His Dark Materials 1: Der Goldene Kompass - Philip Pullman - E-Book
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His Dark Materials 1: Der Goldene Kompass E-Book

Philip Pullman

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Beschreibung

»Ohne dieses Kind werden wir alle sterben.« Lyra Belacqua führt ein unbeschwertes, wildes Leben bei den Gelehrten des Jordan College in Oxford. Immer an ihrer Seite ist Pantalaimon, ihr Tierdæmon. Doch mit der Ankunft von Lyras Onkel, dem düsteren Lord Asriel, beginnt für sie ein gefährliches Abenteuer. Denn es gibt geheime Pläne, die Lyras Welt ins Chaos stürzen: Es geht um gestohlene Kinder und verlorene Dæmonen, um Hexenclans und kämpfende Eisbären – und um eine rätselhafte, weltenverändernde Substanz namens Staub … Dies ist der erste Band der preisgekrönten Fantasy-Serie »His Dark Materials«. Alle Bände des epischen Meisterwerks: Über den wilden Fluss (Band 0) Der Goldene Kompass (Band 1) Das Magische Messer (Band 2) Das Bernstein-Teleskop (Band 3) Ans andere Ende der Welt (Band 4)

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Seitenzahl: 592

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Außerdem von Philip Pullman bei Carlsen erschienen:His Dark Materials – Der Goldene Kompass His Dark Materials – Das Magische Messer His Dark Materials – Das Bernstein-Teleskop Das eiserne Herz Graf Karlstein Die Abenteuer des Baron von Krähenschreck Ich war eine Ratte CARLSEN Newsletter Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!www.carlsen.de Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden. Veröffentlicht im Carlsen Verlag Originalcopyright © 1995 Philip Pullman Laternbilder © Philip Pullman 2007 Originalverlag: Scholastic Children's Books Ltd., London Originaltitel: »His Dark Materials 1: Northern Lights« Copyright © der deutschsprachigen Ausgaben: 1996, 2002, 2007 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg Umschlagbild: Dieter Wiesmüller Umschlaggestaltung: formlabor Aus dem Englischen von Wolfram Ströle und Andrea Kann Satz: H & G Herstellung, Hamburg E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-646-92025-3 Alle Bücher im Internet unterwww.carlsen.de

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In dieser wilden KluftSchoß der Natur, und wohl auch deren GrabNicht See, nicht Land, nicht Luft, nicht Feuer nochDoch angelegt in einem UrgemischAuf alle diese hin, im Wirrwarr schwangerDie so auf immer sich bekämpfen müssenWenn nicht des Schöpfers Allmacht sie bestimmtZum dunklen Rohstoff neu erschaffner Welten –In diese Kluft hinaus am HöllenrandStand der wachsame Feind und überlegteAusschauend seine Reise eine Weile … John Milton, Das verlorene Paradies, Zweites Buch

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DER GOLDENE KOMPASS ist der erste Teil einer Geschichte in drei Bänden. Der erste Band spielt in einer Welt, die der unseren sehr ähnlich und doch ganz anders ist. Der zweite Band spielt in der Welt, die wir kennen. Der dritte Band bewegt sich zwischen diesen Welten.

Inhalt

I Oxford

Eins Die Karaffe   9

Zwei Der Norden   25

Drei Lyras Jordan   42

Vier Das Alethiometer   78

Fünf Die Cocktailparty   94

Sechs Im Netz   112

Sieben John Faa   126

Acht Enttäuschung   148

Neun Die Spione   161

II Bolvangar

Zehn Der Konsul und der Bär   185

Elf Die Rüstung   206

Zwölf Der verlorene Junge   230

Dreizehn Der Fechtkampf   242

Vierzehn Die Lichter von Bolvangar   261

Fünfzehn Die Dæmonenkäfige   280

Sechzehn Die silberne Guillotine   299

Siebzehn Die Hexen   315

III Svalbard

Achtzehn Nebel und Eis   345

Neunzehn Gefangen   364

Zwanzig Auf Messers Schneide   384

Einundzwanzig Lord Asriels Willkommen   403

Zweiundzwanzig Verrat   423

Dreiundzwanzig Die Brücke zu den Sternen   434Laternbilder   447Danksagung   459

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I Oxford

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Eins

Die Karaffe

An die Wand gedrückt und von der Küche aus nicht zu sehen, schlichen Lyra und ihr Dæmon durch den dämmrigen Speisesaal. Die drei großen Tische, die die ganze Länge des Saales einnahmen, waren bereits gedeckt, die langen Bänke für die Gäste aufgestellt, und Tafelsilber und Gläser funkelten im letzten Tageslicht. Hoch oben an den Wänden hingen die Porträts früherer Rektoren. Am Saalende angekommen, blickte Lyra zur offenen Küchentür zurück, und als sie dort niemanden sah, stieg sie zu dem Tisch auf dem Podium hinauf. Er war mit Gold statt mit Silber gedeckt und statt der Eichenbänke standen dort samtgepolsterte Mahagonistühle.

Am Platz des Rektors blieb Lyra stehen und schnippte vorsichtig mit dem Fingernagel an das größte Glas. Der helle Klang war im ganzen Saal zu hören.

»Das ist nicht der Ort für solche Späße«, flüsterte ihr Dæmon. »Reiß dich gefälligst zusammen.«

Lyras Dæmon Pantalaimon hatte die Gestalt einer dunkelbraunen Motte angenommen, um in dem dämmrigen Saal nicht aufzufallen.

»Die machen in der Küche so viel Krach, dass sie das gar nicht hören«, flüsterte Lyra zurück. »Und der Steward kommt erst beim ersten Klingeln. Mach keinen Aufstand.«

Trotzdem legte sie die Hand auf das Glas, und Pantalaimon flatterte voraus und durch die angelehnte Tür am hinteren Ende des Podiums, die zum Ruhezimmer führte. Kurz darauf tauchte er wieder auf.

»Das Zimmer ist leer«, flüsterte er. »Aber wir müssen uns beeilen.«

Gebückt rannte Lyra um den Tisch und durch die Tür ins Ruhezimmer. Dort richtete sie sich auf und sah sich um. Das einzige Licht kam vom offenen Kamin, in dem ein helles Feuer brannte; gerade in diesem Augenblick rutschte ein Scheit nach unten und eine Fontäne von Funken stieg auf. Obwohl Lyra fast ihr ganzes Leben im College verbracht hatte, war sie noch nie im Ruhezimmer gewesen; nur Wissenschaftler und ihre Gäste durften es betreten, Frauen niemals. Nicht einmal die Putzfrauen durften hier sauber machen, sondern nur der Butler.

Pantalaimon setzte sich auf ihre Schulter.

»Zufrieden?«, flüsterte er. »Können wir wieder gehen?«

»Sei nicht albern! Ich will mich umsehen!«

Das Zimmer war geräumig und enthielt einen ovalen Tisch aus poliertem Rosenholz, auf dem verschiedene Karaffen und Gläser und eine silberne Rauchmühle mit einem Pfeifenständer standen. Die Anrichte daneben war mit einer kleinen Warmhalteplatte und einem Korb mit Mohnkapseln gedeckt.

»Die lassen es sich gutgehen, was, Pan?«, sagte Lyra leise.

Sie setzte sich in einen grünledernen Armsessel. Er war so tief, dass sie beinah darin lag. Sie setzte sich wieder auf, zog die Beine hoch und betrachtete die Porträts an den Wänden. Wahrscheinlich handelte es sich bei diesen düsteren Gestalten mit Roben und Bärten, die feierlich missbilligend aus ihren Rahmen auf sie herunterstarrten, um frühere Wissenschaftler.

»Worüber sie heute wohl reden werden?«, sagte Lyra oder vielmehr wollte sie sagen, denn noch bevor sie die Frage beenden konnte, hörte sie vor der Tür Stimmen.

»Hinter den Sessel – schnell!«, flüsterte Pantalaimon und schon war Lyra aufgesprungen und kauerte hinter der Lehne. Der Sessel war allerdings kein gutes Versteck: Er stand in der Mitte des Zimmers, und wenn sie nicht ganz leise war …

Die Tür ging auf und es wurde hell: Einer der Ankömmlinge trug eine Lampe, die er auf der Anrichte abstellte. Lyra konnte seine Beine sehen; sie steckten in dunkelgrünen Hosen und schwarzglänzenden Schuhen – ein Diener also.

Dann sagte eine tiefe Stimme: »Ist Lord Asriel schon eingetroffen?«

Das war der Rektor. Lyra hielt den Atem an. Sie sah, wie der Dæmon des Dieners hereintrottete – eine Hündin, wie bei Dienern üblich – und sich still zu seinen Füßen setzte. Dann kamen auch die Füße des Rektors in Sicht, in den abgenutzten schwarzen Schuhen, die er immer trug.

