Hitze - Garry Disher - E-Book

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Garry Disher

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Beschreibung

Wyatt sondiert mal wieder die Möglichkeiten. Eine Bank wäre toll oder ein Geldtransporter. Doch soll er sich deswegen mit dreisten, jungen Idioten und Meth-Köpfen einlassen? So groß ist seine Verzweiflung dann doch nicht, zumal ihm ein Broker in Queensland einen One-Man-Job anbietet. Ein flämisches Gemälde aus dem 16. Jahrhundert – von den Nazis während des Zweiten Weltkriegs erbeutet – sei im Erholungsort Noosa, in der sengenden Hitze der Sunshine Coast im Haus eines Pädophilen aufgetaucht und eine israelische Auftraggeberin biete viel Geld dafür. Ganz nach Wyatts Geschmack, denn er kann den Coup in Eigenregie ausbaldowern … Auch im neuen Wyatt-Roman zeigt sich Dishers Gespür für Atmosphäre und für Charaktere, die bis hin zur allerletzten Nebenfigur lebendig und authentisch daherkommen.

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Inhalte

Titelei

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Abspann

Hitze
Ein Wyatt-Roman
Garry Disher
1
Es lief jetzt schon nicht rund.
Wyatt beobachtete Vidovic, der das Gespräch beendete. Das Telefon in die Tasche seines Hemds steckte. An einer Miene der Entschuldigung arbeitete.
»Das war Jack.«
Wyatt wartete. Leute drucksten herum, wenn es um schlechte Nachrichten und Rückschläge ging. Vertane Zeit, aber was sollte man machen? Vidovic würde in den nächsten paar Sekunden zur Sache kommen. Oder nach Jahren.
»Jack Pepper«, erklärte Vidovic. Als er keine Veränderung in Wyatts granitenen Gesichtszügen wahrnahm, fuhr er fort: »Er fragt an, ob wir uns stattdessen in einem Motel treffen können.«
»Hat er gesagt, warum?«
»Nein.«
Sie standen mit einem gemieteten Lieferwagen in einem trostlosen Caravan Park in den Hügeln außerhalb Melbournes. Wyatts Entscheidung. In Caravan Parks herrscht Kommen und Gehen. Man bleibt eine Weile und zieht weiter; man wählt einen Caravan Park, weil er billiger ist als ein Motel. Um dich herum sehen alle die Dinge wie du, also nimmt niemand Notiz von dir.
Und dieser Caravan Park lag hinreichend weit von der City entfernt und nicht in der Nähe irgendeiner Flotte gepanzerter Fahrzeuge oder eines Standortes für Übergaben.
Wyatt sah auf seine Armbanduhr: acht Uhr abends. »Hat er dir eine Adresse gegeben?«
Vidovic nannte ein Budget Motel in Highett. Am Strand; fünfundvierzig Minuten entfernt. Fast hätte Wyatt nein gesagt, aber er war mit nahezu nichts aus Frankreich zurückgekommen. Nur mit Genugtuung – Genugtuung darüber, einen Mann getötet zu haben.
Kein Job, der sich ausgezahlt hatte.
»Okay, fahren wir.«
Während der Fahrt hinunter zu den ebenen Straßen und Ziegeldächern, die typisch waren für den an der Bay gelegenen Teil Melbournes, redete Vidovic. Wyatt ließ ihn. Er hörte auch nicht richtig zu, nur so viel, um mitzubekommen, dass sein Freund völlig abgebrannt war und diesen Job wirklich brauchte.
Genau wie Wyatt. Der Unterschied war nur, dass Wyatt kein Bedürfnis hatte, das auszusprechen. Er unterhielt sich nicht. Er offenbarte seine Bedürfnisse nicht. Er gestand sich nicht einmal ein, dass er welche hatte.
Aber er dachte nach.
Die Pepper-Brüder, Jack und Leon, hatten Vidovic eines Jobs wegen kontaktiert. Vidovic, dem die Sache gefiel, hatte Wyatt kontaktiert. Vidovic hatte bereits mit den Pepper-Brüdern zusammengearbeitet, so, wie er auch mit Wyatt zusammengearbeitet hatte. So hatte es sich ergeben. Weder misstraute Wyatt den Pepper-Brüdern, noch traute er ihnen. Er kannte sie nicht.
Wyatt wusste auch nicht, wer der fünfte Mann war. Aber fünf war die richtige Anzahl für einen Überfall auf einen Geldtransporter. Ein sauberer Hinterhalt, eine Behinderung oder Umleitung des Verkehrs, Abfangen der Boten vor der Bank – was auch immer. Man benötigte einen Fahrer, einen, der den Funk abhörte und die Straße im Auge behielt, zwei Mann mit Waffen und einen Spezialisten: einen Typ, der sich mit Schneidewerkzeug auskannte, mit Elektronik oder Semtex. Bislang wussten Vidovic und Wyatt nur, dass die Pepper-Brüder behaupteten, an einem todsicheren Ding dran zu sein.  
Den Nepean Highway hinunter, wo der leicht salzige Seegeruch schwach über den Industrietoxinen hing. Das Motel lag mit seinem verblassten Erscheinungsbild einen Block vom Strand entfernt. Jahre voller Sonnenlicht und Salz hatten es mürbe werden lassen. In früheren Zeiten waren Familien im Januar für eine Woche dringlich benötigten Urlaubs hier abgestiegen, mehr gab es dazu nicht zu sagen. Nicht, dass Wyatt irgendetwas dazu zu sagen gehabt hätte. Er parkte zwei Blocks entfernt und stellte den Motor ab.
Vidovic warf ihm einen Blick zu. »Du könntest direkt vorfahren, Kumpel.«
Wyatt antwortete mit einem ruhigen, aber bedeutungsschwangeren Blick. Vidovic hob beide Hände in einer Geste der Kapitulation. »Okay, okay, immer auf der Hut.« Ein nervöses Kichern. »Eines Tages werde ich den entspannten Wyatt erleben.«
Eines Tages werde ich tot sein, dachte Wyatt.
Er zog sich eine Baseballkappe tief ins Gesicht, schlüpf­te in eine Wolljacke mit Reißverschluss und schlug den Kragen hoch. Die Kameras würden nur die Andeutung einer prägnanten Nase und prägnanter Wangenknochen zeigen, kein zu identifizierendes Gesicht.
Vidovic folgte dem Beispiel unter Murren und sie machten sich auf den Weg. Vorbei an einem Nudelshop, einem Waschsalon und einem 7-Eleven. Sie blieben unauffällig; es gab noch andere in Jacken mit hochgeschlagenen Kragen an diesem kühlen Abend Mitte September.
