Hochhausseele - Barbara Kletzin - E-Book

Hochhausseele E-Book

Barbara Kletzin

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Beschreibung

Eine biedere Hausfrau, Ehefrau und Mutter, die in einem Hochhaus lebt. Anonymität? Nein! Sie hat ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Hausbewohner. Sie ist hilfsbereit bis zur Selbstaufgabe. All ihr Streben ist darauf ausgerichtet, neue Wege und Möglichkeiten zu erschließen, um ihre Hilfsbereitschaft noch effektiver einsetzen zu können. Erika Schmidt, ein Engel. Oder...?

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Barbara Kletzin

Hochhausseele

Mordsweiber 03

Inhaltsverzeichnis

Über das Buch

Ende

Anfang

Querschläger

Umkehr

Absturz

Abschluss mit Hund

Anmerkungen der Autorin

Impressum

Über das Buch

Eine biedere Hausfrau, Ehefrau und Mutter, die in einem Hochhaus lebt.

Anonymität? Nein! Sie hat ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Hausbewohner.

Sie ist hilfsbereit bis zur Selbstaufgabe.

All ihr Streben ist darauf ausgerichtet, neue Wege und Möglichkeiten zu erschließen, um ihre Hilfsbereitschaft noch effektiver einsetzen zu können.

Erika Schmidt, ein Engel. Oder…?

Ende

Januar bis März

1

Die Ratte saß auf dem Bauch des Mannes und putzte sich. Sie hatte gefressen und begann nun, wie gewohnt, mit einer intensiven Körperpflege. Sorgfältig wischte sie mit den Vorderpfoten über ihr Gesicht, putze sich hinter den Ohren und bog sich nach allen Seiten, um jede Stelle ihres Körpers ausgiebiger Fellpflege zu unterziehen.

Nichts beunruhigte sie. Die Fallen stellten keine Gefahr dar. Sie waren zugeschnappt und nicht wieder gespannt worden. Die Giftköder hatten ihre Artgenossen nach kurzer Zeit nicht mehr angerührt.

Die Natur hatte die Ratten mit einem hoch entwickelten Geruchssinn ausgestattet und wappnete sie so vor Gefahren dieser Art. Schnell verknüpften sie den Duft bestimmter Inhaltsstoffe der Nahrungsquelle mit dem Tod des „Vorkoster“‘.

In hilflosem Zorn hatte der Mann sie beschimpft und Gegenstände nach ihnen geworfen, bis der Tag kam, an dem es ihm unmöglich wurde, das Bett zu verlassen. Nachts waren sie an seinem Bett vorbeigehuscht. Anfangs hatte er mit der Gehhilfe nach ihnen geschlagen. Doch nach einiger Zeit wurden seine Abwehrbewegungen immer schwächer und eines Tages hörte er auf, sich zu wehren.

Die Ratte, ein stattliches Männchen, hielt inne und richtete ihre Ohren auf, gleich Antennen, die unterschiedlichste Geräusche empfingen. Da war das Rascheln, das ihre Artgenossen, die im Verpackungsmüll wühlten, erzeugten. Müll, der genügend Verstecke und ausreichendes Material für den Nestbau bot. Da war das Geräusch des Windes, der durch die zerbrochene Fensterscheibe pfiff und das Klappen des Fensterrahmens, der auf und zuschlug. Die Jungen fiepten in ihren Nestern, während die Mütter auf Futtersuche waren. Vertraute Geräusche. Beruhigt widmete sich die Ratte wieder der Körperpflege.

Für das ständig wachsende Rudel fielen genügend Essensreste an. Der Mann hatte sich Lebensmittel ins Haus liefern lassen und anfangs an der Tür abgeholt. Später, als der Scooter sein Gewicht nicht mehr trug, war der Mann im Bett liegen geblieben und der Lieferant hatte die Lebensmittel durch das Fenster gehievt, das von da an immer angelehnt war. Mit einem Greifer hatte der Mann alles herangeholt, was er brauchte. Alles, was er benötigte, stand nahe an seinem Bett, der Kühlschrank, die Mikrowelle, eine Kochplatte, das Telefon und der Fernseher, der Tag und Nacht lief.

Einmal im Monat hatte der Mann Besuch bekommen. Der Besucher hatte jedes Mal Geld auf den Tisch gelegt, der neben dem Bett des Mannes stand. Von dem Eindringling war ein Geruch ausgegangen, der tödlicher war, als die Fallen. Er hatte das Rattenvolk nie zu sehen bekommen. Die Männer hatten geredet, getrunken, geraucht. Dann war der Fremde gegangen und die Ruhe kehrte zurück.

Es war Herbst geworden. Der Fremde kam nicht wieder und kurze Zeit darauf, blieb auch der Lieferjunge weg. Windböen hatten das Fenster heftig auf und zugeschlagen und fegten durch die geborstene Scheibe. Obwohl die Lebensmittelreste verbraucht waren und die Felder rings um das Haus brach lagen, hungerte das Rudel nicht. Die wild wachsenden Grünpflanzen und Ähren genügten ihnen als pflanzliche Nahrung, und an Proteinen mangelte es auch nicht. Im Haus stand ihnen ein gewaltiger Fleischberg zur Verfügung. Der Mann wog mindestens 300 Kilo.

