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Timo Feldmann ist 19 und seit früher Kindheit leidenschaftlicher Judoka. Deshalb reist er nach seinem Abitur nach Japan, um dort seinen schwarzen Gürtel zu machen. Aber nicht nur deswegen. Er will zurück zu den Ursprüngen des Judo und die verbotenen Techniken erlernen. Sein dortiger Judolehrer blickt ihm tief in die Seele und erkennt die Unreife seines Schülers. Außerdem trifft Timo auf die heiße Olivia, die mit einem Bankmanager verheiratet ist und ihn in die Welt der High Society einführt, in der er sich schnell verliert, sowie den Kleinkriminellen Taemin, der ihm ungeahnte, aber gefährliche Möglichkeiten eröffnet. Und welche Rolle spielt die schüchterne Sekretärin der Sprachschule, Ayumi, die offensichtlich etwas für Timo übrig hat?
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Seitenzahl: 245
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Herbert Feid
Impressum:
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Veröffentlicht im Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Juli 2022
1. Auflage
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2022 Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Texte: © Copyright by Herbert Feid
Lektorat: Kathrin Grunert
Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Coverdesign: Valmont Coverdesign
Bildmaterial: Canva, Pixabay
Layout: Verena Valmont
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.
Tribus Buch & Kunstverlag GbR
Mittelheide 23
49124 Georgsmarienhütte Deutschland
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In einem schnellen Strom angelnd fängt er, die nach Köder gieren. Selbst wer den Mund nur wenig öffnet, verliert auf der Stelle sein Leben.
(Koan)
Als das Tamagotchi endlich in Deutschland erhältlich war, also 1997, und ‚Time to Say Goodbye‘ in jedermanns Ohr klang, sagte Timo Feldmann Deutschland goodbye und fuhr nach seinem Abitur im März nach Japan. Während er am Flughafen Frankfurt bei Nieselwetter und 13º Celsius noch beinahe fror, schien bei der Ankunft in Tokio wenigstens die Sonne. Sobald er mit dem Flughafenbus kommend, die Skyline von Tokio erblickt hatte, erfüllte ihn ein Kribbeln, erst im Magen, wenig später überall in seinem Körper, bis hin zu den Fingerspitzen. Er war endlich im Judo-Land angekommen. Er würde seinen Traum verwirklichen, zuerst den Erwerb des schwarzen Gürtels und darüber hinaus, fast noch wichtiger, tiefer in die Judotechniken einzudringen.
Dreizehn Jahre vorher, als er mit sechs in die Schule kam, hatte er noch nicht einmal richtig sprechen können. Er war ängstlich und introvertiert gewesen, hatte keine Freunde gehabt und blieb lieber stumm zu Hause. Er konnte Stunden damit zubringen, Türme zu bauen, immer höher, bis sie umfielen. Danach begann er verbissen wieder von vorne. Sein Vater, ein aktiver Judoka, nahm ihn eines Tages mit zum Judo. „Ein Sport“, wie ihn sein Vater belehrte, „bei dem du mit der Kraft des anderen, deine eigene Schwäche überwindest.“
Im Verein blühte Timo auf.
Er verlor bald jegliche Ängstlichkeit, integrierte sich und wurde zu einem begeisterten Judoka. Sein Vater war zufrieden und förderte ihn, so gut er konnte. Mit zwölf hatte Timo bereits den grünen Gürtel, mit fünfzehn war er zum braunen gestürmt und mit neunzehn stand er kurz vor dem schwarzen Gürtel, Shodan-Rang. Das war der unterste Rang von den fünf Rängen vom schwarzen Gürtel. So etwas war ungewöhnlich für einen Judoka seines Alters, denn mit dem schwarzen Gürtel begannen die Meistergrade.
Was wird schon mein schwarzer Gürtel wert sein, marterte er sich nächtelang. Wenn ich immer nur das tue, was alle anderen tun, werde ich nur das erleben, was alle anderen auch erleben! Und das reicht mir nicht! Ihn reizten die im Sport-Judo nicht erlaubten gefährlichen Schlag- und Tritttechniken, die an seiner Schule und ebenso anderswo nicht gelehrt wurden. Sie gab es, man konnte darüber lesen, aber niemand lehrte sie ihn in seinem Alter. Diese Techniken sollten, wie es hieß, den Gegner vorübergehend kampfunfähig machen, zur Ohnmacht führen oder sogar – töten können. Sprach Timo dieses Thema einmal an, prallte er sofort gegen eine unüberwindliche Mauer. Das machte die Sache für ihn nur noch erstrebenswerter.