Das Motel war L-förmig angeordnet, die Anmeldung an einem Ende in der Nähe der Einfahrt von der Straße. Eine einsame Kamera deckte den Bereich der Anmeldung ab, eine symbolische Maßnahme. Als glaubte das Management, es werde sich in den Motelzimmern nie etwas ereignen. Keine Überdosis, keine Vergewaltigungen, Morde oder tätlichen Übergriffe. Oder die Planung für einen Raubüberfall.
Wyatt und Vidovic schlichen sich auf das Gelände, dort, wo die Dunkelheit am intensivsten war, gingen dann um einen Zyklonzaun herum, der das Motel von einem Apartmentblock trennte. Das Licht war schwach, beleuchtete kaum den von der See heraufziehenden Dunst. Es tröpfelte. Von ein paar verkümmerten Sträuchern fielen kleine Tropfen auf Wyatts Ärmel.
Zimmer 18, davor parkte ein weißer Camry, den Kühler voran. Wyatt schritt das Heck des Wagens zur Hälfte ab und, tatsächlich, am Fenster pappte der Aufkleber eines Autoverleihs.
Er starrte auf das Motelzimmer, nicht bereit, es zu betreten. Das Ganze war von Anfang an heikel gewesen. Dennoch, vielleicht hatten die Pepper-Brüder genügend Verstand, um falsche Namen zu benutzen?
Vidovic, der Wyatts Gedanken erriet, sagte: »Junge, die wissen, was sie tun.« Er ging zur Tür und klopfte.
Also ließ Wyatt die Hand in seine Jackentasche gleiten, wo seine kleine .32er durch seine Körperwärme beinahe warm geworden war. Ein gutes Gefühl. Er verharrte in der Dunkelheit, wo er das gute Gefühl zu steigern suchte. Instinkt. Wyatt hätte es vielleicht als gesunden Menschenverstand bezeichnet, wäre er genötigt ge­wesen, sich zu erklären.
Er beobachtete Vidovic. Beobachtete, wie die Tür sich öffnete und Licht nach draußen fiel. Beobachtete Vidovic, der sich umdrehte und ihm mit einer Geste zu verstehen gab: Alles in Ordnung, Kumpel, geh rein.
Vidovic und Wyatt waren aus dem gleichen Holz ge­schnitzt – groß, hager und vorsichtig –, nur war Vidovic dieser Tage ein Anflug von Verzweiflung eigen. Die Pepper-Brüder waren aus weicherem Stoff. Knapp dreißig, mit Ohrringen und Dreitagebart in rosigen unbedarften Gesichtern. Schicke Anzüge über offenen Hemden. Junge Masters of the Universe.
Jack Pepper stand mitten im Zimmer, sein jüngerer Bruder lümmelte auf dem Bett. Sie seien Berater, wenn sie nicht gerade Überfälle planten, hatte Vidovic auf der Fahrt von den Hügeln hierher erzählt. Er hatte mit den Achseln gezuckt, eine Grimasse geschnitten, als Wyatt gefragt hatte: »Berater auf welchem Gebiet?«
Es kam zu keinem Händeschütteln. Jeder der Brüder grüßte mit einem lässigen Winken, dann goss Jack Pepper Scotch in vier Gläser – auch für Wyatt, selbst als der nein sagte. Der Mann war aufgedreht, die kleinen Augen in seinem runden Gesicht sprühten vor Übermut.
»Cheers«, er prostete Wyatt zu. »Du bist uns empfohlen worden.«
Wyatt verzog keine Miene.
»Von Stefan hier«, fuhr Pepper fort und deutete auf Vidovic, als wäre Wyatt etwas schwer von Begriff.
Wyatt nickte. Er begutachtete das Zimmer: Doppelbett, zu beiden Seiten des Kopfteils ein Nachttisch, eine Bank mit einem Klotz von Fernseher darauf. Ein winziger Tisch und zwei Sessel, angrenzend das Bad. Von einem Fetzen Kunst an der Wand über dem Bett abgesehen, war es das. Er nahm einen der Stühle, stellte ihn zwischen Tür und Fenster, das einzige im Raum, und setzte sich. Probleme vor Augen, einen Fluchtweg im Rücken. Zu beiden Seiten. Er wartete, ruhig und schweig­sam.
Ein Prusten kam von dem Mann, der auf dem Bett lümmelte. »Nimm den Jungen.«
Leon Pepper war feister im Gesicht als sein Bruder und nicht gerade der Schlaueste.
»Einer fehlt uns noch«, sagte Wyatt.
Jack Pepper blickte auf seine Armbanduhr.
»Ja, nun, Syed hat manchmal Probleme mit seinem Zeitgefühl, nicht wahr, Lee?«
Leon kicherte. Er wand sich, bis er mit dem Rücken gegen das Kopfteil gestützt dasaß, wobei seine dicken Schenkel den feinen Wollstoff verzogen, der sie um­schloss. Seine Schuhe hatten Spuren auf der Bettdecke hinterlassen.
»Syed?«, fragte Wyatt.
»Syed Ijaz«, sagte Jack Pepper. »Kennt sich mit Autos aus und so. Weiß, wie man sie knackt, weiß, wie man sie fährt.«
Und wie man ein Taxi zu einer Lagebesprechung nimmt: Hinter dem Fenster nahm Wyatt das Rumpeln von Reifen wahr, dann das Zuschlagen einer Autotür. Er linste rechtzeitig durch die Scheibe, um zu sehen, dass sich das Taxi von Nummer 18 entfernte und der Fahrer die Frei-Anzeige aktiviert hatte.
Ein Skinhead schleppte sich an dem Avis-Camry vorbei. Wyatt ging sofort zur Tür und riss sie auf, bevor der Mann namens Ijaz klopfen konnte.
»Komm rein.«
»Scheiße, wer bist du?«
Wyatt ließ seinen Blick über den trostlosen Parkplatz wandern, über die Straße am anderen Ende, die verschwommenen Autos, die durchs Dunkel fuhren. Ein trüber, nasskalter, friedlicher, ein aussichtsloser Abend. Er schloss die Tür und kehrte zu seinem Stuhl zurück.
Verfolgte, wie der Neue und die Pepper-Brüder die Fäuste aneinanderstießen. Bemerkte, dass ein wenig mehr Dynamik in seine Bewegungen kam. Ijaz begrüßte Stefan Vidovic, der nervös zu Wyatt sah, mit einem verhaltenen Nicken.
