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Der dritte Fall für die Neuen im Klever K1. Während der schier endlosen sommerlichen Hitzeperiode spielt zuerst ein durchgeknallter Taxiräuber mit den Beamten Katz und Maus, dann entwickelt sich ein vermeintlich alltäglicher Scheckkarten-Betrug zu einem verzwickten Mordfall, der den Mitarbeitern des K1 alles abverlangt. Für Hauptkommissar Fritz Alt wird die Angelegenheit sehr schnell zum Alptraum, zum schwersten Fall seines Lebens, denn er ist in besonderer Weise persönlich involviert. Dennoch leitet er weiterhin die Ermittlungen und muss schließlich, als ein zweiter Mordanschlag geschieht, alles riskieren, sogar seine bedrufliche Zukunft, um den Täter rechtzeitig zu entlarven.
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Seitenzahl: 399
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Für Hilde
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
KAPITEL DREISSIG
Die brütende Hitze in dem Raum war kaum zu ertragen. Die alte Frau sprach mit leiser Stimme. Plötzlich wurde sie von der jüngeren unterbrochen, die ihre rechte Faust mit solcher Gewalt auf die Tischplatte krachen ließ, dass das ganze Haus zu erzittern schien. Auch die beiden Wespen, die bislang offenbar gelangweilt an der Decke herumgewuselt waren, blickten sich verblüfft an.
»Ihr hättet es mir sagen müssen!«, rief die jüngere Frau in schrillem Ton. »Müssen!«, wiederholte sie, wobei ihre Stimme sich überschlug.
»Anfangs warst du zu jung, um es zu verstehen, später haben wir den richtigen Zeitpunkt verpasst«, erklärte die alte Frau müde. »Ja, es war ein Fehler, aber nun ist es nicht mehr zu ändern«, setzte sie resigniert und müde hinzu.
Daraufhin schwiegen beide Frauen. Bereits nach kurzer Zeit erfüllte eine beklemmende Stille den Raum, eine Stille, der durch das unregelmäßige Brummen der Wespen etwas Bedrohliches anhaftete.
Die sommerliche Hitze hatte auch den Niederrhein fest im Griff, so fest wie lange nicht mehr. Aber nicht nur in der Region zwischen Krefeld und Kleve, zwischen Duisburg und Emmerich, sondern in nahezu ganz Mittel- und sogar weiten Teilen Nordeuropas wurde das Wettergeschehen nun bereits seit Monaten von eng aufeinanderfolgenden stabilen Hitzehochs beherrscht mit Temperaturen von oft deutlich über 30 Grad.
Die Menschen am Niederrhein nahmen mit Verwunderung zur Kenntnis, dass gerade in ihrer Umgebung die deutschlandweit höchsten Werte gemessen wurden und nicht etwa im klimagünstigen Oberrheintal oder im eher kontinental geprägten Großraum Berlin.
Normalerweise hebt es die Laune, wenn man frühmorgens beim ersten Blick aus dem Fenster die Sonne von einem wolkenlos blauen Himmel strahlen sieht und so den Tag beginnt. Doch bei Oberkommissar Siegfried Heise war das Gegenteil der Fall.
Der Mittvierziger, von eher kleiner, stämmiger Statur, mit einem rundlichen Gesicht und mittellangen schwarzen Haaren wohnte am Stadtrand von Xanten und arbeitete seit etlichen Jahren im K1 in Kleve. Dort lief er unter dem Spitznamen ›Holmes‹, nicht nur, weil er den seiner Meinung nach ›größten Ermittler aller Zeiten‹ stets als sein Vorbild angab, sondern weil auch er dem messerscharfen Verstand und dem analytischen Denken oft den Vorzug einräumte gegenüber übertriebener Wissenschaftsgläubigkeit, wie er es nannte.
Heise war ohnehin kein Freund allzu hoher Temperaturen, aber die derzeitige Hitzewelle nervte ihn ganz besonders. »Für viele scheint das Leben sich momentan auf den Aufenthalt im Schwimmbad und nachher abends im Biergarten zu reduzieren. Mit Hunderten anderer um eine handtuchgroße Fläche auf der Liegewiese oder um einen Stehplatz im lauwarmen Wasser zu kämpfen und sich später bei immer lauter werdendem Geräuschpegel grölend dem Bierkonsum hinzugeben, nein: Dieses Mistwetter ist wirklich nur etwas für Doofe!«
Mit dieser in den vergangenen Wochen und Monaten häufig geäußerten Meinung war Heise vielfach auf Unverständnis und Kopfschütteln, jedoch durchaus auch auf Zustimmung gestoßen.
In Heises Nachbarschaft gab es einige eingefleischte Sonnenanbeter, meistens -anbeterinnen, die bereits an den ersten halbwegs warmen Tagen im April mehr dreiviertel- als halbnackt auf dem Balkon der Sonne zugewandt lagen, um ihre Haut bräunen zu lassen. Der Hautkrebs lässt grüßen, war dann Heises Gedanke.
»Wann wird es diesen Helioten – eine Wortschöpfung seines Kollegen Hinrichs – endlich einmal zu viel?«, fragte Heise sich immer wieder.
Tatsächlich war der Stimmungsumschwung bereits in vollem Gange. Vielen Leuten reichte die Hitze jetzt und die negativen Auswirkungen offenbarten sich von Tag zu Tag deutlicher: Die Menschen schliefen schlecht oder gar nicht, reagierten tagsüber zunehmend gereizt und aggressiv. Dies zeigte sich im Straßenverkehr an einer Zunahme der Unfälle oder der Streitereien um Parkplätze und Vorfahrtsregeln.
Die Bauern jammerten noch mehr als sonst, sprachen von schweren Ernteverlusten aufgrund der immensen Trockenheit und drohten deutlich höhere Preise für ihre Erzeugnisse an.
Man konnte sich wirklich kaum erinnern, wann es zuletzt nennenswerten Niederschlag gegeben hatte, abgesehen von einigen wenigen Gewitterschauern innerhalb der nicht enden wollenden Hochdruckwetterlage. Die Hitze in Verbindung mit der extremen Trockenheit sorgte für eine große Waldbrandgefahr, etliche Forstgebiete mussten bereits gesperrt werden. Kleinere Bäche und Seen trockneten aus, die Lebewesen darin kamen um.
Die Behörden riefen die Bürger zum sparsamen Umgang mit Wasser auf, man solle lieber die Straßenbäume gießen als seinen üppig grünen Rasen täglich zu bewässern.
Nahezu täglich hörte man von Badeunfällen, bei denen sich überhitzte und oft auch alkoholisierte Körper in eines der am Niederrhein sehr häufigen Baggerlöcher des Kiesabbaues stürzten und damit in Lebensgefahr gerieten. Auch die Zahl der Hitzetoten stieg dramatisch an. Insbesondere Alte und Kranke waren die Opfer. Oft nahmen sie nicht genügend Flüssigkeit zu sich und lebten allein in völlig überhitzten Dachwohnungen ohne Balkon und Klimaanlage, wo die Werte auch nachts deutlich über 30 Grad lagen.
Menschen, die in Kühlhäusern arbeiteten, wurden allgemein beneidet, im Straßenbau oder Fabrikhallen Tätige hingegen bedauert.
Das darf doch nicht wahr sein! Noch keine halb acht und schon wieder 28 Grad. Wann hört dieser Mist endlich auf?«, ereiferte sich Klaas Hinrichs bei einem Blick auf das Außenthermometer in der Ferienwohnung in Olversum bei Tönning in Nordfriesland.