Sie lebten im Paradies.

Die Ratte auf dem Bauch des Mannes widmete sich ihren Zehen und Krallen. Beknabberte sie gründlich, um sie von Schmutz zu befreien.

Durch das offene Fenster wehte jetzt am Abend ein kalter Wind. Plötzlich hielt die Ratte inne, als sie das Knarren der Tür vernahm. Sie stellte sich auf die Hinterfüße, reckte ihren Körper hoch, streckte die Nase in die Luft und witterte den fremden Mann, der den Hausherrn früher einmal im Monat besucht hatte. Die Ratte stieß einen Warnlaut aus und innerhalb einer Sekunde hatte sich das Rudel verkrochen und verharrte reglos.

„Hallo, Egon!“, polterte der Mann schon im Flur los. „Ich bin‘s! Glaubst nicht, was ich durchgemacht habe. Unfall gehabt, Entzug, Reha, Rückfall, wieder 'nen Entzug. Scheiße, ging es mir dreckig! Aber jetzt schmeckt's wieder. Hab 'nem Kumpel gesagt, soll sich um dich kümmern. Hat dein Geld kassiert. Na ja, ‘nen paar Scheinchen brauchte ich auch. Nimm‘s mir nicht übel, hab auch ‘nen edles Tröpfchen mitgebracht!“

Während er redete, stolperte der Mann den langen Flur entlang. Krachen, Fluchen. „Mann, Egon, die Penner haben dir den Strom abgestellt, Schweine sind das, verdammte Schweine!“

Der Mann stand jetzt im Zimmer. „Heh, Kumpel, wo biste denn? Noch im Bett, wa?“

Er feixte, schnippte ein Feuerzeug an und leuchtete in Richtung Bett. Dann hörten die Ratten Laute, die sie keinem Menschen, sondern nur einem Tier zugeordnet hätten. Sie vernahmen Schritte, die über knarrende Dielen hetzten, einen harten Schlag gegen die Eingangstür, die nach einer Weile im Wind hin und her schwang. Ein Geruch von Erbrochenem blieb im Zimmer zurück.

Erst am nächsten Tag kroch die Ratte wieder auf ihren Stammplatz, den Bauch des Mannes, fraß und kauerte sich nach ausgiebiger Fellpflege nieder. Sie schlief ein und wachte im Licht der Mittagssonne auf, die blass und kalt ins Zimmer schien. Die Ohren der Ratte zuckten. Unbekannte Geräusche drangen an ihr feines Gehör. Sie stellte sich auf die Hinterfüße. Ihre Ohren bewegten sich schnell in alle Richtungen, um die Laute zu orten, die sich dem Haus näherten. Sie streckte die Nase in die Luft. Ihre Barthaare zitterten stark unter dem intensiven Schnuppern. Es roch nach fremden Menschen. Lärm und Gerüche signalisierten eine nie da gewesene Bedrohung. Ein warnendes Schnauben und die Ratten verkrochen sich.

Doch diesmal war es keine vorübergehende Ruhestörung.

Menschen eroberten das Haus und grässliche Laute erfüllten den Raum, als sie den Mann im Bett sahen und schließlich abtransportierten.

Stimmen mischten sich.

„Der hat ja kein Gesicht mehr! Verfluchtes Rattenpack!“

„Der Müll muss auch raus.“

„Nein! Wir verbrennen alles und die Viecher gleich mit.“

„Das Haus niederbrennen? Ohne Genehmigung? Lass andere das entscheiden!“

Man fand heraus, dass der Tote keine Angehörigen hatte und dass es kein Testament gab. Haus und Land fielen dem Staat zu. Der Abriss der Gebäude wurde beschlossen und das Land zu Bauland erklärt. Das alte Fachwerkhaus brannte, die Flammen fraßen sich in den Müll.

Die Ratten flohen durch die vielen Gänge, die sie angelegt hatten, über die Felder in den nahe gelegenen Wald. Doch nicht alle von ihnen entkamen. Lautes Quieken derjenigen, die sich nicht retten konnten, folgte den Flüchtenden wie ein Warnsignal.

Am nächsten Tag beobachtete das Rattenmännchen aus sicherer Entfernung den Aufmarsch der Maschinen. Der Lärm, der von ihnen ausging, walzte bedrohlich auf die Ratte zu. Dröhnen und Stampfen ließen den Boden vibrieren. Lautes Poltern, wenn der Bagger die verkohlten Reste des Hauses aufnahm und in die Container entlud. Eine der Maschinen bewegte sich auf die Scheune zu. Bersten! Krachen! Übrig blieb eine Anhäufung zerbrochenen Holzes.

Die Ratte verfolgte aufmerksam das Geschehen. Weit und breit konnte sie keinen Unterschlupf entdecken, der ihrem Rudel Schutz geboten hätte. So verkrochen sie sich in einem tunnelartigen Rohr, das in einen Bachlauf mündete. Sie quetschen sich durch das Gitter vor der Öffnung und verbrachten dort die Nacht.

Kein Ort für einen längeren Aufenthalt.