Jack Pepper sagte: »Wyatt, das ist Syed.«
Wyatt sagte: »Wo hast du das Taxi rangewinkt?«
Ijaz blinzelte heftig. »Rangewinkt? Ich hab’s nicht rangewinkt. Ich habe es übers Telefon bestellt.«
»Sag mir, dass du eine öffentliche Telefonzelle benutzt hast.«
Ein Grinsen. »Gibt’s die noch? Vom Telefon meiner Mum.«
Wyatt atmete tief durch. »Wie hast du gezahlt?«
»Bar.«
Wenigstens etwas.
»Das Taxi hat vor der Tür deiner Mutter gehalten?«
Ijaz schüttelte den Kopf. »Am Ende der Straße, wir wohnen in einer Art Sackgasse, ist einfacher, wenn man denen sagt, sie sollen an der Ecke warten. Also«, er rieb die Hände aneinander, »wie weit sind wir?«
»Haben gerade angefangen«, sagte der Bruder auf dem Bett aufgeräumt.
»Nun, Jungs, ich brauch das dringend«, sagte Ijaz.
Wyatts wegen erklärte Leon Pepper mit einem Lä­cheln in der Stimme: »Der gute Syed hier schuldet je­mandem ein bisschen Geld.«
»Zehn Riesen.« Ijaz grinste. »Opferentschädigung.«
Er war etwa neunzehn, dunkel, ausgezehrt, mit wunden Nasenflügeln und einem Teint, der von Juckreiz zeugte. Er lebte die Party seines Lebens, und das würde kurz sein.
Wyatt deutete mit dem Kinn in Vidovics Richtung. »Kommst du?«
Vidovic nickte matt. Er wusste so gut wie Wyatt, dass es sich erledigt hatte. Zu viele Fehler. Von Anfang an ein Rohrkrepierer. Er gesellte sich zu Wyatt an die Tür.
»Was zur Hölle? Kommt schon, Jungs«, sagte Jack Pepper entrüstet.
Wyatt sah keinen Anlass, es durchzubuchstabieren: das Motel, der Mietwagen, das Taxi. Der Schwachkopf von Speedfreak, der gerade eingetroffen war. Er sagte: »Verrat mir eins: Was für ein gepanzertes Fahrzeug und welche Route?«
2
Dicht gefolgt von Vidovic machte sich Wyatt auf den langen Weg zurück zum Wagen. Er verharrte im Dunkel, ließ Straße, Fußgänger und das Fahrzeug selbst nicht aus den Augen, bevor er hinaustrat in das künstliche Licht der Straßenbeleuchtung und sich hinter das Lenkrad klemmte.
Wieder und wieder sagte Vidovic: »Tut mir leid, Junge« und »Dachte, die sind professioneller« und »Wenigstens sind wir ausgestiegen, bevor was in die Hose geht.«
Wyatt war der Ansicht, dass es bereits in die Hose gegangen war. Er sprach es nur nicht aus. Sein Blick war auf die Scheinwerfer in den Rückspiegeln gerichtet. Vidovic neben ihm sah aufmerksam zu den Gebäuden rechts und links des Nepean Highways, und Wyatt fragte sich, ob er nach gepanzerten Fahrzeugen Ausschau halte. Musste er es erklären? Sicher wusste Vidovic, weshalb er, Wyatt, die Reißleine gezogen hatte, oder?
Dennoch sagte er: »Ein gepanzerter Geldtransporter wird überfallen und was machen die Cops als Erstes?«
»Ich weiß, ich weiß. Prüfen die Anmeldeformulare der Absteigequartiere in der Gegend«, sagte Vidovic gallig. »Videoüberwachung, Unterlagen von Autovermietungen, Taxiunternehmen … «
Mehr gab es dazu nicht zu sagen, also sagte Wyatt nichts. Soweit er es beurteilen konnte, war der Plan der Pepper-Brüder idiotensicher: Der Speedkopf würde sie nicht enttäuschen, der Überfall würde glatt über die Bühne gehen. Er war nicht bereit, dieses Risiko einzugehen.
Ein unerfreuliches Zeichen für Verzweiflung, dem Treffen zugestimmt zu haben. Vidovic war gewiss verzweifelt gewesen.
War es noch.
Wyatt unterfütterte seine Stimme mit Härte. »Hoffe, du hast nicht vor, dorthin zurückzugehen, Stefan.«
»Oh, das werd ich nicht.«
Das klang wie dahingesagt. Wyatt zuckte mit den Schultern. Es war Stefans Beerdigung.
Der Wagen war gestohlen. Ebenso die Nummernschilder. Wyatt fuhr durch die Gegend, bis er sicher war, dass es keine Verfolger gab, und steuerte dann die Innenstadt an. Stellte den Wagen in der Queen Street ab. Es war nicht erforderlich, Fingerabdrücke abzuwischen: Er hatte seine Handschuhe nicht abgestreift.
Sie verabschiedeten sich mit einem Nicken. Vidovic überquerte die Flinders Street und verschwand im Bahnhof. Wyatt ging zu seinem Zimmer in einer der Pensionen in der Spencer Street, wo Fragen kaum gestellt und nie beantwortet wurden.
Ausgestreckt auf dem Rücken, die mit Fliegendreck besprenkelte Zimmerdecke im Blick, dachte Wyatt über die einer Zusammenarbeit mit anderen innewohnenden Risiken nach.
Junge Leute. Junge Männer gingen Wagnisse ein, selbst wenn sie clean waren. Sie waren ungeduldig; hielten sich für unbesiegbar. Bildeten sich ein, einen Überfall besser durchziehen zu können als ein alter Kerl wie Wyatt. Sie benahmen sich immer wie Hauptdarsteller in einem Film, so Wyatts Eindruck, oder wie in einem Musikvideo. Waffen, schnelle Autos, Kokain und halb nackte Frauen. Tauchten in ihren Armani-Kopien auf, als erwarteten sie versammelte Paparazzi. Jämmerliche, dumme Jungs mit Bildungsdefiziten und langen Latten von Jugendstrafen. Hielten sich für viel zu schlau, um sich mit Recherche und detaillierter Planung zu beschäftigen. Schick sie zu einem Bruch und sie schnappen sich alles, unfähig, eine Rolex von einer Swatch für dreißig Dollar zu unterscheiden. Setz sie bei einem Bankraub ein und sie laufen Amok: schreien, schlagen, treten, feuern aus allen Rohren – sodass Kassierer erstarren, Kunden in Panik geraten und Sicherheitsleute unbedacht Risiken eingehen. Und wenn das Ding glückt, prahlen sie damit in aller Öffentlichkeit oder schenken ihren Junkiefreundinnen Gestohlenes von Wert, die damit geradewegs in die nächste Pfandleihe rauschen und in die an der Wand montierte Kamera lächeln.
