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Paul Heinze wird tot aufgefunden. Hat ihn ein Junge mit dem Fahrrad überfahren, wie der Hausmeister vermutet? Die Polizei stockt mit den Ermittlungen. Inzwischen treffen wir den Unfallchirurgen Mario Rosso, den Dealer Luis - der Sohn des Toten, sowie den 17-Jährigen Psychopathen Jonas. Um diesen kümmert sich Dr. Feldmann. Auch der verkrachte Schriftsteller Karsten und seine Freundin Katrin sind involviert. Wer von diesen merkwürdigen Gestalten könnte etwas wissen? Was verbindet sie mit dem Tod von Paul Heinze?
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Seitenzahl: 264
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Wer hat Paul Heinze getötet?
Herbert Feid
Impressum:
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Veröffentlicht im Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Juni 2022
1. Auflage
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2022 Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Texte: © Copyright by Herbert Feid
Lektorat: Kathrin Grunert
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Coverdesign: Valmont Coverdesign
Bildmaterial: Canva, Pixabay
Layout: Verena Valmont
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.
Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Mittelheide 23
49124 Georgsmarienhütte Deutschland
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„Wie gut wäre dieses Land, wären nur seine Kriminellen kriminell“
- Paulheinz Deschner
Sommer, Sonntag, der heißeste Tag des Jahres
Der Tag war heiß, zu heiß. Heißer als die Tage davor, die Frau Wagner schon als zu heiß empfunden hatte. Sie hatte das Fenster weit geöffnet, sich ihr Lieblingskissen mit den gehäkelten Rosen auf die Fensterbank gelegt und schaute nun mit verschränkten Armen hinaus. Das war für sie interessanter, als der Fernseher, der hinter ihr in einer Ecke unbeachtet lief, denn hier vor ihrem Fenster war immer etwas los, wenn sie nur geduldig wartete. Und Zeit hatte sie zu Hauf als Rentnerin.
Doch heute war es anders. Die drückende Hitze machte ihr zu schaffen und vertrieb alles Leben. Gegenüber im kleinen Park war niemand zu sehen, kein Kinderjauchzen von der Schaukel zu hören und selbst das Vogelgezwitscher war verstummt. Die Tiere im kleinen Streichelzoo lagen wie gefällt im Gras. Überall Tristesse. Der Plattenweg, der sich durch die Parkanlage bis hinauf zu einem Hügel schlängelte und wieder hinunter, war menschenleer, als ob eine Ausgangssperre herrschte.
Oben auf dem Hügel versammelten sich normalerweise Jungs, denn die Abfahrt von dort benutzten sie nur zu gerne, um auf ihren Fahrrädern mit genügend Schwung den sich windenden Weg, eigentlich als Spielstraße gedacht, herunterzurasen.
Die Serpentine nach unten führte dicht an Frau Wagners Fenster vorbei. Sie konnte deren vor Aufregung glühenden Gesichter und die vom Hochgefühl wegen der verbotenen Geschwindigkeit weit aufgerissenen Augen der Jungs erkennen, wenn sie an ihr wie der Wind vorbeibrausten, bis sie schließlich nach dem etwa einhundert Meter entfernten Hochhaus um die Ecke bogen.
Kurz danach mussten sie mit aller Gewalt abbremsen, denn dort mündete der Plattenweg in eine viel befahrene Straße. Das Bremsen machte den Kindern immer großen Spaß, wenn dabei Sand und Steinchen vom Weg nur so aufspritzten.
Ihr Gejohle war dabei so laut, dass es sogar manchmal bis zu Frau Wagners Fenster drang. Natürlich war immer der am allercoolsten, dessen herumgeschleudertes blockiertes Hinterrad schon fast auf der Fahrbahn stand, nur Zentimeter von den vorbeifahrenden Autos und LKWs entfernt. Das war der Kick für sie.
Im Fernseher endete gerade das Vormittagsprogramm, das erkannte Frau Wagner an der Musik, es musste also kurz vor elf Uhr sein. Während sie noch unschlüssig war, ob sie sich heute nicht lieber vor den Fernseher setzen sollte, bemerkte sie auf dem Hügel eine Gestalt. Was sie nicht aus der Entfernung erkennen konnte, es war ein Junge, der ungeduldig wartete, bis der Minutenzeiger seiner Uhr genau auf drei Minuten vor Elf stand und der Sekundenzeiger von der Zwölf abrückte, es also exakt drei Minuten vor elf Uhr war, um loszubrausen. Doch sein neuer Freund Wolfgang hatte ihm plötzlich gemailt, den Versuch heute abzubrechen in exakt sieben Minuten an der Hauptstraße zu sein. Er musste dafür nach etwa fünf Minuten das Hochhaus passieren. Sie könnten es später nachholen. Er würde sich wieder bei ihm melden. Nun war Wolfgang nicht gekommen und er extra bei der Hitze hierher hinaufgefahren. Fünf Euro hatte der ihm versprochen, wenn er die Strecke in sieben Minuten schafft.