„Ein Judoka verletzt seinen Gegner nicht“, hieß es von seinen Lehrern, wann immer er solche Techniken erwähnte. Das stimmte natürlich nicht, denn Verletzungen kamen immer wieder vor, wenn auch unbeabsichtigt. Oder es hieß, „alles andere ist nicht Judo. Geh lieber zum Muay-Thai Kick-Boxen, wenn du dir eine blutige Nase holen willst oder lass dir beim Streetfight das Gehirn aus deinem Dickschädel hämmern.“ Aber Timo war kein Boxer. Er liebte Judo und wollte beim Judo bleiben, jedoch tiefer eindringen, als jeder andere. Er war besessen davon. Es reizte ihn, seinen Gegner nach einem harten Kampf kampfunfähig, ja vielleicht sogar ohnmächtig, auf der Matte liegen zu sehen. Und er über ihm, anstatt – wie beim Sport-Judo üblich – sich nach dem Kampf voreinander ehrerbietig zu verbeugen. Timo wollte mehr erleben als das. Sein Vater hatte ihm immer wieder eingeschärft, beim Judo bis an seine Grenzen zu gehen. Denn nur so würde er sich selbst erkennen. ‚Du musst die Berge zum Einstürzen bringen‘, hatte er oft gesagt.
Als Timo eines Tages vom Judo zurückkam, war sein Vater, an dem er sehr hing, nicht mehr da. Seine Mutter schwieg über die Gründe. Es hatte Timo das Herz gebrochen, als sein geliebter Vater eines Tages verschwunden war. Kein Abschied. Kein Grund warum. Nichts. Er war einfach weg, als wäre er nie da gewesen. Nur der Spruch von den Bergen war Timo geblieben.
Timo war damals siebzehn und war durch die plötzliche Trennung von seinem Vater so deprimiert, dass er sich eine Zeit lang weigerte, die Schule zu besuchen und sogar sein Judo vernachlässigte. Er stürzte ab, trieb sich, wie ein streunender Hund, mit irgendwelchen Cliquen herum, begann zu stehlen und machte bei Einbrüchen mit. Oft kam er abends nicht mehr nach Hause. Timo gab seiner Mutter die Schuld am Verschwinden seines Vaters, begann sie zu hassen und ihre Beziehungen waren lange Zeit wie ein Minenfeld, das besser nicht betreten wurde.
Er wollte unbedingt ausziehen, wohnte einige Zeit bei einem seiner neuen Freunde und weigerte sich wochenlang, nach Hause zurückzukehren.
Dass sein Vater sich nicht von ihm verabschiedet hatte, trieb ihn zeitweise in den Wahnsinn. Er trauerte ihm nach, mit dem er noch vor kurzem eine Wanderung mit dem Zelt durch den Harz unternommen hatte. Für eine Woche, nur er und sein Vater. Von dem Tag des Verschwindens war es, als wäre ein Schalter in seinem Gehirn umgelegt. Für Timo existierten von nun an Grenzen nur noch, um sie niederzureißen. Er begann, über jeden zu spotten, der sich an Regeln hielt. Und das nicht nur beim Judo, wo er sich immer mehr mit dem Gedanken anfreundete, gerade die Techniken zu erlernen, die verboten waren. Er kam von der Vorstellung nicht los, aufgrund von Wissen und Können, das nur er besitzen würde, Macht und Kontrolle über seine Gegner zu erhalten. Es kitzelte ihn, das Verbotene, und er wurde rastlos wie Luzifer, der gefallene Engel.
***
Timo hatte in Japan ein knappes halbes Jahr Zeit, zum Wintersemester musste er wieder in Deutschland sein, um sein Informatik Studium zu beginnen. Das hatte er seiner Mutter versprechen müssen. Die ersten Wochen in Japan vergingen schnell. Es war schwierig für Timo. Alles war anders. Er fühlte sich oft, wie auf der Rückseite des Mondes.
Nicht nur, dass man links fuhr, auch die überfüllten Züge, die Hektik und die ständige Höflichkeit nervten ihn ebenso. Und eine Sprache, die er kaum verstand, aber liebte, denn es war die Judo-Sprache. Vormittags besuchte er deshalb eine Sprachschule, um sich wenigstens etwas verständlich machen zu können. Die Zeit danach verbrachte er, nicht selten bis weit in den Abend hinein, bei endlosem und zu Anfang noch eintönigem Training in der Judohalle. Danach fuhr er todmüde, aber überglücklich, zurück ins Studentenwohnheim, denn er war im Judo-Land angekommen. Seinem heimlichen Traum, hier mehr über die verbotenen Techniken zu lernen, die in Deutschland wie hinter einer unübersteigbaren Wand verschimmelten, glaubte er sich endlich ganz nahe.