Also: Mach einen Bogen um junge Männer.
Mach auch einen Bogen um Abhängige. Wenn dieses natürliche Selbstvertrauen oder die intensive Energie auf chemische Substanzen zurückgeht, ist dein Fahrer, dein Späher oder dein Safeknacker nichts weiter als eine Belastung. Für gewöhnlich außerstande, Folgen abzuwägen und einen klaren Kopf zu behalten. Wyatt dachte, er sei erfahren darin, Konsumenten zu erkennen, aber es gab Abhängige, die es zu kaschieren wussten.
Natürlich waren Drogen nicht die einzigen Suchtmittel; bei Vidovic war es das Glücksspiel.
Was Wyatt brauchte, war ein Solojob.
Er schlenderte zum Bahnhof an der Spencer Street und fand schließlich eine Telefonzelle. Als David Minto ab­hob, sagte Wyatt, sein Name sei Warner und er suche ein Grundstück. Minto zögerte nicht.
»Ein großes Grundstück, Mr. Warner?«
Was einen großen Coup bedeutete. Eine Bank, einen Geldtransport mit Lohngeldern … einschließlich einer Mannschaft und Anlaufkosten. Sorgfältige Planung über Tage, wenn nicht gar Wochen.
»Nicht unbedingt«, sagte Wyatt.
»In Ordnung. Aber groß genug für Sie und Ihre Familie?«
»Nur für mich.«
»Ich verstehe.«
»Keine allzu happige Kaution«, sagte Wyatt.
Was einen simplen Coup bedeutete und eine mäßige Beute; ein Minimum an Ausgaben. Minto könnte auf den Gedanken verfallen, Wyatt sei verzweifelt, doch das war irrelevant. Wyatt war nie verzweifelt.
Er war allerdings pleite.
»Ich verstehe vollkommen«, sagte die sanfte Stimme. Es klang, als käme sie aus einem großen Haus in einer Gated Community an der Gold Coast. Und so verhielt es sich auch. Minto sagte: »Ich habe in der Tat ein paar Angebote im Rahmen einer Auktion, die Sie interessieren könnten.«
Bedeutete Privatwohnungen oder Firmen, von denen er zwar annahm, ein Raub dort könne sich lohnen, aber Angaben zur Beute erst machen konnte, wenn er im Besitz weiterer Informationen war.
»Ich könnte vielleicht hinfliegen und mir das ansehen«, sagte Wyatt.
Der Makler war noch nicht fertig. »Eigentlich hatte ich gehofft, dass Sie sich melden würden. Soeben bekam ich ein Angebot herein«, sagte er. »Bei einem Sofortkauf zum Preis von einhunderttausend wären Sie dabei.«
Minto bot ihm ein Honorar an? Um was zu tun?
»Das klingt interessant.«
»Das Objekt ist bildschön«, sagte Minto.
Einhundert Riesen für den Diebstahl eines Gemäldes. Okay. Wyatt hatte schon Gemälde gestohlen.
»Das Grundstück steht ab sofort drei Wochen lang für eine Besichtigung zur Verfügung«, sagte Minto.
Wyatt hatte in den letzten Jahren an der Gold Coast gearbeitet. Auch in Cairns und Brisbane. Die Möglichkeit bestand, dass sein Gesicht auf irgendeinem Band zu sehen oder auf einer Festplatte gespeichert war. Oder dass es sich jemandem eingeprägt hatte. Oder bei seinem Anblick eine Erinnerung wachrufen würde. Dort mit einem neuen Gesicht aufzutauchen, war also sinnvoll. Noch sinnvoller war es, sich ein neues Gesicht zu verpassen, solange er sich in Melbourne aufhielt. Er hatte sich nicht beobachtet gefühlt, seit er aus das Motel in High­ett verlassen hatte, aber da war das Risiko, dass die Pepper-Brüder observiert wurden. Wäre es an dem, existierte ein Aktenvermerk über ihr Treffen, Fotos von Vidovic und ihm wären in Umlauf. In diesem Fall wü­rde man nicht va banque spielen und alles auf einen hochgeschlagenen Kragen setzen.
Nun denn, zuerst das große Besteck. Am Morgen fuhr er sich mit dem Haarschneider – Aufsatz Nummer 3 – über den Kopf. Er sah jetzt asketisch aus, wie ein Mönch. Dann ging er in die im Untergeschoss eines Kaufhauses gelegene Abteilung für Sonderangebote. Kaufte zwei Baseballkappen und zwei Jacken, zog sich eine Kombination an, fuhr mit dem Fahrstuhl in die oberste Etage und streifte umher. Anschließend ging er über die Seitentreppe in jede einzelne Etage darunter, spazierte für die Kameras herum. Zog sich in die Toilette zurück, tauschte die Kappe aus und schlüpfte in die voluminösere Jacke. Verließ das Kaufhaus, nun ein anderer, ein etwas dickerer Mann. Er veränderte auch ein wenig seinen Gang, gab jetzt den Bauarbeiter mit einer alten Blessur. Die Pension suchte er nicht mehr auf. Mehrere Stunden fuhr er mit Straßenbahnen, Zügen und Taxis durch die Gegend, bis er sich sicher fühlte und in einem Motel an der Sydney Road eincheckte.
Als Nächstes machte er sich daran, eine neue Identität anzunehmen. Früher hatte er Friedhöfe besucht, auf der Suche nach Namen von Jungen, die jetzt in seinem Alter gewesen wären, würden sie noch leben. Mittlerweile hatten die Behörden verlässliche Systeme eingeführt und waren in der Lage, Geburts- und Sterbedaten mit Anträgen auf Ausstellung eines Reisepasses und anderer Papiere abzugleichen. Heutzutage suchte Wyatt eine Juwelierin in der Flinders Lane auf, die billige Ringe aus ihrem Schaufenster verkaufte und Namen aus ihrem Hinterzimmer. Wyatt erwarb den Namen John Sandford und konnte sich nun um eine Geburtsurkunde kümmern, um Führerschein und Krankenversicherungsnachweis, um ein Bankkonto und Kreditkarten. Der wahre John Sandford war langfristig an ein Pflegeheim gebunden. So unwahrscheinlich sein baldiger Tod war, so un­wahrscheinlich war auch das Beantragen der Plastikkarten, die seine Existenz beweisen würden.