„Also, heute noch einmal ein Probelauf“, murmelte er enttäuscht zu sich, „dann verdiene ich mir eben die fünf Euro beim nächsten Mal. Die andern Jungs schaffen das nie so korrekt wie ich. Da bin ich mir sicher.“ Als es endlich drei Minuten vor elf Uhr war, stieß er sich energisch ab und begann seine Fahrt abwärts.
Die Gestalt, die sie auf dem Hügel wahrgenommen hatte, kam langsam näher, gewann an Geschwindigkeit und brauste auf einem Fahrrad auf sie zu. Heute war es also nur einer, der es bei der Hitze bis oben auf den Hügel geschafft hatte, um den Nervenkitzel einer rasanten Abfahrt zu erleben, lächelte sie in sich hinein. Einige Bewohner hatten sich mehrmals bei der Polizei beschwert, dass Jugendliche auf dem eigentlich nur als Spielstraße gebauten Weg viel zu schnell fuhren, was natürlich nicht nur für die Fußgänger gefährlich war, sondern auch für sie selbst. Aber bis auf ein Hinweisschild ‚BITTE LANGSAM FAHREN‘ am Beginn der ersten Neigung, war nichts geschehen.
Frau Wagner hatte sich nicht an der Aktion beteiligt. Sie war der Meinung gewesen, man sollte den Kindern nicht immer gleich jeden Spaß verderben.
Als Kind war sie lieber mit den wildesten Jungs unterwegs gewesen, als mit ihresgleichen. Dass sie sich dabei einmal den Arm gebrochen hatte und einen Gipsverband tragen musste, empfand sie damals als Auszeichnung, zu den Jungs zu gehören.
Als die Person sich rasant ihrem Fenster nähert, erkannte sie diese sofort an den zu vielen schwarzen Haaren, die ihm immer in die Augen fielen, jetzt aber vom Fahrtwind wie eine Fahne nach hinten gedrückt wurden. Sowie an den wie mit Farbe Weiß bekleckerten ausgefransten dunkelblauen Jeans mit Löchern drin, die er oft anhatte. Das war Stas.
Als er im roten T-Shirt mit dem frechen Spruch ‚Ist Mir Egal‘ vorbeibrauste, winkte sie ihm zu, aber er bemerkte sie nicht.
Tief über den Lenker gebeugt, um den Luftwiderstand so niedrig wie möglich zu halten, blickten seine schwarzen Augen nur starr nach vorne
Er war ein netter Junge, das wusste sie, höflich und er lächelte stets. Schon zweimal hatte er für sie Besorgungen gemacht, als sie sich beim Gardienen aufhängen den Fuß verrenkt hatte und nicht zum Einkaufen gehen konnte. Vom Fenster ihrer Hochparterrewohnung hatte sie ihn angesprochen.
„Hallo, Junge, kannst du mir bitte einen großen Gefallen tun?“
„Na klar doch, was gibt‘s denn?“
Und als sie ihm das Malheur mit ihrem Fuß erzählt hatte, da hatte er sie nur angelacht, einfach den Einkaufskorb und das Geld genommen und war wohlgelaunt davongeradelt.
Für einen Moment war sie sich nicht sicher gewesen, ob es das Richtige war, einem ihr unbekannten Kind fünfzig Euro in die Hand zu drücken und sie hatte mit Herzklopfen auf seine Rückkehr gewartet. Es hatte gedauert, aber er war mit verschwitzen Haaren und einem Lächeln auf dem Gesicht mit dem Einkauf und dem Wechselgeld zurückgekommen.
Als sie ihm zwei Euro in die Hand gedrückt hatte und er sich mit einem Lächeln und einem angedeuteten Kopfnicken bedankte, hatte sie ihn nach seinem Namen gefragt.
„Ich heiße Stas“, war mit Stolz in der Stimme seine Antwort gewesen.
„Stas …, das ist aber ein seltener Name.“ Mehr wusste sie im Augenblick nicht zu sagen.
„Ja, denn mein Vater war Russe. Es ist ein russischer Name.“ So hatten sie sich damals kennengelernt. Gern hätte sie mit ihm noch etwas gesprochen, aber er war schon wieder weg.
Als er jetzt an ihrem Fenster vorbeigefahren war, blickte sie ihm solange nach, bis er um die Ecke beim Hochhaus verschwand. Sie strengte sich an, um vielleicht sein Jauchzen zu hören, wenn er vor der Hauptstraße wegen des starken Verkehrs abbremsen musste. Sie glaubte, etwas zu vernehmen, aber es klang nicht nach einer Kinderstimme, mehr nach einem dumpfen Aufschlag.
Manchmal hatten die Jungs noch nicht genug und schoben schweißüberströmt mit glühenden Wangen ihre Fahrräder noch einmal auf den Hügel. Das war damals auch so gewesen, als sie ihn vom Fenster her angesprochen hatte. Ob Stas auch heute noch einmal vorbeikommen würde?
