Tödliches Lügennetz - Franz-Hubert Esser - E-Book

Tödliches Lügennetz E-Book

Franz-Hubert Esser

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Beschreibung

An einer Realschule wird die Direktorin kurzzeitig entführt, die Ermittlungen konzentrieren sich auf zwei ehemalige Schüler, die jedoch beide ein Alibi vorweisen. Da wird an der Realschule ein Mord verübt, der Fritz Alt und sein Team vom Klever K1 vor eine große Herausforderung stellt. Bald tauchen sogar Zweifel an der Identität des Opfers auf. Warum verhält sich der Ehemann der Toten so merkwürdig? Wie ist die eigenartige Stimmung im Lehrerkollegium zu erklären? Endlich scheint eine weit in die Vergangenheit reichende Spur die Lösung des Falles zu offenbaren, da geschieht eine unerwartete Wendung!

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Seitenzahl: 311

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ähnliche


Für Hilde

Inhaltsverzeichnis

Kapitel EINS

Kapitel ZWEI

Kapitel DREI

Kapitel VIER

Kapitel FÜNF

Kapitel SECHS

Kapitel SIEBEN

Kapitel ACHT

Kapitel NEUN

Kapitel ZEHN

Kapitel ELF

Kapitel ZWÖLF

Kapitel DREIZEHN

Kapitel VIERZEHN

Kapitel FÜNFZEHN

Kapitel SECHZEHN

Kapitel SIEBZEHN

Kapitel ACHTZEHN

Kapitel NEUNZEHN

Kapitel ZWANZIG

EINS

Es war ein traumhafter Spätsommertag in den Zillertaler Alpen, leuchtend blauer wolkenloser Himmel, kaum Wind, Temperaturen nahe zwanzig Grad. Ideale Bedingungen für eine Bergtour.

Die beiden jungen Frauen waren schon früh aufgebrochen und befanden sich nun auf dem Rückweg, als das Wetter urplötzlich umschlug. Von Minute zu Minute dunkler werdende Wolken zogen drohend auf und vertrieben die Sonne, der Wind nahm deutlich zu, ein noch entfernt klingender Donnergroll war zu vernehmen. Ein Unwetter zog auf.

»Was jetzt?«, rief die eine Frau mit besorgter Stimme.

»Auf keinen Fall weiter runter! Das Gewitter würde uns voll erwischen. Ich denke, wir sollten schnell wieder hoch ins Gebirge und uns eine Stelle suchen, die einen gewissen Schutz bietet.«

»Unter einem Felsvorsprung warten, bis der Spuk vorbei ist?«

»Genau!«

So kramten die beiden aus ihren Rucksäcken die Regenjacken hervor, wohl wissend, dass diese ihnen bei dem bevorstehenden Unwetter wenig helfen würden. Dann begaben sie sich wieder zurück in die Bergregion. Bald zuckten aus inzwischen tiefschwarzen Wolken erste Blitze, ein Sturm brauste auf, Regentropfen fielen, die sich unglaublich schnell zu einem Wolkenbruch verstärkten. Außerdem war da ganz plötzlich eine Nebelwand erschienen, die den beiden Frauen völlig die Sicht nahm. Sie kamen vom Weg ab, waren außerstande, eine schützende Stelle zu finden, irrten völlig orientierungslos umher, den Naturgewalten ausgeliefert. Auch ihre Kleidung war den Verhältnissen keineswegs angemessen, mit dem Hereinbrechen eines derartigen Unwetters war ja nicht zu rechnen gewesen.

Sie nahmen sich bei den Händen, sowohl um sich nicht zu verlieren als auch um ein gewisses Maß an menschlicher Wärme in dem Inferno zu spüren.

Was war das? Hatte sie einen Schrei gehört? Was war geschehen? Plötzlich durchfuhr ein furchtbarer Schreck ihren gesamten Körper: Ihre Hand war leer, darin befand sich nicht mehr die Hand der Gefährtin. Konnte sie einfach so aus der ihren gerutscht sein oder hatte sie etwa mit einem kleinen Stoß nachgeholfen? War sie wirklich imstande gewesen, so etwas zu tun? Am Vormittag hatte es ja einen heftigen Streit zwischen den beiden gegeben. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, sich selbst zu erklären, was geschehen war, rief sie so laut sie konnte den Namen der Freundin, kreischte geradezu, doch durch die Geräuschkulisse des tobenden Unwetters vernahm sie kaum ihre eigene Stimme. Sie geriet vollkommen in Panik, rannte und kroch weiter durch Nebel, Wolkenbruch, Blitz und Donner. Endlich fand sie einen kleinen Felsüberhang, der etwas Schutz vor den Urgewalten bot. Sie sank entkräftet zu Boden, tränenüberströmt, am ganzen Körper zitternd, die klatschnassen Klamotten auf der Haut klebend. Immer wieder rief sie den Namen der Gefährtin, doch es kam keine Antwort.

ZWEI

Am Niederrhein neigte sich der in diesem Jahr um einen Tag verlängerte Februar auch schon wieder seinem Ende zu. In einigen Stunden würde er sich erneut für elf Monate in sein unbekanntes Versteck zurückziehen. Die großen Scharen der arktischen Wildgänse, die sich Jahr für Jahr das Gebiet zwischen Duisburg und Emmerich/Kranenburg als Überwinterungsrevier auswählen, bevor sie in ihre sibirische Brutheimat aufbrechen, hatten sich bereits merklich gelichtet. Eine spürbare Zugunruhe war den noch verbliebenen Tieren deutlich anzumerken.

Kriminalkommissar Klaas Hinrichs blickte versonnen aus dem Fenster der Küche auf einen gerade vorbeifliegenden Trupp Blässgänse. Seit mehr als 13 Jahren wohnte er schon mit seiner Frau Petra in Kranenburg. Die großen Trupps arktischer Wildgänse hatte er zwar in jedem Winter wahrgenommen, mehr aber auch nicht. Erst seit einem spektakulären Mordfall auf dem Emmericher Eyland einige Monate zuvor, in dem die Wildgänse eine wichtige Rolle gespielt hatten, war er von den Tieren fasziniert. Von seinem Freund Thomas Schraven, der als Biologe bei der Naturschutzstation in Kranenburg arbeitete, hatte er viel Interessantes über die Wildgänse erfahren. So wusste Hinrichs, dass auf die Bläss- und Saatgänse jetzt die gefährlichste Zeit des Jahres zukam, bevor sie sich auf der Insel Kolguev oder der Taimyr-Halbinsel am Nordpolarmeer endlich dem Brutgeschäft widmen konnten. Nach Rastphasen in Polen und dem Baltikum warteten im Bereich des Ladogasees im Nordwesten Russlands Scharen von Jägern auf die Tiere. Schraven hatte resigniert berichtet, dass die Frühjahrsjagd auf die Wildgänse in Russland eine jahrzehntelange Tradition darstellt und dagegen etwas zu unternehmen sowohl internationale als auch russische Naturschützer vor kaum lösbare Aufgaben stellt.