»Es ist wirklich nicht mehr auszuhalten!«, pflichtete Petra Hinrichs ihrem Mann bei. »Heute sind wir den vierten Tag hier und das ist mein letztes frisches Shirt, alle anderen sind bereits durch, verschwitzt, feucht, muffelig. Wenn es hier nur eine Waschmaschine gäbe!«
Hinrichs blickte seine Frau grinsend an, insbesondere ihren wohlproportionierten Oberkörper und meinte dann: »Ich wüsste da eine ganz einfache Lösung.«
Da sie den Humor ihres Mannes bereits seit vielen Jahren kannte, erwiderte sie nur: »Du meinst doch wohl nicht. . .?«
»Genau«, unterbrach er sie. »Deine Shirts und Tops stehen dir natürlich ausgezeichnet, aber noch viel besser gefällst du mir ohne sie!« Augenzwinkernd setzte er hinzu: »Viele Zeitgenossen und –genossinnen laufen derzeit äußerst spärlich bekleidet herum, ohne es sich aufgrund ihrer Figur im Geringsten leisten zu können. Man würde ihnen am liebsten einen Sack überstülpen, um die Augen von dem gruseligen Anblick zu befreien. Bei dir ist das natürlich ganz anders!«
Der Kriminaloberkommissar des Klever K1 und seine Frau, die die Stadtbücherei in Kleve leitete, hatten gehofft, an der Nordseeküste für eine Woche der lähmenden Hitze des Niederrheins entfliehen und die kühle Meeresbrise genießen zu können. Doch die Enttäuschung hatte sie bereits am Tag ihrer Ankunft überfallen. Die im Vergleich zum Niederrhein um etwa zwei Grad niedrigeren Temperaturen brachten kein bisschen Erleichterung und vor allem: Die erhoffte kühle Brise von der Nordsee war absolut nicht zu spüren. Im Zuge der Hochdruckwetterlage kam die nur schwache Luftbewegung aus östlicher Richtung vom Land her, also trocken und sehr warm.
Selten hatte man Klaas Hinrichs so übelgelaunt erlebt. Der knapp über vierzig-Jährige war mittelgroß und schlank mit fast glatzenartig kurzen Haaren und einem Kinn- und Oberlippenbart. Sein Gesichtsausdruck hatte oft etwas Schelmisches, Hinrichs galt als der Stimmungsmacher im K1, ein total extrovertierter Typ, der seine Kollegen immer wieder mit seinen Witzchen und Wortspielen aufheiterte, manchmal allerdings auch nervte.
»Und jetzt?«, hatte er kurz nach der Ankunft gefragt. »Fahren wir wieder heim?«
»Jetzt sind wir hier und machen das Beste daraus!«, hatte Petra Hinrichs entschieden und hinzugefügt: »Du hast dich doch so sehr auf deinen Heimaturlaub gefreut.« Klaas Hinrichs stammte nämlich von der Halbinsel Eiderstedt, hatte seine Kindheit und Jugend in Garding verbracht, gar nicht weit entfernt von ihrem derzeitigen Domizil. Er arbeitete inzwischen bereits seit mehr als 15 Jahren bei der Kripo in Kleve und fühlte sich dort sehr wohl.
So versuchten die beiden, das Beste aus dem ›Mistwetter‹ zu machen, indem sie morgens zeitig aufbrachen und ausgedehnte Fahrradtouren unternahmen. Der erhoffte etwas Kühlung verschaffende Fahrtwind stellte sich jedoch nicht ein. In der Mittags- und frühen Nachmittagszeit blieb außer einer stundenlangen Siesta mit Dösen und Herumtrödeln wenig Sinnvolles zu tun. Selbst zum Lesen war es zu heiß. Ein Wetter für Doofe, da hat Holmes schon recht, dachte Hinrichs immer wieder.
Abends standen dann Besuche auf dem Programm. Hinrichs´ Eltern, inzwischen über siebzig, lebten nach wie vor in Garding, sein Bruder Hauke wohnte mit seiner Familie im nahegelegenen Husum. Alle freuten sich, denn Besuche in der alten Heimat waren in den vergangenen Jahren für Klaas Hinrichs höchst selten gewesen.
Um kurz nach neun Uhr waren Klaas und Petra Hinrichs schon ein ganzes Stück weit Richtung Westerhever unterwegs, wo sie Deutschlands bekanntesten und meist fotografierten Leuchtturm besuchen wollten. Klaas Hinrichs kannte und liebte die tischebene Landschaft der Halbinsel Eiderstedt seit frühester Kindheit. Ein Grund, warum er sich am Niederrhein direkt wohlgefühlt hatte, war zweifellos die Ähnlichkeit der Region mit seiner alten Heimat, die Weitläufigkeit, die großen Grünlandgebiete. Jetzt aber traute er seinen Augen nicht: Die saftig grünen Viehweiden hatten eine unheilvolle gelblichbraune Farbe angenommen. Hinrichs kam es so vor, als blickten auch die Milchkühe und Schafe verständnislos und besorgt auf den Untergrund, der ihnen nicht die gewohnte Nahrung bieten konnte. Da werden auf die Bauern hohe Kosten zukommen für den Kauf von Futter, dachte Hinrichs.
Petra Hinrichs wischte sich gerade zum wiederholten Mal den Schweiß aus dem Gesicht, als sich plötzlich ihr Handy meldete. Im Display erkannte sie, wer da anrief: Sabine Eichhorn, ihre Stellvertreterin in der Leitung der Bücherei. Da wird doch nichts passiert sein, dachte sie besorgt, Blitzeinschlag, Feuer oder dergleichen. Sie spürte, wie Panik in ihr hochstieg, als sie fragte: »Hallo Sabine, was gibt es denn?«
Die ersten hastigen Worte der Kollegin beruhigten sie jedoch sofort, verwunderten sie allerdings auch, denn Sabine Eichhorn wollte nicht sie selbst, sondern ihren Mann sprechen, den Kriminalpolizisten um Rat fragen. Sie wirkte ausgesprochen nervös, ihre Stimme schien sogar leicht zu zittern.
Den Grund für die Aufregung der Frau erfuhr Klaas Hinrichs sehr bald. Am Ende des Gesprächs meinte er: »Ich werde sofort meine Kollegen anrufen und mich dann in ein paar Minuten wieder melden. Versprochen!«
Zu seiner Frau, die mitgehört hatte, sagte er: »Ganz schön durcheinander, das Eichhörnchen.« Dann wählte er die Nummer des K1 in Kleve.
Die Hitze blieb auch nicht ohne Auswirkungen auf die täglichen Arbeitsabläufe des Klever Kommissariats. Die allmorgendliche Teamsitzung des K1 fand normalerweise im Büro des Alten Fritz statt. So wurde Fritz Alt, der Erste Kriminalhauptkommissar und Chef des K1, von allen nur genannt. Er war Anfang 50, mittelgroß und sportlich. Die welligen und immer nach hinten gekämmten schwarzen Haare wiesen bereits etliche graue Strähnen auf, der Bart war ober- und unterhalb der Lippen noch schwarz, an den Seiten und am Kinn jedoch fast übergangslos grau. Alt leitete das K1 seit etwa sieben Jahren. Er stammte aus Dortmund und war seit frühester Jugend begeisterter BVB-Anhänger. Am Niederrhein hatten er und seine Frau Gabi, die in der Klever Innenstadt zusammen mit einer Freundin ein Fotostudio betrieb, sich schnell eingelebt und heimisch gefühlt. Das im Vergleich zum Ruhrgebiet deutlich ruhigere und weniger hektische Leben hatten beide von Anfang an als höchst angenehm empfunden.
Das Büro des Alten Fritz war erstens recht klein und lag zweitens nach Osten, also der Morgensonne ausgesetzt. Zu anderen Zeiten empfanden alle die Atmosphäre in dem kleinen Raum, der nicht einmal genügend Sitzmöglichkeiten für sämtliche K1-Mitglieder bot, als höchst angenehm und gemütlich, im Gegensatz zum modernen Großraumbüro, welches als unpersönlich und kalt angesehen wurde. Im Augenblick jedoch konnte der große, neue Raum mit seiner Klimaanlage punkten, sodass man sich bereits seit Wochen jeden Morgen dort traf.
Außer Alt, Heise und Hinrichs gehörten Kriminalkommissar Jens Marquardt und die Kriminalassistentin Heike Buschkamp zum Team. Ihre Aufgabe bestand in der Aktenführung, der Recherche am PC, im Führen von Telefonaten, kurz es umfasste alles Organisatorische.