»Nein, Herr«, sagte der Butler. »Wir haben auch vom Luftdock nichts gehört.«

»Er wird Hunger haben, wenn er kommt. Führe ihn gleich in den Speisesaal.«

»Sehr wohl, Herr.«

»Und hast du den speziellen Tokaier für ihn bereitgestellt?«

»Jawohl, Herr. Jahrgang 1898, wie Ihr befohlen habt. Seine Lordschaft schätzt ihn ganz besonders, wie ich mich erinnere.«

»Gut, dann geh jetzt, bitte.«

»Braucht Ihr die Lampe, Herr?«

»Ja, lass sie hier. Sieh während des Essens herein und kürze den Docht.«

Der Butler verbeugte sich leicht und ging, gehorsam gefolgt von seinem Dæmon. Von ihrem Versteck, das eigentlich gar keines war, sah Lyra, wie der Rektor zu einem großen eichenen Kleiderschrank in der Ecke des Zimmers ging, seinen Talar von einem Bügel nahm und umständlich hineinschlüpfte. Einst ein kräftiger Mann, war er inzwischen weit über siebzig und bewegte sich steif und langsam. Sein Dæmon war ein weiblicher Rabe, der, sobald der Rektor den Talar angezogen hatte, vom Schrank herunterflog und sich auf seinem gewohnten Platz auf der rechten Schulter niederließ.

Lyra spürte, wie Pantalaimon vor Aufregung zitterte, obwohl er keinen Laut von sich gab. Sie selbst war angenehm gespannt. Der vom Rektor erwähnte Besucher Lord Asriel war ihr Onkel, ein Mann, den sie über die Maßen bewunderte und zugleich fürchtete. Er hatte angeblich mit der hohen Politik, geheimen Forschungsreisen und fernen Kriegen zu tun und sie wusste nie, wann er auftauchen würde. Er hatte ein heftiges Temperament: Wenn er sie hier erwischte, würde er sie schwer bestrafen, aber sie würde es schon überstehen.

Was sie dann sah, änderte freilich alles.

Der Rektor nahm aus seiner Tasche ein zusammengefaltetes Blatt Papier und legte es auf den Tisch. Dann entfernte er den Stöpsel einer Karaffe, die mit einem golden leuchtenden Wein gefüllt war, faltete das Papier auf und ließ ein dünnes Rinnsal eines weißen Pulvers hineinrieseln; anschließend zerknüllte er das Papier und warf es ins Feuer. Er nahm einen Stift aus der Tasche, rührte den Wein um, bis das Pulver sich aufgelöst hatte, und verschloss die Karaffe wieder.

Sein Dæmon krächzte leise. Der Rektor antwortete mit gedämpfter Stimme und ließ seine trüben Augen unter den schweren Lidern durch das Zimmer wandern. Dann entfernte er sich durch die Tür, durch die er gekommen war.

»Hast du das gesehen, Pan?«, flüsterte Lyra.

»Natürlich! Jetzt schnell raus, bevor der Steward kommt!«

Aber noch während er sprach, ertönte eine Klingel vom anderen Ende des Saales.

»Die Klingel des Stewards!«, sagte Lyra. »Ich dachte, wir hätten noch Zeit.«

Pantalaimon flatterte schnell zur Tür und wieder zurück.

»Er kommt schon«, sagte er. »Und durch die andere Tür kannst du nicht raus …«

Die andere Tür, durch die der Rektor gekommen und gegangen war, ging auf einen belebten Gang zwischen der Bibliothek und dem Gemeinschaftsraum der Wissenschaftler. Zu dieser Tageszeit drängten sich dort Männer, die schnell noch zum Abendessen einen Talar anziehen oder irgendwelche Papiere und Aktentaschen im Gemeinschaftsraum deponieren wollten, bevor sie sich in den Speisesaal begaben. Lyra hatte durch die Tür verschwinden wollen, durch die sie gekommen war, und sie hatte damit gerechnet, dass ihr bis zur Klingel des Stewards noch einige Minuten Zeit blieben.

Wenn sie nicht gesehen hätte, wie der Rektor das Pulver in den Wein schüttete, hätte sie den Zorn des Stewards vielleicht in Kauf genommen oder gehofft unbemerkt über den belebten Gang verschwinden zu können. Doch sie war verwirrt und darum zögerte sie.

Dann hörte sie vom Saal her schwere Schritte. Der Steward kam, um nachzusehen, ob im Ruhezimmer der Imbiss aus Mohnkapseln und Wein bereitstand, den die Wissenschaftler nach dem Essen immer zu sich nahmen. Lyra hastete zu dem eichenen Kleiderschrank, öffnete ihn, kroch hinein und konnte gerade noch die Tür hinter sich zuziehen, bevor der Steward eintrat. Um Pantalaimon machte sie sich keine Sorgen; im Zimmer gab es viele dunkle Ecken und er konnte immer unter einen Sessel schlüpfen.

Sie hörte den pfeifenden Atem des Stewards und sah durch einen Spalt in der Schranktür, wie er die Pfeifen im Ständer neben der Rauchmühle ordnete und einen prüfenden Blick auf Karaffen und Gläser warf. Dann strich er sich mit beiden Händen die Haare über den Ohren glatt und sagte etwas zu seinem Dæmon. Als Diener hatte er eine Hündin; als Steward freilich eine Hündin von edler Rasse, einen rotbraunen Setter. Die Hündin schien misstrauisch und sah sich um, als ob sie einen Eindringling spürte, doch sie kam zu Lyras großer Erleichterung nicht zum Schrank. Lyra hatte Angst vor dem Steward; er hatte sie zweimal geschlagen.

Sie hörte ein leises Flüstern. Offenbar war Pantalaimon zu ihr hereingekrochen.

»Jetzt sitzen wir hier fest. Warum hörst du auch nicht auf mich!«

Sie antwortete erst, als der Steward gegangen war, um das Servieren der Speisen an dem Tisch auf dem Podium zu überwachen. Offenbar kamen jetzt die Wissenschaftler in den Saal. Lyra hörte Stimmengemurmel und das Schlurfen von Füßen.

»Ein Glück, dass ich nicht auf dich gehört habe«, flüsterte sie zurück. »Sonst hätten wir nicht gesehen, wie der Rektor Gift in den Wein schüttet. Pan, das war doch der Tokaier, nach dem er den Butler fragte! Sie wollen Lord Asriel töten!«

»Du weißt nicht, ob es Gift ist.«

»Natürlich ist es Gift. Weißt du nicht mehr, dass er den Butler hinausschickte, bevor er es in die Karaffe schüttete? Wenn das Pulver ungefährlich wäre, hätte der Butler doch ruhig zusehen können. Außerdem weiß ich, dass etwas im Busch ist – etwas Politisches. Die Diener sprechen seit Tagen davon. Pan, wir können einen Mord verhindern!«

»So einen Blödsinn habe ich noch nie gehört«, sagte Pantalaimon kurz. »Wie willst du denn stundenlang in diesem engen Schrank sitzen, ohne dich zu bewegen? Ich sehe draußen im Gang nach, ob die Luft rein ist.«

Er flog von ihrer Schulter auf und sie sah seinen kleinen Schatten vor dem hellen Spalt der Schranktür auftauchen.

»Gib dir keine Mühe, Pan, ich bleibe«, sagte sie. »Hier hängt noch ein Talar oder so etwas, den lege ich auf den Boden und mache es mir bequem. Ich muss sehen, was sie vorhaben.«

Vorsichtig erhob sie sich aus ihrer hockenden Stellung und tastete nach Kleiderbügeln, um nicht mit ihnen zusammenzustoßen. Der Schrank war größer, als sie angenommen hatte. Er enthielt verschiedene Talare und Überwürfe mit Kapuzen, von denen einige mit Pelz, die meisten aber mit Seide besetzt waren.

»Ob die alle dem Rektor gehören?«, flüsterte sie. »Vielleicht bekommt er solche komischen Kostüme, wenn ihm irgendwo ein Ehrendoktor verliehen wird, und bewahrt sie hier auf, damit er sich fein machen kann … Pan, glaubst du wirklich, dass im Wein kein Gift ist?«

»Nein«, sagte der Dæmon. »Ich glaube wie du, dass er vergiftet ist. Aber ich glaube auch, dass uns das nichts angeht. Und ich glaube, dich einzumischen wäre das dümmste aller dummen Dinge, die du in deinem Leben bisher angestellt hast. Es geht uns nichts an.«

»Sei nicht blöd«, sagte Lyra. »Ich kann doch nicht hier sitzen und zusehen, wie sie ihn vergiften!«

»Dann lass uns woanders hingehen.«

»Du bist ein Feigling, Pan.«

»Natürlich bin ich das. Darf ich fragen, was du tun willst? Willst du aus dem Schrank springen und seinen zitternden Fingern das Glas entreißen? Was hast du vor?«

»Ich habe noch gar nichts vor und du weißt das ganz genau«, schimpfte sie leise. »Aber ich habe gesehen, was der Rektor tat, und deshalb habe ich keine Wahl. Du weißt auch, was ein Gewissen ist. Wie kann ich ruhig in der Bibliothek oder sonst wo sitzen und Däumchen drehen, wenn ich weiß, was hier passiert? Däumchen drehe ich ganz bestimmt nicht, darauf kannst du dich verlassen.«

»Du wolltest das von Anfang an«, sagte er nach einer Pause. »Du wolltest dich hier verstecken und sehen, was passiert. Warum habe ich das nicht gleich gemerkt!«

»Also gut, zugegeben«, sagte sie. »Alle wissen, dass hier ein geheimes Treffen stattfinden soll, dass sie irgendein Ritual oder so was veranstalten. Und ich wollte einfach wissen, was es war.«

»Das geht dich nichts an! Wenn sie ihre kleinen Geheimnisse brauchen, lass sie ihnen doch und fühle dich darüber erhaben. Nur dumme Kinder verstecken sich und spionieren.«

»Ich wusste, dass du das sagen würdest. Jetzt hör auf zu meckern.«

Schweigend saßen sie eine Weile da, Lyra auf dem unbequemen harten Boden des Schrankes, Pantalaimon mit gekränkt zuckenden Fühlern auf einem Talar. In Lyras Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander und sie hätte sie nur zu gern ihrem Dæmon mitgeteilt, aber auch sie hatte ihren Stolz. Vielleicht sollte sie versuchen ihre Gedanken ohne Pantalaimons Hilfe zu sortieren.