Bei Tagesanbruch wagte der Rattenmann sich noch einmal bis zum Waldrand vor. Die Ungeheuer standen leblos vor der von dem Haus befreiten Fläche. Kurz bevor die Ratte ihrem Rudel das Signal geben konnte zurückzukehren, kamen die Menschen. Sie setzten die Maschinen in Bewegung und der Lärm kroch auf die Ratte zu wie ein knurrender Terrier. Furchteinflößender jedoch, waren die lauten Stimmen der Menschen, sodass von dem einst ruhigen Ort nun eine Gefahr ausging, die der Rattenmann nicht einschätzen konnte. Unschlüssig verfolgte er die große Schaufel, die sich in schwarze Erde wühlte, sie hochschaufelte und am Rand der Grube auftürmte. Eine riesige Falle! Kein Zögern mehr. Dem Fluchtinstinkt gehorchend, zog sich die Alpharatte zurück und gemeinsam mit ihrem Rudel suchte sie nach neuen Verstecken und Nahrungsquellen. Eines Tages entdeckte sie drei Häuser, die in den Himmel ragten. Die Häuser hatten Keller.

Die Ratten hatten ein neues Paradies gefunden.

2

Er stieg die wenigen Stufen zum Keller hinunter, stemmte die Schulter gegen die schwere Brandschutztür und schleppte die zwei Taschen zu seiner Parzelle. Die Tür seines Kellerabteils quietschte beim Öffnen. Er packte den Inhalt der Taschen auf die Regale. Er kaufte immer große Vorräte, wenn sie im Angebot waren. Schließlich hatte er viele Vögel zu füttern.

Das lebhafte Gezwitscher der Wellensittiche, die in einer Voliere auf dem Balkon ihr Zuhause hatten, drang bis in den fensterlosen Kellerraum.

Er schmunzelte. Unzählige Male hatten sich die Hausbewohner über den Lärm der „Mistviecher“ und den Dreck, der nicht nur auf seinem Balkon landete, beschwert. Was kümmerte es ihn? Er hatte genug Material gegen die meisten Mieter gesammelt, um sie verstummen zu lassen. Den anderen Mietern gegenüber war seine Position im Haus stark genug, um ihnen das Leben so schwer zu machen, dass sie die Piepmätze bald putzig fanden und ihren Gesang nicht mehr missen wollten.

Nur der alte Herbert Holz, ein Querulant, der immer etwas zu meckern hatte, glaubte, ihn fertigmachen zu können, indem er Unterschriften gesammelt und sie dem Hauseigentümer überreicht hatte. Ohne Erfolg!

Er grinste in den kleinen, runden Spiegel, den er für Hansi gekauft hatte. Hansi liebte sein Spiegelbild mehr als die Gesellschaft seiner Artgenossen.

„Hat zu lange in Einzelhaft gelebt, der Hansi“, brummelte er und hängte den neuen Spiegel an einen Nagel, der aus dem Regalbrett stach.

Er blickte hinein und sah nur einen Ausschnitt seines Gesichts, was ihn nicht daran hinderte, in sein fragmentiertes Spiegelbild zu plappern wie einer seiner Vögel: „Pachten Sie einen Kleingarten, hat der Herr Hauseigentümer von mir gefordert. Dort bringen Sie Ihre Tierchen unter. Das werde ich nicht tun, sagte ich ihm. Kümmern Sie sich lieber um Ihren Kolibri statt um anderer Leute Vögel! Blass ist er geworden, der große Miethai, blass und ganz klein.“ Er lachte so laut, dass er das Quietschen der Kellertür nicht hörte.

„Um Gottes willen, sagen Sie meiner Frau nichts“, äffte er den ängstlichen Ton des Hausbesitzers schadenfroh nach. Der Spiegel beschlug von seinem Atem.

„Vor meinen Augen zerriss er die Unterschriftensammlung des Herrn Holz“, berichtete er seinem blinden Spiegel-Ich, das er, indem er ein großes Taschentuch nahm, wieder blank rieb. „Sie wissen, wie sehr ich Ihre Arbeit schätze. Dieser Schleimer! Sieg auf der ganzen Linie nenn ich das!“ Er sah seine schmalen Lippen im Spiegel, wie sie die Worte genüsslich formten.

Abrupt verstummte er. Schwächlinge, dachte er. Rückgratlose Schwächlinge allesamt! Fast macht es keinen Spaß, sie nach meiner Pfeife tanzen zu lassen. Aber nur fast. Er kicherte vergnügt und lauschte dann dem aufgeregten Schwatzen der Sittiche, das keine Hauswand dämpfen konnte.

Er hörte nicht das Aufsetzen weicher Sohlen und sah auch nicht den Schatten.

Er begann das Futter nach den Bedürfnissen seiner Vögel zu sortieren.

„Für meinen sensiblen Jakob alles hierher“, murmelte er und verspürte unvermittelt einen schmerzhaften Druck im Magen.

Dieses unerträgliche Weib, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. Immer freundlich, immer geduldig und bemüht. Meine Beschwerden prallen an ihr ab, wie die Kugeln an einem Superhelden im Spielfilm. Nicht einmal über ihre beiden Rabauken komme ich an sie heran. Sie ist nicht zu fassen. Dabei liegt in ihrer freundlichen Art etwas Unterwürfiges, was mir Angst einflößt. Er schüttelte das unangenehme Gefühl ab. „Nee“, brummelte er, „von so ner biederen Mutti lass ich mich doch nicht ins Bockshorn jagen.“

Plötzlich spürte er in seinem empfindlichen Rücken einen kalten Lufthauch. Er drehte sich um und suchte nach der Quelle, von der die Kälte ausging. Irritiert starrte er auf die Gefriertruhe, deren Deckel nicht richtig verschlossen war. Was für eine Verschwendung! Er musste sofort nachsehen, ob Ware verdorben war!