Das erste Licht des Morgens war kaum mehr als zu erahnen, da schraubten sich schon die Feldlerchen jubilierend gen Himmel empor und sandten einen ersten Hauch von Frühling. Ein müder Hahn, der offenbar seinen Einsatz verschlafen hatte, krähte besonders laut, verärgert über die Lerchen, weil diese es gewagt hatten, ihm das Recht auf die ersten Töne des Morgens streitig zu machen.

Die Feldlerche schien besonders laut zu jubilieren, hatte sie es doch wieder einmal geschafft, auf ihrem Zug den zahlreichen Vogelfängern im Mittelmeerraum zu entkommen. Insbesondere auf Malta und Zypern, aber auch in Italien und Frankreich, werden jährlich Millionen von Zugvögeln Opfer von illegalem Massenfang.

Das leichte Wolkentuch war an einigen Stellen gerissen und der eine oder andere Fetzen blauen Himmels wurde sichtbar. Erste mattgelbe Sonnenstrahlen versuchten zaghaft, einen leisen Hauch von Vorfrühling zu bewirken.

Die Frau, die sich übel gelaunt in ihrem dunkelblauen VW Golf in nördlicher Richtung durch das niederrheinische Tiefland zu ihrem Arbeitsplatz in Kleve bewegte, bemerkte von den Anzeichen des nahenden Frühlings nichts. Zu sehr beschäftigte sie noch der erneute Streit mit ihrem Ehemann, wodurch das gemeinsame Frühstück abrupt zum Ende gekommen war. Zum wiederholten Male hatte er ihr vorgeworfen, viel zu wenig Zeit für gemeinsame Unternehmungen zu haben, weil sie ständig, am Feierabend und vor allem am Wochenende Arbeit mit nach Hause nahm. Dass ihr Mann möglicherweise recht haben könnte, ein solcher Gedanke war für sie völlig ausgeschlossen. Sie hatte in ihrem Leben noch nie Kritik zu ertragen vermocht.

Bei der Kripo Kleve, deren Einsatzbereich nicht nur die Stadt selbst, sondern das gesamte Kreisgebiet umfasste, hatte wieder ein ganz normaler Arbeitstag begonnen. In der flachen, nur von einigen bewaldeten Moränenzügen der vorletzten Eiszeit strukturierten und stark agrarisch geprägten Landschaft schien Kriminalität auf den ersten Blick die große Ausnahme. Friedliche schmucke Landstädtchen wie Geldern, Issum, Kalkar, Goch oder Kevelaer wirkten absolut nicht wie Brennpunkte des Verbrechens. Auch das eher industriell geprägte Emmerich und die größte Stadt des Kreises, Kleve selbst, sahen eher verschlafen aus im Vergleich mit den Metropolen des Ballungsraumes Rhein-Ruhr.

Und doch durften sich die Beamten der Kreispolizeibehörde in Kleve über einen Mangel an Arbeit keineswegs beklagen. Drogendelikte zählten zu den häufigsten Vergehen, dafür war schon vor etlichen Jahren ein eigenes Kommissariat eingerichtet worden. Auch darüberhinaus geschahen erstaunlich viele Straftaten, die das Team des K1 ständig forderten: Wohnungseinbrüche, Überfälle auf Geschäfte und besonders Tankstellen sowie die zunehmende Bandenkriminalität, zu der in erster Linie die Geldautomatensprengungen und der Metalldiebstahl zählten.

Auch ihren ersten Einsatz an diesem Morgen verdankten die Kommissare Hinrichs und Heise den Metalldieben.

Klaas Hinrichs und Siegfried Heise wiesen abgesehen von ihrem Alter, beide waren Anfang vierzig, keinerlei Gemeinsamkeiten auf. Der aus Nordfriesland stammende Hinrichs war mittelgroß und schlank mit nahezu glatzenartig kurzen Haaren und einem dunkelblonden Kinn- und Oberlippenbart. Er hatte eine Neigung zu witzigen Kommentaren, versprühte meist gute Laune, war ein wirklich extrovertierter Typ. Im Gegensatz zu ihm redete Heise selten ein Wort zuviel, wirkte sehr oft nachdenklich, introvertiert. Er war eher klein und stämmig, mit einem rundlichen Gesicht und mittellangen schwarzen Haaren. Er trug eine dicke Brille.

Im Kommissariat lief er unter dem Spitznamen ›Holmes‹, und zwar nicht nur wegen der identischen Namensanfangsbuchstaben. Er hatte den Meisterdetektiv

aus der Bakerstreet stets als sein großes Vorbild bezeichnet, vor allem wegen dessen Fähigkeit, absolut klar und analytisch zu denken, keine unwichtig erscheinende Kleinigkeit unbeachtet zu lassen.

Trotz oder gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeiten bildeten Klaas Hinrichs und Siegfried Heise seit etlichen Jahren ein richtig gutes Team.

»Diese Metalldiebe haben sich zu einer wahren Landplage ausgewachsen«, moserte Hinrichs, als es plötzlich einen dumpfen Schlag gab.

»Was war das?«, fragte Heise besorgt.

»Wie viele Leben sagt man im Volksmund einer Katze nach?«, wollte Hinrichs anstelle einer Antwort wissen.

»Ich glaube sieben. Du meinst, wir haben eine . . .?«

»Ja, und zwar eine, deren siebentes Leben es war! Ende, aus, vorbei!«

»Wieso bist du dir da so sicher?« Heise hatte seine Zweifel, aber Hinrichs erklärte: »Dass es sich um einen Stubentiger handelt, habe ich gerade noch erkennen können. Das Tier lief von rechts urplötzlich quer über die Straße. Und dass es das siebente und damit letzte Leben war, hast du selbst an dem Aufprall spüren können.«

»Was bringt eine Katze dazu, auf einer vielbefahrenen Straße einfach so die Fahrbahn queren zu wollen?«, fragte Heise nachdenklich.