Vor allem hatte sie Angst, allerdings nicht um sich selbst. Dass sie in der Klemme steckte, war nichts Neues, und sie war daran gewöhnt. Nein, diesmal hatte sie Angst um Lord Asriel und Angst vor dem, was hier vorging. Lord Asriel besuchte das College nicht oft, und dass er jetzt kam, in einer Zeit großer politischer Spannungen, bedeutete, dass er nicht nur mit einigen alten Freunden essen und trinken und rauchen wollte. Sie wusste, dass Lord Asriel und auch der Rektor Mitglieder des Kabinettsrates waren, der den Premierminister beriet, vielleicht hatte die Besprechung also damit etwas zu tun. Die Sitzungen des Rates fanden allerdings im Palast statt, nicht im Ruhezimmer von Jordan College.

Eine andere Sache war das Gerücht, das die Dienerschaft des College seit Tagen in Atem hielt. Es hieß, die Tataren hätten das Moskowiterreich überfallen und seien auf dem Vormarsch nach St. Petersburg im Norden, von wo aus sie die Herrschaft über die Ostsee an sich reißen und schließlich ganz Westeuropa erobern konnten. Und Lord Asriel war im hohen Norden gewesen: Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er gerade eine Expedition nach Lappland vorbereitet …

»Pan«, flüsterte sie.

»Ja?«

»Glaubst du, es wird Krieg geben?«

»Jetzt noch nicht. Lord Asriel wäre nicht zum Abendessen hier, wenn in den nächsten Wochen ein Krieg ausbrechen würde.«

»Stimmt. Aber später?«

»Pst! Jemand kommt.«

Lyra richtete sich auf und spähte durch den Türspalt. Es war der Butler, der den Docht der Lampe kürzen wollte, wie der Rektor ihm aufgetragen hatte. In Gemeinschaftsraum und Bibliothek hatte man anbarisches Licht installiert, aber im Ruhezimmer bevorzugten die Wissenschaftler die alten Naphthalampen mit ihrem weicheren Licht. Daran würde sich zu Lebzeiten des Rektors auch nichts ändern.

Der Butler stutzte den Docht und legte im Kamin ein Scheit nach. Dann horchte er sorgfältig an der Tür zum Saal und nahm sich eine Handvoll Tabakblätter aus der Rauchmühle.

Gerade hatte er den Deckel wieder geschlossen, als die Klinke der anderen Tür niedergedrückt wurde. Er fuhr zusammen und Lyra musste sich das Lachen verbeißen. Hastig stopfte sich der Butler die Blätter in die Tasche, dann wandte er sich dem Ankömmling zu.

»Lord Asriel!«, sagte er und ein kalter Schauer der Überraschung lief Lyra über den Rücken. Sie konnte ihren Onkel von ihrem Platz aus nicht sehen und musste gegen die Versuchung kämpfen, die Tür etwas weiter zu öffnen.

»Guten Abend, Wren«, sagte Lord Asriel. Lyra hörte seine raue Stimme immer mit einer Mischung aus Furcht und Freude. »Ich bin zu spät zum Essen eingetroffen. Ich werde hier warten.«

Dem Butler war sichtlich unbehaglich zu Mute. Gäste betraten den Ruheraum gewöhnlich nur auf Einladung des Rektors und Lord Asriel wusste das. Doch der Butler sah auch, dass Lord Asriel betont auf die Ausbuchtung in seiner Hosentasche blickte, und entschied, nicht zu protestieren.

»Soll ich den Rektor von Eurer Ankunft verständigen, Mylord?«

»Tun Sie das ruhig. Und bringen Sie mir eine Tasse Kaffee.«

»Sehr wohl, Mylord.«

Der Butler verbeugte sich und eilte hinaus und sein Dæmon trottete unterwürfig hinter ihm her. Lyras Onkel trat vor das Kaminfeuer, reckte die Arme und gähnte wie ein Löwe. Er trug Reisekleidung. In seiner Gegenwart spürte Lyra jedes Mal, wie sehr er sie einschüchterte. Unbemerkt aus dem Zimmer zu schleichen kam jetzt nicht mehr in Frage: Sie konnte nur bewegungslos ausharren und hoffen.

Lord Asriels Dæmon, eine Schneeleopardin, stand hinter ihm.

»Willst du die Bilder hier zeigen?«, fragte sie ruhig.

»Ja, das erregt weniger Aufsehen als ein Umzug in den Vortragssaal. Sie werden auch die Beweise sehen wollen. Ich lasse sie gleich vom Portier holen. Wir leben in schwierigen Zeiten, Stelmaria.«

»Du solltest ausruhen.«

Er streckte sich in einem Sessel aus und Lyra konnte sein Gesicht nicht mehr sehen.

»Ja, natürlich. Und ich sollte mich umziehen. Wahrscheinlich gibt es irgendeine alte Vorschrift, nach der sie mich zu einem Dutzend Flaschen verurteilen können, weil ich hier in diesen Kleidern auftauche. Ich sollte drei Tage lang schlafen. Bleibt nur die Tatsache, dass …«

Es klopfte und der Butler trat mit einem silbernen Tablett ein, auf dem eine Kaffeekanne und eine Tasse standen.

»Danke, Wren«, sagte Lord Asriel. »Ist das auf dem Tisch der Tokaier?«

»Der Rektor ließ ihn speziell für Euch heraufbringen, Mylord«, sagte der Butler. »Vom Achtundneunziger sind nur noch drei Dutzend Flaschen übrig.«

»Alle guten Dinge vergehen. Stellen Sie das Tablett hier neben mich. Ach so, sagen Sie bitte dem Portier, er soll die beiden Kisten heraufbringen lassen, die ich in seiner Loge abgestellt habe.«

»Hierher, Mylord?«

»Ja, hierher. Und ich brauche eine Leinwand und eine Projektionslampe, ebenfalls hierher und ebenfalls gleich.«

Es fehlte nicht viel und der Butler hätte vor Überraschung den Mund aufgerissen. Er konnte seine Frage oder seinen Protest kaum unterdrücken.

»Wren, Sie vergessen sich«, sagte Lord Asriel. »Stellen Sie keine Fragen; tun Sie, was ich Ihnen aufgetragen habe.«

»Sehr wohl, Mylord«, sagte der Butler. »Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte: Vielleicht sollte ich Mr Cawson sagen, was Ihr vorhabt, Mylord, oder er wird etwas erstaunt sein, wenn Ihr versteht, was ich meine.«

»Gut, tun Sie das meinetwegen.«

Mr Cawson war der Steward und zwischen ihm und dem Butler bestand eine alte Rivalität. Zwar stand der Steward über dem Butler, doch hatte dieser mehr Gelegenheit, sich bei den Wissenschaftlern einzuschmeicheln, und nutzte das auch weidlich aus. Die Aussicht, dem Steward zeigen zu können, dass er über die Vorgänge im Ruhezimmer besser informiert war als dieser, erfüllte ihn mit Entzücken.

Er verbeugte sich und ging. Lyra sah, wie ihr Onkel sich eine Tasse Kaffee eingoss, sie in einem Zug leerte und sich noch eine Tasse einschenkte, die er langsamer trank. Gespannt überlegte sie, was in den Kisten sein mochte. Und eine Projektionslampe? Was hatte ihr Onkel den Wissenschaftlern zu zeigen, das so dringend und wichtig war?

Lord Asriel stand auf und wandte dem Feuer den Rücken zu. Sie konnte ihn jetzt von vorn sehen. Wie sehr er sich doch von dem feisten Butler oder den Wissenschaftlern mit ihren kraftlos hängenden Schultern unterschied. Lord Asriel war hochgewachsen und breitschultrig, er hatte ein wildes, dunkles Gesicht und Augen, die wie in ausgelassenem Gelächter blitzten und funkelten. Es war ein Gesicht, dem man gehorchte oder gegen das man kämpfte, doch kein Gesicht, dem man mit Herablassung oder Mitleid begegnen konnte. Seine Bewegungen waren kraftvoll und vollkommen beherrscht; wenn er ein Zimmer wie dieses betrat, glich er einem wilden Tier in einem zu kleinen Käfig.

In diesem Augenblick lag ein abwesender und besorgter Ausdruck auf seinem Gesicht. Sein Dæmon kam und lehnte den Kopf an seine Hüfte, und er sah sie mit seinen unergründlichen Augen an und wandte sich dann ab und ging zum Tisch. Lyra spürte, wie ihr Magen einen Satz machte, denn Lord Asriel hatte den Stöpsel aus der mit Tokaier gefüllten Karaffe gezogen und schenkte sich ein.

»Nein!«

Der leise Schrei war ihr entwischt, bevor sie ihn zurückhalten konnte. Lord Asriel fuhr herum.

»Wer ist da?«

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie stolperte aus dem Schrank, rannte zu ihrem Onkel und schlug ihm das Glas aus der Hand. Der Wein schwappte über und spritzte auf die Tischkante und den Teppich, dann fiel das Glas auf den Boden und zersprang. Lord Asriel packte sie grob am Handgelenk.