Er hob den Deckel an und sah in die Truhe. Sie war leer! Er traute seinen Augen nicht, beugte sich tiefer. Unmöglich! Sie war mindestens bis zu Hälfte gefüllt gewesen. Mindestens! Den Schmerz, der eine Explosion in seinem Kopf auslöste, spürte er nur kurz. Bevor er vollkommen in Dunkelheit versank, sah er noch verschwommen den eisigen Boden der Truhe, auf den sein Gesicht schlug.

Der Rattenmann hockte hinter der Abfalltonne, in die der Dreck aus dem Vogelkäfig und Futterreste entsorgt wurden. Er knabberte an einem Hirsekolben, den er zwischen den Pfoten hielt. Nach der Flucht aus dem brennenden Haus hatte er das Vertrauen zu den Menschen wiedergewonnen. Es waren immer dieselben Menschen, die in die Keller kamen. Sie machten keinen Lärm und jagten sein Rudel nicht. Daher zuckte er heftig zusammen, als er den dumpfen Aufprall hörte. Der Rattenmann ließ die Hirse fallen, gab seine kauernde Haltung auf, stellte sich auf die Füße und bewegte sich langsam, intensiv schnuppernd, hinter der Abfalltonne hervor. Er erblickte einen Menschen, der vor dem großen Kasten stand und die Platte, die darüber schwebte, leise auflegte. Dann hörte er das Einschnappen des Sicherheitsschlosses, das seinen Zähnen standgehalten hatte. Seine kleinen schwarzen Augen folgten dem Menschen, der sich von dem Kasten fortbewegte. Er hörte das Klimpern von Schlüsseln, das leise Quietschen der Tür, die der Mensch hinter sich zuzog und das vertraute Knacken beim Einrasten des Schlüssels.

Anfang

3

Erika Schmidt erwiderte ohne Anzeichen von Nervosität den Blick ihres Gegenübers.

„Sie sind ganz sicher?“

Sie nickte.

„Nicht die feine Art“, stellte Herr Wetter fest. Er hielt das Schreiben mit beiden Händen gepackt, als wäre es der Verfasser selbst und Erika Schmidt wäre nicht überrascht gewesen, wenn er es geschüttelt hätte. „Bei Nacht und Nebel auf und davon und nur dieses maschinelle Schreiben. Heute Morgen in meinem Briefkasten, zusätzlich des Schlüsselbundes. Hat er Ihnen von seinem Vorhaben erzählt?“

„Nur, dass es sein größter Traum ist, seinen Lebensabend auf einer Südseeinsel zu verbringen. Allerdings konnte ich nicht ahnen, dass sein Wunsch so schnell in Erfüllung gehen würde.“

„Muss eine ziemlich große Erbschaft sein, die Herr Rohe gemacht hat. Von seiner Pension könnte er selbst in einer Bananenrepublik nicht lange überleben. Soviel ich weiß, ist er zeit seines Berufslebens immer Schutzmann geblieben. War wohl nicht sehr ambitioniert, in der Polizeihierarchie aufzusteigen. Aber in der Position des Hausmeisters perfekt. Hatte die Leute im Griff. Schaffen Sie das auch?“ Zweifelnd betrachtete er die Frau.

„Ich bin im Hotelgewerbe aufgewachsen, Herr Wetter“, entgegnete Erika Schmidt hoheitsvoll. „Ich weiß, wie man mit Menschen umgeht.“

Betrübt sah Wetter auf den Brief. „Wissen Sie, damals, als Rohes Frau sich in einen ...“, Wetter zog geräuschvoll Luft durch die zusammengebissenen Zähne, „man sollte es nicht glauben, Türken verliebt hatte und mit ihm in sein Heimatland abgehauen ist, kam der Rohe zu mir und hat mich angefleht, nein“, Wetter schüttelte den erhobenen Zeigefinger, „direkt angebettelt, ihm die freie Stelle des Hausmeisters zu geben. Ich“, Wetter legte die Hand aufs Herz, „habe Verständnis aufgebracht, denn er beteuerte, er würde verrückt werden allein und ohne Arbeit. Und jetzt?“ Wetter überflog wieder mit finsterer Miene die Zeilen. „Hätte er sich nicht persönlich von mir verabschieden können, statt mir seine Kündigung postalisch zuzuschicken? Eine Frage des Anstands, nicht wahr?“

Er sah nun auf die Frau vor seinem Schreibtisch, als wäre sie das Orakel, das alle Fragen beantworten könnte. „Ich dachte, Herr Rohe hätte keine Angehörigen.“

„Einen Onkel hat er mal erwähnt.“ Erika Schmidts braune Augen schauten tröstend auf den verärgerten Herrn Wetter. „Lebte in der Dominikanischen Republik mit einer ...“, sie beugte sich leicht vor und flüsterte „Eingeborenen.“ Nach einer Pause fuhr sie fort: „Soweit ich weiß, gab es keinen Kontakt zwischen Herrn Rohe und seinem Onkel.“

Gestresst taxierte Herr Wetter die Frau. Sie saß auf der Stuhlkante, die Knie aneinandergedrückt, beide Füße in den flachen Schuhen fest aufgestellt. Der Rocksaum endete an der Wade und die hochgeknöpfte Kostümjacke zeigte nur den Stehkragen einer weißen Bluse. Das dunkelblonde Haar war aufgesteckt, das Make-up dezent. Niemals vorher hatte er eine Frau gesehen, deren Make-up das Gesicht nicht hervorhob, sondern neutralisierte. Ohne Schminke sah sie wahrscheinlich verrucht und sexy aus. Wetter grinste innerlich.