In der Zwischenzeit ein anderes Gesicht. Haarschnitt und dickere Jacke waren nur vorübergehende Maßnahmen im Zuge der Suche nach einem neuen Unterschlupf gewesen. Für Reisepass und Führerschein brauchte er ein neues Gesicht, das unauffälliger war, und für dergleichen wiederum brauchte man eine Profiausstattung: Mischtiegel, Handspiegel, Scheren, Wattestäbchen, Pinzette, Hautkleber. Make-up und Pinsel.
Frisch geduscht und rasiert machte er sich an die Ar­beit. Mithilfe eines Zobelpinsels von sechs Millimetern Länge trug er Grundierung auf, die hohle Wangen suggerierte, indem sie die Knochenstruktur seines Gesichts betonte. Ein dunkelbrauner Stift intensivierte den Schatten unterhalb seiner Unterlippe; mit einem feinen Pinsel aufgetragene helle Farbe an Augenbrauen und Schläfen täuschte Graumeliertes vor und einen Anflug von Abgespanntheit und Erfahrung des mittleren Alters. Ein gebildeter Mann, vielleicht. Ein wenig verschreckt, durch und durch harmlos.
Mit Passfotos ausgestattet, nahm er den Papierkram in Angriff. Jedes Dokument erleichterte die Beschaffung des nächsten; keines jedoch wurde ausgestellt, sofern er nicht eine nachvollziehbare Anschrift beibringen konnte. Ein Postfach reichte nicht aus. Wyatt gab die Adresse des Motels an. Der Manager hatte nichts dagegen einzuwenden, dass sein Laden als Briefkasten fungierte; hatte noch viel weniger einzuwenden, als Wyatt ihm einhundert Dollar zusteckte. Die Bürokraten bestanden auf keiner Festnetznummer, zum Glück. Ihnen würde die Num­mer des Prepaidtelefons genügen, das Wyatt an einem Verkaufsstand in einer Einkaufspassage gekauft hatte.
3
Stefan Vidovic hatte zwei Wochen damit zugebracht, Verbitterung, Angst, Verzweiflung und einen gebrochenen Finger zu pflegen.
Den kleinen Finger seiner linken Hand, gebrochen wie einen Zweig von einem von Arlo Waterfields Typen, einem Hünen, einer Pyramide nicht unähnlich, der nach Karamell-Milchshake roch und dessen Augen nur abgestumpft zur Kenntnis nahmen, dass der von ihm gebrochene Finger Vidovic Schmerzen bereitete. Der Finger war Stufe zwei, eine Erinnerung, dass Vidovic Stufe eins verpasst hatte, worunter die Zahlung von achtzehntausend Dollar an Waterfield Turf Enterprises binnen einer Woche zu verstehen war.
Stufe drei könne den Tod bedeuten, hatte der Gorilla ohne innere Beteiligung gesagt. »Aber um dir zu zeigen, wie fair Mr. Waterfield sein kann, hast du noch eine Woche, wodurch du dann mit fünfundzwanzig Riesen in der Kreide stehst. Ist das eine Lektion, die verstanden wurde, Stefan?«
Die Lektion war, von der Bildfläche zu verschwinden. Vidovic sah keinen Weg, binnen sieben Tagen fünfundzwanzig Riesen aufzutreiben.
Er überlegte, was Wyatt tun würde, und tauchte in einem Rosebud Caravan Park unter. Dort kümmerte er sich um seinen Finger und erwog zu verduften. Es war machbar; es war nicht so, dass er Familie und Freunde der Gnade Arlo Waterfields überließe. Vidovic war mehr oder weniger allein. Er kannte Männer wie Wyatt, das war’s, und Wyatt war kein Freund. Man konnte Wyatt zum Beispiel nicht um ein Darlehen angehen.
Vidovic wanderte am Strand entlang Richtung Süden, den Pier und die fernen in Dunst gehüllten Türme der City im Rücken. Würde er weit genug gehen, würde er in Portsea landen, Spielwiese der Reichen und nicht zwingend Berühmten.
Geld. Vidovic steuerte gedanklich zurück zum Geldtransporterjob der Pepper-Brüder. Wyatt hatte richtiggelegen, die Brüder waren Amateure – aber das Vorhaben war gut. Vidovic hatte sich zweimal mit ihnen getroffen, bevor er Wyatt hinzuzog, und er hatte ihre Aufstellungen gesehen, von Daten, Zeiten und Routen, ihre Karten und Tabellen. Selbst die Frequenzen der Funkgeräte waren ihnen bekannt.
Zusammengefasst ging es um Folgendes: Sie wussten genau, welche Banken, Bausparkassen, Ge­­­nos­­­sen­schafts­banken, welche Läden mit Soforteinlöse von Schecks, welche Supermärkte von den SecureCor-Transportern an jedem beliebigen Tag angesteuert wurden. Und sie wussten, wie die Besatzung des Transporters bei der Geld­übergabe vorging.
Drei Männer: der Fahrer und zwei Sicherheitsleute. Der eine auf dem Beifahrersitz, der andere bei den Geldsäcken, eingeschlossen. Der Fahrer bleibt stets im Van. Sein Beifahrer steigt aus, versichert sich des Okays vonseiten des Ortes der Geldübergabe, gibt dann dem Wach­mann hinten im Transporter ein Zeichen. Dieser Wachmann begleitet den ersten während der gesamten Phase der Abholung oder Übergabe. Der Transporter bleibt verschlossen: Fahrertür, Beifahrertür, Hintertüren. Nur der Fahrer kann den Sicherheitsleuten wieder Einlass verschaffen.
»Ein Kinderspiel«, so Jack Pepper, der es abgelehnt hatte, vor einem Treffen mit Wyatt konkreter zu werden. Tja, jetzt sieht man, was dabei herausgekommen ist.
Vidovic saß auf den Stufen seines Wohnwagens und versuchte zu ergründen, wie man das Überwinden zwei­er bewaffneter Sicherheitsleute und verschlossene Wagen­türen zu einem Kinderspiel gestalten könne. Es hat immer Pyrotechnik gegeben. Man nehme fünf Männer in Schutzhelmen und Overalls. Vier, die rings um ein Loch im Boden stehen, einen fünften, der den Transporter in eine Seitenstraße dirigiert. Man blockiere die beiden Enden der Straße mit Absperrvorrichtungen, störe das Funksignal, sprenge die Wagentüren auf, schnappe sich das Geld, springe in einen Helikopter, der von einem sechsten Mann geflogen wird. Oder halte in der Nähe Motorräder bereit.