»Lyra! Was zum Teufel machst du hier?«

»Lass mich los und ich sage es dir!«

»Zuerst breche ich dir den Arm. Wie kannst du es wagen, hier einzudringen?«

»Ich hab dir gerade das Leben gerettet.«

Einen Augenblick lang schwiegen beide, das Mädchen mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber wild entschlossen nicht zu schreien, ihr Onkel über sie gebeugt und mit finster gerunzelter Stirn.

»Was sagst du da?«, fragte er etwas ruhiger.

»Der Wein ist vergiftet«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich habe gesehen, wie der Rektor ein Pulver hineingeschüttet hat.«

Er ließ sie los. Sie sank zu Boden und Pantalaimon flatterte aufgeregt auf ihre Schulter. Ihr Onkel starrte mit unterdrückter Wut auf sie herunter und sie wagte nicht, ihm in die Augen zu schauen.

»Ich wollte nur wissen, wie es hier aussieht«, sagte sie. »Ich weiß, ich hätte das Zimmer nicht betreten dürfen. Aber ich wollte wieder weg sein, bevor jemand kam, nur hörte ich dann den Rektor kommen und saß in der Falle. Der Kleiderschrank war das einzige Versteck. Und ich sah, wie er das Pulver in den Wein schüttete. Wenn ich nicht …«

An der Tür klopfte es.

»Das wird der Portier sein«, sagte Lord Asriel. »Zurück in den Schrank! Wenn ich das kleinste Geräusch höre, sorge ich dafür, dass du dir wünschst, tot zu sein.«

Sie rannte zum Schrank zurück, und sobald sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, rief Lord Asriel: »Herein!«

Es war der Portier, wie er gesagt hatte.

»Hierher, Mylord?«

Lyra sah den alten Mann zögernd auf der Schwelle stehen und hinter ihm war die Ecke einer großen Holzkiste.

»Ganz recht, Shuter«, sagte Lord Asriel. »Bringen Sie beide Kisten herein und stellen Sie sie neben den Tisch.«

Lyra entspannte sich ein wenig und spürte nun die Schmerzen in Schulter und Handgelenk. Sie waren so stark, dass sie hätte losheulen können, wenn sie zu den Mädchen gehört hätte, die heulten. Stattdessen biss sie die Zähne zusammen und bewegte den Arm vorsichtig, bis die Schmerzen etwas nachließen.

Plötzlich klirrte Glas und sie hörte das Gluckern auslaufender Flüssigkeit.

»Verdammt, Shuter, Sie alter Schussel! Sehen Sie, was Sie angestellt haben!«

Lyra presste das Auge an den Türspalt. Ihr Onkel hatte die Tokaierkaraffe vom Tisch gestoßen und tat jetzt so, als habe der Portier sie gestreift. Der Alte setzte die Kiste sorgfältig ab und wollte sich entschuldigen.

»Es tut mir aufrichtig leid, Mylord – ich muss dem Tisch näher gekommen sein, als ich dachte …«

»Holen Sie etwas zum Aufwischen. Schnell, ehe der Wein in den Teppich sickert.«

Der Portier eilte hinaus. Lord Asriel trat zum Schrank und sagte mit gedämpfter Stimme: »Wenn du schon da drin bist, kannst du dich auch nützlich machen. Beobachte den Rektor genau, wenn er hereinkommt. Wenn du mir hinterher etwas Interessantes über ihn sagen kannst, sorge ich dafür, dass du nicht noch tiefer in den Schlamassel gerätst, in dem du steckst. Verstanden?«

»Jawohl, Onkel Asriel.«

»Sobald du ein einziges Geräusch machst, helfe ich dir nicht mehr. Du hast die Wahl.«

Er entfernte sich wieder und stand mit dem Rücken zum Feuer, als der Portier mit Besen und Schaufel für die Scherben, einer Schüssel und einem Wischlappen zurückkehrte.

»Ich kann nur noch einmal sagen, dass ich Euch aufrichtig um Verzeihung bitte, Mylord. Ich weiß nicht, wie …«

»Wischen Sie einfach nur auf.«

Als der Portier begann, den Teppich trocken zu reiben, klopfte es wieder. Diesmal waren es der Butler und Lord Asriels Diener, ein Mann namens Thorold. Zwischen sich trugen sie eine schwere Kiste aus poliertem Holz mit Messinggriffen. Als sie den Portier auf dem Boden knien sahen, blieben sie wie angewurzelt stehen.

»Ja, es war der Tokaier«, sagte Lord Asriel. »Jammerschade. Ist das die Projektionslampe? Baue sie doch bitte neben dem Schrank auf, Thorold. Die Leinwand kommt dann an die gegenüberliegende Wand.«

Lyra stellte fest, dass sie die Leinwand und alles, was auf ihr abgebildet war, durch den Spalt in der Schranktür sehen konnte, und sie überlegte, ob ihr Onkel die Stellung des Projektors absichtlich so gewählt hatte.

Während der Diener geräuschvoll die steife Leinwand ausrollte und in den Rahmen spannte, flüsterte sie: »Siehst du? Es hat sich doch gelohnt, zu kommen.«

»Vielleicht«, sagte Pantalaimon mit seiner piepsigen Nachtfalterstimme unnachgiebig. »Und vielleicht auch nicht.«

Am Feuer stehend schlürfte Lord Asriel den letzten Kaffee und sah düster zu, wie Thorold den Kasten mit dem Projektor öffnete, den Deckel von der Linse nahm und dann in den Ölbehälter sah.

»Es ist noch genug da, Mylord«, sagte er. »Soll ich einen Techniker kommen lassen, der das Gerät bedient?«

»Nein, das mache ich selbst. Danke, Thorold. Wren, ist man mit dem Abendessen schon fertig?«

»Ich glaube, fast, Mylord«, erwiderte der Butler. »Wenn ich Mr Cawson richtig verstanden habe, werden der Rektor und seine Gäste sich jetzt, da sie wissen, dass Ihr hier seid, beeilen. Soll ich das Kaffeetablett mitnehmen?«

»Ja.«

»Sehr wohl, Mylord.«

Mit einer leichten Verbeugung nahm der Butler das Tablett und ging, gefolgt von Thorold, hinaus. Sobald sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, sah Lord Asriel zum Schrank. Lyra spürte die Macht seines Blickes beinahe körperlich, wie einen Pfeil oder einen Speer. Dann sah er wieder weg und sprach leise mit seinem Dæmon.

Lautlos glitt die Leopardin an seine Seite und setzte sich, wachsam, elegant und gefährlich. Sie ließ ihre grünen Augen durch den Raum schweifen, bevor sie sie, wie Lord Asriel seine schwarzen, auf die Tür zum Saal richtete, deren Klinke niedergedrückt wurde. Lyra konnte die Tür nicht sehen, hörte aber ein überraschtes Luftholen, als der erste Ankömmling eintrat.

»Rektor«, sagte Lord Asriel, »ja, hier bin ich wieder. Bringen Sie Ihre Gäste herein, ich habe Ihnen etwas sehr Interessantes zu zeigen.«

Zwei

Der Norden

»Lord Asriel«, sagte der Rektor schwerfällig und trat vor, um ihm die Hand zu geben. Aus ihrem Versteck beobachtete Lyra seine Augen, und tatsächlich, für den Bruchteil einer Sekunde zuckten sie zum Tisch, auf dem der Tokaier gestanden hatte.

»Rektor«, sagte Lord Asriel, »ich kam zu spät und wollte nicht mehr beim Abendessen stören, deshalb habe ich es mir hier bequem gemacht. Guten Abend, Prorektor. Es freut mich, dass Sie so gesund aussehen. Entschuldigen Sie meine ungepflegte Erscheinung, ich bin soeben erst gelandet. Ja, Rektor, der Tokaier ist weg; ich glaube, Sie stehen mittendrin. Der Portier hat ihn vom Tisch gestoßen, aber es war meine Schuld. Guten Abend, Kaplan. Ich habe Ihren letzten Artikel mit großem Interesse gelesen …«

Er trat mit dem Kaplan zur Seite und Lyra sah das Gesicht des Rektors wieder unverdeckt. Es zeigte keine Bewegung, doch der Dæmon auf seiner Schulter schüttelte sein Gefieder und trat ruhelos von einem Fuß auf den anderen. Lord Asriel beherrschte den Raum mit seiner Gegenwart, und obwohl er dem Rektor als dem Hausherrn mit ausgesuchter Höflichkeit begegnete, war klar, wer hier das Sagen hatte.

Die Wissenschaftler begrüßten den Besucher und verteilten sich im Zimmer. Einige setzten sich an den Tisch, andere in die Sessel, und bald erfüllte Stimmengewirr den Raum. Lyra beobachtete, wie sie immer wieder neugierig zu dem hölzernen Kasten, der Leinwand und der Projektionslampe sahen. Das Mädchen kannte die Wissenschaftler gut: den Bibliothekar, den Prorektor, den Examinator und die anderen. Diese Männer waren ihr ganzes Leben lang in ihrer Nähe gewesen, hatten sie unterrichtet, bestraft und getröstet, ihr kleine Geschenke gemacht und sie von den Obstbäumen im Garten ferngehalten. Sie waren ihre Familie; eine andere hatte sie nicht. Vielleicht hätte Lyra für sie dieselben Gefühle empfunden wie für eine Familie, wenn sie gewusst hätte, was das war. Allerdings hätte sie dann wohl doch eher das Collegepersonal für ihre Familie gehalten; die Wissenschaftler hatten meist Wichtigeres zu tun, als auf die Bedürfnisse eines halbwilden Mädchens einzugehen, das durch Zufall in ihrer Mitte gelandet war.