Jens Marquardt stammte aus Düsseldorf, hatte sich nach einem Studium der Wirtschaftsinformatik erst spät der Polizei zugewandt. Zwei Jahre zuvor hatte er im Zuge seiner Kommissarsausbildung ein Praktikum im Klever K1 absolviert. Dabei war er dermaßen positiv aufgefallen, sowohl fachlich als auch menschlich, dass Fritz Alt bei der Schaffung der neuen Planstelle direkt an Jens Marquardt gedacht hatte und ihn unbedingt in sein Team holen wollte. Der 30-Jährige war mittelgroß und schlank, wirkte durchtrainiert. Er hatte ein rundliches Gesicht mit blauen Augen und kurzen schwarzen Haaren.
Auch an diesen heißen Tagen durften sich die Beamten der Klever Kripo keineswegs über einen Mangel an Arbeit beklagen. Die Zahl der Metalldiebstähle hatte zwar abgenommen, hingegen war bei den Wohnungseinbrüchen eine deutliche Zunahme zu verzeichnen. »Das ist ja auch kein Wunder!«, hatte Oberkommissar Heise kommentiert. »Viele Leute laden die Ganoven geradezu ein, indem sie nachts ihre Balkon- oder Terrassentüren offen lassen, um sich ein klein wenig Kühlung zu verschaffen.«
»Kühlung in tropischen Nächten bei Temperaturen von 25 Grad?«, hatte Fritz Alt zweifelnd gemeint.
»Immerhin, lieber 25 als 35 Grad!«
»Jedenfalls sollten die Leute dann gleich ihr Bargeld und sämtliche Wertgegenstände auf den Balkon oder die Terrasse legen, damit die Einbrecher es noch einfacher haben«, war der sarkastische Kommentar von Klaas Hinrichs gewesen.
»Zum Tagesgeschäft!«, sagte Fritz Alt. »Ihr wisst ja, dass wir bei den Geldautomaten-Sprengungen so gut wie gar nicht vorankommen. Morgen findet das nächste Treffen der Koordinationsgruppen statt, bei unseren Nachbarn in Eindhoven. Zu dem Wenigen, was wir über die Täter wissen, gehört, dass sie von den Niederlanden aus operieren, aus etwa 400 meist jungen Männern vorwiegend nordafrikanischer Herkunft bestehen und in dunklen, meist schwarzen PS-starken BMWs unterwegs sind. Über deren Organisationsstruktur allerdings. . . « Das Telefon meldete sich und unterbrach Fritz Alt, Heike Buschkamp nahm ab. »Guten Morgen Klaas, das ist ja eine Überraschung!«, hörten die anderen sie sagen. »Hast du Sehnsucht nach uns oder was verschafft uns die Ehre?« Wenig später reichte sie das Telefon weiter an Siegfried Heise, der mit erstauntem Gesichtsausdruck eine Zeitlang zuhörte und dann meinte: »Sag ihr, sie soll in einer halben Stunde im Präsidium sein und sich bei Oberkommissar Heise im K1 melden!«
Die fragenden Blicke der anderen beantwortete er mit einer kurzen Erklärung: »Eine Arbeitskollegin von Petra in der Bücherei hat offenbar Ungereimtheiten beim Konto ihrer Mutter festgestellt und Klaas um Hilfe ersucht. Ich werde mich zusammen mit Jens darum kümmern.«
»In Ordnung!«, erwiderte Fritz Alt, der sich dann in Richtung seines Büros begab. »Ich habe ohnehin noch eine ganze Menge Papierkram zu erledigen.«
Bald darauf saßen Heise und Marquardt im Besprechungsraum Frau Eichhorn gegenüber. Heise schätzte die Besucherin auf Mitte dreißig. Sie war von mittelgroßer Gestalt und wirkte äußerst attraktiv, wenngleich ihr ausgesprochen hübsches Gesicht, von wallenden blonden Haaren umgeben, sehr auffällig geschminkt erschien und die vollen sinnlichen Lippen eine Spur zu viel blutroter Farbe erhalten hatten. Bekleidet war sie mit einer weißen Leggings und einem schlichten roten Top. Das Bemerkenswerteste an der Frau stellten jedoch ihre Augen dar, hellblau und von einer Leuchtkraft, wie sie weder Heise noch Marquardt jemals erlebt hatten. Der Faszination dieser Augen vermochte man sich kaum zu entziehen.
»Dann erzählen Sie uns bitte, was Sie so sehr beunruhigt«, wandte sich Heise an Frau Eichhorn, nachdem man sich vorgestellt hatte.
Sie schien kurz zu überlegen, dann sprach sie mit einer weichen, angenehmen Stimme: »Vom Girokonto meiner Mutter ist Geld verschwunden. Innerhalb der vergangenen Woche wurden bei sieben Abhebungen insgesamt 3500 Euro abgebucht. Ich habe das Konto natürlich sofort sperren lassen.«
»Entschuldigen Sie bitte die Zwischenfrage«, unterbrach Heise. »Nur damit wir Sie richtig verstehen: Ihre Mutter selbst kann das Geld nicht abgehoben haben?«
»Nein, auf keinen Fall! Sie ist 80 und stark gehbehindert. Sie kann seit Monaten ihre Wohnung im 1.Stock nicht mehr verlassen, und wenn, dann nur mit Hilfe von mir und einer Nachbarin, für Arztbesuche beispielsweise. Ich erledige bereits seit zwei Jahren ihre Bankgeschäfte, begleiche ihre Rechnungen, hebe Geld ab und so weiter.«
»Dann besitzen Sie also eine Kontovollmacht, die Ihnen einen vollständigen Zugriff auf das Konto Ihrer Mutter und sämtliche Geldbewegungen erlaubt«, stellte Heise fest.
»So ist es, mit eigener EC-Karte natürlich!«
»Nochmal zur Klarstellung: Weder Sie selbst noch Ihre Mutter haben diese Abhebungen getätigt. Wer hat außer Ihnen noch Zugriff auf das Konto?«
»Niemand!«
»Auch Ihr Gatte nicht?«
»Nein! Außerdem hat er sich nie darum gekümmert. Es war immer schon meine Angelegenheit.«
»Gibt es nähere Einzelheiten zu den Auszahlungen?«, fragte Heise.
Frau Eichhorn griff in ihre Handtasche und holte ein paar Papiere hervor. »Hier bitte! Ich habe mir die Kontoauszüge ausdrucken lassen. Sehen Sie selbst!« Sie überreichte Heise die Bögen.
»Da sieht man die exakten Daten und Uhrzeiten der einzelnen Vorgänge. Gut!«, stellte Heise fest. »Das werden wir überprüfen.« Dann wandte er sich wieder direkt an die Frau: »Haben Sie Ihre Mutter schon über die Sache informiert, Frau Eichhorn?«
»Nein, ich wollte auf jeden Fall zuerst zur Polizei, bevor ich ihr davon berichte. Wissen Sie, sie wird sich in ihrem Alter garantiert furchtbar aufregen. Ich weiß noch gar nicht so genau, wie ich es ihr möglichst behutsam beibringen kann.«
»Noch etwas«, erwiderte Heise. »Wissen Sie, wo Ihre Mutter die EC-Karte aufbewahrt?«
Frau Eichhorn antwortete direkt, ohne überlegen zu müssen: »In einem abgeschlossenen Fach des antiken Wohnzimmerschrankes. Der dazugehörige Schlüssel befindet sich gut versteckt in der Zuckerdose im Küchenschrank.«
Sie hatte das leichte Schmunzeln in Heises Gesicht offenbar bemerkt, denn sie setzte hinzu: »Ja, meine Mutter ist sehr vorsichtig und misstrauisch.«
»Verstehe!«, entgegnete Heise und fuhr fort: »Dann wäre es sinnvoll, wenn Sie uns nach dem Besuch bei Ihrer Mutter kurz mitteilen, ob sich die EC-Karte noch in dem Versteck befindet.«
»Wird gemacht!«
»Wissen Sie, wer außer Ihnen noch Zugang zu der Wohnung hat, möglicherweise über einen Schlüssel verfügt? Andere Familienmitglieder vielleicht?«
»Es gibt da noch eine Schwester, aber die ist ebenfalls alt und krank und lebt in einem Altenheim bei Aachen. Aber die Frau aus der Wohnung im Erdgeschoss hat einen Schlüssel. Aufgrund ihrer Gehbehinderung erhält meine Mutter Pflegegeld als Leistung der Pflegeversicherung. Den Großteil dieses Geldes bekommt diese Frau Jensen, in erster Linie für häusliche Arbeiten wie Putzen, Waschen, Abstauben und auch fürs Einkaufen.«
»Kennen Sie die Frau näher?«, fragte Heise nachdenklich.