Er atmete mehrmals tief durch, bevor er fragte: „Trauen Sie sich den Job zu? Es sind immerhin drei Häuser à achtundvierzig Wohneinheiten?“

„Mein Mann“, sagte Erika Schmidt, „war Vertreter im Außendienst. Ich musste demnach alleine zurechtkommen. Das heißt, ich reinige verstopfte Abflüsse, fürchte keine Stromausfälle, kenne mich mit kaputten Gasleitungen aus, tapeziere…“

„Schon gut, schon gut“, winkte Herr Wetter ab.

Aber Erika Schmidt ließ sich nicht aufhalten. „Ich denke aber, als Hausmeisterin ist es vornehmlich meine Aufgabe, die Beschwerden der Bewohner entgegenzunehmen und dafür zu sorgen, dass alles rasch erledigt wird. Ich sorge für Ordnung im Haus.“ Sie betonte das Wort „Ordnung“ und zog streng die Augenbrauen hoch.

Herr Wetter sah unglücklich drein, aber ihm blieb keine Wahl. „Da Sie der einzige Bewerber sind und die Stelle schnell besetzt werden muss, haben Sie den Job. Auf Probe natürlich.“ So-bald ich einen männlichen Bewerber habe, fliegt die Mutti, dachte er.

Im selben Augenblick griff etwas Unnennbares eiskalt nach ihm. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte er sich wie in einem Vakuum, als Erika Schmidts Blick ihn einfing. Das warme plüschige Braun ihrer Augen war einem abgründigen Schwarz gewichen, das ihn schluckte.

Sie hat meine Gedanken gelesen, dachte er noch, dann war es vorbei.

Erika Schmidt strahlte ihn an, unterschrieb den Vertrag, dankte ihm überschwänglich, erhob sich, strich ihren Rock glatt, zupfte am Kragen ihrer Bluse und schritt in würdevoller Haltung aus dem Büro.

Rolf Wetter sah der biederen Erscheinung nach und wunderte sich über sich selbst. Natürlich hatte sie seine Gedanken nicht gelesen. Sie war harmlos. Nett. Der schlichte Typ. Jemand, der anderen seine Hilfe anbot, ohne ein Wort des Dankes zu erwarten. Soweit man ihm berichtet hatte, war sie jemand, der „Danke“ sagte, wenn er helfen durfte. Es änderte nichts daran, dass sie ihm Übelkeit verursachte.

Kein Wunder. Er schlief die letzten Nächte unruhig. Der Scheidungstermin rückte näher und er hatte Dorothea immer noch nichts von seinem Entschluss erzählt. Die Schmidt erinnerte ihn an seine Frau. Auch Dorothea war nett, tüchtig, ordentlich, geradezu perfekt. Sie würde ihn ins Grab bringen! Todesursache Herzstillstand durch Langeweile. Er musste schleunigst die Flucht antreten, gemeinsam mit der süßen kleinen Susi aus der Kosmetikabteilung, wo er seine Pflegeserie für Herren kaufte.

Rolf Wetter lehnte sich entspannt zurück. Die Zukunft war rosig. Sowie er einen Mann für die Hausmeisterstelle gefunden hätte, würde er dieses grässliche Weib ersetzen.

1. bis 25. April

4

Rolf Wetters Büro befand sich im Erdgeschoss des Mittleren der drei Häuser. Erika Schmidt spazierte hinaus und gab sich dem auffrischenden Wind hin. Er wehte aus Südwest, feuchte Luftmassen im Gefolge, die erste Regentropfen bildeten. Vollgesogen mit den würzigen Düften des Frühlings perlten sie weich und geschmeidig über Erika Schmidt, die keinen Schritt schneller ging.

Monolithisch stand jedes der drei Hochhäuser für sich, umgeben von dürren Sträuchern und dumpfgrünen Rasenflächen. Eine Mutter zerrte ihr weinendes Kind von der Schaukel auf dem Spielplatz und flüchtete vor dem Regen. Eine andere Mutter klappte hastig das Verdeck des Kinderwagens hoch und folgte ihr. Sie verschwanden in Haus Nr. 2.

Erika Schmidt setzte sich auf die Bank am Spielplatz. Die Schaukel pendelte vom Wind angetrieben weiter. Erika ließ es zu, dass der Regen ihr sorgfältig festgestecktes Haar nach und nach in einzelne Strähnen auflöste.

Das hätte Mutti glücklich gemacht, sinnierte sie. Einen Job haben und trotzdem nicht aus dem Haus müssen, wie es sich für eine gute Ehefrau und Mutter gehört.