Hinrichs hatte eine Idee: »Vielleicht eine Falle.«

»Wie bitte?«

»Auf der anderen Straßenseite hat möglicherweise ein Mäuschen seine Faxen gemacht und die Katze angelockt.«

»Und diese absichtlich zur Straßenquerung verleitet? Na ja, weißt du.« Heise schien skeptisch.

»Jedenfalls halte ich das für eine Art ausgleichende Gerechtigkeit. Ich möchte nicht wissen, wie viele kleine Singvögelchen diese Katze auf dem Gewissen hat!«

»So ist das nun mal in der Natur!«, stellte Heise nüchtern fest. »Fressen und gefressen werden.«

»Dann wird der Philosoph mir bestimmt auch verraten, von wem die Katzen gefressen werden. Natürliche Freßfeinde wie Wolf, Bär oder andere Großsäuger scheiden ja wohl aus.«

»Die Rolle hat der Mensch übernommen, wie wir vor ein paar Minuten feststellen konnten«, erklärte Heise.

Hinrichs wirkte nachdenklich. »Naja. Aber dann müssten wir noch eine ganze Menge Katzen plattfahren, um das natürliche Gleichgewicht wieder herzustellen.«

Weiter kam er nicht, denn sie hatten Grieth erreicht.

Das 800-Einwohner-Dorf direkt am Rhein hatte vor langer Zeit sogar zur Hanse gehört und eine wirtschaftliche Bedeutung gehabt, von der heute rein gar nichts mehr zu spüren war. Durch die Eingemeindung nach Kalkar hatte Grieth im Jahre 1969 auch seine Selbständigkeit verloren. Im Ort gab es weder Supermarkt noch Kneipe, Schule, Arzt oder Post. Durch mehrere enge Gässchen, etliche davon wiesen noch Kopfsteinpflaster auf, kämpften sie sich durch zur Schloßstraße. Diese war breit genug, um den Wagen am Straßenrand abzustellen.

»Da sind wir schon«, stellte Hinrichs fest, » hier wohnt der Vorsitzende des Schiffervereins Grieth, Helmut Reuter. Er hat heute Morgen die Polizei verständigt.«

Heise drückte auf die Klingel und im selben Augenblick öffnete sich bereits die Tür.

»Ich habe Sie kommen gesehen, Sie sind doch von der Polizei?«, wurden sie von Herrn Reuter begrüßt, einem stattlichen Mann mit freundlichem ovalem Gesicht und grauer Bürstenfrisur. Heise schätzte ihn auf Anfang 70.

»Genau! Ich bin Kriminalkommissar Hinrichs und das ist mein Kollege Heise.«

»Am besten wir gehen sofort zu der Stelle«, schlug Reuter vor und setzte sich auch schon in Bewegung. Nach nur wenigen Metern erreichten sie den Griether Markt. Von dort bog man in das Sträßchen mit dem ebenso eigenartigen wie zutreffenden Namen Durchlass. An dieser Stelle wies die durchgehende Häuserzeile der Schloßstraße nämlich eine Öffnung im Erdgeschoss auf, ähnlich einer sehr breiten Garage, nur ohne Tor und rückwärtige Wand. Das war der Durchlass. Diesem kleinen Sträßchen beim Hochwasserschutztor nach links entlang des Rheindeichs folgend, erreichten sie nach wenigen Metern ihr Ziel. Herr Reuter deutete auf einen grauen Sockel. »Das ist die Stelle. Genau hier befand sich unsere Schiffsschraube seit ungefähr 15 Jahren. Ein Rheinschiffer hat sie uns seinerzeit gespendet.«

»Bei Ihrem Anruf heute früh erwähnten Sie einen möglichen Zeugen, Herr Reuter«, sprach Hinrichs nun den Mann an.

»Ja, Hans Welbers, er wohnt nur ein paar Häuser weiter, kommen Sie bitte mit!«

Herr Welbers, klein und schmächtig, mit einem seltsam ausdruckslosen Gesicht, hatte in der Nacht, gegen 2.30 Uhr, Lärm gehört und auf die Straße geschaut. Personen gesehen hatte er jedoch nicht, nur einen hellen Kleintransporter, den er nicht kannte. Dann war er wieder zu Bett gegangen. Herr Welbers bemerkte wohl den unzufriedenen Gesichtsausdruck von Hinrichs, denn er erklärte entschuldigend: »Ich konnte doch nicht ahnen, dass da Diebe am Werk waren. Sonst hätte ich sofort die Polizei angerufen.«

»Das ist schon in Ordnung«, beruhigte ihn Heise. »Immerhin wissen wir jetzt die ungefähre Tatzeit.«

Dannn gingen Heise und Hinrichs zusammen mit Herrn Reuter zurück zum Tatort.

»Was genau können Sie uns über die Schiffsschraube noch berichten? Sie verfügen bestimmt auch über ein Foto«, begann Heise.

»Das gute Stück wiegt etwa 250 Kilogramm und ist aus Messing. Es besteht aus den vier typischen Propellerflügeln, die Sie hier auf dem Bild sehen können.« Reuter reichte den Kommissaren ein Foto der Schiffsschraube.

»Na, dann können wir nur hoffen, dass Ihre Schraube bald wieder auftaucht«, meinte Hinrichs.

Nachdem Heise den einbetonierten Ständer, auf dem die Skulptur befestigt gewesen war, abfotografiert hatte, bedankten sich die beiden Kommissare bei Herrn Reuter und begaben sich auf den Rückweg.

Hinrichs fasste in Worte, was beide dachten: »Für ein Gewicht von 250 Kilogramm benötigt man entweder mindestens fünf starke Männer oder einen Kran!«

»Ein kleiner Kran könnte sich durchaus in dem Transporter befunden haben. Jammerschade, dass Herr Welbers nicht mehr mitbekommen hat!«, erwiderte Heise.

»Jedenfalls haben wir hier wenig bis gar nichts erreicht«, murmelte auch Hinrichs unzufrieden. »Ich kann mir auch keinen Reim darauf machen, warum uns der Alte Fritz heute hierher geschickt hat. Den Hintermänmännern der Metalldiebe konnten wir doch kaum auf die Spur kommen, das war vorher schon klar.«

»Vielleicht«, versuchte Heise eine Erklärung, »hat er sich von dem Zeugen konkrete Hinweise erhofft.«

»Kann sein, ja. Dann dürfen wir also ebenso wie die Griether darauf warten, ob die Schraube bei irgendeinem Schrotthändler in den Niederlanden auftaucht.«

»So sieht es wohl aus«, stimmte Heise zu.