»Ich weiß nur, dass sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter im Erdgeschoss wohnt, bin ihr natürlich ein paar Mal bei meiner Mutter begegnet. Ich muss sagen: Ich mochte sie nicht besonders, fand sie unsympathisch.«
Heise blickte Frau Eichhorn direkt an. »Würden Sie ihr einen solchen Diebstahl zutrauen?«, fragte er dann.
»Ich kann es nicht sagen, eigentlich nein.«
»Eigentlich?«
»Ich kann es mir nicht vorstellen.«
»Nun gut«, meinte Heise nach kurzer Überlegung. »Sie sollten jetzt erst einmal Anzeige erstatten, Frau Eichhorn! Wie der Begriff es bereits ausdrückt, zeigen Sie damit eine Straftat an, melden sie sozusagen, damit wir Ermittlungen aufnehmen können, besser gesagt: müssen. Mein Kollege hat Ihre Angaben mitgeschrieben. Sie dürfen sich dieses Protokoll gleich durchlesen und unterschreiben, sofern Sie mit dem Inhalt einverstanden sind.«
Frau Eichhorn nickte.
»Dann nennen Sie uns bitte Ihren vollständigen Namen, das Geburtsdatum, die Adresse und so weiter.«
Kaum hatte die Besucherin wenige Minuten später den Raum verlassen, als Jens Marquardt seinen Kollegen direkt anblickte und dann grinsend feststellte: »Ich habe es genau gesehen: Du bist also auch zusammengezuckt bei der Nennung ihres Geburtsdatums!«
»Ich gebe es zu«, erwiderte Heise. »Dass sie schon 47 ist, hätte ich nie für möglich gehalten!«
»Höchstens Mitte, vielleicht sogar Anfang 30 dachte ich!« Marquardt konnte sich kaum beruhigen.
»Nun ja, aufgefärbte Haare, perfektes Make-up und ein auffallender Lippenstift können so manches bewirken«, erklärte Heise in gewohnt sachlich-ruhigem Ton. »Außerdem hätte uns auch das Alter der Mutter, immerhin 80, zu denken geben müssen. Da kann auch die Tochter nicht mehr allzu jung sein.«
»Alles richtig, aber gefärbte Haare, Schminke und Lippenstift machen es nicht alleine. Diese Frau besaß zudem eine Ausstrahlung, die sie weitaus jünger erscheinen ließ als sie wirklich war. Und ihre Figur ist absolut top!«
»Zugegeben«, meinte Heise. »Aber was denkst du über ihre Anzeige?«
Der Kriminalkommissar überlegte kurz, bevor er antwortete: »Wenn wir einmal davon ausgehen, dass Frau Eichhorn uns die Wahrheit erzählte, das Geld also nicht selbst abgehoben hat, dann bleibt nur eine Möglichkeit: Irgendjemand ist unrechtmäßig in den Besitz der Karte gelangt und hat damit das Konto um satte 3500€ erleichtert.«
Heise blickte seinen Kollegen skeptisch an. »Es existiert durchaus noch eine dritte Möglichkeit, nämlich, dass die Mutter jemandem die Karte gegeben und diese Person beauftragt hat, die Abhebungen vorzunehmen.«
»Aber warum?«, fragte Marquardt. »Außerdem stellt sich die Frage nach der Geheimnummer!«
Achselzucken bei Heise. »Hoffen wir mal, dass die Frau uns nach dem Besuch bei der Mutter mehr berichten kann.«
Dann sah er sich die von Frau Eichhorn übergebenen Blätter noch einmal genau an. »Wie aus den Kontoauszügen ersichtlich ist, wurde das Geld an insgesamt fünf verschiedenen Zweigstellen der Sparkasse Rhein- Maas abgehoben. Dort werden ganz bestimmt Überwachungskameras installiert sein. Das dürfte uns die Arbeit enorm erleichtern«, stellte Heise fest.
Er machte eine Pause, blickte seinen Kollegen an und fuhr fort: »Könntest du die Sparkasse kontaktieren, ich habe ja gleich noch einen Termin wegen des Taxifalls.«
Wenige Tage zuvor war ein Überfall auf einen Taxifahrer geschehen. Der Täter hatte den Fahrer mit einem auffällig langen Messer bedroht und die Herausgabe des Geldes erzwungen. Aus Angst getötet zu werden hatte er die Geldbörse mit rund 500 Euro dem Angreifer ausgehändigt. Leider hatte das unverletzt gebliebene Opfer den Täter nicht allzu konkret beschreiben können: mittlere Größe, dunkle Haare, deutsch ohne Akzent. Eins war ihm jedoch deutlich in Erinnerung geblieben: Der Mann hatte ein auffälliges T-Shirt getragen, dunkelgrün mit weißen Großbuchstaben POZILEI auf Brust und Rücken. Einen Moment lang war der Taxifahrer zuerst sogar auf die optische Täuschung hereingefallen und hatte gedacht, der Fahrgast sei Polizist. Das weitere Verhalten des Mannes hatte ihn jedoch sehr bald eines Besseren belehrt. Als Fahrziel hatte der Räuber Rindern angegeben.
Heike Buschkamp war darauf angesetzt worden, das merkwürdige T-Shirt aufzuspüren. »Solch ein Ding gibt es ja bestimmt nicht in jedem Bekleidungsgeschäft an der Ecke zu kaufen!«, hatte Fritz Alt festgestellt. Doch bislang war Heikes Recherche erfolglos geblieben.
Es hatte immerhin einige Hinweise aus der Bevölkerung gegeben, mehrere Zeugenaussagen wollten einen Mann in dem auffälligen T-Shirt gesehen haben. Oberkommissar Heise machte sich auf den Weg, während Jens Marquardt mit der Sparkasse Kontakt aufnehmen wollte. Dazu kam es jedoch nicht, denn Heike Buschkamp eilte herbei. »Überfall auf einen Taxifahrer in der Materborner Allee!«, rief sie und ergänzte: »Holmes ist schon unterwegs dorthin.«
Wenige Minuten später erreichte Marquardt den Tatort in der Nähe des Sportplatzes. .
»Dieses Mal scheint der Täter rabiater vorgegangen zu sein«, erklärte Heise. »Da der Taxifahrer sich zunächst weigerte, das Geld herauszugeben, brachte der Täter ihm eine Stichverletzung bei, und zwar stach er mit einem Messer in die rechte Schulter des Fahrers. Daraufhin übergab dieser das Geld. Das Opfer wurde zur Behandlung ins Antonius gebracht!«
»Handelt es sich um denselben Täter wie vorgestern?«, wollte Marquardt wissen.
»Das wissen wir noch nicht. Der Fahrer war bereits abtransportiert, als ich ankam. Ich habe mich hier umgehört, versucht, mögliche Zeugen aufzutreiben, aber leider erfolglos. Von den hier herumstehenden Schaulustigen hat keiner etwas gesehen, vor allem nicht den Täter, als er das Taxi verließ!«
»Dann können wir nur auf den Fahrer hoffen. Vielleicht kann der uns weiterhelfen!«, erwiderte Marquardt.
»Die Spurensicherung ist übrigens unterwegs. Ich hoffe auf Fingerabdrücke und DNA-verwertbares Material.«
»Aber bei der Vielzahl der Fahrgäste dürften etliche Abdrücke zusammenkommen«, wandte Marquardt ein. »Die alle abzugleichen wird ganz schön mühsam.«
Heise überlegte kurz. »Ich fahre ins Krankenhaus, um den Taxifahrer zu befragen und du begibst dich zur Bäckerei Wöhler in der Hoffmannallee. Eine Verkäuferin, Frau Derichs, hat den möglichen Täter dort kurz vor dem
ersten Überfall gesehen.«
»In Ordnung!«
Als Heise bald darauf im Antonius-Krankenhaus ankam, fragte er sich nach dem kürzlich eingelieferten Taxifahrer durch und erhielt wenig später Auskunft vom behandelnden Arzt. Dr. Singer erklärte, die Wunde des Mannes sei versorgt. Es handele sich zwar um keine ernstliche Verletzung, doch wegen des hohen Blutverlustes werde man Herrn Yilderim sicherheitshalber eine Nacht dabehalten. Das anschließende Gespräch mit dem Taxifahrer selbst begann dieser mit den Worten: »Das war schon ein komischer Vogel!«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Heise nach.