Zu viele Männer, zu viel Ausrüstung, zu hohe Anlaufkosten.
Oder man deponiere Sprengstoff in der Straße in der Hoffnung, die Detonation werde den Transporter er­schüttern. In der Hoffnung, die Wucht werde die Türen aufbrechen. Man würde einen Sprengstoffspezialisten brauchen. Und jede Menge Hoffnung.
Oder sich am Zielort als Wachmann verkleiden, der Mannschaft von SecureCor zuvorkommen. Aber wo sollte man in der Zwischenzeit die echten Wachleute verstecken?
Okay: Ein als Frau verkleideter Passant zielt mit einer Waffe auf den Angestellten der Bank oder des Geschäfts, dessen Aufgabe es ist, die Übergabe an die Wachleute zu koordinieren. In einem gestohlenen Wagen blockiert das zweite Gangmitglied den Transporter vorn; ein dritter Mann blockiert das Heck auf die gleiche Weise. Ein vierter nimmt sich des Wachmanns an, der auf der Beifahrerseite aussteigt, ein fünfter unterbindet den Versuch des Wachmanns im Wageninnern, die Türen zu schließen.
Immer fünf Leute und ein auf die Sekunde genaues Timing und ein Haufen Vorbereitung. Waffen, Verkleidungen, zuverlässige gestohlene Autos und irgendwo ein Ort, wo man alles unterbringen konnte.
Was also wussten die Pepper-Brüder, was Vidovic nicht wusste?
Shireen Ijaz war sich ziemlich sicher, dass ihr Sohn wieder Ice nahm. Sein fahriges Benehmen; rieb und kratzte sich wegen des Kribbelns unter seiner Haut. Die Zähne ein Desaster. Stahl ihr Geld aus dem Portemonnaie: keine Unsummen, nur hin und wieder einen Zehner oder Zwanziger und, einmal, den Hundertdollarschein, den sie für Notfälle in ein kleines Seitenfach gesteckt hatte. Sie hatte fast vergessen, dass er sich dort befand, bis ein Notfall eintrat, vor wenigen Tagen – eine Fahrt mit dem Taxi außer der Reihe, um ihren Bruder im Krankenhaus aufzusuchen. Niemals mit der Kreditkarte bezahlen, wenn man ein Taxi nimmt; sie können sie kopieren oder so, also hatte sie nach dem Hunderter greifen wollen, aber er war verschwunden.
Am Ende hatte sie mit der Kreditkarte bezahlt und den Fahrer dabei mit Argusaugen beobachtet.
Syed. Was sollte sie mit ihm machen? Klaute Geld, blieb die ganze Nacht lang weg, telefonierte heimlich. Er führte was im Schilde.
Er war ihr Jüngster, in Australien geboren. Shireen und ihr Ehemann hatten bereits zwei Söhne, als sie neunzehnhundertneunzig aus Pakistan eingewandert waren. Sie hatten sich viele Jahre durchbeißen müssen. Ihre Ge­meinde war klein und die Anglo-Australier verhielten sich reserviert, oft rassistisch. Aber Not macht dich stark. Man stellt sich den Herausforderungen. Shireen und ihr Mann führten mittlerweile drei Mobil-Tankstellen und zwei Motels; die älteren Söhne hatten Universitätsabschlüsse.
Aber Syed ...
Er musste weniger beweisen, sich weniger anstrengen. Wurde verwöhnt, weil er der Jüngste war.      
War er homosexuell? Shireen glaubte das. Aber vor allem nahm er Drogen. Er brauchte Geld, um seine Sucht zu finanzieren. Mit einem Betrug bei eBay hatte es angefangen, mit dem Verkauf nicht existenter iPhones, und sich schnell zu Diebstahl mit Waffen gesteigert. Der Be­drohung von Frauen an Geldautomaten mit einer mit Blut ge­füllten Spritze. Man nahm ihn deshalb fest. Keine Gefängnisstrafe, aber eine Verurteilung und ein Be­schluss, Entschädigung zu zahlen. Zehntausend Dollar. Shireen hätte sie womöglich bezahlt, aber ihr Mann sagte nein. Ein strenger Mann, dieser Ali. Unnachgiebig. Möge Allah verhüten, dass er, Ali, von Syeds Freunden erfuhr.
Und jetzt sandte Syed wieder diese beunruhigenden Signale aus. Shireen hatte sie bereits zuvor wahrgenommen, in den Wochen, die den Überfällen an den Geldautomaten vorausgegangen waren.
Vier Tage später klärte sich eine Sache zu Stefan Vidovics Zufriedenheit: Jack Pepper kannte einen Wachmann von SecureCor.
Vidovic folgte Pepper vier Tage lang. Am frühen Mittwochabend betrat Pepper ein Fitnessstudio in der Nähe der Alma Road. Rundherum Rauchglas und bei Tageslicht eine abweisend-undurchdringliche Front. Doch bei Einbruch der Dunkelheit flammte drinnen das Licht auf und Vidovic beobachtete, wie Pepper auf ein Laufband stieg. Fünfzehn Minuten später betrat ein Mann in einer SecureCor-Uniform und mit Sporttasche das Gebäude, machte kurz halt, um Pepper zu begrüßen, bevor er von der Bildfläche verschwand. Dann war er wieder zurück, jetzt in einem ärmellosen Everlast-Trikothemd, und entdeckte Pepper beim Bankdrücken.
Vidovic wusste bereits, wo Pepper wohnte, also war es der Wachmann, dem er folgte. Nachdem der Mann das Fitnessstudio verlassen hatte, hielt er nirgendwo mehr an, sondern fuhr mit seiner nichtssagenden Familienkutsche zu einem nichtssagenden Haus in Bentleigh. Vidovic wartete. Das Licht wurde an- und wieder ausgeschaltet; ein Mädchen im Teenageralter und in Netzballmontur kam nach Hause, befreite sein Haar von einem Haargummi, und um zehn Uhr kam eine Frau mittleren Alters heraus, hatte eine leere Weinflasche dabei, die sie im Recyclingbehälter draußen auf dem Gehweg versenkte. Um Mitternacht brannte im Haus nur noch ein Licht. Das der Tochter?