»Der Alte Fritz könnte ja mal unseren Krikoman auf den Fall ansetzen«, scherzte Hinrichs. Damit meinte er Kriminalkommissarsanwärter Jens Marquardt, der im Rahmen seiner dualen Ausbildung seit ein paar Wochen ein Praktikum bei der Kripo Kleve absolvierte.

Zurück im Präsidium berichtete Heise kurz dem Leiter des K1, Fritz Alt, vom Besuch in Grieth, während Hinrichs den Schriftkram erledigte. Der von allen nur der ›Alte Fritz‹ genannte Erste Kriminalhauptkommissar war knapp über 50 Jahre alt und stammte aus Dortmund. Der begeisterte BVB-Anhänger war mittelgroß und sportlich. Die welligen und immer nach hinten gekämmten schwarzen Haare wiesen bereits etliche graue Strähnen auf, der Bart war ober- und unterhalb der Lippen schwarz, am Kinn und an den Seiten jedoch fast übergangslos grau. Seit rund fünf Jahren leitete Alt das 1.Kommissariat in Kleve und sowohl er als auch seine Frau Gabi hatten sich am Niederrhein sofort wohlgefühlt. Ihnen gefiel vor allem die im Vergleich zum Ruhrgebiet doch wesentlich entspanntere Lebensweise mit weniger Hektik, Lärm und Industrie.

»Ich glaube, wir sollten Herrn Marquardt einmal befragen, wie er jetzt vorgehen würde«, schlug Alt vor und erntete damit ein Lächeln bei Heise. »Genau das hat Klaas vorhin auch gemeint«, erklärte er.

DREI

Auch am Dienstag arbeitete der Frühling eifrig an seinem Comeback. Der zuerst glutrote große Sonnenball ging sehr bald in eine kleinere gelbliche Variante über und schickte seine Strahlen von einem kaum bewölkten Himmel. Die Temperaturen bewegten sich sogar zu dieser frühen Stunde bereits im hohen einstelligen Bereich.

Der am Vortag so schläfrige Hahn krähte nahezu pausenlos, um sich nicht noch einmal die ersten Töne des Tages von der Lerche wegnehmen zu lassen. Dass sein heiseres Gekrächze mit dem melodischen Gesang der Feldlerche nicht im Geringsten zu konkurrieren vermochte, störte ihn offenbar nicht.

Als Siegfried Heise an diesem Morgen den Bereich des K1 innerhalb des neuen Großraumbüros betrat, wurde er von der Kriminalassistentin Heike Buschkamp und dem Kommissarsanwärter Jens Marquardt begrüßt, nicht jedoch vom Alten Fritz und von Klaas Hinrichs. Heises fragenden Blick beantwortete Heike Buschkamp sofort. »Der Alte Fritz und Klaas sind schon unterwegs. In der Martin-Luther-King-Realschule wird seit gestern die Direktorin vermisst.«

»Verschwundene Schulleiterin? Das hatten wir noch nicht. Weißt du Genaueres?«

»Nein! Nur, dass es einen ziemlich aufgeregten Anruf des Ehemannes gab, dass seine Frau heute Nacht nicht nach Hause gekommen ist«, erklärte Heike Buschkamp.

»Na ja. So etwas soll ja schon mal passieren, ohne dass ein Verbrechen vorliegt«, schmunzelte Marquardt. Der knapp Dreißigjährige stammte aus Düsseldorf, hatte zunächst Wirtschaftsinformatik studiert, bevor er sich für den Polizeidienst entschied. Er war von mittlerer Größe, schlank, wirkte durchtrainiert, hatte ein eher rundliches Gesicht mit blauen Augen und kurzen schwarzen Haaren.

»Dann machen wir uns auch an die Arbeit«, sagte Heise. »Du weißt schon, die Metalldiebe!«

Es war gegen halb neun, als Fritz Alt und Klaas Hinrichs an der Martin-Luther-King-Realschule ankamen. Der Unterricht hatte um acht begonnen, daher fanden sie nur mit Mühe noch eine freie Stelle auf dem Lehrerparkplatz neben der Turnhalle. Um zum Eingang der Schule zu gelangen, überquerten sie den Schulhof. Die 6 steinernen Tischtennisplatten waren dicht umlagert, an allen spielten Schüler und Schülerinnen.

»Deren Unterricht fängt wohl erst später an«, erklärte Alt.

Das Schulgebäude selbst hatte augenscheinlich schon etliche Jahrzehnte auf dem Buckel, ein großer grauer Kasten, dessen eine Längsseite immerhin kürzlich einen hellgelben Anstrich erhalten hatte.

»Eigenartig«, bemerkte Hinrichs, »sobald man als Erwachsener nach vielen Jahren wieder einmal eine Schule betritt, steigen sofort die Erinnerungen an die eigene Schulzeit hoch. Das habe ich kürzlich gelesen und es trifft voll und ganz zu! Knapp 25 Jahre ist es jetzt schon her.«

»Bei mir sind es sogar noch ein paar Jährchen mehr. Die Elternsprechtage für Doris hat immer Gabi wahrgenommen und bei der Abifeier und Zeugnisübergabe war ich leider dienstlich verhindert.« Alt blickte missmutig, denn seine Tochter hatte ihm das Fernbleiben von der Feier nie wirklich verziehen.

»Heike hat uns wieder einmal perfekt vorbereitet auf den Weg geschickt«, erklärte Hinrichs, als sie den Eingang erreichten. »Wir gehen hier die fünf Stufen hoch, durch die Glastür, biegen dann links in den langen Korridor ab, benutzen an dessen Ende die Treppe zum ersten Obergeschoss und kommen durch die Glastür direkt auf das Sekretariat zu!«

»Wieso kennt sich Heike hier so gut aus?«, wunderte sich Alt. »Hat sie im Netz einen Grundrissplan des Gebäudes gefunden?«

»Vielleicht war sie früher hier selbst Schülerin!«

Im Sekretariat empfing sie die Sekretärin, Frau Mombers, eine schlanke, sportlich wirkende Mittvierzigerin mit sympathischem Gesicht und dunkelblonder Kurzhaarfrisur. Alt und Hinrichs stellten sich vor und wurden durch eine Tür in der linken Seitenwand des Raumes in das Chefzimmer geführt. In einem der schwarzen Ledersessel der Sitzgruppe erblickten sie einen Mann, der eine markante Erscheinung abgab. Alt schätzte ihn in den Fünfzigern, er war mittelgroß und kräftig gebaut, aber nicht dick. Sein Gesicht wurde von einem langen, wuscheligen grauen Kinn- und Oberlippenbart dominiert. Der Backenbart, kurz getrimmt, wies eine dunklere Farbe auf. Oberhalb der hohen Stirn waren die ergrauenden langen Haare glatt nach hinten gekämmt und zu einer Art kurzem Pferdeschwanz zusammengebunden. Hinter einer Brille mit dunkelblauer Fassung und nahezu rechteckigen Gläsern wachten aufmerksame grüne Augen. Auf Fritz Alt machte der Mann einen irgendwie intellektuellen Eindruck. Er trug Jeans, ein am Kragen offenes weißes Hemd und einen dunkelgrauen Blazer.