Ich könnte Hallo sagen, überlegte sie, denn er ist allein. Vielleicht könnte ich ihn fragen, wie lange er schon in Deutschland lebt und warum er gesagt hatte, mein Vater war Russe. Ob er gestorben ist? Aber in seine Privatsphäre wollte sie auch nicht eindringen. Nur etwas mit ihm plaudern, das wäre schön. Ob er auch im Hochhaus wohnte? Dort gab es zahlreiche Ausländer, viele Türken und Familien aus dem Iran. Doch von Russen hatte sie noch nie etwas gehört.
Sie wartete, aber sein schwarzer Haarschopf erschien nicht mehr. Das macht sicherlich die Hitze, überlegte sie, und er ist erschöpft nach Hause gefahren und geht lieber baden.
Frühling, drei Wochen früh
Mario Rossi war ein gutaussehender Italiener, Ende dreißig, braun gebrannt, mit schwarz glänzenden, lockigen Haaren, dunklen, geheimnisvollen Augen und einer nach unten gebogenen Nase. Einer römischen Nase. Er maß stolze ein Meter sechsundachtzig und schritt stets in kühner Kopfhaltung daher, genau wie es ein römischer Imperator sicherlich getan hätte. Obwohl in Deutschland geboren, umgab ihn die romantische Aura eines Ausländers, besonders wenn er das R rollte und die Vokale beinahe sang. Mario Rossi hatte es zu einem erfolgreichen Unfallchirurgen gebracht.
Er stand augenblicklich auf, als er seine Geliebte das Restaurant betreten sah, ging auf sie zu, umarmte sie galant und drückte ein Küsschen rechts und links auf ihre geröteten Wangen. Ganz der vollendete Kavalier, half er ihr gewandt aus dem regennassen Mantel, hängte ihn an den Garderobenständer und rückte ihr einen Stuhl am Tisch zurecht. Beim Hinsetzten gab er ihr im Vorbeigehen einen Kuss auf den Hals, was ihm mit einem Lächeln quittiert wurde.
„Schön, dass du da bist, mein Elfchen. Es soll nachher ordentlich regnen. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, du hättest anrufen sollen und ich wäre sofort zum Krankenhaus gefahren, um dich abzuholen. Inzwischen habe ich schon etwas die Karte studiert, hier schau mal.“ Er reichte ihr die aufgeschlagene Karte und blickte sie wie ein verliebter Teenager an. „Was möchtest du, Rita? Du bist doch sicher hungrig nach dem arbeitsreichen Tag. Suche dir bitte aus, was du magst. Ich bin sicher, hier schmeckt alles köstlich.“
„Ich nehme das Gleiche, wie du. Ihr Italiener kennt euch beim Essen am besten aus“, lachte sie Mario ins Gesicht. „Ich würde auch gern wieder mal bei dir zu Hause essen, du kochst wunderbar.“
„Danke, ich werde dich in Zukunft jeden Tag verwöhnen, wenn wir erst verheiratet sind. Wie war es heute bei dir auf der Station? Wir hatten bei uns in der Praxis nur relativ wenige Notfälle zu versorgen. Aber sonst läuft meine Praxis ausgezeichnet und du wirst mit deiner Arbeit auf jeden Fall zufriedener sein, als jetzt im Krankenhaus, wenn wir zusammenleben und arbeiten.“
„Bei mir auf der Station ging es tagsüber ausnahmsweise eher ruhiger zu, jedoch gegen Abend war plötzlich wieder die Hölle los. Aber ich habe mich dennoch freimachen können. Ich freue mich doch immer so sehr auf die Abende mit dir und auf danach.“
„Es wäre schön Rita, wenn wir endlich mit dem Versteckspielen aufhören könnten. Wie du weißt, meine Eltern drängen auf unsere Hochzeit. Vorher wollen sie leider auf keinen Fall, dass wir zusammenwohnen. Nun, sie sind eben hoffnungslos altmodisch, da kann man nichts machen und ich bin ihr einziges Kind. Es gab einen furchtbaren Krach, als sie gemerkt haben, dass du letzte Woche wieder bei mir übernachtet hast. Wie steht die Sache mit deinem Mann? Hast du in den letzten Tagen mit ihm über uns sprechen können? Du hattest es mir doch zugesagt.“
„Natürlich, das habe ich. Aber es ist immer dasselbe. Er will mich auf keinen Fall loslassen. Ich habe ihm klipp und klar gesagt, was ich von unserer Ehe und unserem nichtexistierenden Sexleben halte und wie immer ist seine Antwort: ich werde mich bessern! Aber du weißt, es geht mir besonders um unsere Tochter Kira. Ich habe Angst, ob und wie sie die Trennung von ihrem Vater verdauen wird. Sie ist sehr auf meinen Mann fixiert und genauso auf ihren Opa.“
„Kinder finden sich schnell zurecht, das wird schon klappen. Arrangiere doch einmal, dass ich deine Kira irgendwie treffen kann. Ich mag Kinder gern. Wir werden uns bestimmt gut verstehen und sag mir, was deine Prinzessin gerne mag, vielleicht kann ich ihr damit eine Freude bereiten und sie gewöhnt sich an mich.