Vom ersten Tag an mochte er seinen Judolehrer Herrn Nakai. Nakai-Sensei, wie er hier genannt wurde. Er war etwa einen Meter fünfundsiebzig groß, hatte einen sehnigen Körperbau und war wie ein Vater zu ihm. Gleich am Anfang machte er Timo mit ostasiatischen Weisheiten bekannt: ‚Mit leeren Händen ergreife ich den Pflug‘. Was er damit sagen wollte, verstand Timo zunächst nicht. Aber allmählich verinnerlichte er, dass man sich frei von aller Theorie und akademischer Wichtigtuerei machen musste. Nur sein Selbst zu sein brauchte, um ein Judoka zu werden. Das war ein Denken ganz nach seinem Geschmack. Er war froh, nach Japan gekommen zu sein.
Im Studentenheim wohnten neun weitere Studenten. Zwei Spanier und außer Kenji da Silva, der halb Japaner und halb Brasilianer war, nur Japaner. Kenji wurde bald Timos engster Freund.
Timo hatte den Platz durch Vermittlung der Judoschule erhalten und zahlte dafür fast die Hälfte von den dreihundert Mark, die er jeden Monat zum Leben von seiner Mutter erhielt. Dazu kam noch die Ausgabe für die Monatskarte von Yokohama, wo das Wohnheim war, bis zur Judoschule im etwa fünfundzwanzig Kilometer entfernten Tokio. Die ersten Wochen hatte es ausgereicht, danach nicht mehr und er war häufig hungrig eingeschlafen. Das machte ihm aber nichts aus. Er war im Land seiner Träume! Vor dem Einschlafen dachte er oft über einen Koan seines Lehrers nach, einen buddhistischen Lehrspruch, den ihm dieser am Tag vorher auf den Weg mitgegeben hatte. Der eine ging: ‚Wie redet man mit verschlossener Kehle und geschlossenen Lippen?‘ Timo grübelte fast die halbe Nacht und vergaß dabei den Hunger. Die Koans kamen ihm wie eine unendliche Leiter vor, der jedoch die Sprossen fehlten.
***
Bald nach seiner Ankunft traf er in der Sprachschule Olivia. Und, wie könnte es anders sein, er verliebte sich Hals über Kopf in das schönste Mädchen an der Schule: Rotblondes, gewelltes Haar bis auf die Schultern, blaue Augen wie geputzt, dass ihm schwindlig wurde und ein Mund, so sinnlich, wie aus Tausend-und-eine-Nacht. Als sie gerade ihn ansprach und zu einer Willkommensparty bei sich zu Hause einlud, da ging ihm die Stimme entzwei und trieb Hitze in seinen Körper. Und das bei all der männlichen Konkurrenz in der Schule.
Er freute sich über die Einladung, wie ein Kindergartenkind, das einen Lolli geschenkt bekommen hatte und schwänzte vor Glückseligkeit die letzten zwei Unterrichtsstunden. Um sich zu beruhigen, besuchte er eine der Pachinko-Spielhöllen, die an jeder Ecke in Tokio mit lauter Musik auf sich aufmerksam machten und verlor dort am vertikalen Flipperautomaten noch die wertvollen Yen, die er in der Tasche hatte.
„Du, Timo, vergiss nicht, morgen um neunzehn Uhr. Ich erwarte dich pünktlich. Du kannst kommen, so wie du bist, es gibt keinen Smokingzwang“, erklärte ihm seine Märchenprinzessin mit ihrem hellen Lachen. Smokingzwang war ein Wort, das er bisher noch nie gehört hatte und ihn umfing eine Ahnung, etwas zu erleben, was er bisher noch nie erlebt hatte.
Am nächsten Abend verabschiedete er sich wie immer mit einer tiefen und langen Verbeugung vor seinem Lehrer. Er würde ihn bald mit seinem Wunsch konfrontieren, etwas über die verbotenen Judotechniken zu erfahren, und sie zu erlernen.
Timo duschte in der Judoschule gründlich, aber schneller als üblich. Heute hatte er keine Zeit für irgendwelche Wasserspäße mit den anderen Schülern. und er machte sich mit einer gehörigen Portion Lampenfieber reichlich verspätet auf den Weg in den Stadtteil Hiroo, wo Olivia wohnte. Zwar hatte sie ihm eingeschärft, nichts mitzubringen, aber mit leeren Händen bei einer Party zu erscheinen, das war für ihn ein No-Go. Beliebt waren, seiner Erfahrung nach, Alkohol und Snacks. Manchmal noch etwas Besonderes, das bei Smokingzwang oder nicht, wohl doch nicht in Frage kam.