Hinrichs konnte sich ein Grinsen nur mit Mühe verkneifen, wiesen doch die Kopf- und insbesondere die Gesichtsbehaarung des Mannes eine durchaus bemerkenswerte Ähnlichkeit mit derjenigen des Alten Fritz auf.

»Diethelm Dautzenberg«, stellte er sich vor. »Meine Frau ist verschwunden. Sind Sie von der Polizei?«

»Ja. Ich bin Hauptkommissar Alt und das ist mein Kollege Hinrichs. Erzählen Sie bitte!«

»Beate ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen und ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnte.«

»Wann haben Sie Ihre Frau zuletzt gesehen oder gesprochen?«, wollte Hinrichs wissen.

»Das war gestern beim Frühstück. Ich weilte am Abend beruflich in Düsseldorf, Verlags-Meeting, und bin daher erst um 23 Uhr nach Hause gekommen. Die Garage war leer, meine Frau offensichtlich noch unterwegs. Das beunruhigte mich allerdings nicht, denn Termine für Konferenzen, Pflegschaftssitzungen und derartige Veranstaltungen liegen oft am Abend und ziehen sich hin. Jedenfalls machte ich mir keine großen Sorgen und ging bald zu Bett. Ich muss recht fest geschlafen haben, denn als ich aufwachte, war es bereits nach 6 Uhr. Ich rief nach meiner Frau, bekam jedoch keine Antwort!«

»Entschuldigen Sie bitte, wenn ich unterbreche. Sie schlafen getrennt?«, fragte Alt.

»Ja, mein Schnarchen hat in den vergangenen Jahren so sehr zugenommen, dass die Lösung mit separaten Schlafräumen unumgänglich war.«

»Fahren Sie bitte fort.«

»Als ich meine Frau nicht in ihrem Zimmer vorfand, bekam ich es mit der Angst zu tun und rief sie an, doch sie ging nicht ans Handy. Dann lief ich zur Garage, ihr Wagen war nicht da.«

»Was taten Sie dann?«

»Ich rief in der Schule an. Der Hausmeister steigerte meine Angst, denn er teilte mir mit, Beates Wagen habe am Abend noch ganz spät auf dem Schulparkplatz gestanden. Auf meine Bitte hin schaute er nach und fand ihren Wagen immer noch dort. Daraufhin habe ich sofort die Polizei verständigt und meine Frau als vermisst gemeldet. Dann bin ich direkt hierhin gefahren.«

»Hat Ihre Frau in letzter Zeit anders gewirkt als sonst, vielleicht bedrückt, nervös, aufgeregt?«, fragte Alt.

»Nein, mir ist jedenfalls nichts aufgefallen.«

»Ich muss Sie das jetzt fragen«, begann Alt behutsam, »ist Ihre Frau früher schon einmal über Nacht weggeblieben?«

»Nein, nie!«

»Und Sie haben keine Ahnung, wo sie sich befindet?«

»Absolut nicht!«

»Ich fürchte, hier können Sie jetzt nicht mehr tun, am besten Sie fahren nach Hause, Herr Dautzenberg«, wandte sich nun Hinrichs an den Mann. »Wir werden Sie natürlich umgehend informieren, wenn es etwas Neues gibt. Wenn Sie uns bitte Ihre Handynummer geben.«

Mit sorgenvoller Miene verabschiedete sich der Mann und verließ den Raum, in dem sich die Kommissare nun näher umschauten. Das Chefzimmer einer Schule war natürlich keinesfalls mit dem eines großen Wirtschaftsunternehmens zu vergleichen. Es war schlicht möbliert mit einem großen Schreibtisch mit Ledersessel, der Sitzgruppe sowie zwei hohen schmalen Schränken an der Wand zum Sekretariat und einem langen Sideboard an der gegenüberliegenden Wand hinter dem Schreibtisch. Wenn man vom Sekretariat aus den Raum betrat, befand sich in der rechten Wand die Fensterfront, in der linken hingegen eine Tür mit direktem Zugang in das Zimmer vom Korridor aus, ohne den Umweg durch das Sekretariat. Am auffälligsten jedoch in dem Raum waren die drei großformatigen Poster, die oberhalb des Sideboards nahezu die gesamte Breite der Wand einnahmen. Es handelte sich um drei überdimensionale Kuhköpfe, einer gelb vor dunkelblauem, einer knallrot vor gelbem und einer pink vor grauem Hintergrund. Die grelle Farbigkeit schien so gar nicht zum schlichten Rest des Raumes zu passen.

»Muh kann ich dazu nur sagen!«, äußerte Hinrichs in seiner typischen Art, um dann mit Kennermiene sachlich festzustellen: »Ganz eindeutig Andy Warhol.« Alt blickte ihn verwundert an. »Bei Warhol würde ich zuerst an die Marilyn-Monroe-Poster denken oder an die Suppendosen, aber Riesenkuhköpfe?«

»Mit Kuhköpfen hat er ebenfalls viel herumexperimentiert. Das weiß ich, weil wir uns in der Schule seinerzeit intensiv mit Andy Warhol beschäftigt haben. Unser Kunstlehrer war ein großer Warhol-Fan.«

»Verstehe!«

Ansonsten gab es in dem Raum wenig Bemerkenswertes, alles wirkte aufgeräumt und sauber. Nur der Schreibtisch schien dieser Ordnung zu widersprechen. Dort befand sich ein Handy.