Übrigens, vorgestern habe ich mit meinem Rechtsanwalt die Angelegenheit erneut durchgesprochen. Er wird die Scheidung durchboxen, du brauchst dich um gar nichts zu kümmern und Kira wird natürlich dir zugesprochen. Dein Mann hat seine Firma um die Ohren, währen du genügend Zeit haben wirst, dich als Hausfrau um das Wohl des Kindes zu kümmern. Die Arbeit in meiner Praxis kannst du dir immer kindgerecht einteilen, das verspreche ich dir fest. Meinst du, wir könnten deinem Mann etwas anhängen, eine Liebschaft oder so? Ihr habt doch auch weibliche Angestellte. Ob da was läuft?“
„Nein, so ist er nicht. Das kann ich mir von ihm nicht vorstellen und ich fände es auch unfair ihm gegenüber, so etwas hinzubiegen.“
„Da hast du bestimmt recht, mein Schmetterling. Es war auch keinesfalls meine Idee. Der Rechtsanwalt meinte nur, es würde helfen.“ Im Stillen ärgerte er sich, wieder einmal, wie so oft, zu schnell vorgeprescht zu sein.
Als die Bedienung erschien gab Mario Rossi die Bestellung auf: Für jeden einen Frühlingssalat, als Suppe Velouté vom Bauernhuhn, für den Hauptgang geschmorte Pyrenäen-Lammschulter und zum Abschluss Crumble mit Rhabarber und Erdbeerschmand. Als Wein orderte er eine Flasche Château Monbrison.
„Du weißt, heute ist es genau ein Jahr her seitdem wir uns auf dem Ärztekongress zum ersten Mal begegnet sind. Das müssen wir groß feiern. Ich hoffe sehr, dass wir heute in einem Jahr die Trauung schon lange hinter uns haben und glücklich zusammenleben.“
„Stoßen wir darauf an, Mario, dass alles klappt. Ich wäre auch froh, wenn endlich alles über die Bühne gegangen ist. Bestehen deine Eltern immer noch auf einer kirchlichen Trauung? Oder konntest du sie davon abbringen. Das wäre schön. Ich bin nicht gläubig, wie man so sagt, und wir haben Kira auch erst gar nicht taufen lassen. Ehrlich gesagt, ich war seit frühster Kindheit nie mehr in der Kirche und vermisse sie auch nicht.“ Die Bedienung brachte den Salat und auf einem Teller geröstete Brotscheibchen mit Schmalz.
„Meine Eltern sind leider vorsintflutlich in ihren Vorstellungen und Italiener, römisch-katholisch, da ist nichts zu machen.“ Mario Rossi lachte laut auf. „Ich war noch nie verheiratet, aber du bist dann geschieden. Ich weiß nicht, ob das als ein Heiratshindernis gilt. Ich muss das noch untersuchen. Ich glaube, bei uns Katholiken wäre es sicher ein Hindernis, aber mit den blöden Regeln komme ich auch nicht zurecht. Ich bin eben auch kein großer Kirchenfan. Auf jeden Fall träumen meine Eltern von einer weißen Hochzeit mit Glockengeläut und Orgelmusik und einem Priester im Ornat. Am liebsten hätten sie einen Bischof“, wobei er laut auflachte. „Ich halte ja auch nichts davon, aber einmal im Leben kann man ja seinen Eltern mal ein Opfer bringen und zur Kirche gehen.“ Ein breites Schmunzeln zog über sein Gesicht, das Rita immer so gerne mochte. „Sie lassen es sich auch etwas kosten. Wir haben damit nichts zu tun.“ Der Wein kam und die beiden stießen an. „Auf uns und auf unsere Zukunft.“
„Du, Mario, ich habe mir überlegt, wenn sich mein Mann weiterhin so stur stellt, ob ich nicht den Heinze bitten sollte, einmal mit meinem Schwiegervater zu sprechen. Was meinst du? Es ist mir ungemein wichtig, dass alles glatt läuft, wir uns friedlich trennen und Kira nicht unter der Scheidung leidet. Auf keinen Fall soll sie zwischen mir und meinem dann Ex hin und her gerissen werden.“
„Du meinst euren Angestellten, den Paul Heinze?“
„Ja, genau, er ist ein guter Freund von meinem Schwiegervater. Sie spielen ab und zu Schach und er bleibt danach oft noch zum Abendessen. Er ist ein Gentleman alter Schule. Ich mag ihn sehr und ich glaube, er mich auch.