Er betrat einen 24-Stunden-Laden, die es in Tokio an jeder Ecke gab. Aufgrund seiner angespannten Finanzen, er hatte bereits vor Tagen seine eiserne Reserve angreifen müssen, gab es für ihn nur zwei Möglichkeiten: kok, wie er es nannte, kaufen oder klauen. Er kaufte schließlich eine Packung verschiedener Salzcracker für zweihundert Yen, fast drei Mark! Mit gestohlenen Geschenken wollte er nicht aufkreuzen. Mehr konnte er sich jedoch nicht leisten, und er hoffte, sich bei der Party wenigstens sattessen zu können, damit sich die Investition lohnte.
Nachdem er sich, im Hochhaus angekommen, zunächst bei einem livrierten Portier anmelden musste, ein Fahrstuhl ihn in den vierzehnten Stock gebracht hatte und er über weiche Teppiche schritt, wurde ihm die Tür von einer lächelnden Philippinerin in weißer Schürze geöffnet. Er wusste sofort, dass er hier mit seinen Salzcrackern falsch lag und entsorgte sie verschämt, als er sich unbeobachtet glaubte, in einen Schirmständer. Timo wurde in ein riesiges Zimmer geführt, das von Stimmen wie von einem sanften Meeresrauschen durchzogen war, und es kam ihm vor, als ertränke er in einer ihm unbekannten Welt umherstehender Anzüge und vieler Halbglatzen. Olivia war nirgends zu sehen.
Der Raum war ohne Möbel und die wenigen vorhandenen Sessel und Stühle im nachempfundenen Biedermeierstil waren dicht an die Wand gerückt, wodurch er wie ein Saal wirkte. Die Wände waren weiß und kahl, abgesehen von einer Picasso-Lithographie: Taube mit Olivenzweig, die in einem für ihn unpassend protzigen Rahmen steckte. Ob die Lithographie echt war, überlegte er. Sie hatten das Bild einmal im Kunstunterricht kopieren müssen. Schule, das war schon eine Ewigkeit her.
Natürlich war Timo noch nie bei einer Cocktailparty gewesen. Appetitliche Häppchen mit Lachs und geröstete Brotscheibchen mit Tomaten, Käse und allem möglichem belegt, sowie Muffins, die vom Cateringservice auf silbernen Tabletts mit einem Lächeln angeboten wurden, fanden kaum Beachtung bei den Gästen, dafür umso mehr bei ihm. Und es gab Kaviar! Jedenfalls nahm er an, dass es welcher war, denn nur diese Happen verschwanden schnell. Ein Stück nach dem anderen wanderte auch in seinen Mund und er versuchte krampfhaft, sich dabei nicht zu bekleckern, weil er mit der linken Hand einen Teller mit Serviette und Besteck, das er ohnehin nicht benutzte, balancieren musste.
Dazu noch obendrauf sein Glas Sekt, das er an der Tür erhalten hatte. Er griff dankend nach allem, was sich in seiner Reichweite befand und alles schmeckte ihm ausgezeichnet. Das Kauen entband ihn von der Pflicht, sich mit jemandem unterhalten zu müssen, denn er wusste absolut nicht, über was er mit den Schlips- und Fliegenträgern sprechen könnte. Die Gäste, international wie Tokio, unterhielten sich mit halbvollen Sektgläsern in den Händen gepflegt über für ihn unbekannte Themen, wie Handelshindernisse, Banken und Kursschwankungen. Zudem wurden pausenlos Sekt und Wein und was sonst nicht noch alles angeboten und Timo konnte nicht nein sagen. Wirklich, es war verrückt. Es schien ihm, als ob die Bedienung immer geradewegs nur auf ihn zusteuerte. Er probierte alle Getränke einmal und als er durch war, fing er wieder von vorne an, gemäß dem Wahlspruch seines Vaters: man muss im Leben nehmen, was sich einem bietet.
Irgendwann hatte er genug gegessen und getrunken. Er war satt. Aber Olivia war nicht aufgetaucht und als er nach ihr verzweifelt suchte, konnte er sie nirgends finden. Er wurde unruhig und steckte sich aus Gewohnheit eine Zigarette an, die hier und da bereit lagen, obwohl er das Rauchen eigentlich für sein Judo hatte aufgeben wollen. Er überlegte, ob er überhaupt bei der richtigen Party war. Die Adresse stimmte und man hatte ihn eingelassen. Auf einmal sank der Gesprächspegel auf nahezu null und ein Mann, groß und übergewichtig, sicherlich schon bald an die vierzig, wie Timo vermutete, platzierte sich in die Mitte des Zimmers, räusperte sich und schlug mit einer Kuchengabel leicht gegen sein Sektglas.