Vidovic entfernte sich, gönnte sich eine Mütze Schlaf und war um sechs am Morgen zurück. Er beobachtete, wie die Müll- und Recyclingfahrzeuge vorbeibrummten, und um halb acht verließ die Tochter das Haus. In Schul­uniform, mit Rucksack und straff gebundenem Pferdeschwanz blinzelte sie, als würden kühle Luft und Tageslicht sie verblüffen. Sie ging zu einer Bushaltestelle an der North Road, und dreißig Minuten später erschien ihr Vater. Die Wangen frisch, die Haare noch feucht vom Duschen und in seiner Uniform. In der Hand eine Er­satz­uniform auf einem Drahtbügel.
Ersatzuniform?
Die Frage war bald beantwortet. Auf seinem Weg zur Arbeit legte der Wachmann einen Stopp ein: EzyPress Dry Cleaning an der Warragul Road.
Am selben Abend, als weder ihr Mann noch Syed im Hause waren, inspizierte Shireen das Zimmer ihres Sohnes.
Es war Monate her, dass sie einen Fuß hineingesetzt hatte. Ab und an hatte sie das Innere flüchtig zu sehen bekommen, sofern der Zufall es wollte und sie vorbeikam, wenn Syed hinein- oder hinausging oder wenn er sich im Bad aufhielt und vergessen hatte, die Tür zu schließen. Es hatte immer recht passabel ausgesehen. Keine Kleidung oder Staubflocken am Boden, keine muffigen Handtücher auf dem Bett, keine Apfelgehäuse und überquellenden Aschenbecher.
Aber war das der Plan? Das Zimmer sauber zu halten, damit sie keinen Grund hatte, es zu betreten?
Es war acht Uhr und sie ging direkt zu Syeds Fenster. Die Jalousien heruntergelassen, Vorhänge zugezogen, nur das Licht vom Flur als Beleuchtung. Sie stand einen Moment lang da, um sich zu orientieren. Die Luft roch abgestanden, ein seltsamer Geruch. Hatte das was mit den Drogen zu tun? Irgendwas Chemisches, das aus Syeds Poren drang? Doch das Bett war gemacht, ein Paar Jeans hingen sorgsam zusammengelegt über der Stuhllehne, die Papiere neben Syeds Computer waren akkurat geordnet. Poster an der Wand: ein Maserati, Shaoib Malik, der Twenty20 bei den Hobart Hurricanes spielte, irgendeine sexy Popsängerin oder Tänzerin oder Bollywood-Schauspielerin.
Shireen sah zuerst unter dem Bett nach. Eine Socke, ein Papiertaschentuch. Der Kleiderschrank war aufgeräumt, ordentlich, am Boden Schuhkartons, gestapelt. Nike, Adidas, Asics. Gestohlen? Syed liebte seine Schu­he.
Es war ein Kleiderschrank älterer Sorte, frei stehend und oberhalb mit einem Querbehang versehen, hoch genug, um dahinter jeden flachen Gegenstand zu verbergen, den man dorthin stellte. Shireen sah hoch zu diesem Querbehang. Sie zog den Stuhl ihres Sohnes heran, stellte sich darauf, langte über den Querbehang und stieß auf eine abgesägte Flinte. Auch auf eine Sturmhaube, einen Schutzhelm und einen Monteuroverall.
Jack Pepper hatte gesagt, die Operation sei für Montag, den einundzwanzigsten September angesetzt, also folgte Vidovic dem SecureCor-Transporter am Montag, dem vierzehnten, wobei er die Verfolgung ab dem ersten Halt aufnahm, einem Supermarkt in Sandringham. Er blieb auf Abstand am Steuer des mit Leitern bestückten Land Cruisers eines Freundes. Der Geldtransporter hielt weitere Male: Bausparkassen, eine Bank, andere Supermärkte – kleinere, nicht zu den Ketten gehörige, keine Coles oder Woolworths. Das war gut. Diese Läden nahmen dennoch einen Arsch voll Geld ein und zweimal die Woche – montags und freitags – übergaben sie es SecureCor.
Von Dienstag bis Donnerstag beschattete er die Pepper-Brüder und ihren biederen Kumpel von SecureCor. Die nächsten Abstecher ins Fitnessstudio, die nächsten Zwischenlandungen in der chemischen Reinigung. Muss­te sich um eine dreckige Arbeit handeln, den ganzen Tag Geldsäcke zu transportieren. Die Säcke standen auf staubigen Böden, so Vidovics Vermutung. Kamen mit Tinte und Farbe und öligen Substanzen in Berührung.
Dann das: Am Donnerstagnachmittag schlug Pepper bei einem Gebrauchtwagenhändler in Frankston auf und kaufte einen ausrangierten Geldtransporter. Er fuhr damit zu einer Hinterhofwerkstatt in Footscray, wo man den Wagen in den Farben von SecureCor umspritzte. Dann wurde er zu einem Schuppen auf dem hinteren Teil eines Fabrikgeländes in einer Seitenstraße von Collingwood gefahren und hinter einem mit einem hundsmiserablen Vorhängeschloss gesicherten Eisentor abgestellt.
An diesem Abend wurde Vidovic von der Erkenntnis aufgescheucht, dass Arlo Waterfields Mann wieder nach ihm suchte. Intensiv suchte. Wenn er es durchziehen wollte, musste es morgen sein, nicht nächste Woche.
Shireen ging die Sache falsch an. Es war richtig, ihrem Mann nicht zu erzählen, was sie vorhatte, aber  falsch, dem Polizeibeamten am Empfang des nächstgelegenen Polizeireviers zu eröffnen, dass sie befürchte, ihr Sohn nehme Drogen.
Er gähnte. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir da groß was machen können, Mrs. Eejazz.« Er deutete auf die an der Wand befestigten Stellagen aus Draht. »Wir haben ein paar Schriften zum Thema Drogenberatung und zu spezialisierten Rehakliniken.«
Also näherte sich Shireen dem Punkt, der sie umtrieb. »Letztes Jahr hat er versucht, jemanden auszurauben. Was, wenn er das wieder macht?«
»Wenn wir darauf reagieren würden, was ein Einzelner eventuell tun könnte, würden wir nie darauf reagieren, was andere bereits getan haben«, sagte der Diensthabende. Übergewichtig und neigt zum Grinsen, dachte Shireen. Neigt außerdem dazu, seine Geringschätzung für Menschen mit dunkler Hautfarbe kaum zu verschleiern.
Das war der Moment, als sie ihm von der Flinte und der Tarnung berichtete.
Danach gerieten die Dinge ins Rollen und sie fand sich bei einem Gespräch mit Detectives wieder.