Erika erinnerte sich an den Tag, als sie ihrer Mutter sagte, dass sie studieren wollte.

„Kind“, hatte die Mutter ausgerufen und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, „ahnst du überhaupt, welche Gefahren in der Großstadt lauern?“

Sie zählte die Gefahren auf. Danach hatte Erika Albträume, in denen sie von Fieber geschüttelt einsam und hilflos im Wohnklo eines Studentenheimes dahinsiechte, mehrfach vergewaltigt wurde, ihrer wenigen Habseligkeiten beraubt, und von Mädchenhändlern entführt in einem Bordell landete. „Andererseits“, hatte ihre Mutter mit gramvoller Miene gesagt, „lässt du, unser einziges Kind, uns im Stich. Wie sollen wir ohne dich unsere kleine Pension weiterführen?“, hatte sie lamentiert. „Teure Angestellten können wir uns nicht leisten und schließlich werden wir auch nicht jünger, und dann ist da noch der nette Josef, der Sohn vom Großbauern Jakob Dorfmann. Aber es ist deine Entscheidung, Kind. Wir stehen dir nicht im Wege. Ich wünsche dir alles Gute. Alles Gute“, hatte sie gesagt und das Gesicht schmerzvoll verzogen.

Erika studierte nicht. Sie arbeitete in der Pension und entwickelte eine an Besessenheit grenzende Fürsorge für die Gäste. Sie lehnte jedoch Josef Dorfmanns Heiratsantrag ab. Überhaupt waren ihr Männer ziemlich egal. Vielleicht war es das, was ihre Mutter frühzeitig altern ließ, die Vorstellung, ihre Tochter könnte eine unkatholische Neigung entwickeln.

Schimpfend quälte Mathias Bergmann seinen Wagen in die letzte freie Parklücke. Klar! Das Auto vom Holz. Braucht immer zwei Parkplätze. Achtzigjährigen sollte man den Führerschein wegnehmen. Wütend zwängte Mathias Bergmann sich aus dem Wagen, darauf achtend, dass die Tür den Lack des Wagens neben ihm nicht zerkratzte. Er zerrte Aktentasche und Schirm hinterher und knallte die Tür zu. Das Quietschen der Schaukel lenkte seinen Blick zum Spielplatz. Ihm wurde flau im Magen, als er die Gestalt auf der Bank sah, die scheinbar reglos dasaß, schutzlos dem Regen ausgeliefert, der sich verstärkte. Hat die Tante aus dem Zwölften den Löffel abgegeben? Das ist das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen kann. Er spannte den Schirm auf und ging auf die Bank zu.

„Frau Schmidt?“

Benommen von den Erinnerungen sah Erika auf.

„Sie sollten schnell ins Haus gehen, sonst erkälten Sie sich noch.“ Wer bringt dann meine Tochter zur Schule, dachte Mathias Bergmann verärgert. Was treibt die dumme Pute dazu, hier im Regen rumzusitzen?

Erika Schmidt stand auf, straffte die Schultern und sagte: „Ich bin jetzt Hausmeisterin.“

„Oh!“ Alle Farbe wich aus Herrn Bergmanns Gesicht. Rasch hielt er den Schirm über Frau Schmidt. „Kommen Sie an meine Seite! Ich führe Sie gut beschirmt nach Hause.“ Er lachte, unsicher, ob Frau Schmidt den Scherz verstanden hatte.

Erika hakte sich unter, schmiegte sich eng an Herrn Bergmann und gemeinsam betraten sie das Haus Nr. 1 in der Waldschlossstraße.

„Ich nehme die Treppe“, sagte Erika Schmidt, als Herr Bergmann den Fahrstuhlknopf drückte. „Bis Morgen!“

Erschrocken hielt Mathias Bergmann inne. „Vielleicht fehlt Ihnen in Ihrer neuen Position die Zeit, um meine Tochter zur Schule zu bringen?“

Sieht er mich wirklich ängstlich an? Erika staunte. Mich, die „Ach Schmidt, machen Sie mal“- Person?

„Unsinn“, wehrte sie ab, „morgen haben Sie mich wieder!“ Sie errötete. Dann Stirnrunzeln: „Ist Ihre Frau immer noch in Kur?“

„Hat verlängert. Ihre schwache Konstitution.“ Herr Bergmann legte die Hände um Verständnis bittend aneinander.

Deshalb stützte sie sich wohl auf den Arm des Mannes im Bahnhof. Erika hatte Frau Bergmann gesehen, da sie an dem Tag für Marylin die Fahrkarte nach Berlin besorgt hatte, zu einer Veranstaltung Germany’s Next Topmodel für Vollschlanke. Der Mann hatte einen Kuss auf Frau Bergmanns Haar gedrückt und seine Stirn zärtlich an ihrer Schläfe gerieben. Vielleicht ein Verwandter.

„Ist sie allein gefahren?“, fragte Erika.

Der Aufzug kam.

Bevor Bergmann einstieg sagte er: „Wie? Ja, natürlich. Bis Morgen!“, und ließ sich in den vierten Stock fahren.

Stufe für Stufe nahm Erika Schmidt den Weg nach oben. In jeden Flur mit seinen vier Türen warf sie einen langen Blick.