„Sicher kennen mich die meisten hier“, stellte er sich vor, „ich bin der Douglas, Douglas Brown, und ich möchte euch alle, auch im Namen meiner Frau, aufs Allerherzlichste begrüßen.“ Seine Stimme klang heller und feiner, als man es von so einem Schwergewicht erwartet hätte. „Wir sind erst vor vier Wochen aus Seattle nach Tokio umgezogen. Unsere Möbel schwimmen noch auf dem Pazifik und nachdem alles eingerichtet ist, werden wir beide zwei wundervolle Jahre in dieser großartigen Stadt verbringen.“ In diesem Augenblick trat eine Frau an seine Seite. Es war Olivia! Der Schock saß. Timo verstand die Welt nicht mehr. In der Schule hatte er sie auf etwas über zwanzig geschätzt und natürlich Single. Der Traum von einer, seiner Märchenprinzessin, war zu schön gewesen, um wahr zu sein. Das war es dann also, sinnierte Timo, wenigstens habe ich mich sattessen können und übergenug getrunken. Damit gab er sich zufrieden und beschloss, nach Hause zu gehen.
Als die Rede zu Ende war, kam Olivia mit einem Lächeln auf ihn zu, als wollte sie ihn zum Traualtar führen. In jeder Hand schimmerte ein gut gefülltes Sektglas. Ihre rotblonden Haare waren raffiniert geflochten und zu einem Dutt hochgesteckt; die Augen glänzten. Sie war eingehüllt in eine Wolke von einem für ihn undefinierbaren Duft, der ihn an das Erdgeschoss von Karstadt in Ulm erinnerte. Sie trug ein trägerloses Abendkleid, das sich wie eine Fischhaut um den Körper schmiegte und ihre schon perfekte Figur seiner Meinung nach noch um weitere zehntausend Prozent steigerte.
Sie war eines von den Mädchen, ging es ihm durch den Kopf, das, wie es heißt, einen schwach machen konnte. Olivia zog ihn in eine Ecke, sie stießen an und tranken auf den Abend.
„Na, wie findest du’s hier bei der Party, Timo?“ Ohne seine Antwort abzuwarten, nahm sie ihn wie selbstverständlich an die Hand, schlängelte sich mit ihm durch die Reihen der Gäste und stellte ihn zunächst lächelnd einem schmächtigen Mann mit Mittelscheitel vor. Timos Hand glühte in ihrer.
„Darf ich Ihnen meinen Mitschüler Timo von der Sprachschule vorstellen? Er ist ein Judoka und besitzt bereits den schwarzen Gürtel.“
„Oh wunderbar! Aber in diesem Fall möchte ich mich lieber nicht mit Ihnen anlegen.“ Sein dröhnendes Lachen erschreckte Timo. „Ich heiße Peter Jackson und arbeite hier im Konsulat“, und damit drückte er Timos Hand, als wäre er ein Schraubstock.
„Ich habe doch noch gar nicht den schwarzen Gürtel“, flüsterte Timo Olivia verlegen zu, als sie Hand in Hand weitergingen.
„Ach du, auf die paar Tage kommt es ja nun auch nicht an. Es ist alles nur Smalltalk. Mir gefällt einfach die Vorstellung, dass du einen schwarzen Gürtel besitzt, also hast du ihn auch.“
Andere klopften ihm bei der Vorstellung so stark auf den Rücken, dass ihm beinahe einmal das Sektglas entglitten wäre und erzählten allerhand gut gemeinten Blödsinn. Dazwischen wurde immer wieder, ob wer wollte oder nicht, Sekt nachgefüllt und Häppchen wurden vorbeigebracht, von denen er wieder nicht lassen konnte, bis es ihm beinahe übel wurde. Bald wussten fast alle, dass er ein Judoka war und aus Deutschland kam. Seine rechte Hand tat ihm inzwischen ordentlich weh und sein Magen rumorte.
„Du schlägst dich ja prima, Timo, mit deinem höflichen How are you“, flocht Olivia immer ein, wenn eine Vorstellung beendet war. „Du passt gut hierher.“ Timo war sich da nicht so sicher. Zum Schluss standen beide vor Olivias Mann. Der begrüßte Timo mit einem lauten Lachen und legte ihm gönnerhaft die Hand auf die Schulter. Das Olivia dabei immer noch seine Hand festhielt, irritierte ihn.