»Naja, ich bin von der Zentrale in die Materborner Allee geschickt worden, um dort einen Fahrgast aufzunehmen, der zum Bahnhof gebracht werden wollte. Unterwegs fragt der Typ mich, ob ich davon gehört hätte, dass letzte Woche in der Stadt ein Taxifahrer ausgeraubt wurde. Das hatte ich nicht mitbekommen. Dann zuckt der dieses lange Messer, fordert mich auf, ihm meine Geldbörse zu übergeben und sagt ›Der Taxiräuber, der bin nämlich ich!‹ Was halten Sie davon?«
»Wirklich höchst eigenartig«, kommentierte Heise.
»Und dann?«
»Zunächst weigerte ich mich, doch dann sticht der Idiot plötzlich mit dem Messer in meine Schulter. Da habe ich ihm meine Geldbörse ausgehändigt!«
Seine Beschreibung des Räubers erwies sich leider als sehr ungenau, an ein irgendwie auffälliges T-Shirt vermochte Herr Yilderim sich auch nicht zu erinnern. Nach dem Stich in die Schulter habe er vor lauter Schmerz ohnehin kaum noch etwas wahrgenommen.
Als Jens Marquardt die Bäckerei erreichte, stellte er mit einer Mischung aus Überraschung und Entsetzen fest, dass sich außer den Verkäuferinnen und ein paar Kunden noch eine dreistellige Zahl anderer Lebewesen in dem Verkaufsraum aufhielt: Wespen! Deren massenhaftes Erscheinen stellte zu dieser Jahreszeit und unter den schon lange herrschenden hochsommerlichen Temperaturen zwar nichts Ungewöhnliches dar, dennoch beschlich Marquardt ein mulmiges Gefühl. Es war zwar eine Falle aufgestellt worden, die die Wespen mit kaltblau schimmerndem Licht und vermutlich damit verbundenen Süßstoffen anlocken sollte, doch die Tiere schienen sich kaum darum zu kümmern. Vielmehr saßen sie auf den besonders süßen Backwaren und labten sich daran. Voller Abscheu blickte Marquardt auf eine Auslage mit etlichen Amerikanern. Auf den Oberseiten der Teilchen krabbelten so viele Wespen umher, dass die weißliche Zuckergussschicht kaum noch zu erkennen war. Mit einem Gefühl tiefen Mitleids betrachtete Marquardt eine junge hübsche Verkäuferin, um die herum reger ›Flugverkehr‹ herrschte. Dann starrte er wieder auf die Teilchen, konnte seine Augen nicht von dem Schauspiel lösen. Wieviele Wespen werden wohl auf einem Amerikaner Platz finden?, fragte er sich. Vielleicht sogar Hunderte?
Die Stimme der hübschen Verkäuferin riss ihn aus seinen Gedanken, seine Augen waren nach wie vor auf die Amerikaner und die auf deren Oberseiten wuselnden Wespenmassen fixiert.
»Was sagten Sie, bitte?«, brachte er schließlich hervor.
»Ich fragte Sie, was Sie gerne hätten«, wiederholte die Frau und Marquardt, dessen Augen sich einfach nicht von dem überaus ekligen Anblick lösen konnten, meinte: »Was passiert, wenn ich einen Amerikaner möchte?«
Die Frau lachte, war offensichtlich Marquardts Blick gefolgt und erklärte dann: »Die da dienen nur zur Ablenkung. Die Amerikaner zum Verkauf befinden sich eine Etage tiefer in einem verschlossenen wespensicheren Fach. Möchten Sie einen?«
»Danke, nein», ich bin von der Polizei und würde gern Frau Derichs sprechen. Sind Sie das?«
»Nein, aber ich werde ihr Bescheid sagen.«
Wenig später führte ihn diese in eine etwas abgelegene und nahezu wespenfreie Nische des Verkaufsraumes, wo man sich ungestört unterhalten konnte.
»Wegen dem T-Shirt«, begann die korpulente Mittfünfzigerin und als Marquardt noch überlegte, ob er dem Genitiv zu seinem Recht verhelfen solle, redete die Frau bereits weiter. »Also, dat war so: Da kam letzten Samstag ein Mann rein, so kurz bevor wir zumachen, gegen zehn vor zwei und wollte ´n paar Brötchen un´ Hörnchen, glaube ich.«
»Können Sie den Mann beschreiben?«
»So um die vierzig Jahre, dunkle Haare, mittelgroß, normales Gesicht.«
»Normales Gesicht? Was meinen Sie damit?«
»Na nix Besonderes, eben normal!«
»Sprach der Mann deutsch, vielleicht mit einem Akzent?«
»Nee, normales deutsch. Ja un´ dann dat T-Shirt! ›PO-LIZEI‹ les´ ich zuerst un´ krieg direkt Muffensausen. Hab ich wat angestellt?, denk ich un´ seh den Mann gar nich mehr an.«
»Und dann?«
»Dann fragt der, ob ich ihm ´n Taxi rufen kann. Dat hab´ ich gemacht. Un´ als der dann bezahlt hat un´ zur Tür geht, glaub´ ich echt, ich spinne. Auf dem Shirt steht nicht ›POLIZEI‹, sondern ›POZILEI‹. Dat is alles.«
Marquardt überlegte einen Moment, bevor er fragte:
»Können Sie sich darüber hinaus vielleicht an irgendetwas erinnern, was diesen Mann betrifft? Jede Kleinigkeit kann uns helfen!«
»Nee, da war eigentlich nix.«
»Eigentlich?«
»Ich glaube, der Typ konnte gut rechnen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Noch eh´ ich den Preis für die Brötchen und Crossongs sage, legt der schon dat Geld auf´n Tisch, un´ zwar auf´ n Cent genau.«
»Aha! War zu der Zeit sonst noch jemand im Laden?«
»Ja, die Frau Holtermann. Die hat dat auch ers´ geschnallt, als der Typ zur Tür marschierte.«
Jens Marquardt klappte sein Notizbuch zu, bedankte sich bei Frau Derichs und verließ die Bäckerei mit einem Gefühl der Enttäuschung. Von der Zeugin hatte er sich viel mehr erhofft.
Als Oberkommissar Heise ins Präsidium zurückkehrte, nahm er zuerst in der Kantine eine kleine Stärkung zu sich, bevor er sich zu seinem Arbeitsplatz im Großraumbüro begab.
»Da bist du ja endlich!«, begrüßte ihn die Kriminalassistentin. »Frau Eichhorn hat mehrfach angerufen. Sie hinterließ eine Mitteilung für dich.« Damit reichte sie ihm einen Bogen, den Heise aufmerksam las.
Die EC-Karte meiner Mutter ist verschwunden! Sie befand sich nicht in der Geldkassette. Auch der Schrankschlüssel ist weg, war nicht in der Zuckerdose. Die Geheimzahl stand auf einem Zettel, der zusammen mit der EC-Karte in der Kassette lag. Dieser Zettel ist ebenfalls weg. Meine Mutter ist völlig aufgelöst, hat keine Erklärung für das Geschehene.
»Das mit der Geheimnummer war zwar extrem unvorsichtig, aber wie dem auch sei«, fasste Heise zusammen, »damit steht nun offenbar fest, dass wir es mit einem Scheckkarten-Diebstahl zu tun haben!« Nach kurzer Überlegung wandte er sich dann wieder den Taxi- Überfällen zu.
Wenig später traf auch Kommissar Marquardt ein und man tauschte die Ergebnisse aus. »Dann fürchte ich, wir haben es mit einem Serientäter zu tun«, stellte Marquardt fest. »Ich kann die Angst förmlich spüren, die jetzt unter unseren Taxifahrern umgeht.«
»Und alle erwarten, dass wir den Täter heute noch hinter Schloss und Riegel bringen«, ergänzte Heise.