Ein Häuschen im Grünen wünsche ich mir, hatte sie zu Arthur nach der Heirat gesagt.

„Blödsinn!“, hatte Arthur erwidert. „Ich bin ständig unterwegs.“ Er hatte ihr trauriges Gesicht gesehen und sie in die Arme genommen. „Später, Liebchen. Wir zwei, grau und runzelig, in einem kleinen Häuschen am See, im wohlverdienten Ruhestand.“

Sie hatte sich abgefunden, aber nie aufgehört davon zu träumen.

Jetzt gehörte ihr ein Hochhaus mit zwölf Stockwerken, in dem sie die Hausherrin war und zwei weitere Häuser standen unter ihrer Herrschaft. Nie zuvor hatte sie sich so lebendig gefühlt. Das war etwas anderes als die Pension, in der sie mehr oder weniger eine Angestellte ihrer Eltern gewesen war. Mit Argusaugen würde sie über jeden Bewohner wachen. Ein offenes Ohr für ihre Sorgen haben, Not lindern, Streit schlichten, Hebel in Bewegung setzen, Weichen stellen. Sie atmete tief die Ausdünstungen des Treppenflures ein, die ein Uringeruch dominierte.

5

Noch am selben Tag hatte Erika Schmidt das Messingschild neben Herrn Rohes Haustür entfernt und zu einem Graveur gebracht. Nachdem sie es wieder in den Händen hielt, putzte und polierte sie es. Anschließend hatte sie es in Augenhöhe neben ihrer Wohnungstür befestigt.

An diesem Morgen, noch im Morgenrock, das Haar ungekämmt, betrachtete sie das Schild liebevoll. Hauchte es an, wischte mit dem Ärmel des weichen Morgenmantels auch das letzte Stäubchen und jeden Schatten eines Fingerabdrucks weg, bis es goldfarben glänzte. Dem Hausmeister hing nun ein „in“ an. Darunter hatte Erika ein Schild mit ihrem Namen montiert. Nur ihr Name. Nicht wie auf der Klingel und auf dem Briefkasten, wo sie in „Familie Arthur Schmidt“ unterging.

Gestern war noch ein Rundschreiben an alle Bewohner der drei Häuser gegangen, in dem Erika Schmidt mitteilte, dass sie nun die Hausmeisterin sei, an die man sich vertrauensvoll mit jeglicher Art von Problemen wenden durfte. Das goldene Schild an ihrer Tür besiegelte ihre Position. Sie hatte den Graveur beauftragt, statt des Pünktchen über dem „i“ von „in“ eine Krone einzugravieren.

Erika Schmidt erschrak, da ihr plötzlich bewusst wurde, wie spät es sein musste. Schnell ging sie in die Wohnung und sah nach ihren Jungs.

Ihren Ältesten zu finden war nicht schwierig. Er saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher, der auf maximale Lautstärke gestellt war. Erika schaltete ihn aus.

„Wie oft habe ich dir gesagt, dass du den Fernseher nicht so laut stellen darfst. Es stört die Nachbarn.“

Sebastian sah seine Mutter verständnislos an.

„Hast du alle Schulsachen zusammen? Du weißt, wie vergesslich du bist.“ Erika kontrollierte die Schultasche. „Wo ist dein Matheheft?“

Sebastian zuckte die Schultern. Erika ging ins Kinderzimmer, wo das Matheheft unübersehbar auf dem Schreibtisch lag. Sie packte es in die Schultasche, schulterte sie und betrachtete dann ihren jüngsten Sohn.

„Was hast du für Schuhe an, Klaus-Peter?“

„Sneakers.“

„Von wem hast du die?“ Erika musterte ihren Sohn besorgt.

„Selbst gekauft, von meinem Taschengeld“, antwortete Klaus-Peter stolz und erwartete ein Lob von seiner Mutter.

„Zieh sofort die gefütterten Schuhe an, die ich dir gekauft habe! Es ist viel zu kalt für Turnschuhe. Und die“, sie wies verächtlich auf Klaus-Peters Schuhe, „bringst du zurück!“ Dann schimpfte sie los: „Gewissenlose Geschäftemacher ziehen einem Elfjährigen das Geld aus der Tasche. In was für einer Welt leben wir?“

„Die angesagten Typen in meiner Klasse tragen alle Sneakers“, versuchte Klaus-Peter die Bedeutung dieser Fußbekleidung seiner Mutter nahezubringen.

„Ach ja, mein Junge, und wenn alle angesagten Typen vom Dach unseres Hochhauses springen, dann würdest du auch springen?“

„Klar! Geiler Massenselbstmord.“

„Zieh die warmen Schuhe an!“, sagte Erika tonlos.

Klaus-Peter wechselte die Schuhe und verstaute die Sneakers im Turnbeutel, um in der Schule die Schuhe wieder zu wechseln. Vergnügt folgte er seiner Mutter, die die Kinder zur Tür dirigierte. Schnell warf Erika einen Blick auf die Standuhr im Wohnzimmer. Sie spürte, wie sich eine Panikattacke aufbaute.

„Los, Kinder! Wir müssen noch die Bergmann-Tochter abholen.“

„Iiih, das Baby.“ Einstimmig.

Lara-Michelle Bergmann ging in die erste Klasse.