„Ich bin neugierig, wie es Ihnen in Japan gefällt und besonders, wie Sie mit der japanischen Sprache zurechtkommen. Ist sie nicht verrückt, diese Sprache“, dozierte er in seinem breiten Amerikanisch, „mit den vielen Schriftzeichen. Warum schreiben die Japaner nicht, wie alle auf der Welt, mit lateinischen Buchstaben?“
Diesen Einwand fand Timo idiotisch, denn man war hier in einer ganz anderen Kultur, und über eine Milliarde Chinesen schrieben auch nicht mit lateinischen Buchstaben. Tatsächlich waren die Schriftzeichen interessant, wenn man sie einmal lesen konnte, denn sie verrieten viel über sich. Das hatte er inzwischen schon gelernt. Drei Schriftzeichen waren es, die er besonders liebte: Treffen-Körper-Technik, Ate-Mi-Waza. Das waren die drei Zeichen für die verbotenen Schlag- und Tritttechniken. Die konnte er blind aufschreiben. Von oben nach unten, von rechts nach links und von links nach rechts.
Er wunderte sich, was Olivia an einem doch viel älteren und wirklich nicht gerade attraktivem Mann fand, ahnte es aber. So naiv war er nun auch nicht.
Als die Party gegen dreiundzwanzig Uhr endete und er kaum von all dem Alkohol noch aufrecht stehen konnte, bekam er in all dem Trubel von Olivia einen flüchtigen Kuss auf den Mund, der ihn im selben Augenblick wieder zum Leben erweckte.
„Warte auf mich unten in der Eingangshalle! Ich bin in dreißig Minuten bei dir“, flüsterte sie ihm ins Ohr. Timo wusste nicht, ob es ihr Ernst war. Ihm war schwindlig, aber er beschloss, auf alle Fälle unten in der Eingangshalle zu warten.
Es war Timo, als wären Tage vergangen, als Olivia endlich in der Eingangshalle erschien. Die Augen waren ihm inzwischen schwer geworden und er hatte mit Übelkeit zu kämpfen. Allein die Aufregung der ersten Cocktailparty seines Lebens und der unvermutete Kuss hielten ihn noch wach.
Olivia hatte sich umgezogen. Sie erschien mit einem hellblauen leichten Kleid, das oberhalb der Knie endete, dazu High Heel-Plateauschuhe, die sie größer als Timo machten.
In ihre nun offenen Haare hatte sie sich zwei bunte Bändchen im Hippie Look eingeflochten. Wenig Schminke, lange falsche Wimpern. Um den Hals trug sie eine Muschelkette und am linken Arm ein breites silbernes Armband. Sie war wie verändert, aber immer noch sehr schick. Sie erschien Timo jünger, nur die sie umgebende Wolke von raffiniertem Duft erinnerte noch an die vornehme Party.
„Opi ist mit seinen Kollegen unterwegs, also machen wirs beide uns gemütlich. Ich will noch etwas von der Nacht haben. Ich bin grade gut drauf und es ist ja noch früh und du kommst mit.“ Dabei tippte sie Timo auf die Nasenspitze. und das fühlte sich gut an. Sie nahm ihn wieder an die Hand und gemeinsam spazierten sie in die laue Mainacht.
Als ein Taxi vorbeifuhr, winkte Olivia, und es hielt an. Sie nannte eine Adresse im Stadtteil Roppongi und schon tauchten sie in das neonglitzernde Großstadttreiben Tokios ein.
Im Taxi machte sich Timo zum ersten Mal, seit er nach Tokio gekommen war, Sorgen um Geld. Noch rechnete er alles im Kopf in Mark um, eine Mark entsprach siebzig Yen, und mehr als tausendvierhundert Yen hatte er auf keinen Fall in der Tasche. Also gerade mal schlappe zwanzig Mark! Und sie fuhren in einen Club, wie ihm Olivia auf seine Frage, wohin es denn geht, mitgeteilt hatte. „Es ist der Treffpunkt vieler Ausländer“, hatte sie mit glänzenden Augen hinzugefügt. „Es wird dir gefallen.“ Zwanzig Mark war alles von seiner Reserve, was ihm vom Kauf der Cracker übriggeblieben war. Wenn die weg waren, müsste er sich wieder einmal etwas von einem der Studenten im Heim leihen. Sein kok System funktionierte in einem Club bestimmt nicht. Ihm wurde heiß und kalt zugleich.
Sie saßen dicht an dicht im Taxi und Olivia hielt seine Hand. Timo überlegte, ob er sich mit der Ausrede, wegen Judo morgenmuss ich früh raus, sich nicht besser verdrücken sollte.
