Er war schlanker als der erste und ebenfalls in Schwarz gekleidet. Sein Dæmon war ein großer Vogel, der ihm auf der Schulter saß. Beide Männer strahlten Selbstvertrauen aus, als hätten sie alle Zeit der Welt, um das zu tun, was auch immer sie vorhatten. Sie sagten etwas zu dem Mann im Regenmantel und jeder der beiden Männer packte einen seiner Arme. Er wehrte sich kurz und schien dann in sich zusammenzusacken, aber sie hielten ihn aufrecht und führten ihn über die Brücke zu dem kleinen Platz unter dem Kirchturm, bis sie außer Sichtweite waren. Sein Katzendæmon eilte ihnen elend und verzweifelt hinterher.
»Steck sie in deine Innentasche«, flüsterte Asta.
Malcolm legte die Eichel in die innere Brusttasche seiner Jacke und setzte sich dann vorsichtig hin. Er zitterte wie Espenlaub.
»Sie haben ihn festgenommen«, flüsterte er.
»Das waren keine Polizisten.«
»Nein, aber es waren auch keine Räuber. Sie wirkten ganz gelassen, als dürften sie alles tun, was sie wollten.«
»Du solltest heimfahren«, sagte Asta. »Falls sie uns gesehen haben.«
»Sie haben nicht einmal hergeschaut«, sagte Malcolm, stimmte ihr aber zu: Sie sollten heimfahren.
Während er schnell zurück zum Duke’s Cut paddelte, unterhielten sie sich leise.
»Ich wette, er ist ein Spion«, sagte Asta.
»Könnte sein. Und diese Männer ...«
»Vom GD.«
»Pst!«
Das GD war das Geistliche Disziplinargericht, ein kirchliches Organ, das sich mit Häresie und Ungläubigkeit befasste. Malcolm wusste nicht viel darüber, doch er wusste, welch unerträglichen Schrecken das GD verbreiten konnte. Einmal hatte er im Gasthaus zur Forelle dem Gespräch von Gästen gelauscht, die sich darüber unterhielten, was wohl aus einem Mann geworden sei, den sie kannten, einem Journalisten: Er hatte in einer Reihe von Artikeln zu viele Fragen über das GD gestellt und war über Nacht verschwunden. Der Herausgeber seiner Zeitung war wegen Aufwiegelung festgenommen und ins Gefängnis geworfen worden, doch der Journalist selbst wurde nie mehr gesehen.
»Wir dürfen das den Schwestern gegenüber mit keinem Wort erwähnen«, sagte Asta.
»Ganz bestimmt nicht«, sagte Malcolm.
Es war schwer nachzuvollziehen, aber das Geistliche Disziplinargericht und die freundlichen Schwestern des Klosters Godstow standen gewissermaßen auf derselben Seite. Beide Institutionen gehörten zur Kirche. Malcolm hatte Schwester Benedicta nur ein einziges Mal bekümmert erlebt, und das war, als er sie nach dieser Einrichtung fragte.
»Das sind Mysterien, denen wir nicht auf den Grund gehen sollten«, erwiderte sie. »Sie sind zu groß für uns. Aber die heilige Kirche kennt den Willen Gottes und weiß, was zu tun ist. Wir müssen einander immer lieben und dürfen nicht zu viele Fragen stellen.«
Der erste Teil war leicht für Malcolm, da er das meiste, was er kannte, liebte, aber der zweite Teil fiel ihm schwerer. Dennoch stellte er keine weiteren Fragen über das GD.
Es war fast dunkel, als sie nach Hause kamen. Malcolm zog La Belle Sauvage aus dem Wasser zum Schuppen neben dem Gasthaus. Dann stürmte er mit schmerzenden Armen ins Haus und hoch in sein Schlafzimmer.
Er ließ den Mantel auf den Boden fallen, stieß die Schuhe unters Bett und knipste die Nachttischlampe an, während Asta mühsam die Eichel aus der Innentasche herauszog. Als Malcolm die Eichel in der Hand hielt, drehte er sie in alle Richtungen und betrachtete sie genau.