Ich bin sicher, er hat einen positiven Einfluss auf meinen Schwiegervater und der könnte seinen Sohn bewegen, der Scheidung zuzustimmen. Es ist alles schwer für mich, schließlich war ich mit meinem Mann fast acht Jahre verheiratet und seine Eltern haben mich aufgenommen, wie ihre Tochter.“
„Lass uns erst einmal die Suppe genießen, mon chérie.“ Nach einigen Minuten fuhr Mario Rossi fort: „Ich denke, es wäre super, wenn der Heinze deinen Mann rumkriegen könnte, sonst müssten wir uns etwas Anderes überlegen. Ich liebe dich und kann nicht ohne dich leben. Wir beide gehören einfach zusammen.“
„Mario, das fühle ich auch. Es ist ein ganz anderes Leben mit dir, als mit meinem Mann. Lass uns das schöne Essen nicht mit solchen Problemen verderben. Freuen wir uns auf eine aufregende Nacht.“
Sommer, Sonntag, der heißeste Tag des Jahres
Als Herr Thomsen verschwitzt, von seinem Sonntagsspaziergang aus dem Fahrstuhl kommend, die halbe Treppe zur Wohnung herabstieg, vernahm er schon im stuckverzierten Treppenhaus die helle Stimme und das Lachen seiner Enkelin. Kira war also wieder einmal da, wie schön! Mit dem Namen konnte er sich immer noch nicht anfreunden, aber er vergötterte die kleine Fünfjährige umso mehr. Wie war sein Sohn oder dessen Frau nur auf so einen neumodischen Namen gestoßen. Er hatte Marlis vorgeschlagen, war aber auf taube Ohren gestoßen, angeblich zu altmodisch, hieß es. Es wird ein schöner Abend mit ihr werden, und sein Mund verzog sich dabei zu einem Lächeln. Natürlich müsste er noch und noch Geschichten vorlesen. Für die ‚Kleine Raupe Nimmersatt‘ war Kira schon zu alt, aber von Geschichten über Pferde, konnte sie nie und nimmer genug bekommen. Herr Thomsen las ihr gerne vor und hoffte dabei immer im Geheimen, dass sie nicht zu schnell einschlief, wenn sie ab und zu bei ihnen übernachtete. Ihre Mutter hatte oft Nachtdienst im Krankenhaus und sein Sohn Christian saß nicht selten bis spät abends in der Firma.
Kaum hatte er die Wohnungstür aufgeschlossen, da sprang ihm auch schon Kira, wie von einer Zwille abgeschossen, in seine Arme.
„Opa!“
„Hallo, mein Engelchen, schön dass du uns wieder einmal besuchst. Ich freue mich immer, wenn du hier bist.“ Und damit bekam sie einen dicken Schmatzkuss auf die Stirn. Seine Freude über den unerwarteten Besuch war groß. Als er mit Kira auf dem Arm das Wohnzimmer betrat, erhob sich sein Sohn Christian sofort vom Sofa und streckte ihm seine Hand entgegen.
„Guten Abend Pa, machst du sogar bei dieser Hitze deine Abendspaziergänge? Du bist ja ganz verschwitzt. Und du, Kira, lass mal Opa für einen Augenblick los, er ist müde.“
„Natürlich, ich will doch fit bleiben. Ich gehe mich gleich duschen, danach können wir zusammen zu Abend essen, oder hast du dazu wieder keine Zeit? Ein bisschen möchte ich nachher noch mit Kira spielen, wenn sie schon da ist.“ In Gedanken war er nicht mehr bei seinen Worten, als er ins düstere Gesicht seines Sohnes schaute. Es kriselte in dessen Ehe. Brachte er schlechte Nachrichten? Das Thema Scheidung stand schon seit einiger Zeit im Raum. War es jetzt soweit? Und wo blieb dann Kira?
„Eigentlich haben wir heute nicht viel Zeit. Ich bin nur auf einen Sprung vorbeigekommen. Rita erwarte ich aus dem Krankenhaus in einer Stunde und sie will endlich wieder einmal mit Kira einen Abend verbringen.
Die Nachtschichten im Krankenhaus nehmen immer mehr zu. Das geht schon seit Wochen so. Sie ist mit den Nerven allmählich am Ende.“
„Schade, aber etwas Zeit lass mir bitte für Kira, wenigstens zehn Minuten. Ich gehe nur schnell duschen. Vorgestern habe ich ein Buch mit einem großen Pferdekopf auf dem Umschlag gesehen und es gleich gekauft. Ich bin gespannt, ob es für Kira interessant ist.“
„Christian möchte mit dir etwas Wichtiges besprechen.“ Frau Thomsen kam aus der Küche, lächelte Ihren Mann verlegen an und schob die wiederstrebende Kira hinein. Tränchen rannen, sie wollte bei Opa bleiben. „Nachher kannst du noch etwas mit Opa zusammen sein“, tröstete Frau Thomsen ihre Enkeltochter. „Ich mache dir jetzt etwas Leckeres in der Küche.
Etwas Wichtiges besprechen. Herr Thomsens Herz zogt sich zusammen, es war also soweit?