Der Rektor zündete die Spirituslampe unter der kleinen silbernen Warmhalteplatte an, erhitzte etwas Butter und schnitt dann ein halbes Dutzend Mohnkapseln auf und legte sie auf die Platte. Nach einem Festessen gab es immer Mohn: Er läuterte den Geist, regte die Zunge an und belebte das Gespräch. Und es war ein alter Brauch, dass der Rektor ihn selbst zubereitete.

Als die Butter zischte und das Gespräch in Gang war, verlagerte Lyra ganz langsam ihr Gewicht, um eine bequemere Stellung zu finden. Mit größter Vorsicht zog sie einen von oben bis unten mit Pelz besetzten Talar vom Bügel und breitete ihn auf dem Boden des Schrankes aus.

»Du hättest dafür einen alten, kratzigen nehmen sollen«, flüsterte Pantalaimon. »Wenn du es dir zu bequem machst, schläfst du ein.«

»Wenn ich einschlafe, ist es deine Aufgabe, mich wieder aufzuwecken«, erwiderte sie.

Sie setzte sich zurecht und lauschte wieder dem Gespräch. Es war sterbenslangweilig und drehte sich fast nur um Politik, allerdings Politik, die London betraf, nichts Aufregendes über die Tataren. Der Geruch des brutzelnden Mohns und der Tabakblätter kam einladend durch die Schranktür und mehr als einmal nickte Lyra beinahe ein. Doch schließlich hörte sie, wie jemand auf den Tisch klopfte. Die Stimmen verstummten, dann sprach der Rektor.

»Meine Herren«, sagte er, »ich bin sicher, dass ich für alle spreche, wenn ich Lord Asriel bei uns willkommen heiße. Seine Besuche sind selten, aber immer höchst aufschlussreich, und soviel ich weiß, will er uns heute Abend etwas ganz besonders Interessantes zeigen. Wie wir alle wissen, leben wir in einer Zeit großer politischer Spannungen. Lord Asriel wird morgen in aller Frühe in White Hall erwartet; am Bahnhof steht bereits der Zug unter Dampf, der ihn nach London bringen wird, sobald wir unser Gespräch hier beendet haben. Lassen Sie uns also die Zeit nützen. Wenn Lord Asriel mit dem fertig ist, was er uns zu sagen hat, wird es wahrscheinlich Fragen geben. Ich bitte, diese kurz und präzise zu halten. Lord Asriel, Sie haben das Wort.«

»Danke, Rektor«, sagte Lord Asriel. »Zunächst möchte ich Ihnen einige Lichtbilder zeigen. Prorektor, ich glaube, von hier sehen Sie am besten. Und Rektor, vielleicht nehmen Sie hier am Schrank Platz.«

Der alte Prorektor war fast blind, es war deshalb nur höflich, ihm einen Platz nahe der Leinwand anzubieten, und wenn er nach vorn rückte, kam der Rektor neben dem Bibliothekar zu sitzen, nur etwa einen Meter von Lyras Versteck im Schrank entfernt.

Als der Rektor sich setzte, hörte Lyra ihn murmeln: »Der Teufel! Ich bin sicher, er wusste von dem Wein.«

»Er wird uns um finanzielle Unterstützung bitten«, murmelte der Bibliothekar. »Wenn er eine Abstimmung erzwingt …«

»Wenn er das tut, müssen wir mit all unserer Beredsamkeit dagegen argumentieren.«

Die Lampe begann zu zischen, als Lord Asriel heftig pumpte. Lyra bewegte den Kopf etwas zur Seite, um die Leinwand sehen zu können, auf der jetzt ein heller weißer Kreis leuchtete.

»Kann jemand das Licht ausmachen?«, fragte Lord Asriel.

Einer der Wissenschaftler stand auf, und im Zimmer wurde es dunkel.

Lord Asriel begann.

»Wie einige von Ihnen wissen, reiste ich vor zwölf Monaten in diplomatischer Mission nach Norden zum König von Lappland. Das war zumindest die offizielle Version. In Wirklichkeit wollte ich noch weiter in den Norden bis zum Eis vordringen, um herauszufinden, was der Expedition Grummans zugestoßen ist. Grumman sprach in einer seiner letzten Nachrichten an die Berliner Akademie von einer Naturerscheinung, die nur im hohen Norden zu sehen ist. Ich war entschlossen, dieser Naturerscheinung und Grummans Schicksal nachzuspüren. Das erste Bild, das ich Ihnen jetzt zeigen werde, hat mit beidem allerdings nicht direkt zu tun.«

Er steckte das erste Lichtbild in die Halterung und schob es vor die Linse. Auf der Leinwand erschien ein rundes Fotogramm in gestochenem Schwarzweiß. In einer Vollmondnacht aufgenommen, zeigte es in mittlerer Entfernung eine Holzhütte; dunkel hoben sich die Wände von dem umgebenden Schnee ab, der auch das Dach mit einer dicken Schicht bedeckte. Neben der Hütte waren einige philosophische Instrumente aufgebaut, die Lyra an die Installationen im Anbarischen Park an der Straße nach Yarnton erinnerten: Antennen, Drähte und Isolatoren aus Porzellan, alle dick mit Eis bedeckt, das im Mondlicht glitzerte. Im Vordergrund stand ein in Pelze vermummter Mann, die Hand wie zum Gruß erhoben und das Gesicht unter einer tiefen Kapuze fast unsichtbar. Neben ihm stand eine kleinere Gestalt. Der Mond tauchte die ganze Szenerie in fahles Licht.

»Dieses Fotogramm wurde mit der üblichen Silbernitratemulsion aufgenommen«, sagte Lord Asriel. »Bitte sehen Sie sich jetzt ein weiteres Bild an, das nur eine Minute später von derselben Stelle aufgenommen wurde, allerdings mit einer neuen Spezialemulsion.«

Er zog das erste Lichtbild heraus und steckte ein zweites in die Halterung. Es war viel dunkler, als ob das Mondlicht herausgefiltert worden sei. Der Horizont war immer noch sichtbar und auch der dunkle Schatten der Hütte und deren helles, schneebedecktes Dach hoben sich ab, aber die Instrumente waren im Dunkel verborgen. Der Mann dagegen hatte sich vollkommen verwandelt: Er war in Licht gebadet und seiner erhobenen Hand schien ein Strahl leuchtender Teilchen zu entströmen.

»Kommt dieses Licht von unten oder von oben?«, fragte der Kaplan.

»Von oben«, sagte Lord Asriel, »aber das ist kein Licht. Es ist Staub.«

Etwas an der Art, wie er das sagte, ließ Lyra unwillkürlich an STAUB in Großbuchstaben denken, als ob es sich nicht um gewöhnlichen Staub handelte. Die Reaktion der Wissenschaftler verstärkte diesen Eindruck. Auf Lord Asriels Worte folgte ein plötzliches Schweigen, gefolgt von ungläubigen Ausrufen.

»Aber wie …«

»Das kann doch …«

»Unmöglich …«

»Meine Herren!«, ertönte die Stimme des Kaplans. »Lassen Sie Lord Asriel fortfahren.«

»Es ist Staub«, wiederholte Lord Asriel. »Er wird auf der Platte als Licht abgebildet, weil die Staubpartikel auf die Spezialemulsion dieselbe Wirkung haben wie Photonen auf eine Silbernitratemulsion. Dies zu testen war eines der eigentlichen Ziele meiner Expedition in den Norden. Wie Sie sehen, ist die Gestalt des Mannes deutlich sichtbar. Betrachten Sie jetzt bitte die Gestalt links von ihm.«

Er zeigte auf die verschwommenen Umrisse der kleineren Gestalt.

»Ich dachte, das sei der Dæmon des Mannes«, sagte der Examinator.

»Nein. Sein Dæmon lag zu diesem Zeitpunkt in Gestalt einer Schlange um seinen Hals. Was Sie hier so unscharf sehen, ist ein Kind.«

»Ein abgeschnittenes Kind …?«, fragte jemand und brach abrupt ab. Offenbar ging es hier um etwas, das besser ungesagt blieb.

Es wurde totenstill.

Dann sagte Lord Asriel ruhig: »Ein ganzes Kind. Was angesichts der Natur des Staubes natürlich der springende Punkt ist.«

Einige Sekunden lang sagte niemand etwas. Dann war wieder die Stimme des Kaplans zu vernehmen.

»Ah«, sagte er wie ein Verdurstender, der nach einem tiefen Schluck das Glas abstellt und den Atem, den er beim Trinken angehalten hat, herausströmen lässt. »Und die Staubfontäne …«

»… kommt vom Himmel und badet den Mann wie in Licht. Sie können sich das Bild später noch genauer ansehen, ich lasse es hier, wenn ich gehe. Ich zeige es Ihnen jetzt nur, um die Wirkung der neuen Emulsion vorzuführen. Nun möchte ich Ihnen eine weitere Aufnahme zeigen.«

Er wechselte das Bild. Das nächste war ebenfalls eine Nachtaufnahme, diesmal allerdings ohne Mondlicht. Es zeigte im Vordergrund eine kleine Gruppe von Zelten, die sich schwach gegen den tiefen Horizont abhoben, und daneben einen Haufen Kisten und einen Schlitten. Das eigentlich Interessante war allerdings der Himmel. Ströme und Schleier von Licht hingen daran wie Vorhänge herunter, befestigt und drapiert an unsichtbaren Haken in Hunderten von Kilometern Höhe oder auseinandergeweht vom Strom eines kosmischen Windes.