»Das dürfte wohl das Handy der Vermissten sein. Damit können wir leider die Hoffnung, ihr durch eine Handyortung auf die Spur zu kommen, begraben«, seufzte Hinrichs. »Sie hat ihr Handy nicht bei sich.«

»Es sei denn, dies hier ist nur ihr Diensthandy und sie besitzt noch ein anderes, sozusagen privates. Mist, dass wir Herrn Dautzenberg nicht danach gefragt haben!«

»Das lässt sich blitzschnell nachholen!«, rief Hinrichs.

»Wir haben ja seine Nummer.«

Kaum eine Minute später hatte sich auch diese Hoffnung erledigt, es gab nur dieses eine Handy.

»Aber irgendwie kam der Mann mir bekannt vor«, murmelte Alt. »Ich bin mir sicher, den habe ich schon einmal gesehen. Geht es dir nicht ähnlich?«

»Nein, das nicht! Es sei denn, du meinst deinen Spiegel«, erwiderte Hinrichs grinsend.

Fritz Alt ging überhaupt nicht auf den Witz seines Kollegen ein, ihn beschäftigte ein ganz anderer Gedanke. »Sag mal«, wandte er sich an Hinrichs, »ist dir nicht auch aufgefallen, wie ruhig und gelassen sich der Mann hier gegeben hat?«

»Na klar! Entweder hat er seine Gefühle jederzeit vollkommen im Griff oder das Verschwinden seiner Frau trifft ihn keinesfalls so sehr, wie man das eigentlich erwarten dürfte.«

»Genauso sehe ich das auch, nur bringt uns das im Augenblick nicht weiter. Wir sollten uns jetzt einmal den Schreibtisch genauer ansehen, da muss es auch ganz bestimmt einen Terminkalender geben und da haben wir ihn schon«, rief er triumphierend, »und zwar mit einem höchst interessanten Termin: Gestern Nachmittag um 16.00 Uhr, Gespräch mit Herrn Färber. Den müssen wir unbedingt befragen. Das könnte ungefähr die Zeit ihres Verschwindens gewesen sein!«

»Aber fällt dir das auch auf?«, fragte Hinrichs. »Nirgendwo ist etwas durcheinander, alles fein geordnet, nur der Schreibtisch macht einen ganz anderen Eindruck.«

Der Alte Fritz stimmte zu. »Ja. Für mich sieht das so aus, als ob da jemand mitten in der Arbeit gestört worden ist. Was genau liegt da eigentlich?«

»Das hier sieht nach Schülerheften aus, eines ist noch aufgeschlagen. Ich würde es für ein Klassenarbeitsheft halten, man sieht am Rand diverse Anmerkungen und Striche in roter Farbe. Aber es ist schon fertig korrigiert. Hier steht die Note ausreichend und dann etliche Zeilen zur Begründung dieser Zensur. Die Schrift scheint mir allerdings nur schwer lesbar.«

Hinrichs drückte aus, was beide dachten: »Das sieht eindeutig danach aus, dass Frau Hichler plötzlich in ihrer Arbeit unterbrochen wurde.«

Kurz darauf fanden sie diese Einschätzung von der Sekretärin bestätigt. »Frau Hichler ist äußerst penibel, niemals hätte sie ihren Schreibtisch unaufgeräumt zurückgelassen.«

Zum Termin mit Herrn Färber wusste Frau Mommers nur, dass es sich bei Enrico Färber um einen Schüler handele, mit dem es immer wieder Ärger gegeben habe. Die Adresse der Färbers war Gotenstraße 137. Darüberhinaus konnte sie wenig helfen. Sie hatte zwar am frühen Morgen Frau Hichlers Golf bereits auf dem Parkplatz gesehen, sich dabei jedoch nichts gedacht. Wenig später jedoch, als sie das Chefzimmer leer vorfand, hatte sie sich sehr gewundert, dann aber ihre Arbeit aufgenommen. Sie wird wohl schon irgendwo im Gebäude unterwegs sein, war zunächst ihre Meinung gewesen.

»Wann genau sind Sie heute früh angekommen?«, wollte Hinrichs wissen.

»Meine Arbeitszeit beginnt um 7.15 Uhr und endet um 13.45 Uhr.«

»Ist in den letzten Tagen irgendetwas geschehen, war Frau Hichler anders als sonst?«, schaltete sich Alt ein.

»Nein, alles war wie immer, ich habe absolut keine Erklärung.« Alt glaubte einen kurzen Augenblick lang, einen eigenartigen Unterton in Frau Mommers´ Antwort wahrgenommen zu haben, ging jedoch nicht näher darauf ein.

Bevor sie sich auf den Weg zum stellvertretenden Schulleiter begaben, forderte Alt die Sekretärin noch auf, das Chefzimmer abzuschließen und niemand hereinzulassen, die Spurensicherung müsse dort noch Untersuchungen vornehmen. Doch Frau Mommers erklärte, sie habe gar keinen Schlüssel für das Zimmer. Sie werde jedoch eine Nachricht auf die Tür kleben, dass der Raum nicht betreten werden dürfe.

»Übrigens«, bemerkte Alt. »Können Sie uns sagen, ob und wann gestern hier geputzt und gesaugt wurde und welche Firma zuständig ist?«

»Aufgrund klammer Kassen der Stadt rückt die Putzfirma nur noch jeden zweiten Tag an, montags, mittwochs und freitags. Gestern waren die also da, aber wann das war? In der Regel ist der Verwaltungsbereich, das heißt Sekretariat, Chefzimmer und Raum des Konrektors, zwischen 15 und 16 Uhr dran, genauer kann ich Ihnen das nicht sagen.«

»Dann benötigen wir von Ihnen den Namen der Firma, die hier im Gebäude reinigt«, erklärte Hinrichs und wenig später erhielten sie von Frau Mommers die gewünschte Information.

Das Zimmer des Konrektors befand sich schräg gegenüber des Sekretariats auf der anderen Seite des Korridors, an dessen Kopfende die graue Metalltür des Aufzugs zu sehen war. Herr Flecken, der natürlich über den Vorfall informiert war, bat Alt und Hinrichs herein und Platz zu nehmen. Der Raum wies nur etwas mehr als die Hälfte der Größe des Chefzimmers auf, war aber ähnlich sparsam eingerichtet. Die Möblierung bestand aus dem Schreibtisch mit Sessel, einer Sitzecke mit Tisch und vier Stühlen, sowie zwei schmalen hohen Schränken und einem Sideboard. Der dunkelgrüne Teppichboden von gegenüber war auch hier verlegt worden.