„Christian, was gibt es, ist etwas passiert? Lass es einfach raus“, versuchte er möglichst sorgenfrei zu klingen. Das Gesicht seines Sohnes wurde augenblicklich ernst und er zog seinen Vater aufs Sofa.
„Unser Fahrer, der Heinze ist gestorben.“ Die Eheprobleme seines Sohnes waren für den Moment unbedeutend geworden, jedoch der heftige Herzschlag blieb.
„Gestorben? Aber es hieß doch, dass er mit seinem Krebs noch Jahre weiterleben kann. Hat es doch Komplikationen gegeben?“
„Nein, das wohl nicht. Die Todesursache ist noch nicht klar. Er ist von einer Passantin tot vor der Haustüre aufgefunden worden. Mehr weiß ich im Augenblick auch nicht.“
„Was, tot vor der Haustüre aufgefunden worden? Vor dem Hochhaus wo er wohnt?“ Er starrte seinen Sohn an. Paul Heinze ist tot. Erst letzte Woche hatten sie sich gesund und munter in ihrem Stammcafé ‚Bei den Zuckerbäckern‘ zu einer Partie Schach getroffen. Und für morgen Abend war hier bei ihnen zu Hause die nächste Zusammenkunft verabredet worden, denn es war eine Hängepartie geblieben. Paul war als nächster dran, aber er würde nie mehr ziehen können. „Ich kann es immer noch nicht fassen.“ Herr Thomsens Gesicht war fahl geworden. „Woran ist er gestorben? Ein Schlaganfall oder was könnte es anderes gewesen sein?“
„Vielleicht ein plötzliches Herzversagen, wer weiß. Als die Polizei anrief, dachte ich sofort an einen Verkehrsunfall, aber ich bin erleichtert, dass es keiner war. Du weißt, das bringt immer Scherereien mit sich.“ Für einen Augenblick breitete sich Stille zwischen den beiden Männern aus, ehe Christian fortfuhr. „Er war einer unserer besten Fahrer. All die drei Jahre, seitdem er zu uns kam, hatte er nie einen Unfall und alle Auslieferungsaufträge hat er stets gewissenhaft ausgeführt. Er war bei allen unseren Kunden außerordentlich populär. Wir werden ihn in der Firma sehr vermissen.“ Nach einer Weile des Schweigens fragte er: „Hat er eigentlich außer seinem Sohn noch andere Verwandte? Seine Frau ist schon, wie ich weiß, vor drei Jahren verstorben.“
„Ich weiß es nicht.“ Herr Thomsen schüttelte bedauernd den Kopf. „Wohl nur den einen Sohn. Seid ihr von ihm benachrichtigt worden?“
„Nein, Vater, von einem Polizisten. Sein Sohn war anscheinend vollkommen zusammengebrochen, als er die Nachricht vom Tod seines Vaters hörte. Er bat die Polizei, uns zu benachrichtigen, damit wir wissen, dass sein Vater morgen nicht mehr wie sonst immer, zum Dienst erscheint.“
„Ich kenne Heinzes Sohn nicht persönlich“, nahm Herr Thomsen das Gespräch wieder auf. „Ich weiß über ihn nur, was Paul beim Schachspiel so nebenbei erwähnt hat. Und das war nicht viel. Es war ihm stets unangenehm, wenn ich ihn darauf ansprach. Was er arbeitet oder wovon er lebt, wusste er nicht. Er hat mir erzählt, dass er ihn ab und an kurz besucht, ihn fragt, ob alles in Ordnung ist und wenn er etwas brauchte, hat es sein Sohn für ihn erledigt. Danach verschwand er wieder spurlos für ein, zwei Wochen. Er hat wohl auch Sachen bei seinem Vater untergestellt, einen Koffer und auch manchmal ein paar Kartons. Natürlich freute sich Heinze über die gelegentlichen Besuche, das habe ich seinen Worten entnommen und ich glaube, er liebte seinen Sohn sehr. Er erzählte, dass er gern mit ihm zu Abend gegessen hat. Einfach nur Käse, Weißbrot und dazu eine Flasche Rotwein.“
Christian strich sich mit der rechten Hand über Augen und Gesicht und schwieg für einen Augenblick. „Wir werden erst einmal ohne unseren guten Heinze auskommen müssen. Ich versuche möglichst schnell einen Ersatz zu finden. Leider geht das nicht so im Handumdrehen und du weißt, unser Geschäft brummt und wir kommen mit den vielen Aufträgen kaum noch hinterher. Ich habe deshalb heute eine große Bitte an dich: Wenn es geht, Vater, unterstütze uns bitte für ein paar Tage beim Ausfahren, höchstens eine Woche. Das würde sehr helfen.“
„Natürlich mache ich das, keine Frage, auch noch länger, da kannst du auf mich zählen. Aber als Gegenleistung“, und dabei blickte er seinen Sohn schelmisch an, „gib mir nach dem Duschen bitte zehn Minuten mit Kira, ehe ihr aufbrecht. Ich möchte ihr doch zu gerne noch etwas aus dem neuen Buch vorlesen.“
Während Herr Thomsen Kira die Geschichte vom Pferd Wildfang mit seinen Abenteuern vorlas und Kiras Tränchen allmählich trockneten, drängte sich der plötzliche Tod immer mehr in seine Gedanken, und schon bald verlor er den Faden der Geschichte. Er beschloss, schnellstmöglich die Stelle zu besuchen, wo sein Freund verstorben war, um dort einen Strauß Veilchen niederzulegen, die Lieblingsblumen seines Schachpartners.