»Natürlich!«, kommentierte Marquardt mit leicht ironischem Unterton und fuhr nach kurzer Überlegung fort: »Was bringt diesen Typ nur auf die völlig bescheuerte Idee, den Überfall in einem dermaßen auffälligen Shirt durchzuführen, an das sich garantiert jeder erinnert?«
Heise antwortete nicht direkt, dann sagte er: »Vielleicht war die Idee eher wohlüberlegt als bescheuert.«
»Wie meinst du das?«, staunte Marquardt.
»Ich erinnere mich da an einen Fall aus den USA. Ein überaus gerissener und erfolgreicher Gauner und Trickbetrüger hatte während seiner Aktionen stets super-sexy Frauen an seiner Seite. An diese erinnerten sich die Zeugen immer, hatten nur Augen für die Girls gehabt. Den Mann hingegen konnte kaum einer beschreiben!«
»Ich verstehe, worauf du hinauswillst«, erwiderte Marquardt. »Das Shirt sollte gleichsam die Rolle der Girls einnehmen. Beim ersten Taxifahrer und in der Bäckerei hat das ja geklappt: Man starrte auf das Shirt und ließ den Mann und sein Aussehen dabei außer Acht!«
»So in etwa«, stimmte Heise zu. »Das erschwert unsere Arbeit gewaltig. Auf konkrete Beschreibungen durch Zeugen sind wir nun einmal angewiesen.«
»Da fällt mir ein«, meinte Marquardt und wandte sich an Heike, »wie weit bist du mit dem T-Shirt gekommen?«
»Das gestaltet sich ganz schön schwierig«, erwiderte sie. »Das Kleidungsstück kann man online bei e-bay und anderen Anbietern ganz einfach und legal bestellen. Es ist in vierstelliger Zahl verkauft worden, vorwiegend in der Karnevalszeit.«
»Hm, Karneval«, murmelte Heise. »Also als Verkleidung oder als Scherzartikel.«
»Genau! Ich bin gerade dabei, die mir übermittelte Liste mit Namen und Adressen der Käufer des Shirts zu durchforsten, aber das dauert.«
»Verstehe! Dann wollen wir auch nicht weiter stören! Oder doch. Heike, kannst du bitte mit der Taxizentrale Kontakt aufnehmen und feststellen, ob sich Näheres über den Anruf zu der Fahrt des Wagens KLE-FW-57 herausfinden lässt?«
»Wird gemacht!«
»Sag mal«, wandte sich Heise nun an seinen jüngeren Kollegen, »ist es überhaupt zulässig, mit so einem T-Shirt in der Öffentlichkeit herumzulaufen?«
»Willst du mich auf die Probe stellen?«, fragte Marquardt lächelnd anstelle einer Antwort. »Wir kennen ja beide den Paragrafen 132a StGb, der sinngemäß besagt: Nur das unbefugte Tragen von Uniformen oder anderer offizieller Amtskleidung ist untersagt. Dieses bescheuerte Shirt, sogar eines mit dem richtigen Schriftzug POLIZEI, ist daher keineswegs verboten!«
Marquardt blickte auf die Uhr und stellte dann fest: »Die Sparkasse werde ich morgen als Erstes kontaktieren. Jetzt erreiche ich dort bestimmt niemanden mehr.«
»Ach ja«, bemerkte Heise. »Frau Eichhorn hat sich inzwischen gemeldet.« Dann las er ihren Bericht vor.
Marquardt schüttelte spontan den Kopf und rief aus: »Ein Zettel mit der Geheimzahl neben der EC-Karte? Ich fasse es nicht. Wie kann man nur dermaßen unvorsichtig sein?«
»Vielleicht lebte die alte Frau in der Angst, die Nummer zu vergessen und hat sie deshalb aufgeschrieben«, meinte Heise.
»Dann aber nicht direkt neben der Karte! Da gäbe es doch andere Möglichkeiten!«
Am späten Nachmittag kam Fritz Alt zu seinen Kollegen ins Großraumbüro, um die aktuelle Situation zu besprechen. Kurz zuvor hatte die Kriminalassistentin berichtet, dass das überfallene Taxi laut Angabe der Zentrale um 12.18 Uhr von einer Telefonzelle in der Innenstadt aus bestellt worden sei.
»Dann sieht ja alles danach aus, dass wir es bei den Taxi-Überfällen mit einem Serientäter zu tun haben«, stellte er fest, nachdem Heise und Marquardt ihn auf den neuesten Stand gebracht hatten.
»Das kann sein, muss aber nicht«, erwiderte Heise in seiner typisch vorsichtigen Art. »Bei dem heutigen Überfall trug der Täter kein auffälliges Shirt, außerdem wurde der Wagen wohl vom ihm selbst telefonisch bestellt und er nannte als Fahrtziel den Bahnhof und nicht Rindern.«
»Vielleicht hat er aber einfach gemerkt, dass der Trick mit dem Shirt nicht noch ein zweites Mal gelingen kann«, warf Marquardt ein.
»Fakt ist jedenfalls: Es liegt keine brauchbare Personenbeschreibung vor, beim ersten Fall glotzten Taxifahrer und Zeugen in der Bäckerei nur auf das bescheuerte T-Shirt und der heute Überfallene hat auch nur wenig Konkretes gesehen«, fasste Heise zusammen.
»Eigentlich gar nichts!« fügte Alt hinzu.
»Und jetzt?«, wollte Marquardt wissen.
»Die Presse soll uns helfen!«, erwiderte Alt. »Bei ihrer Berichterstattung sollen die Medien unbedingt mögliche Zeugen aufrufen, sich bei uns zu melden!«
»Na, hoffen wir´s!«
Das Hitzehoch hatte weiterhin ganz Deutschland fest im Griff, Sonne und blauer Himmel von früh bis spät, Temperaturen jenseits der 30 Grad. Die kühle Brise vom Meer in Nordfriesland blieb auch weiterhin reine Illusion.
Petra und Klaas Hinrichs unternahmen an diesem Tag keine Fahrradtour, ein Ausflug zur Hallig Gröde stand auf dem Programm. Dies bedeutete für die Hinfahrt zum und Rückfahrt vom Fährhafen Schlüttsiel jeweils eine gute Stunde angenehme Kühle, der Klimaanlage im Auto sei Dank! Man fuhr zunächst auf der zu jeder Tageszeit vielbefahrenen B5 bis hinter Husum, später durch die weiten Flächen des Sönke-Nissen-Koogs.
Kurz hinter Ockholm, nur noch wenige Kilometer vom Fährhafen Schlüttsiel entfernt, sorgte eine Großbaustelle für eine beträchtliche Umleitung. Grund war die Deicherneuerung in Höhe des Hauke-Haien-Koogs. Über Süder-Waygaard und Fahretoft gelangte man schließlich wieder auf die zwischen Deich und Nordbecken des Koogs verlaufende Landstraße 191 nach Schlüttsiel.
Dort angekommen sagte Klaas Hinrichs zu seiner Frau: »Ich gehe schon mal die Tickets kaufen, du kannst ja inzwischen dein Eichhörnchen befragen, ob es etwas Neues gibt.«
Kurze Zeit später kehrte Hinrichs vom Kassenhäuschen zurück. Leicht erstaunt sah er, dass seine Frau gerade ihr Handy ausgeschaltet hatte. »Wie? Schon fertig?«, fragte er mit deutlicher Ironie.
»Nichts Neues bei Sabine«, erklärte Petra Hinrichs. Bereits am Vortag hatte sie sich bei ihrer Kollegin erkundigt und die weiteren Einzelheiten erfahren.
»Ein Zettel mit der Geheimnummer neben der EC-Karte? Das darf ja wohl nicht wahr sein!«, hatte Klaas Hinrichs gepoltert, als seine Frau ihm davon berichtete. »Da wird den Leuten ständig eingehämmert, die Geheimzahl auf gar keinen Fall zusammen mit der Karte aufzubewahren. Und dann so was!« Er hatte sich kaum beruhigen können.