»Schau, wie sie geschnitzt ist«, sagte er voller Staunen.
»Versuch mal, sie zu öffnen.«
Er tat, wie Asta geheißen, und drehte die Eichel behutsam in ihrem Fruchtbecher, aber ohne Erfolg. Sie ließ sich nicht aufmachen, also gab er sich noch mehr Mühe, zerrte daran, doch auch das funktionierte nicht.
»Versuch, andersherum zu drehen«, sagte Asta.
»Dadurch wird sie nur noch fester geschlossen«, erwiderte Malcolm, versuchte es aber trotzdem, und es klappte. Es war ein linksdrehendes Gewinde.
»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte Malcolm. »Seltsam.«
Das Gewinde war so fein und genau geschnitzt, dass er es unzählige Male drehen musste, bevor die beiden Teile auseinanderfielen. Im Inneren befand sich ein Stück Papier, ganz klein zusammengefaltet. Es war wie das dünne Papier, das für Bibeln verwendet wurde.
Malcolm und Asta sahen sich an. »Das ist ein Geheimnis von irgendjemandem«, sagte er. »Wir sollten es uns nicht anschauen.«
Dennoch öffnete er es, ganz behutsam, um das zarte Papier nicht zu zerreißen, aber es war gar nicht zart, sondern sehr fest.
»Das hätte auch jemand anders finden können«, brummelte Asta. »Er hat Glück, dass wir es waren.«
»Ziemliches Glück«, sagte Malcolm.
»Auf jeden Fall hat er Glück, dass er es nicht bei sich hatte, als er festgenommen wurde.«
Mit einer feinen Feder war in schwarzer Tinte Folgendes auf das Papier geschrieben worden:
Wir würden Ihre Aufmerksamkeit nun gern auf eine andere Sache lenken. Wie Sie sicher wissen, lässt das Vorhandensein eines Rusakow-Felds auf die Existenz eines damit verbundenen Teilchens schließen, doch bisher konnten wir ein solches Teilchen nicht finden. Wenn wir versuchen, es auf eine bestimmte Weise zu messen, weicht ihm unsere Substanz aus und scheint etwas anderes zu bevorzugen. Und wenn wir es auf eine andere Weise versuchen, gelingt es uns auch nicht. Ein Vorschlag von Tokojima, der allerdings von den meisten amtlichen Stellen pauschal abgelehnt wird, scheint uns vielversprechend zu sein, und wir möchten Sie bitten, das Alethiometer nach einer Verbindung zwischen dem Rusakow-Feld und dem Phänomen zu befragen, das inoffiziell Staub genannt wird. Wir müssen Sie nicht an die Gefahr erinnern, die droht, wenn diese Forschung die Aufmerksamkeit der anderen Seite auf sich zieht. Aber denken Sie bitte daran, dass man dort ebenfalls ein größeres Forschungsprogramm über dieses Thema in die Wege geleitet hat. Gehen Sie also vorsichtig vor.
»Was bedeutet das?«, sagte Asta.
»Es hat etwas mit einem Feld zu tun. Einem Magnetfeld, nehme ich an. Hört sich an, als wären das experimentelle Philosophen.«
»Was, glaubst du, meinen sie mit ›der anderen Seite‹?«
»Das GD. Ganz sicher, denn es hat den Mann verfolgt.«
»Und was ist ein Aleth... ein Althe...?«
»Malcolm!«, rief seine Mutter von unten.
»Ich komme«, erwiderte er. Dann faltete er das Papier wieder genauso zusammen, wie es gewesen war, verstaute es sorgfältig in der Eichel und schraubte sie zu. Er stopfte die Eichel in eine Socke in seiner Truhe und rannte die Treppe hinunter, um seinen abendlichen Dienst anzutreten.