Ein Tag im Frühling, Jonas
Der elektronische Wecker zeigte 5:16 Uhr. Seit einer Stunde war sie wach, wälzte sich im Bett hin und her. Sie konnte den Morgen nicht erwarten. Alles, was es vorzubereiten galt, hatte sie gestern Abend erledigt. Noch war es viel zu früh, aufzustehen. Sie drehte sich zur Wand und schloss zum hundertsten Mal die Augen. Telefonanruf. Sie sollte schnell zur Schule kommen. Ihr Sohn hatte wieder etwas angestellt. Dieses Mal war es nicht beim Köpfen der ausgestopften Eule im Biologieraum geblieben oder dem Haarabschneiden des Mädchens während des Unterrichtes in der Reihe vor ihm. Etwas sehr Schlimmes war passiert. Sie öffnete die Augen und starrte auf die Wand dicht vor ihr. Wie wird sich mein Sohn all die Jahre gefühlt haben, eingesperrt zwischen Mauern, ging es ihr durch den Sinn. Jonas, Jonas, was ist nur aus dir geworden? Du fehlst mir so sehr. Sie wälzte sich zur anderen Seite. War er nicht ein süßes Baby und ein begabtes Kind gewesen. In der Grundschule war er immer der Beste und die Empfehlung aufs Gymnasium war eine reine Formsache. Doch plötzlich der Absturz.
Habe ich etwas falsch gemacht? Ist alles meine Schuld? War meine Scheidung Schuld und dass er nicht mit seinem Vater aufwuchs?
Die Zensuren blieben weiterhin sehr gut. Klagen über Jonas kamen erst gelegentlich, schon bald wöchentlich und schließlich fast täglich.
Es war bestimmt falsch, dass sein Klassenlehrer ihn lange Zeit deckte, nur weil er ein begabter Schüler war. Er ist ein wilder Junge und ist in der Pubertät. Es wird sich legen, hieß es als Entschuldigung immer und immer wieder, wenn ihn seine Kollegen drängten, den Jungen von einem Psychiater untersuchen zu lassen. Erst durch Eltern hatte sie erfahren, dass ihr Sohn Kindern Sachen wegnahm und sie zerstörte, die Mädchen an den Haaren zog und auf sie einschlug, auch ins Gesicht, und sich an ihren Tränen erfreute.
Als sie an dem Tage mit seinem Klassenlehrer sprach, war es ihr, als fiele sie in einen tiefen Abgrund.
„Ihr Jonas ist ein intelligentes Kind, ich persönlich mag ihn sehr gerne, aber es kommt mir jetzt manchmal vor, wie soll ich es sagen, als zeige er Symptome“, Jonas Klassenlehrer stockte, „vielleicht Symptome eines Psychopathen. Zuerst dachte ich, es ist die Pubertät und es geht vorüber, aber ich habe mich geirrt und es verschleppt, ihn von einer kompetenten Stelle untersuchen zu lassen. Ich fürchte, ihr Sohn ist möglicherweise seelisch krank. Er scheint in einer Welt ohne jegliche Empathie zu leben und legt dabei ein ungewöhnliches Aggressionsverhalten an den Tag. Es sind seine Augen, die plötzlich abirren.“ Jonas‘ Klassenlehrer hatte sie lange angeschaut.
„Es tut mir sehr leid, aber ich muss ihren Sohn leider von der Schule verweisen, er hat einen schlechten Einfluss auf einige labile Jungs, die in ihm den Größten sehen und ihm nacheifern, leider nicht in den schulischen Leistungen. Bitte, konsultieren sie einen Arzt. Ich weiß nicht, ob er wirklich ein Psychopath ist, das muss ein Psychologe entscheiden. Heute wäre es fast zu einem Todesfall gekommen. Nur das zufällige Vorbeigehen eines Lehrers hat sein Opfer gerettet. Sonst wäre das Mädchen ertrunken.“
Das war für sie ein Schock. Sie besuchte über Wochen mit ihrem Sohn verschiedene Ärzte und Psychologen, hatte Hoffnung, dass alles noch gut werden würde, aber die Diagnosen waren stets niederschmetternd gewesen. Ihrem Sohn fehlt das seelische Gegengewicht, hieß es immer.
Nur einmal schöpfte sie bei einer Konsultation etwas Hoffnung.