„Ich hoffe doch, du bist wenigstens zwanzig“, fragte sie mit einem verschmitzten Lächeln. Timo atmete erleichtert auf. Er wusste, Rauchen, Alkohol und Bars waren in Japan erst ab zwanzig erlaubt. Und er war neunzehn! Und selbst wenn er fünfundzwanzig gewesen wäre, er hätte neunzehn gesagt, um für heute aus der brenzlichen Situation herauszukommen. Olivia antwortete auf sein wahres Alter nur: „Oh, cool.“
Ihm wurde noch heißer.
„Entschuldige, Olivia. Also“, versuchte er noch einmal davonzukommen, „ich habe kaum Geld eingesteckt, nur ein paar tausend Yen.“ Und das war schon übertrieben. „Ich dachte nicht, dass wir nach der Party bei dir noch irgendwo hingehen würden“, stotterte er mit seinem Schulenglisch. Aber Olivia hörte nicht auf ihn. Ihr Glöckchenlachen sprudelte aus ihr heraus und sie machte eine Handbewegung die wohl sagen sollte: Das macht nichts. Sie regelte am Eingang des Clubs alles mit geübter Hand, wie es Timo schien.
Ehe er sich versah, saßen sie in einem abgedunkelten Raum und auf einem für ihn etwas zu niedrigen, dunkelrot bespannten Sofa vor einem flachen Glastisch. Die Wände waren in zartem Rosaton gehalten, der Boden mit einem dunkelgrünen Teppich ausgelegt. Im Hintergrund ertönte dezent klassische Musik. Alles glänzte in Samt und Seide.
Goldene zweiarmige Leuchter standen auf den Tischen und dazu gab es in der Mitte des Raumes unter der Decke noch einen prunkvollen Kronleuchter, der über einem rotseidenen Diwan thronte. Nur gut, dass der nur schwach glomm, sonst hätte Timo sich in seinem Aufzug doch noch geschämt. Er passte mit seinen abgeschabten Jeans und den heruntergelaufenen Tretern nicht recht an diesen Ort. Es war zu vornehm. Aber das war nichts Neues für ihn, schon Normalität, denn seit der Party heute Abend war er wie mit Geisterhand in eine andere, ihm fremde Welt verschoben worden und er ließ es sich gern gefallen.
Ein langbeiniges Mädchen im kurzen engen gelben Kleid mit Spaghettiträgern, das ihm wie ein Mädchen ausgeschnitten aus irgendeinem Manga vorkam, brachte unaufgefordert mit einem Lächeln eine Flasche Sekt, sowie Whisky, Wein im Weinkühler und Wasser, dazu Snacks und einen Fruchtkorb. Timo winkte ab, er wollte nichts. Er konnte absolut nichts mehr essen, und getrunken hatte er mehr als genug. Als er an die Rechnung dachte, wurde ihm sofort mit seinen zwanzig Mark in der Tasche wieder übel.
„Das gehört hier im Club immer dazu“, kicherte Olivia, als sie Timos verschrecktes Gesicht sah. „Das ist alles im Preis inbegriffen. Ich mag auch nichts mehr essen und so etwas sowieso nicht. Sie bringen das immer. Lassen wir’s einfach stehen. Und trinken kannst du so viel du willst, aber der Wein ist nicht besonders, doch der Whisky ist okay.“ Olivia war also nicht zum ersten Mal hier!
Das junge Mädchen kniete vor ihnen nieder, strahlte beide freundlich an, entkorkte geschickt die recht teuer aussehende Sektflasche und schenkte beiden vorsichtig ein.
„Also Timo, auf einen geilen Abend!“ Die beiden ließen die Sektflöten klingen. „Es wird dir hier bestimmt super gefallen“, und dabei küsste sie ihn vor der Bedienung auf den Mund. Timo war wie benommen. War das eine Einladung? Timo atmete aus, es war bestimmt eine, oder was sonst, beruhigte er sich.
Das langbeinige Manga-Mädchen erkundigte sich, ob noch weitere Getränke gewünscht werden und Olivia bestellte, wie nebenbei, zwei Tequila.
Timo merkte, wie Eiswasser seinen Körper durchzog und sich bis in die Fingerspitzen ausbreitete. Neben ihm saß die junge hübsche Frau eines Bankmanagers, und er war ein mittelloser Judoka. Was wollte er hier? Ihrer beiden Leben waren tausende Lichtjahre voneinander entfernt. Der Sekt kam zu Hause von Aldi und angestoßen wurde nur einmal im Jahr zu Silvester. Was war das für ein armseliges Leben gegen das hier! Er befühlte die Yen-Scheine in seiner Hosentasche, zerknüllte sie und trank den Sekt mit einem Zug aus.