»Sabine hat übrigens nochmal betont, wie gut aufgehoben sie sich bei deinen Kollegen fühlt. Besonders Oberkommissar Heise mache einen äußerst kompetenten Eindruck«, berichtete Petra Hinrichs. »Wenngleich er recht zurückhaltend, ja beinahe schüchtern wirke.«
»Genauso ist er, unser Holmes«, erwiderte Klaas Hinrichs und fügte grinsend hinzu: »Besonders dem weiblichen Geschlecht gegenüber!«
Die etwa halbstündige Fahrt von seiner Junggesellenwohnung am Stadtrand von Xanten nach Kleve bedeutete auch für Siegfried Heise angenehme Kühle im klimatisierten Auto. Jens Marquardt hingegen wohnte in der Innenstadt von Kleve und kam zu Fuß ins Präsidium. Unter den derzeit herrschenden Wetterbedingungen hieß das allerdings, dass er der brütenden Sonne ausgesetzt schon durchgeschwitzt im Präsidium ankam und sich auf die Kühle des Großraumbüros freute. Innendienst war in diesen Tagen beliebter als jemals zuvor.
Außer Heise und Marquardt befand sich bei der Teambesprechung an diesem Morgen nur noch die Kriminalassistentin. Klaas Hinrichs hielt sich noch in Nordfriesland auf, der Alte Fritz in den Niederlanden.
»Also«, begann Heise, der an diesem Tag das K1 leitete, »Vorrang genießen natürlich die Ermittlungen zu den Taxi-Überfällen! Die Presse berichtet von einem gefährlichen Serientäter, der weit und breit nicht nur alle Taxifahrer in Angst und Schrecken versetzt.«
»Das war ja auch kaum anders zu erwarten«, kommentierte Marquardt.
»Andererseits finde ich die Panikmache etwas übertrieben«, meldete sich Heike zu Wort. »Immerhin reden wir nicht etwa über einen Taximörder!«
»Glücklicherweise nicht!«
»Dann wollen wir hoffen, dass uns Hinweise aus der Bevölkerung ein Stück weiterhelfen, die Presse hat auch dazu aufgerufen«, erklärte Heise. »Mögliche Zeugen der Überfälle sollen sich unbedingt melden und vor allem auch Personen, die – in welchem Zusammenhang auch immer – dieses POZILEI-Shirt gesehen haben. Der Niederrhein Kurier hat ja freundlicherweise ein Foto dieses Kleidungsstücks abgedruckt.«
»Dann hoffen wir mal!«
Nach kurzer Pause fuhr Heise fort: »Unsere Vorgehensweise für heute: Da ist noch ein Hinweis von zwei Zeugen, die einen Unbekannten beobachteten, der sich merkwürdig benahm, und zwar im Bereich des Waldgebietes, in das der Räuber nach dem Unfall flüchtete. Darum werde ich mich gleich kümmern.«
»Und ich wollte ja eigentlich bereits gestern mit der Sparkasse Rhein-Maas Kontakt aufnehmen. Das werde ich als erstes erledigen«, verkündete Marquardt.
Seine Anfrage bei dem Kreditinstitut schien den gewünschten Erfolg zu bringen. Mit Hilfe der exakten Uhrzeiten der jeweiligen Geldabhebungen sowie der Standorte der Automaten sei es kein Problem, wie Marquardt vom Sparkassen-Mitarbeiter informiert wurde. Man würde die Aufnahmen der Überwachungskameras durchsehen und sich in Kürze wieder melden.
Das geschah tatsächlich nach kaum mehr als einer Stunde. »An den Automaten in der Ferdinandstraße in Kellen und in der Ludwig-Jahn-Straße sind die Bilder leider recht unscharf und verwischt«, berichtete Herr Haubrach. »Aber auf dem Bild aus der Flurstraße dürfte die betreffende Person deutlich erkennbar sein. Ich schicke Ihnen alles per Mail!«
Marquardt bedankte sich für die schnelle Hilfe. Bald darauf hielt er die ausgedruckten Fotos in den Händen. Die meisten waren tatsächlich so verwischt, dass sie als unbrauchbar bezeichnet werden mussten. In dem Zusammenhang fiel dem jungen Kommissar wieder eine lustige Begebenheit aus der Vorwoche ein. Heise hatte irgendwo gelesen, routinierte Scheckkarten-Betrüger würden sich beim Abhebevorgang ständig hin und her bewegen, um den Überwachungskameras keine Chance auf ein scharfes Bild zu erlauben.
»Dann brauchen wir also bei Geldautomaten nur noch aufzupassen, wer ständig in tänzelnden Bewegungen von einem Bein aufs andere hüpft«, hatte Marquardt kommentiert.
»Damit wir wissen, wer ganz dringend eine Toilette aufsuchen muss«, war der Kommentar von Klaas Hin richs gewesen, der allgemeines Gelächter ausgelöst hatte.
Aber ein brauchbares Foto war ja dabei. »Dich kriegen wir!« wandte sich Marquardt an das Bild, auf dem eine etwa 50-jährige Frau mit auffallend rundem Gesicht und recht kurzen roten Haaren zu sehen war.
In der Stadtbücherei Kleve wurde Frau Eichhorn mitgeteilt, dass es Neuigkeiten bezüglich des Kontos ihrer Mutter gebe. Mehr wollte Jens Marquardt am Telefon nicht sagen. Stattdessen bat er die Frau, gegen 15 Uhr ins Präsidium zu kommen. Sie sagte zu, ihre angespannte Neugier schien sogar durch die Telefonleitung spürbar zu sein.
Siegfried Heise suchte zuerst das ältere Ehepaar auf, welches den mutmaßlichen Taxiräuber am Samstag gesehen hatte. Die Wohnung der alten Leute war komplett abgedunkelt, alle Jalousien hatte man geschlossen. Sie wollten keine zusätzliche Hitze hineinlassen.
Bei einem Spaziergang im Tiergartenwald – die beiden unternahmen der Kühle wegen täglich einen kleinen Gang in den Wald – war ihnen ein Mann aufgefallen, der sich merkwürdig verhielt.
»Der kam von der Gruftstraße aus hochgerannt wie ein Wilder, als ob er einem Wespenschwarm entkommen wollte«, begann der etwa 80-jährige Mann, dessen schlohweißes Haar selbst bei der in der Wohnung herrschenden Dunkelheit zu leuchten schien. »Dann hielt er an, blickte sich um und wir sahen, dass er eine große Geldbörse, eine Brieftasche oder etwas Derartiges in der Hand hielt. Er schien die Börse genau zu untersuchen, dann entnahm er ihr etwas und schleuderte sie in hohem Bogen in die Büsche.«
»Können Sie den Mann beschreiben?«
»Leider nicht sehr gut. Er war mittelgroß, hatte nicht sehr lange dunkle Haare. Er trug Jeans und dieses auffällige T-Shirt, dunkelgrün mit weißem Schriftzug PO- ZILEI. Ob das überhaupt erlaubt ist, haben wir uns gefragt.«
»Ja und dann«, übernahm jetzt die etwa gleichaltrige Frau, die insgesamt deutlich gebrechlicher als ihr Gatte wirkte, »hat er das Shirt ausgezogen und sich ein einfaches weißes übergestreift, ohne Text. Das muss er irgendwo in einer Tasche gehabt haben.«
»Haben Sie sein Gesicht gesehen? Würden Sie den Mann wiedererkenen?«, fragte Heise gespannt.
»Leider nein«, antwortete die Frau. »Er hatte uns ja fast ständig den Rücken oder die Seite zugewandt, uns daher wohl auch gar nicht wahrgenommen.«
»Aber als er sich einmal kurz in unsere Richtung drehte, habe ich zwar sein Gesicht gesehen, kann aber gar nichts dazu sagen«, berichtete der Mann.
»Wie meinen Sie das?«
»Nun ja, es ist irgendwie schwer zu erklären. Ich blickte kurz auf sein Gesicht und sah trotzdem nichts!«
Heise sah den alten Herrn fragend an.