»Was ist das?«, sagte die Stimme des Prorektors.

»Das ist ein Bild der Aurora.«

»Ein sehr schönes Fotogramm«, sagte der Inhaber der Palmer-Professur. »Eines der besten, die ich kenne.«

»Entschuldigen Sie meine Ignoranz«, sagte die zittrige Stimme des alten Kantors, »aber wenn ich je wusste, was die Aurora ist, habe ich es vergessen. Handelt es sich dabei um das sogenannte Nordlicht?«

»Ja. Die Erscheinung hat viele Namen. Sie besteht aus Stürmen geladener Teilchen und Sonnenstrahlen außergewöhnlicher Stärke – die selbst unsichtbar sind, aber dieses Leuchten verursachen, wenn sie mit der Atmosphäre reagieren. Wenn genug Zeit gewesen wäre, hätte ich das Bild tönen lassen, um Ihnen die Farben vorzuführen, überwiegend blasse Grün- und Rosatöne mit einem Saum von Karmesin am unteren Rand des vorhangartigen Gebildes. Das Bild wurde mit der herkömmlichen Emulsion aufgenommen. Jetzt möchte ich Ihnen ein Bild zeigen, das mit der Spezialemulsion aufgenommen wurde.«

Er zog das Bild heraus, und Lyra hörte, wie der Rektor leise sagte: »Wenn er abstimmen lassen will, könnten wir sagen, dass er dazu gar nicht berechtigt ist, weil er nicht im College wohnt. Er hat von den letzten zweiundfünfzig Wochen nicht die für Bewohner vorgeschriebenen dreißig im College verbracht.«

»Den Kaplan hat er schon auf seiner Seite …«, murmelte der Bibliothekar.

Lord Asriel steckte ein neues Lichtbild in die Halterung. Es zeigte dieselbe Szene. Wie bei den beiden Bildern davor waren die bei normaler Beleuchtung sichtbaren Konturen und die leuchtenden Vorhänge am Himmel auch hier viel schwächer.

Doch in der Mitte der Aurora, hoch über der öden Landschaft, erblickte Lyra dafür etwas ganz anderes. Sie drückte ihr Gesicht an den Spalt, um besser sehen zu können, und sie bemerkte, dass auch die Wissenschaftler in der Nähe der Leinwand sich vorbeugten. Je länger Lyra das Bild anstarrte, desto mehr wuchs ihr Staunen, denn was sich dort im Himmel abzeichnete, waren eindeutig die Umrisse einer Stadt mit Türmen, Kuppeln, Mauern, Gebäuden und Straßen – und alles schwebte in der Luft! Sie unterdrückte einen Ausruf des Erstaunens.

Der Cassington-Stipendiat sagte: »Das sieht ja aus wie … eine Stadt.«

»Exakt«, sagte Lord Asriel.

»Doch sicher eine Stadt in einer anderen Welt?«, sagte der Dekan und in seiner Stimme schwang Spott.

Lord Asriel beachtete ihn nicht. Einige Wissenschaftler blickten ungläubig auf die Leinwand, als hätten sie bisher Abhandlungen über die Existenz des Einhorns geschrieben, ohne je eines gesehen zu haben, und als würde ihnen nun ein eben erst gefangenes, lebendes Exemplar vorgeführt.

»Ist das die Sache, der Barnard und Stokes auf der Spur waren?«, fragte der Palmer-Professor. »Das ist sie doch, oder?«

»Genau das möchte ich herausfinden«, sagte Lord Asriel.

Er stand neben der beleuchteten Leinwand und Lyra sah, wie seine dunklen Augen suchend über die Wissenschaftler glitten. Neben ihm leuchteten grün die Augen seines Dæmons. Die ehrwürdigen Häupter der Wissenschaftler waren nach vorn gereckt, in ihren Brillen spiegelte sich das Licht; nur der Rektor und der Bibliothekar lehnten sich in ihren Sesseln zurück und steckten die Köpfe zusammen.

Der Kaplan sagte gerade: »Sie sagten vorhin, Sie suchten nach Nachricht von der Expedition Grummans, Lord Asriel. Untersuchte auch Dr. Grumman dieses Phänomen?«

»Ich glaube, ja, und ich glaube, dass er bereits einiges darüber wusste. Allerdings wird er uns nichts darüber sagen können, denn er ist tot.«

»Nein!«, rief der Kaplan.

»Ich fürchte, doch, und den Beweis habe ich mitgebracht.«

Im Zimmer entstand Unruhe. Zwei oder drei jüngere Wissenschaftler brachten, dirigiert von Lord Asriel, die hölzerne Kiste nach vorn. Lord Asriel nahm das letzte Bild heraus, ließ die Projektionslampe allerdings an. Von ihrem grellen Lichtkegel dramatisch beleuchtet, bückte er sich, um die Kiste zu öffnen. Lyra hörte das Knirschen, als er die Nägel aus dem feuchten Holz zog. Der Rektor stand auf und verstellte ihr die Sicht. Dann sprach ihr Onkel wieder.

»Grummans Expedition verschwand, wie Sie sich vielleicht erinnern, vor anderthalb Jahren. Die Deutsche Akademie hatte ihn nach Norden zum Magnetischen Pol geschickt, wo er verschiedene Himmelsbeobachtungen anstellen sollte. Im Verlauf dieser Reise beobachtete er die seltsame Erscheinung, die wir uns soeben angesehen haben. Kurz danach verschwand er. Man nahm an, dass er einen Unfall hatte und seine Leiche in irgendeiner Gletscherspalte lag. Doch es gab keinen solchen Unfall.«

»Was haben Sie da?«, fragte der Dekan. »Ist das ein Vakuumbehälter?«

Lord Asriel antwortete nicht gleich. Lyra hörte, dass Metallschlösser aufschnappten und zischend Luft in einen Behälter strömte, dann herrschte Schweigen. Allerdings nicht lange. Nur wenige Augenblicke später brach ein Chaos aus. Lyra hörte entsetzte Schreie, lauten Protest und vor Empörung und Angst erhobene Stimmen.

»Aber was …«

»… gar nicht menschlich …«

»… das ist ja …«

»… wie ist denn das passiert?«

Die Stimme des Rektors schnitt durch den Lärm.

»Lord Asriel, was in Gottes Namen ist das hier?«

»Das ist der Kopf von Stanislaus Grumman«, sagte Lord Asriel.

Durch das Stimmengewirr hörte Lyra, wie jemand mit würgenden Lauten zur Tür hastete. Sie wünschte, sie hätte sehen können, was die anderen sahen.

»Ich fand seine Leiche vor Svalbard, im Eis konserviert«, sagte Lord Asriel. »Der Kopf wurde von seinen Mördern so zugerichtet. Sie sehen, dass er nach einer bestimmten Technik skalpiert wurde. Sie dürfte Ihnen bekannt sein, Prorektor.«

Die Stimme des alten Mannes zitterte nicht, als er antwortete: »Ich kenne sie von den Tataren. Man findet sie bei den Völkern Sibiriens und am Tunguska. Von dort breitete sie sich natürlich zu den Skrälingen aus, obwohl sie in Neudänemark meines Wissens inzwischen verboten ist. Darf ich mir den Kopf genauer ansehen, Lord Asriel?«

Nach kurzem Schweigen sprach er wieder.

»Ich sehe nicht mehr so gut und das Eis ist schmutzig, aber wie mir scheint, hat die Schädeldecke ein Loch. Stimmt das?«

»Ja.«

»Eine Trepanation?«

»Richtig.«

Erregtes Gemurmel erhob sich. Der Rektor trat aus dem Weg und Lyra konnte wieder etwas sehen. Im Kegel der Lampe stand der alte Prorektor und hielt sich einen schweren Eisblock dicht vor die Augen, in dem ein Gegenstand eingeschlossen war, eine blutige Masse, die nur noch wenig mit einem menschlichen Kopf gemein hatte. Pantalaimon flatterte unglücklich um Lyra herum.

»Pst!«, flüsterte sie. »Hör zu.«

»Dr. Grumman war einst Mitglied dieses College«, sagte der Dekan heftig.

»In die Hände der Tataren zu fallen …«

»Aber so hoch im Norden?«

»Sie müssen weiter vorgestoßen sein, als irgendjemand für möglich gehalten hätte!«

»Sagten Sie nicht, Sie hätten ihn in der Nähe von Svalbard gefunden?«, fragte der Dekan.

»Richtig.«

»Heißt das, die Panserbjørne haben etwas damit zu tun?«

Lyra kannte das Wort nicht, aber die anderen Wissenschaftler wussten offensichtlich, was gemeint war.

»Unmöglich«, sagte der Cassington-Stipendiat entschieden. »So etwas würden sie nie tun.«

»Dann kennen Sie Iofur Raknison nicht«, sagte der Palmer-Professor, der selbst einige Expeditionen in die Arktis unternommen hatte. »Es würde mich nicht überraschen, zu hören, dass er seine Opfer jetzt wie die Tataren skalpiert.«

Lyra sah wieder zu ihrem Onkel, der die anderen mit einem boshaften Funkeln in den Augen beobachtete und nichts sagte.