Auch in diesem Raum befand sich das Auffälligste über dem länglichen niedrigen Schränkchen, nämlich ein großformatiges Foto. Es zeigte das Innere eines Waldes. Die verschiedensten Grüntöne dominierten das Bild, niedriger Bewuchs am Boden, Sträucher von mittlerer Höhe und die mächtigen Stämme der Eichen und Buchen.

Immer wieder blitzten Sonnenstrahlen auf, die ihren Weg durch das Blätterdach bis auf den Boden gefunden hatten. Von dem Foto ging eine angenehme, beruhigende Wirkung aus, so kam es Alt vor.

»Der Blick in den Wald stellt meinen Ruhepol während des täglichen Stresses dar«, sprach Herr Flecken Fritz Alt an, war offensichtlich den Augen des Kommissars gefolgt. Der etwa 50-jährige Mann war groß und kräftig gebaut, hatte ein freundliches ovales Gesicht mit langen, glatten dunklen Haaren, einem kurzgeschnittenen Kinnbart und hellblaue aufmerksame Augen hinter einer unauffäligen Brille mit leicht getönten Gläsern. Er trug Jeans, einen weinroten Rollkragenpulli und ein graues Sakko.

Man nahm in der Sitzecke Platz und Alt fragte den Konrektor nach seiner Einschätzung. »Ich habe absolut keine Ahnung, was da passiert sein könnte«, erwiderte Flecken. Er war, wie an jedem Morgen, um halb acht angekommen, damit er rechtzeitig auf eintreffende Krankmeldungen von Kollegen oder Kolleginnen reagieren und einen Vertretungsplan erstellen konnte. Frau Hichlers Auto auf dem Parkplatz hatte er zwar wahrgenomdem, dem jedoch keinerlei Bedeutung beigemessen.

»Wie lange waren Sie denn gestern in der Schule?«, fragte Hinrichs.

»In der Schulleitung teilen wir uns die Tage, damit immer jemand anwesend ist, bis der letzte Schüler das Gebäude verlassen hat. Ich selbst bleibe dienstags und donnerstags bis gegen 16 Uhr, Frau Hichler montags und mittwochs. Freitags ist schon gegen 13.30 Unterrichtsschluss. Um auf Ihre Frage zurückzukommen, ich habe die Schule gestern um halb drei verlassen, Frau Hichler muss zu dieser Zeit noch dagewesen sein, sie bleibt oft bis weit nach 16 Uhr, auch an ihren ›kürzeren‹ Tagen, also dienstags und donnerstags.«

»Sie haben Frau Hichler also gestern Nachmittag gar nicht gesehen, sich nicht verabschiedet, als Sie gingen. Sehe ich das richtig?« Hinrichs schien verwundert.

»Ja!«

»Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«

Alt musste etwas warten, bevor Flecken antwortete. »Warten Sie mal, ja, das war während der ersten großen Pause, als sie kurz im Lehrerzimmer war.«

»Danach nicht mehr?«

»Nein.«

»Wir müssen natürlich auch mit dem gesamten Lehrerkollegium reden«, stellte Hinrichs fest, »dafür dürfte sich die große Pause am besten eignen.«

»Das passt ganz gut«, erwiderte Flecken, »in fünf Minuten klingelt es zur Pause. Kommen Sie, wir gehen schon mal hinüber ins Lehrerzimmer!«

Dem Korridor nach rechts folgend erreichten sie nach wenigen Metern den an das Sekretariat grenzenden Raum. Darin befanden sich zwei lange parallele Tischreihen mit Stühlen an jeweils beiden Seiten. Recht eng wirkte es, viel Platz schien für die einzelnen Lehrer nicht zur Verfügung zu stehen. Auf den Tischen herrschte ein mehr oder weniger gepflegtes Chaos: Aktenordner, Lehrbücher, Schülerhefte, Stifte, Papierstapel, Kaffeetassen und Plätzchendosen. Sogar eine Topfpflanze fristete ihr Dasein inmitten des Durcheinanders. Den beiden Kommissaren fiel das Fehlen auch nur eines einzigen PCs auf den Lehrertischen auf, lediglich an der Wand zum Sekretariat hing ein großer Bildschirm.

Bald nach dem Pausengong füllte sich der Raum. Einige der etwa 30 Lehrerinnen und Lehrer unterhielten sich im Flüsterton, insgesamt spürte man eine angespannte Stille. Auf den ersten Blick schien es sich um kein allzu junges Kollegium zu handeln mit einem sehr hohen Anteil weiblicher Lehrkräfte. Alt hielt nur eine handvoll Personen im Raum für jünger als 50 Jahre. Etliche schienen die sechzig bereits überschritten zu haben.

»Meine Damen und Herren«, ergriff Alt das Wort und stellte sich und Klaas Hinrichs vor. »Sie alle wissen, aus welchem Grunde wir hier sind. Jeder Hinweis Ihrerseits kann helfen, Ihre Direktorin zu finden. Kann irgendjemand von Ihnen etwas dazu sagen? War gestern etwas merkwürdig, anders als sonst? Gibt es eine Idee, wo Frau Hichler sich befinden könnte?«

Keiner der Lehrerinnen und Lehrer konnte helfen, alle wirkten noch sichtlich geschockt. Statt einer Antwort kam eine Frage.

»Stimmt es, dass von einer Entführung auszugehen ist?«, wollte eine schon ältere Frau mit freundlichem Gesicht und recht kurzen grauen Haaren wissen.

»Wir befinden uns noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen und können keine Möglichkeit ausschließen«, erklärte Alt. »Wer von von Ihnen hat gestern nach 14.30 Uhr Frau Hichler gesehen oder vielleicht auch gesprochen?«

Es meldete sich eine wohl über 60 Jahre alte Frau, deren offensichtlich tiefschwarz gefärbte Haare gar nicht zu ihrem faltenzerfurchten Gesicht und der dicken Brille passten. Sie saß am hintersten Ende einer der Tischreihen und sprach mit feiner, leiser Stimme. Alt und Hinrichs hatten sich vor das Kopfende gestellt und vermochten daher die Frau nur mit Mühe zu verstehen.

»Meine letzte Stunde endete gestern um 15 Uhr. Als ich danach am Sekretariat vorbei Richtung Ausgang unterwegs war, konnte ich Frau Hichler in ihrem Zimmer am Schreibtisch sehen. Die Tür sowohl zum Sekretariat als auch von dort zum Chefzimmer steht nach 14 Uhr fast immer offen, damit Frau Hichler auch von ihrem Schreibtisch aus einen Überblick besitzt.«

»Gesprochen haben Sie sie aber nicht, sehe ich das richtig?«, fragte Hinrichs nach.