Am Donnerstagabend betrat Vidovic den Umkleideraum des Fitnessstudios, setzte sich, band seine Schnürsenkel auf und wieder zu, bis der Wachmann von SecureCor auftauchte. Vidovic erhob sich und gab ein ungeschicktes Taumeln gegen Spinde und Bänke zum Besten.
»Puh«, sagte er. »Muss es mit den Gewichten wohl übertrieben haben.«
Der Wachmann kam ihm zu Hilfe. »Sie müssen’s lang­­­sam angehen lassen.«
»Ja, ich denke, das hab ich jetzt begriffen«, sagte Vidovic. Er suchte seine Sachen zusammen und verschwand, zusammen mit des Wachmanns Abholschein für die chemische Reinigung.
Als Nächstes setzte er bei einem Kostümverleih ge­fälschte Papiere ein, um an eine Pistole plus Gürtelholster zu gelangen, ging anschließend geradewegs zu dem Schuppen in Collingwood und stahl den Transporter. Der war jetzt mit dem Logo und dem Namen »SecureCor« versehen. Dürftig ausgeführt zwar, aber aus der Entfernung passabel.
Am Freitagmorgen holte Vidovic die gereinigte Uniform des Wachmanns ab, zog sie an, schnallte das Holster um und legte damit los, sich die Supermärkte vorzunehmen. Nicht die Banken: Sie hatten Sicherheitspersonal sowohl am Eingang als auch hinten postiert. Die Supermärkte, deren Hinterausgänge auf schmuddelige, mit verfaultem Gemüse verdreckte Höfe hinausgingen, waren in Fragen der Sicherheit weniger bewusst, und so hatte er am späten Vormittag achtundfünfzigtausend Dollar.
4
Am Freitagvormittag nahm Wyatt den Shuttlebus zum Melbourne Airport. Waren die Reisen länger, zog er einen Flug vor. Er war kein Mann, der zu Selbstreflexion neigte, aber er wusste, dass das Fahren längerer Strecken ihn belastete – stumpfsinnig, ermüdend. Und in der Vergangenheit war er verschiedentlich angeschossen, mit einem Messer verletzt oder zusammengeschlagen worden. Auf seinem Körper lasteten die Spuren, sowohl äußerlich als auch tiefer, in seinen Knochen. Lieber zwei Stunden in einem Flugzeug als zwei Tage hinter dem Steuer eines Wagens.
Der Nachteil bestand darin, dass es nicht möglich war, seine Pistole mit an Bord zu nehmen, was sich am anderen Ende als Problem erweisen könnte. Ausgeschlossen für einen Mann wie ihn, nach Ankunft eine Waffe legal zu erwerben, und zu riskant, sich hinter einem Pub mit einem Fremden zu treffen – ein möglicher Hinterhalt, das Aufhalsen einer Waffe, die nicht nur kostspielig war, sondern obendrein locker eine schmutzige Geschichte aufweisen könnte oder mechanische Defekte. Er würde Minto bitten, ihm eine zu beschaffen.
Mit der Aussicht auf eine lange Wartezeit im Abflugbereich des Melbourne Airports setzte sich Wyatt in einen Sitz, der eine gute Sicht auf den Seitengang Richtung Check-in-Schalter gestattete. Einmal schlenderten zwei Beamte der Federal Police vorbei, plauderten miteinander, nicht sonderlich interessiert an den wartenden Passagieren. Dennoch, er war ein wenig angespannt, lotete aus, wohin er laufen könnte, sollte es notwendig werden. Sein Blick wanderte an den Männern und Frauen entlang, die vorbeizogen, den Kindern, den Sportteams. Niemand stellte eine unmittelbare Bedrohung dar.
Wäre da nicht sein getriebenes Interesse an seiner Umgebung gewesen, getarnt mithilfe einer auf der Leserbriefseite aufgeschlagenen Zeitung, womöglich hätte er keinen Blick auf den an der Wand befestigten Fernseher geworfen. Eilmeldung: Die Polizei hatte auf zwei Grundstücken Razzien durchgeführt, dabei auf dem ersten einen Mann festgenommen, auf dem zweiten einen Mann erschossen. Der Name des Toten war Leon Pepper und sein Bruder – Jack Pepper, 27, vermutlich bewaffnet und gefährlich – war auf der Flucht.
Ein weiterer Mann unterstützte die Polizei bei ihren Ermittlungen.
Wyatt dachte darüber nach. Jemand hatte gequatscht. Der Speedkopf, Syed Ijaz? Würde er Namen ausspucken? Wyatts im Speziellen? Außerstande den Nachrichtensprecher zu verstehen im Lärm der wartenden Passagiere, die sich um Kleinkinder kümmerten, mit Zeitungen raschelten oder mit ihren mobilen Geräten hantierten, konzentrierte sich Wyatt auf den Bildschirm. Eine Laufschrift am unteren Bildschirmrand, Bildmaterial von einer Straße: ein Haus, Streifenwagen, Polizisten in Uniform und Zivilfahnder. Dann Jack Peppers Gesicht, bildschirmfüllend. Er sah gehetzt aus, halb wahnsinnig, hob sein Glas bei irgendeinem gesellschaftlichen Ereignis, seine schwarze Fliege verrutscht.
Danach ein neuer Bericht: Ein Mann, verkleidet als Wachmann und mit einem Geldtransporter unterwegs, hatte in den Vororten an der Küste südöstlich des Stadtzentrums einen umfangreichen Raub verübt. Es wurde als eigenständige Meldung gebracht, aber Wyatt wusste es besser.
Der gemeinsame Nenner war Stefan Vidovic.
Sein Flug wurde aufgerufen und er ging an Bord. Ein Mann namens John Sandford, der zu nichts Auffälligem neigte, ein Mann, den man nicht sonderlich beachtete. Das war der kritische Moment, wenn die Polizei möglicherweise am Flugsteig herumlungerte oder im Flugzeug selbst. Er machte seinen Platz am Gang ausfindig und setzte sich aufrecht hin, angespannt. Business Class, wie immer. Sitze und Gang waren großzügiger und lagen näher am vorderen Einstieg. Außerdem wurden Passagiere der Business Class seitens der Fluglinien geschätzt und nicht für Mörder und Diebe gehalten – ein psychologischer Vorteil, der ihm vielleicht ein paar Sekunden physischen Vorsprungs gab, sollte die Polizei kommen, um ihn abzuholen. Beim Start setzte er sich Kopfhörer auf, um sich gegen eine Unterhaltung mit dem Mann neben ihm zu wappnen.