Natürlich war am Samstagabend im Gasthaus zur Forelle immer viel los, doch heute klangen die Unterhaltungen eher gedämpft: Im Schankraum herrschte eine nervöse und angespannte Stimmung. Die Gäste an der Bar und an den Tischen verhielten sich ruhiger als sonst, während sie Domino spielten oder Shove Ha’Penny, ein Geschicklichkeitsspiel. Malcolm fragte seinen Vater nach dem Grund dafür.
»Pst«, flüsterte sein Vater und lehnte sich über den Tresen. »Siehst du die beiden Männer am Kamin? GD. Schau nicht hin und achte auf deine Worte, wenn du in ihrer Nähe bist.«
Malcolm spürte eine Angst in sich aufsteigen, die fast zu hören war, wie die Spitze eines Trommelstocks, die über ein Becken gezogen wurde.
»Woher weißt du, wer sie sind?«
»Die Farben der Krawatte. Wie auch immer, das weiß man einfach. Sieh dir die Leute um sie herum an. – Ja, Bob, was kann ich dir bringen?«
Während Malcolms Vater ein Bier für einen Gast zapfte, sammelte Malcolm entsprechend unauffällig die leeren Gläser ein und war froh, dass seine Hände nicht zitterten. Da spürte er, wie Asta vor Angst leicht zusammenzuckte. Sie saß als Maus auf seiner Schulter und hatte direkt zu den Männern am Kamin hinübergesehen und bemerkt, dass sie sie musterten. Es waren die Männer von der Brücke.
Und dann gab ihm einer von ihnen mit einem krummen Finger ein Zeichen, zu ihm zu kommen.
»Junger Mann«, sagte er, an Malcolm gewandt.
Malcolm drehte den Kopf und blickte den Männern zum ersten Mal ins Gesicht.
Der Mann, der Malcolm angesprochen hatte, war untersetzt und hatte ein hochrotes Gesicht und dunkelbraune Augen. Es war der erste Mann von der Brücke.
»Ja, Sir?«
»Komm mal kurz her.«
»Darf ich Ihnen etwas bringen, Sir?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich werde dir jetzt eine Frage stellen und du wirst mir die Wahrheit sagen, ja?«
»Das tue ich immer, Sir.«
»Nein, tust du nicht. Kein Junge sagt immer die Wahrheit. Komm her – komm etwas näher.«
Er sprach nicht laut, aber Malcolm wusste, dass alle um ihn herum, und besonders sein Vater, aufmerksam zuhörten. Er ging auf den Mann zu und stellte sich neben seinen Stuhl. Der Duft seines Eau de Cologne stieg ihm in die Nase. Der Mann trug einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd mit einer dunkelblau und ockerfarben gestreiften Krawatte. Sein Füchsinnendæmon lag zu seinen Füßen. Mit wachsamem Blick beobachtete sie alles.
»Ja, Sir?«
»Ich nehme an, du bekommst immer genau mit, welche Gäste hier hereinkommen, nicht wahr?«
»Ich denke schon, Sir.«
»Kennst du die Stammgäste?«
»Ja, Sir.«
»Würdest du einen Fremden erkennen?«
»Vermutlich, Sir.«
»Hast du vor ein paar Tagen diesen Mann hier ins Gasthaus kommen sehen?«
Er hielt ein Fotogramm hoch. Malcolm erkannte das Gesicht sofort. Es war einer der Männer, die in Begleitung des Lordkanzlers gekommen waren: der Mann mit den dunklen Augen und dem schwarzen Schnurrbart.
Also ging es vielleicht gar nicht um den Mann auf dem Treidelpfad und die Eichel. Er bemühte sich, keine Miene zu verziehen.
»Ja, ich hab ihn gesehen, Sir«, sagte Malcolm.