»Wer ist Iofur Raknison?«, fragte jemand.

»Der König von Svalbard«, sagte der Palmer-Professor. »Es stimmt schon, er ist ein Panserbjørn und nur ein Usurpator; er hat den Thron durch Intrigen an sich gerissen, soviel ich weiß. Aber er ist mächtig und keineswegs ein Narr, trotz seiner lächerlichen Angeberei – er lässt sich einen Palast aus importiertem Marmor bauen und will eine Universität gründen, wie er es nennt …«

»Für wen? Für die Bären?«, sagte jemand und alle lachten.

»So lächerlich das klingt«, fuhr der Professor fort, »ich sage Ihnen, dass er im Stande wäre Grumman so zuzurichten. Dabei kann er, wenn man ihm aus irgendeinem Grunde schmeichelt, auch ganz anders sein.«

»Und Sie wissen natürlich, wie man das macht, Trelawney, nicht?«, sagte der Dekan spöttisch.

»Ich weiß es tatsächlich. Wissen Sie, was er sich am meisten wünscht? Noch mehr als einen akademischen Ehrengrad? Einen Dæmon! Verhelfen Sie ihm zu einem Dæmon und er wird alles für Sie tun.«

Die Wissenschaftler lachten herzhaft.

Lyra hörte verwirrt zu. Was der Professor sagte, ergab für sie überhaupt keinen Sinn. Außerdem wollte sie lieber mehr über das Skalpieren, das Nordlicht und den geheimnisvollen Staub wissen. Zu ihrer Enttäuschung war Lord Asriel mit seinen Bildern und anderen Mitbringseln fertig und aus dem Gespräch wurde bald ein Streit der Wissenschaftler untereinander, ob sie Lord Asriel Geld für eine neue Expedition geben sollten oder nicht. Die Argumente gingen hin und her und Lyra merkte, wie ihr die Augen zufielen. Bald schlief sie fest, um den Hals Pantalaimon in Gestalt eines Hermelins, die er zum Schlafen bevorzugte.

Lyra fuhr hoch, als jemand sie an der Schulter schüttelte.

»Pst! Kein Laut«, sagte ihr Onkel. Die Schranktür war offen und er stand gebückt im Gegenlicht vor ihr. »Sie sind alle weg, aber ein paar Diener sind noch auf den Beinen. Geh jetzt in dein Schlafzimmer, aber erzähle niemandem von heute Abend.«

»Haben sie dir das Geld gegeben?«, fragte sie schläfrig.

»Ja.«

»Was ist dieser Staub?« Das Aufstehen nach so langer Zeit beengt im Schrank bereitete ihr Schwierigkeiten.

»Das geht dich nichts an.«

»Das geht mich sehr wohl etwas an«, sagte sie. »Wenn ich im Schrank für dich spionieren soll, musst du mir auch sagen, wofür ich spioniere. Kann ich den Kopf sehen?«

Pantalaimons weißes Hermelinfell sträubte sich; Lyra spürte, wie es sie am Hals kitzelte. Lord Asriel lachte kurz.

»Sei nicht aufsässig«, sagte er und begann, die Lichtbilder und die Kiste zusammenzupacken. »Hast du den Rektor beobachtet?«

»Ja. Er hat zuerst nach dem Wein gesehen.«

»Gut. Aber diesmal habe ich ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jetzt tu, was ich dir sage, und geh ins Bett.«

»Aber wohin gehst du?«

»Wieder in den Norden. Ich fahre in zehn Minuten.«

»Kann ich mitkommen?«

Er hielt beim Packen inne und sah sie an, als sehe er sie zum ersten Mal. Auch sein Dæmon sah sie mit großen, grünen Leopardenaugen an, und von beiden so angestarrt, wurde Lyra rot. Aber sie starrte grimmig zurück.

»Dein Platz ist hier«, sagte ihr Onkel schließlich.

»Aber warum? Warum ist mein Platz hier? Warum kann ich nicht mit dir in den Norden kommen? Ich will das Nordlicht sehen und Bären und Eisberge und alles. Ich will wissen, was Staub ist. Und diese Stadt in der Luft. Ist das eine andere Welt?«

»Du kommst nicht mit, Kind. Schlag dir das aus dem Kopf, die Zeiten sind zu gefährlich. Tu, was dir gesagt wird, und geh ins Bett, und wenn du brav bist, bringe ich dir einen Walrosszahn mit einer Eskimoschnitzerei mit. Widersprich mir nicht, sonst werde ich sehr ärgerlich.«

Sein Dæmon ließ ein tiefes, wildes Knurren ertönen, und Lyra stellte sich plötzlich vor, wie die Zähne der Leopardin sich in ihren Hals gruben.

Sie presste die Lippen aufeinander und starrte ihren Onkel finster an. Er pumpte die Luft aus dem Vakuumbehälter und beachtete sie nicht; es war, als hätte er sie bereits vergessen. Wortlos, aber mit dünnen Lippen und zusammengekniffenen Augen ging das Mädchen in Begleitung seines Dæmons aus dem Zimmer.

Der Rektor und der Bibliothekar waren alte Freunde und Verbündete und nach schwierigen Gesprächen pflegten sie zusammen ein Glas Branntwijn zu trinken und einander Mut zuzusprechen. Nachdem sie nun Lord Asriel verabschiedet hatten, schlenderten sie zur Wohnung des Rektors und machten es sich in seinem Arbeitszimmer bequem. Sie zogen die Vorhänge zu und legten Holz für das Feuer nach und ihre Dæmonen setzten sich auf ihre angestammten Plätze auf dem Knie und der Schulter. Dann sprachen sie über das, was geschehen war.

»Glaubst du wirklich, er wusste von dem Wein?«, fragte der Bibliothekar.

»Ganz sicher. Ich habe zwar keine Ahnung, woher, aber er wusste davon und hat die Karaffe selbst umgekippt. Ganz sicher wusste er davon.«

»Tut mir leid, Rektor, aber ich bin froh darüber. Ich war nie glücklich über die Vorstellung, ihn zu …«

»Zu vergiften?«

»Ja. Zu ermorden.«

»Über so etwas ist niemand glücklich, Charles. Die Frage war nur, was schlimmer war: die Tat oder die Folgen der Unterlassung. Gut, das Schicksal hat entschieden, und es ist nicht so weit gekommen. Es tut mir nur leid, dass ich dich mit dem Wissen belastet habe.«

»Überhaupt nicht«, protestierte der Bibliothekar. »Ich wünschte nur, du hättest mir mehr gesagt.«

Der Rektor schwieg, dann sagte er: »Ja, vielleicht hätte ich das tun sollen. Das Alethiometer warnt vor schrecklichen Folgen, wenn Lord Asriel seine Suche fortsetzt. Außerdem wird das Mädchen in die ganze Sache hineingezogen werden und ich möchte sie so lange wie möglich vor Gefahren schützen.«

»Hat Lord Asriels Unternehmen etwas mit der neuen Initiative des Geistlichen Disziplinargerichts zu tun? Mit der – wie heißt sie doch gleich –, der Oblations-Behörde?«

»Lord Asriel – nein, gar nicht. Ganz im Gegenteil. Die Oblations-Behörde ist übrigens auch nicht ausschließlich dem Geistlichen Disziplinargericht unterstellt. Sie ist eine halbprivate Initiative unter Leitung einer Person, die keinerlei Sympathien für Lord Asriel hegt. Ich fürchte beide, Charles.«

Der Bibliothekar blieb stumm. Seit Papst Johannes Calvin den Sitz des Papsttums nach Genf verlegt und das Geistliche Disziplinargericht eingerichtet hatte, hatte die Kirche absolute Macht über sämtliche Bereiche des Lebens erlangt. Das Papsttum selbst war nach Calvins Tod abgeschafft worden und an seine Stelle war ein undurchsichtiges System von Gerichten, Kollegien und Räten getreten, das zusammenfassend Magisterium genannt wurde. Diese Behörden arbeiteten nicht immer friedlich zusammen, manchmal waren sie bittere Rivalen. Am mächtigsten war den größten Teil des vergangenen Jahrhunderts das Bischofskollegium gewesen, doch hatte in jüngeren Jahren das Geistliche Disziplinargericht seinen Platz als aktivstes und gefürchtetstes kirchliches Organ eingenommen.

Allerdings konnte es jederzeit geschehen, dass unter dem Schutz einer anderen Abteilung des Magisteriums eine unabhängige Behörde entstand, und eine solche war die Oblations-Behörde, von der der Bibliothekar gesprochen hatte. Er wusste nicht viel von ihr, aber was er gehört hatte, missfiel ihm und machte ihm Angst, deshalb hatte er volles Verständnis für die Besorgnis des Rektors.