»Das sehen Sie richtig.«

Fritz Alt wurde leicht ungeduldig. »Es muss doch andere Kollegen oder Kolleginnen geben, die ebenfalls bis in den Nachmittag hinein Unterricht hatten!«

Es meldete sich ein nicht sehr großer, stämmiger Mann mit freundlichem Gesicht und glatten grauen Haaren. Er trug einen rot-weißen Trainingsanzug und hinkte leicht, wie Alt bemerkt hatte, als der Mann das Lehrerzimmer betrat.

»Ich hatte gestern Sportunterricht in der Turnhalle bis 15.45 Uhr. Danach bin ich natürlich sofort in mein Auto gestiegen und nach Hause gefahren. Das Schulgebäude habe ich nicht mehr betreten.«

»Frau Hilbers, Frau Gentner und ich hatten bis Viertel vor vier Hausaufgabenbetreuung für die Jahrgangsstufen 5 bis 7«, erklärte eine der wenigen jüngeren Lehrkräfte, eine durchaus attraktive Enddreißigerin, so schätzte Hinrichs, mit leicht welligen rötlichen Haaren. »Die Betreuung findet in den drei Klassenräumen im Erdgeschoss statt, damit die Kids danach nicht mehr im Gebäude umherrennen, sondern nach Erledigung der Hausaufgaben direkt nach draußen gehen können. Wir drei kommen nach dem Ende der Betreuung auch nicht mehr ins Lehrerzimmer, wir starten gleich nach Hause durch!«

Eine weitere Lehrerin erklärte, sie habe mit ihrer Töpfer-AG der Klassen 9 und 10 ebenfalls bis 15.45 Uhr im Töpferraum im Keller gearbeitet und sei danach heimgefahren. Es blieb dabei, niemand schien die Schulleiterin später als 15 Uhr gesehen oder gesprochen zu haben.

So verließen Alt und Hinrichs bald etwas ratlos mit dem Konrektor das Lehrerzimmer, um den Hausmeister zu befragen. Vorher äußerte Alt noch eine Bitte an den Stellvertreter.

»Herr Flecken, es wäre wünschenswert, wenn alle Schüler und auch Lehrer die Schule bis etwa 13.15 Uhr verlassen haben, damit wir dann mit unserer Spurensicherung das Gebäude ungestört untersuchen können. Ist das machbar?«

Flecken überlegte kurz. »Die Schüler und auch die Lehrer kann ich früher nach Hause schicken, das ist gar kein Problem. Allerdings haben etliche Schüler für heute das Mittagessen in unserer Mensa im Keller vorbestellt und auch die Abfahrtszeiten der Schulbusse müssten vorverlegt werden. Ich denke, dass ich das soweit umorganiseren kann, dass Ihnen ab ca. 13.15 Uhr das leere Schulgebäude für Ihre Untersuchungen zur Verfügung steht. Ich selbst werde anwesend sein, falls sich noch irgendwelche Fragen ergeben sollten.«

»Weißt du, was ich eigenartig finde?«, fragte Hinrichs, als sie sich vom Konrektor verabschiedet und auf den Weg zum Hausmeister gemacht hatten.

»Was denn?«

»Niemand aus dem Kollegium, noch nicht einmal der Konrektor, hat sich nach Unterrichtsende von der Schulleiterin verabschiedet, alle rauschten an ihrem Zimmer vorbei oder verließen das Gebäude, ohne noch einmal ins Lehrerzimmer zu kommen.«

Fritz Alt hielt das jedoch für ganz normal. »Nach dem langen, anstrengenden Schultag wollten alle möglichst schnell heim«, erklärte er.

Hausmeister Schumann fanden sie in seinem Raum im Erdgeschoss neben dem Treppenhaus. Der abgearbeitet wirkende Mann von etwa Mitte vierzig, eher hager als schlank, mit einem länglichen nichtssagenden Gesicht und einer sehr hohen Stirn hatte ebenfalls keine Erklärung für das Verschwinden der Schulleiterin. Natürlich war ihm am Vorabend Frau Hichlers Golf auf dem Parkplatz aufgefallen, aber er hatte sich darüber keine Gedanken gemacht. Fritz Alt ersuchte den Hausmeister, auf jeden Fall sofort das Schulleiterzimmer mit seinem Generalschlüssel zu verschließen, später am Tag würde die Spurensicherung erscheinen, um eine detaillierte Untersuchung vorzunehmen.

Auf dem langen Korridor, der im Erdgeschoss zum Ausgang hin führte, kam Alt und Hinrichs ein merkwürdiger Mann entgegen. Auf beide wirkte er spontan wie ein aus der Zeit gefallener Alt-68er. Der Endfünfziger trug ausgebeulte Jeans, ein graues Hemd mit offenem Kragen, von dem eine schräg sitzende Krawatte herunterbaumelte und ein schlecht passendes Sakko. Auch die lockigen, viel zu langen grauen Haare und ein auffälliger Oberlippenbart trugen zu dem ungepflegten Eindruck bei, den der Mann vermittelte. Unter dem rechten Arm trug er eine Aktenmappe.

Mit knappem Gruß, einem angedeuteten Kopfnicken, stiefelte er an Alt und Hinrichs vorbei. Diese hatten jedoch anderes zu tun, als sich über den Unbekannten den Kopf zu zerbrechen. Vielleicht jemand, der sich beschweren wollte?

»Wie gehen wir weiter vor?«, fragte Hinrichs, als die beiden den Schulhof durchquerten, auf dem nun kein Schüler zu entdecken war. »Meinst du, Cuypers und seine Leute werden in dem Raum noch etwas finden, das uns weiterhilft?«

»Ich hoffe sehr«, erwiderte Alt. »Unsere Spurensicherung leistet immer eine hervorragende Arbeit, aber im Augenblick denke ich an etwas anderes. Die Idee einer Entführung halte ich für sehr unwahrscheinlich. Wie sollte man die Frau aus ihrem Raum eine Etage hinunter, den Erdgeschossflur entlang und dann noch fast 200 Meter quer über den Schulhof zum Parkplatz geschafft haben, ohne dass das auffiel?«

Hinrichs stimmte zu. »Ich hätte als Entführer einfach auf dem Parkplatz gewartet, bis sie dort erschien und sie dann in mein Fahrzeug verladen. Das wäre deutlich einfacher gewesen.«