»Wer war bei ihm?«
»Zwei weitere Männer, Sir. Ein älterer und ein großer, schlanker.«
»Hast du einen von ihnen erkannt? Vielleicht aus der Zeitung oder dergleichen?«
»Nein, Sir«, erwiderte Malcolm und schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich habe keinen von ihnen erkannt.«
»Worüber haben sie gesprochen?«
»Also, ich belausche die Gespräche der Gäste nicht gerne. Mein Dad sagt, dass sich das nicht gehört ...«
»Aber man bekommt doch unweigerlich etwas mit, oder?«
»Ja, das stimmt.«
»Was hast du also von ihrer Unterhaltung mitbekommen?«
Die Stimme des Mannes war immer leiser geworden, sodass Malcolm näher rückte. Die Unterhaltung am nächsten Tisch war fast verstummt, und Malcolm wusste, dass jedes seiner Worte bis zur Bar dringen würde.
»Sie haben über den Rotwein gesprochen, Sir, sie haben gesagt, dass er köstlich sei, und eine zweite Flasche für ihr Abendessen bestellt.«
»Wo haben sie gesessen?«
»Im Terrassenzimmer, Sir.«
»Und wo befindet sich das?«
»Den Flur hinunter. Da es dort etwas kalt ist, habe ich den Herren angeboten, es sich hier am Feuer gemütlich zu machen, aber das wollten sie nicht.«
»Und hast du das etwas seltsam gefunden?«
»Die Gäste verhalten sich, wie es ihnen beliebt, Sir. Ich denke nicht viel darüber nach.«
»Sie wollten also lieber ungestört sein?«
»Vielleicht, Sir.«
»Hast du seitdem einen der Männer wiedergesehen?«
»Nein, Sir.«
Der Mann trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Und wie heißt du?«, fragte er nach einer Weile.
»Malcolm, Sir. Malcolm Polstead.«
»Gut, Malcolm. Du kannst gehen.«
»Danke, Sir«, erwiderte Malcolm und bemühte sich, dabei ruhig zu klingen.
Dann hob der Mann leicht die Stimme und blickte sich im Lokal um. Sobald er zu sprechen begann, verstummten alle gleichzeitig, als hätten sie darauf gewartet.
»Sie haben gehört, was ich den jungen Malcolm hier gefragt habe. Es gibt einen Mann, den wir unbedingt finden wollen. Ich werde gleich sein Bild an der Wand neben der Bar aufhängen, damit Sie alle einen Blick darauf werfen können. Wenn irgendeiner von Ihnen etwas über diesen Mann weiß, soll er sich mit mir in Verbindung setzen. Mein Name und meine Adresse stehen auch auf dem Papier. Denken Sie an meine Worte, dies ist eine wichtige Angelegenheit. Wer mit mir über diesen Mann reden möchte, wenn er das Bild gesehen hat, kann zu mir kommen. Ich bleibe hier sitzen.«
Der andere Mann nahm das Blatt Papier und heftete es an das Brett aus Kork, wo Tanzveranstaltungen, Versteigerungen, Whistturniere und dergleichen bekannt gegeben wurden. Um Platz für das Bild zu machen, entfernte er willkürlich einige andere Aushänge.
»Hey«, sagte ein Mann, der in seiner Nähe stand und dessen großer Hundedæmon eine drohende Haltung eingenommen hatte. »Sie hängen die Zettel, die Sie gerade abgerissen haben, jetzt sofort wieder hin.«
Der GD-Mann drehte sich zu ihm um. Sein Krähendæmon breitete die Flügel aus und krächzte leise.
»Was haben Sie gesagt?«, mischte sich der erste GD-Mann ein, der am Kamin sitzen geblieben war.
»Ich habe Ihrem Kollegen gesagt, dass er die Aushänge, die er heruntergerissen hat, wieder an die Wand heften soll. Das ist nämlich unser Schwarzes Brett, und nicht Ihres.«
Malcolm wich zur Wand zurück. Der Gast, der eben gesprochen hatte, war George Boatwright, ein streitsüchtiger Schiffer mit hochrotem Gesicht, den Mr Polstead schon einige Male aus dem Gasthaus hatte werfen müssen. Aber er war trotzdem ein anständiger Kerl und hatte Malcolm noch nie barsch angeredet. Die Stille in der Schenke war jetzt zum Greifen, und sogar Gäste in anderen Bereichen des Lokals hatten mitbekommen, dass etwas im Gange war, und waren zum Durchgang geeilt, um die Szene zu beobachten.