„Sehen Sie, Frau Beckmann, schätzungsweise fünf Prozent der Bevölkerung sind Psychopathen. Die Situation Ihres Sohnes ist also nichts Außergewöhnliches. Einige enden als Schwerverbrecher im Gefängnis, aber natürlich längst nicht alle. Andere schaffen es sogar bis in eine Chefetage. Ihr Sohn muss therapiert werden, er muss für eine gewisse Zeit in ein geschlossenes Heim und wird es nur verlassen können, wenn die Therapien Wirkung zeigen, sonst möglicherweise nie mehr. Aber das glaube ich bei Ihrem Sohn nicht, wenn er nur früh genug therapiert wird. Er ist ja noch jung.“
„Nein, ich gehe niemals in ein Heim“, hatte Jonas sie angeschrien. „Du weißt“, brüllte, dann schluchzte er, „ich hab doch nichts Böses getan und will nicht weggeschlossen werden. Ich werd mich ändern, ein guter Junge werden, das verspreche ich dir. Ich weiß auch nicht, was mit mir los war. Ich mache bestimmt so etwas niemals wieder.“ Seine Bitten, seine Tränen, seine Verzweiflung konnte sie damals kaum ertragen.
Mit seinen dreizehn Jahren war Jonas nicht strafmündig. Aber wegen des schweren Vorfalls und der Diagnosen von Medizinern und Psychologen, wurde er in eine geschlossene Anstalt eingewiesen. Der Rechtsanwalt, den seine Mutter eingeschaltet hatte, konnte es nicht verhindern. Auch ein von ihm bestelltes positives Gutachten nicht. Jedes Mal, wenn sie ihren Sohn zur Besuchszeit traf, verloren seine ehemals schönen blonden Haare mehr an Glanz. Er war wurde verbitterter und in sich gekehrter. Sein Gesicht wurde immer spitzer. Die Wut auf denjenigen, der ihn hierher, in dieses Heim, gebracht und von der Welt abgeschnitten hatte, wuchs von Tag zu Tag. Seine Augen wurden kalt und kälter.
„Mama, hol mich hier raus“. Tränen flossen über sein Gesicht. „Ich verschimmele hier, bitte! Ich bin doch noch jung, hab Träume und will leben, etwas erleben, zur Nordsee fahren und da tauchen. Hier kratze ich ab, wenn ich nicht endlich wieder frische Luft atmen kann.“ Aber was hätte sie tun können, außer ihn zu bitten, durchzuhalten. Immer wieder. Es lag nicht an ihr oder ihm, es lag an den Gutachten, ob er das Heim verlassen konnte oder nicht.
Heute war nun der Tag auf den Jonas und sie so unendlich lange gewartet hatten. Er durfte schließlich die Anstalt, aber nur unter strengen Auflagen, verlassen.
Inzwischen war er siebzehn geworden. Sie richtete sich im Bett auf. Eigentlich hatte sie gehofft, ihren Sohn am ersten gemeinsamen Tag alleine treffen zu dürfen, aber sie musste ihn zusammen mit seinem Betreuer abholen. Es wird eine schwierige Zeit werden, das wusste sie, denn nur ein einziger Rückfall bedeutete wieder Heim. Der Betreuer, Dr. Feldmann, war ein junger Arzt, nicht so behäbig wie die Professoren, mit denen sie es bisher zu tun gehabt hatte, und sie hoffte, ja sie war sich sicher, er wird sich mit Jonas vertragen.
Dreimal hatte sie ihn getroffen. Sie hatten sich ausgetauscht und auch sofort verstanden. Dr. Feldmann war in seiner Jugend für etwa ein halbes Jahr in Japan gewesen, wovon er ihr berichtet hatte und er war ein begeisterter Judoka. Er leitete in seiner Freizeit ehrenamtlich eine Judogruppe, sowie eine Selbsthilfegruppe für Jugendliche, die etwas vom rechten Weg abgekommen waren, wie er ihr mit einem Lächeln mitteilte.
„Wenn Jonas will, nehme ich ihn einmal zum Judo mit. Sport ist die beste Therapie.“ Und dabei hatte er mit breitem Grinsen hinzugefügt, „nennen Sie mich bitte nicht Dr. Feldmann, das klingt zu starr und ich bin ja auch noch gar nicht lange im Beruf. Ich heiße Timo für Sie und für jetzt an auch für Jonas. Für Sie beide bin ich ab heute ein Mitglied Ihrer Familie. Der Bruder meiner Frau ist gerade aus Japan zu Besuch. Vielleicht unternehmen wir drei jungen Männer einmal etwas zusammen.
„Nur,“ hatte er mit bedenklicher Mine hinzugefügt, „ob es gut geht, kann ich Ihnen leider nicht versprechen, liebe Frau Beckmann. Psychopathen sind schwierige Patienten. Es wird bestimmt Rückschläge geben. Aber ich tue mein Bestes.“