»Das Gesicht wirkte, ja wie soll ich sagen, ohne Konturen, völlig belanglos. Da war nichts, das man sich merken könnte.«
Heise kam eine Idee. »Könnte es sein, dass er eine Maske trug?«
»Nein, das glaube ich nicht«, meinte die Frau und ihr Gatte ergänzte: »So sah es nicht aus.«
»Hm.« Heise überlegte kurz. »Würden Sie die Stelle wiederfinden, wo er die Börse in die Büsche warf?«
Der Mann zögerte, dann erklärte seine Frau: »Ich denke ja. Da war doch dieses ganz hohe Brombeergestrüpp in der Nähe des Wegabzweiges.«
»Prima«, sagte Heise erleichtert. »Dann werde ich mich heute noch einmal telefonisch bei Ihnen melden, um einen Termin zu vereinbaren. Sie zeigen uns die Stelle und wir werden die Brieftasche suchen und hoffentlich auch finden!«
Heise bedankte sich für die Auskünfte und verabschiedete sich. Er grübelte über die eigenartige Beschreibung des mutmaßlichen Räubers nach. Das ältere Paar hatte einen völlig vernünftigen Eindruck gemacht, keine Spur von Demenz oder dergleichen.
Die Wohnung der alten Leute war Heise trotz der heruntergelassenen Jalousien unangenehm warm vorgekommen. Als er jetzt jedoch wieder nach draußen trat, musste er seine Meinung spontan revidieren. Von der Dunkelheit der Räume stolperte er geradezu in die gleißende Helligkeit der Mittagssonne und es kam ihm doch um einiges wärmer vor als zuvor in der Wohnung. Die Luft schien zu flimmern. Bereits nach wenigen Metern stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Heise fiel wieder einmal auf, wie wenige Menschen sich zu dieser Zeit, zwischen 12 und 1 Uhr, auf den Straßen aufhielten.
Heise bewegte sich wenig optimistisch zu der Stelle, wo am Vortag der Täter das Taxi bestiegen hatte. Würden dort überhaupt Personen unterwegs sein, die er als mögliche Zeugen befragen könnte, die trotz der Gluthitze hier täglich um etwa dieselbe Zeit lang gingen, wie etwa Spaziergänger, Postboten oder Hundeausführer?
Er hatte Glück. Die sportlich schlanke Frau von etwa Mitte vierzig führte ihren Hund aus, einen unruhigen kleinen Gesellen unbestimmbarer Rasse, der seine Nase keine Sekunde lang vom Boden hob. Beim Gassigehen mit ihrem Hund war der Frau am Vortag um die betreffende Zeit ein Mann aufgefallen, der anscheinend auf etwas oder jemanden wartete. Ständig habe er auf seine Uhr geschaut, unruhig in sämtliche Richtungen blickend. Schließlich sei ein Taxi gekommen, in das der Mann einstieg. Die Frau konnte den mutmaßlichen Räuber ganz gut beschreiben: »Mittlere Größe, Alter Anfang vierzig, relativ kurze dunkelblonde Haare, bekleidet mit Jeans, Turnschuhen und einem weißen T-Shirt ohne irgendwelche Texte.«
Was Heise jedoch höchst verwirrend fand, war ihre Beschreibung des Gesichtes. »Ich weiß, das klingt jetzt total bescheuert, aber gestern, kurz nachdem ich ihn gesehen hatte, fragte ich mich, ob der überhaupt ein Gesicht hatte. Wissen Sie, das ist schwer zu beschreiben, aber ich sah sein Gesicht ganz kurz und ein paar Sekunden später hatte ich es bereits total vergessen. Form, Augen, Nase, Mund, Bart? Ich konnte mich an absolut nichts erinnern, so wenig Eindruck hinterließ das Gesicht. Konnten Sie mir folgen?« Heise stimmte der Frau zu, das sei in der Tat höchst merkwürdig und bedankte sich für ihre Auskünfte. Zur Sicherheit ließ er sich von ihr Name, Adresse und Telefonnummer geben.
Nun hatten binnen kurzer Zeit zwei Zeugen unabhängig voneinander von dem höchst merkwürdigen Gesicht des Täters berichtet, und zwar beide Überfälle betreffend. Das erhärtete zunächst einmal nur die These eines Serientäters, mehr nicht.
Zurück im Präsidium begrüßte Jens Marquardt seinen Kollegen mit der guten Nachricht über den Scheckkar-ten-Betrug. Heise ließ ihn jedoch nicht zu Wort kommen und fragte sofort: »Du warst doch gestern in der Bäckerei. Kannst du dich noch ganz genau erinnern, wie man dort das Gesicht des Räubers beschrieb?«
»Das weiß ich Wort für Wort: ›nix Besonderes, normal eben‹.«
Heise wunderte sich kaum. »Das waren ihre Worte? Mehr konnte sie über sein Gesicht nicht sagen?«
»Nein! Aber ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«
Heise erklärte es, indem er von seiner Befragung der Zeugen berichtete.
»Das klingt natürlich merkwürdig«, stimmte Marquardt zu. »Vielleicht doch irgendeine Maske?«
»Wer weiß?«
Als Sabine Eichhorn kurz vor drei in den Besucherraum geführt wurde, wo Heise und Marquardt bereits auf sie warteten, fühlte sie sich von den beiden ganz intensiv betrachtet. Ahnte sie, dass die Kommissare in ihrem Äußeren nach Hinweisen auf ihr wirkliches Alter suchten? Ihre Kleidung jedenfalls deutete erst recht nicht auf 47 hin. Sie trug aufregend kurze Jeans-Shorts, die ihre höchst ansehnlichen sonnengebräunten Beine besonders zur Geltung brachten, und ein knappes Top, das ihre Traumfigur unterstrich. Sie wirkte so frisch, als ob draußen keine 36 Grad herrschten. Aber das sollte sich bald ändern.
»Ich bin ganz neugierig, was Sie mir erzählen werden«, begann Frau Eichhorn. Statt einer Antwort reichte Heise ihr das von der Sparkasse übermittelte Foto und fragte ganz direkt: »Erkennen Sie diese Frau?«
Die Frage hätte er sich getrost sparen können, denn beim ersten Blick auf das Bild verzerrte sich Frau Eichhorns bildschönes Gesicht zu einer Grimasse, sie presste die Lippen aufeinander und der Glanz in ihren Augen hatte einem gefährlichen Blitzen Platz gemacht.
»Dieses Schwein!«, brachte sie schließlich hervor. Ihre Stimme klang absolut nicht mehr sympathisch. »Also doch dieses Schwein! Ich hätte es mir ja denken können!«
Heise und Marquardt blickten die Frau verblüfft an, sagten jedoch nichts, wollten ihr Zeit geben, sich wieder etwas zu sammeln.
»Das ist Frau Jensen aus der Wohnung im Erdgeschoss!«, fuhr sie schließlich fort.
»Die von Ihrer Mutter für Arbeiten im Haushalt bezahlt wird?«, fragte Marquardt sicherheitshalber nach.
»Ja.«
«Nun ja, aus den uns von der Sparkasse übermittelten Informationen geht eindeutig hervor, dass diese Person auf dem Foto wenigstens eine, vermutlich aber alle der fraglichen Abhebungen vorgenommen hat«, fasste Heise zusammen.
»Dieses Schwein!«, wiederholte Frau Eichhorn, diesmal mit leiser Stimme. »Werden Sie sie jetzt verhaften?«
»Wir werden die Frau möglichst bald vernehmen«, erwiderte Heise, »und Sie dann zeitnah informieren!«
»Dann muss ich meiner Mutter jetzt die Nachricht übermitteln«, sagte Frau Eichhorn. »Das wird ganz schön schwer werden, sie wird sich garantiert furchtbar aufregen. Und außerdem stellt sich die Frage, wie es weitergehen soll, unter einem Dach mit diesem Verbrecherpack!«
Sie hielt kurz inne, blickte Heise an, bevor sie fortfuhr:
»Wissen Sie, meine Mutter erzählte mir in letzter Zeit mehrfach, aus ihrer Kassette sei Geld verschwunden. ›Da müsste ein Fünfziger mehr drin sein‹, meinte sie zum Beispiel. Ich ging darauf nicht ein, hielt das ehrlich gesagt für Hirngespinste und sagte ihr, da müsse sie sich ganz bestimmt irren. Jetzt allerdings sehe ich diese Sache in einem völlig anderen Licht. Dieses Drecksweib muss sich also mehrfach mit Hilfe des Schlüssels Zugang zu der Kassette verschafft und daraus Geld gestohlen haben!«
»Sagten Sie nicht, Ihre Mutter sei immer höchst vorsichtig?«, wandte Heise ein.