»Immer mit der Ruhe, George«, murmelte Mr Polstead.
Der erste GD-Mann nippte an seinem Branntwijn. Dann blickte er Malcolm an und sagte: »Malcolm, wie heißt der Mann?«
Doch noch bevor Malcolm überlegen konnte, was er sagen sollte, antwortete Boatwright selbst mit lauter, fester Stimme: »Ich heiße George Boatwright. Versuchen Sie nicht, den Jungen in Verlegenheit zu bringen. So verhält sich nur ein Feigling.«
»George ...«, sagte Mr Polstead.
»Nein, Reg. Ich spreche für mich selbst«, wehrte Boatwright ab. »Und das hier tue ich auch noch«, fügte er hinzu, »weil dein griesgrämiger Freund mich anscheinend nicht gehört hat.«
Er griff zur Wand hoch, riss das Papier ab und knüllte es zusammen, ehe er es ins Feuer warf. Dann stand er leicht schwankend in der Mitte des Raums und starrte den Anführer der GD-Leute an. Malcolm bewunderte ihn in diesem Augenblick sehr.
Dann erhob sich der Dæmon des GD-Manns, die Füchsin. Sie kam elegant unter dem Tisch hervor und blickte Boatwrights Dæmon in die Augen, den buschigen Schwanz steil nach oben gerichtet und mit völlig reglosem Kopf.
Boatwrights Dæmon Sadie war viel größer. Es war ein robust wirkender weiblicher Straßenköter, eine Mischung aus Staffordshire Terrier, Deutschem Schäferhund und, soweit Malcolm wusste, auch Wolf. Sadie war offensichtlich auf Streit aus. Mit gesträubtem Fell stand sie neben Boatwrights Beinen, die Lefzen hochgezogen, und schwang langsam ihren Schwanz, während aus ihrer Kehle ein tiefes Knurren drang, wie fernes Donnergrollen.
Asta kroch unter Malcolms Hemdkragen. Kämpfe zwischen ausgewachsenen Dæmonen waren nichts Ungewöhnliches, aber Mr Polstead erlaubte so etwas nicht in seinem Gasthaus.
»George, du solltest jetzt besser gehen«, sagte er. »Los, vorwärts. Komm wieder, wenn du nüchtern bist.«
Boatwright drehte den Kopf, und Malcolm sah zu seiner Bestürzung, dass der Mann tatsächlich ein wenig betrunken war, denn er taumelte leicht und bemühte sich, das Gleichgewicht wiederzufinden. Doch dann sahen alle dasselbe – nicht seine Betrunkenheit, sondern die Angst seines Dæmons.
Etwas hatte die Hündin in einen fürchterlichen Schrecken versetzt. Dieses brutale Biest, das seine Zähne schon in so manches Dæmonenfell gegraben hatte, zog den Kopf ein, zitterte und winselte, als die Füchsin langsam auf es zukam. Boatwrights Dæmon fiel zu Boden und rollte sich zur Seite, und Boatwright zuckte zurück, er versuchte, seinen Dæmon festzuhalten und ihn vor den tödlichen weißen Zähnen der Füchsin zu bewahren.
Der GD-Mann murmelte einen Namen. Die Füchsin hielt inne und wich dann einen Schritt zurück. Boatwrights Dæmon lag zusammengekrümmt auf dem Boden, bebte und Boatwrights Miene war mitleiderregend. Nach einem kurzen Blick zog Malcolm es tatsächlich vor, nicht mehr hinzuschauen, um Boatwrights Schmach nicht sehen zu müssen.
Die schlanke kleine Füchsin tapste anmutig zum Tisch zurück und legte sich nieder.