»Der Palmer-Professor erwähnte zwei Namen«, sagte er nach einer Weile. »Barnard und Stokes. Worum geht es dabei?«

»Ach das – das geht uns nichts an, Charles. Die Heilige Kirche lehrt, soweit ich es verstehe, dass es zwei Welten gibt: die Welt der Dinge, die wir sehen, hören und anfassen können, und eine zweite Welt, die geistige Welt des Himmels und der Hölle. Barnard und Stokes waren – wie soll ich sagen – abtrünnige Theologen, die an die Existenz zahlreicher anderer Welten glaubten, Welten wie unsere, die weder Himmel noch Hölle sind, sondern materiell und sündig. Diese Welten existieren angeblich neben und um uns, sie sind aber unsichtbar und unerreichbar. Die Heilige Kirche verurteilte das natürlich als Ketzerei und brachte die beiden zum Schweigen. Zum Unglück für das Magisterium scheint es tatsächlich handfeste mathematische Beweise für diese Theorie anderer Welten zu geben. Ich habe das nicht genauer verfolgt, aber der Cassington-Stipendiat hat es mir gesagt.«

»Und jetzt hat Lord Asriel ein Bild einer solchen anderen Welt aufgenommen«, sagte der Bibliothekar. »Und wir haben ihm Geld gegeben, damit er sie findet. Ich verstehe.«

»Genau so ist es. Die Oblations-Behörde und ihre mächtigen Beschützer werden glauben, Jordan College sei eine Brutstätte der Ketzerei. Und ich muss zwischen Disziplinargericht und Oblations-Behörde vermitteln, Charles. Inzwischen wächst das Mädchen heran; man wird sie nicht vergessen haben. Früher oder später wäre sie natürlich sowieso in die Sache hineingezogen worden, aber jetzt wird sie es, ohne dass ich sie schützen kann.«

»Aber woher weißt du das, um Gottes willen? Wieder durch das Alethiometer?«

»Ja. Lyra wird bei alldem eine Rolle spielen, und zwar eine entscheidende. Die Ironie ist nur, dass sie diese Rolle spielen muss, ohne dass sie weiß, was sie tut. Natürlich kann man versuchen ihr zu helfen, und wenn mein Plan mit dem Tokaier aufgegangen wäre, wäre sie noch ein wenig länger sicher gewesen. Ich hätte ihr eine Reise in den Norden gern erspart. Vor allem wünschte ich mir, ich könnte ihr erklären …«

»Sie würde dir nicht zuhören«, sagte der Bibliothekar. »Ich kenne sie nur zu gut. Wenn du ihr etwas Ernsthaftes erklären willst, hört sie dir fünf Minuten lang halbherzig zu und fängt dann an zu zappeln. Und wenn du sie beim nächsten Mal danach fragst, hat sie es schon wieder vollkommen vergessen.«

»Und wenn ich mit ihr über Staub rede? Glaubst du nicht, sie würde dann zuhören?«

Der Bibliothekar gab durch ein Schnalzen der Zunge zu verstehen, für wie unwahrscheinlich er das hielt.

»Warum um alles in der Welt sollte sie?«, sagte er. »Warum sollte ein abstraktes theologisches Problem ein gesundes, gedankenloses Kind interessieren?«

»Wegen ihres künftigen Schicksals. Dabei spielt auch ein großer Betrug eine Rolle …«

»Wer wird sie betrügen?«

»Niemand, das ist ja das Traurige: Sie selbst wird die Betrügerin sein, für sie eine schreckliche Erfahrung. Davon darf sie natürlich nichts wissen, aber es gibt keinen Grund, warum sie vom Problem des Staubes nichts wissen sollte. Und vielleicht hast du Unrecht, Charles; vielleicht interessiert sie sich ja doch dafür, wenn man es ihr auf einfache Weise erklärt. Es könnte ihr später weiterhelfen. Und ich würde nicht so viel Angst um sie haben.«

»Das ist die Aufgabe der Alten«, sagte der Bibliothekar, »um die Jungen Angst zu haben. Und die Aufgabe der Jungen ist es, über die Angst der Alten zu lachen.«

Sie saßen noch eine kurze Weile da, dann gingen sie auseinander, denn es war spät, und sie waren alt und ängstlich.

Drei

Lyras Jordan

Jordan College war das imposanteste und reichste College in Oxford. Wahrscheinlich war es auch das größte, obwohl das keiner so genau wusste. Die Gebäude umschlossen drei unregelmäßige Innenhöfe und vereinten in sich sämtliche Stilrichtungen vom frühen Mittelalter bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Eine einheitliche Planung hatte es nie gegeben. Das College war nach und nach gewachsen, überall stießen Vergangenheit und Gegenwart aneinander und dadurch entstand der Eindruck einer bizarren und schon etwas verblichenen Pracht. Irgendwo war immer eine Mauer kurz vor dem Einsturz, und seit fünf Generationen arbeitete dieselbe Familie von Steinmetzen und Gerüstbauern, die Parslows, ausschließlich für das College. Der gegenwärtige Mr Parslow gab sein Wissen an seinen Sohn weiter und zusammen mit ihren drei Arbeitern kletterten sie unermüdlich wie Termiten über die Gerüste, die sie an der Ecke der Bibliothek oder über dem Dach der Kapelle errichtet hatten, und hievten hellbraune neue Steinquader, glänzende Bleirollen oder Holzbalken hinauf.

Dem College gehörten Höfe und Ländereien in ganz Brytannien. Es hieß, man könne von Oxford nach Bristol in der einen und nach London in der anderen Richtung gehen, ohne das Gebiet des College zu verlassen. Überall im Königreich zahlten Färbereien und Ziegeleien, Wälder und Atomkraftwerke Pacht an das College, und einmal im Quartal rechneten der Finanzverwalter und seine Buchhalter alles zusammen, gaben die Summe dem Konzil bekannt und bestellten zwei Schwäne für das Festessen. Ein Teil des Geldes wurde wieder investiert – das Konzil hatte soeben den Kauf eines Geschäftsgebäudes in Manchester genehmigt –, vom Rest bezahlte man die bescheidenen Gehälter der Wissenschaftler und die Löhne des Personals, darunter die Parslows und das runde Dutzend anderer Handwerker- und Händlerfamilien im Dienste des College, den Wein für den reich gefüllten Weinkeller, die Bücher und Anbarografen für die riesige Bibliothek, die eine ganze Seite des Melrose Quadrangle einnahm und sich höhlenartig über mehrere unterirdische Stockwerke erstreckte, und nicht zuletzt neue philosophische Instrumente für die Kapelle.

Die Kapelle auf dem neuesten Stand zu halten war wichtig, weil Jordan College als Zentrum der Experimentaltheologie in Europa wie in Neufrankreich unumstritten an der Spitze stand. Das wusste auch Lyra. Sie war stolz auf die Bedeutung ihres College und gab damit gern bei ihren Kameraden an, wenn sie mit ihnen am Kanal oder in den Lehmgruben spielte. Für prominente externe Wissenschaftler und Professoren von auswärts hatte sie nur Verachtung übrig, weil sie nicht zu Jordan College gehörten und deshalb zwangsläufig weniger wussten, die Armen, als der letzte Hilfswissenschaftler von Jordan.

Was Experimentaltheologie war, wusste Lyra genauso wenig wie ihre Spielkameraden. Sie hatte zwar eine vage Vorstellung, dass es sich dabei um Zauberei handelte, um die Bahnen von Sternen und Planeten und um kleine Materieteilchen, aber das waren nur Vermutungen. Wahrscheinlich hatten Sterne Dæmonen wie die Menschen, und die Experimentaltheologen sprachen mit ihnen. Lyra stellte sich vor, wie der Kaplan mit seiner gesetzten Stimme etwas sagte, den Antworten der Sterndæmonen lauschte und dann wissend nickte oder bedauernd den Kopf schüttelte. Was er allerdings mit den Sternen besprechen sollte, wusste sie nicht.

Es interessierte sie auch nicht besonders. Lyra bevorzugte handfestere Dinge. Am liebsten kletterte sie mit ihrem besten Freund Roger, dem Küchenjungen, über die Collegedächer und spuckte Pflaumenkerne auf die Köpfe vorbeikommender Wissenschaftler oder schrie vor dem Fenster eines Seminarraumes wie eine Eule; bei anderen Gelegenheiten machten die Kinder Wettrennen durch die engen Gassen, stahlen auf dem Markt Äpfel oder führten Krieg. So wie Lyra nichts von den unter der Oberfläche des Collegealltags verborgenen politischen Strömungen ahnte, wussten die Wissenschaftler ihrerseits nichts von dem wunderbar aufregenden Durcheinander von Bündnissen, Feindschaften, Fehden und Verträgen, das das Leben der Kinder von Oxford bestimmte. Wie schön war es doch, Kindern beim Spielen zuzusehen; was könnte unschuldiger und rührender sein?

Dabei bekämpften Lyra und die anderen Kinder einander in wechselnden Gruppierungen bis aufs Messer. So bekriegten die Kinder von Jordan College (darunter junge Diener, die Kinder von Dienern und Lyra) die Kinder eines anderen College. Dieser Krieg war allerdings vergessen, wenn die Kinder aus der Stadt ein Kind aus dem College angriffen: Dann rückten alle Collegekinder gemeinsam gegen die Stadtkinder vor. Diese Rivalität war viele hundert Jahre alt und tief verwurzelt und besonders befriedigend.

Aber selbst sie war vergessen, wenn andere Feinde drohten. Ein solcher Dauerfeind waren die Kinder der Ziegelbrenner, die bei den Lehmgruben lebten und von College- und Stadtkindern gleichermaßen verachtet wurden. Im vergangenen Jahr hatten Lyra und einige Kinder aus der Stadt vorübergehend Waffenstillstand geschlossen und die Lehmgruben überfallen. Sie hatten die Ziegelbrennerkinder mit schweren Lehmklumpen bombardiert, ihre feuchte Lehmburg zerstört und die Kinder dann in der klebrigen Masse gewälzt, von der ihre Väter lebten, bis Sieger und Besiegte gleichermaßen einer Schar kreischender Golems glichen.