Als er sich Sekt nachfüllen wollte, huschte das langbeinige Mädchen zum Tisch, kniete sich vor ihm hin, wobei ihr gelbes Kleid weit nach oben rutschte und schenkte ihm formvollendet ein. Und als er sich eine Zigarette anstecken wollte, gab sie ihm lächelnd Feuer und berührte dabei sacht seine Hand. Timo gefiel das.
In was für eine Welt bin ich nur hineingeraten? Er gab sich den Befehl, alles zu genießen und nie mehr an Kohle zu denken, die er sowieso nicht hatte, und die Zeit hier mit Olivia zu genießen. Vielleicht war es ja auch alles nur ein Traum, ein wunderschöner Traum. Es war auf jeden Fall klüger, sich jetzt nicht in die Backen zu kneifen. Er legte seinen Arm fest um Olivia und den Kopf an ihren.
Plötzlich dröhnte von der Bühne her aus vier übergroßen Lautsprechern Popmusik. Discokugeln verwirbelten bunte Flecken über den Raum und die Show begann. Acht junge Männer, nackt bis auf knappe, bunt bedruckte Boxershorts, begannen auf der Bühne langsam zu tanzen. Jeder hatte eine Rose in der Hand. Die Tänzer waren eingeölt und ihre samtbraune Haut glänzte. Wie fast alle jungen Japaner hatten sie kaum Hüften.
Es machte Timo Spaß, ihnen zuzuschauen, wie sie ihre durchtrainierten Körper gekonnt lässig im Rhythmus der Musik bewegten. Von den anderen Tischen wurde den Tänzern etwas zugerufen. Timo schlug das Herz so heftig, dass er beinahe vor Begeisterung mitgerufen hätte. So etwas hatte er noch nie erlebt. Erregung ließ seinen Körper erzittern.
Die da riefen, das war eine Gruppe junger Frauen in einer Ecke des Saales. Ein Kreischen und Klatschen ging durch den Raum, wenn sich einer der Tänzer an die Shorts fasste und wie Michael Jackson zuckte. Zwei von ihnen sprangen rechts und links von der Bühne. Sie reckten ihre schlanken nackten Oberkörper, tänzelten locker bis dicht an die Gruppe und ließen sich von den, wie Teenager bei einem Backstreet-Boys-Konzert kreischenden, Besucherinnen, Yen-Scheine in ihre Boxershorts stopfen. Die verbliebenen sechs tanzten auf der Bühne im zuckenden Licht, hoben langsam die Rosen in die Höhe und steckten schließlich die Stängel zwischen ihre blendend weißen Zähne.
„Wen von denen holen wir uns an unseren Tisch?“, lallte Olivia und stieß Timo an. „Wen magst du am liebsten von den süßen Boys?“, kicherte sie in sich hinein. Timo war die Zunge wie angenäht. Er stammelte etwas vor sich hin und trank hastig, um sich zu beschäftigen, obwohl er wusste, dass er schon über genug hatte. Er lehnte sich zurück und ließ sich von dem immer lächelnden Mädchen, das sie bediente, wieder eine Zigarette anzünden, obwohl er heute nicht mehr rauchen wollte. Dabei spürte er abermals ihre weiche Hand, als sie ihn flüchtig berührte.
„Wir holen uns den Dritten von links“, säuselte Olivia. Timo nickte, spitzte seine Lippen und beschloss, alles auf sich zukommen zu lassen. Auf Olivias Wink schlüpfte ihre persönliche Bedienung herbei, der sie etwas ins Ohr flüsterte. Wie ein Pfeil kam der dritte Tänzer von links an ihren Tisch geschossen. Er hatte dunkelrot gefärbte Haare, die ihm bis auf die Schultern reichten, einen schön geformten Mund und dunkle Augen, die stets in Bewegung waren, ein vollkommener Player.
„Hallo, ihr beiden Süßen. Ich bin Akira, vierundzwanzig Jahre alt, Student und diese Rose ist für deine Allerliebste“, stellte er sich vor und blickte Timo mit einem verschmitzten Lächeln an, während er Olivia die Rose galant überreichte. Olivia umarmte den Tänzer und steckte ihm kichernd ein Bündel Yen-Noten in die Boxershorts.
„Na Timo, sag, wie gefällt dir meine Wahl?“ Olivia verschluckte sich fast beim Kichern. „Akira ist doch ein süßer Boy, oder?“ Timo verschlug es den Atem bei all der Nacktheit des Tänzers neben ihm.