»George Boatwright, gehen Sie und warten Sie draußen«, befahl der GD-Mann. Seine Überlegenheit war nun so groß, dass niemand auch nur einen Moment lang glaubte, dass Boatwright sich widersetzen und aus dem Staub machen würde. Er streichelte seinen am Boden kauernden Dæmon und hob ihn leicht hoch, während die Hündin nach ihm schnappte und das Blut von seiner zitternden Hand schleckte. Dann bahnte Boatwright sich kläglich den Weg zur Tür und tauchte in die Dunkelheit ein.
Der zweite GD-Mann holte einen weiteren Aushang aus seiner Aktentasche und heftete ihn an das Anschlagbrett. Dann tranken die beiden Männer in aller Seelenruhe ihre Gläser aus. Sie griffen nach ihren Mänteln und gingen hinaus, um sich um ihren erbärmlichen Gefangenen zu kümmern. Keiner sagte ein einziges Wort.
Wie sich herausstellte, hatte George Boatwright nicht gehorsam darauf gewartet, dass die Männer herauskamen und ihn abführten, sondern sich aus dem Staub gemacht. Gut für ihn, dachte Malcolm, aber niemand redete darüber oder fragte sich laut, was mit ihm geschehen war. Wenn es um das GD ging, war es besser, man stellte keine Fragen und dachte auch nicht darüber nach.
Danach herrschte im Gasthaus zur Forelle ein paar Tage lang gedämpfte Stimmung. Malcolm ging wie üblich zur Schule, machte seine Hausaufgaben, bediente in der Schenke und las immer wieder die Geheimbotschaft in der Eichel. Es war keine unbeschwerte Zeit, alles schien von einem bedrückenden Gefühl des Misstrauens und der Angst erfüllt zu sein, ganz im Gegensatz zu der normalen Welt, wie Malcolm sie sonst erlebte, an diesem Ort, wo alles interessant und heiter war.
Außerdem hatte sich der GD-Mann nach dem Begleiter des Lordkanzlers erkundigt, und der wiederum hatte sich dafür interessiert, ob das Kloster je ein Kleinkind in Obhut gehabt hatte. Und Malcolm nahm an, dass die Sorge um Kleinkinder nichts war, worum sich das GD normalerweise kümmerte. Eicheln, die Geheimbotschaften enthielten, mochte es vielleicht interessieren, doch darüber hatten die Männer kein Wort verloren. Es war alles sehr verwirrend.
In der Hoffnung, noch jemand anderen zu sehen, der bei der Eiche entweder eine Nachricht hinterließ oder abholte, begab sich Malcolm in den Tagen darauf mehrmals dorthin und vertuschte sein Interesse an diesem kleinen Kanalabschnitt, indem er die Haubentaucher beobachtete. Außerdem trieb er sich bei dem Schiffsausrüster herum. Es war ein idealer Ort, um den Marktplatz im Auge zu behalten. Ständig gingen Menschen dort hin und her oder blieben stehen, um in dem gegenüberliegenden Café einen Kaffee zu trinken. Beim Schiffsausrüster gab es jede Art von Bootszubehör, auch rote Farbe. Er kaufte einen kleinen Topf und einen dünnen Pinsel dazu. Die Frau hinter dem Tresen erkannte schnell, dass sein Interesse sich nicht auf die rote Farbe beschränkte.
»Was suchst du sonst noch, Malcolm?«, fragte sie ihn. Sie hieß Mrs Carpenter und kannte ihn, seit er allein mit dem Kanu fahren durfte.
»Eine Baumwollschnur«, erwiderte er.
»Ich habe dir doch gezeigt, was wir gestern hereinbekommen haben.«
»Ja, aber vielleicht haben Sie irgendwo noch eine andere Rolle ...«
»Ich verstehe nicht, was mit der, die ich dir gezeigt habe, nicht stimmt.«
»Sie ist zu dünn. Ich brauche sie für ein Schlüsselband, deshalb muss sie etwas stabiler sein.«
»Du kannst sie ja doppelt nehmen. Nimm einfach zwei Stränge statt einen.«
»Oh ja, das könnte ich wohl.«
»Wie viel brauchst du davon?«
»Ungefähr sieben Meter.«
»Doppelt oder einfach?«