Erika Schmidt öffnete die Tür. Die Jungs krümmten sich vor Lachen. „Wir haben keine Zeit für Albernheiten. Reißt euch zusammen!“

Die Jungs zeigten auf ihre Mutter und quietschten vor Vergnügen.

„Was?“ Erika sah an sich herunter. Sie war im Morgenrock und Pantoffeln. Die Panik steigerte sich. „Benehmt euch, während ich mich anziehe!“ Erika rannte ins Badezimmer. Die Jungs übten Griffe, die sie beim Wrestling im Fernsehen gesehen hatten. Klaus-Peter lief blau an.

Ganz gegen ihre Gewohnheit wusch Erika nur ihr Gesicht, putzte die Zähne und fühlte Ekel, weil keine Zeit blieb, sich zu duschen. Auch zog sie an, was ihr gerade in die Finger kam. Normalerweise wählte sie ihre Kleidung sorgfältig aus. Sie kämmte ihr Haar und schnürte es zu einem Knoten zusammen. Entsetzlich, dachte sie, so sieht mich Herr Bergmann.

Mit zehnminütiger Verspätung kam sie im vierten Stock an. Bevor sie bei Bergmanns klingelte, zupfte sie den Kragen ihrer Bluse in Form, zog die Jacke glatt und strich über ihren Rock.

Herr Bergmann riss die Tür auf. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen.

„Gott sei Dank“, rief er erleichtert. Ich hatte befürchtet, Ihr neuer Aufgabenbereich ließe Ihnen keine Zeit, meine Tochter zur Schule zu fahren. Lara-Michelle!“ Die Kleine tauchte hinter ihm auf. „Wahrhaftig, Frau Schmidt, Sie sind ein Engel.“ Bisschen Honig ums Maul kann nicht schaden, dachte Mathias Bergmann und fügte hinzu:

„Nicht auszudenken, wenn ich diesen Riesenumweg vor Arbeitsbeginn machen müsste.“ Dabei schenkte er Erika Schmidt ein charmantes Lächeln.

Obwohl es spät war, hielt Erika Schmidt an ihrer Pflicht fest, die Bergmann-Tochter wie jeden Morgen zu ermahnen: „Sei brav! Mach deiner Mutter keine Schande! Pass in der Schule gut auf!“

Das Mädchen ließ eine Kaugummiblase platzen, Herr Bergmann erstickte sein Charming-Lächeln, fuchtelte mit dem Handgelenk, an dem die Armbanduhr sichtbar wurde und sagte entschieden: „Liebe Frau Schmidt, es eilt!“

Erika scheuchte die Kinder hinaus und zwanzig Minuten später hielt der Volvo vor der Schule. Sie beobachtete die Drei, bis sie auf dem Schulhof waren, und ging dabei in Gedanken die Aktivitäten durch, die der Tag von ihr forderte. Aber sie war nicht recht bei der Sache. Ihre Gedanken schweiften zu dem Schlüsselbund, den Hausmeister Rohe verwaltet hatte und der nun ihr ausgehändigt worden war.

„Falls Sie Unterlagen benötigen“, hatte Herr Wetter gesagt und dann mit verschlagener Miene hinzugefügt:

„Ich glaube, der Rohe hat Akten über die Mieter angelegt. Die Polizistenseele in ihm konnte wohl nicht widerstehen.“

Zum ersten Mal wartete Erika nicht, bis der Unterricht begann und sie die Kinder sicher im Schulgebäude wusste.

Bin gespannt, Rohe, was du bei deiner Schlüssellochguckerei entdeckt hast.

Mit Schmetterlingen im Bauch startete sie den Volvo.

6

Am nächsten Morgen stand Erika Schmidt pünktlich um sieben Uhr dreißig adrett gekleidet, dezent geschminkt und ordentlich frisiert auf dem Flur, ihre beiden Jungs im Schlepptau. Das Fiasko von gestern durfte sich auf keinen Fall wiederholen. Einen Moment lang verharrte sie am Treppengeländer, beugte sich vor und schaute von der Höhe des zwölften Stockwerkes hinunter auf ihr Reich. Reflexartig tastete sie nach der sackartigen Umhängetasche, um sich zu vergewissern, dass sie den Terminkalender, das wichtigste Requisit ihres Daseins, eingesteckt hatte. Er enthielt alle Zeiten und Notizen, wann sie was für wen erledigen musste. Sie war schon immer hilfsbereit gewesen. Aber in ihrer neuen Position konnte sie sich noch stärker für die Hausbewohner einsetzen.

„Was wären sie ohne mich“, seufzte Erika in den stillen Flur und ihr war, als hallte es zurück “Nichts!“

„Komm endlich, Mama, ich habe keinen Bock mehr den Fahrstuhl aufzuhalten!“

Erika fuhr zusammen. Sie sah ihren ältesten Sohn gegen die Fahrstuhltür gestemmt, während der Jüngere im Innenraum Karatetritte gegen die Haltestange ausführte.

Sie fuhren in den vierten Stock und holten die Bergmann-Tochter ab. Erika brachte die Kinder zur Schule und kaufte auf dem Rückweg für Herrn Hagedorn ein. Seitdem er seinen Hund abgeben musste, hatte er sich auf erschreckende Art verändert. Wenn Erika ihn fragte, was er essen wolle, begann er weinerlich: „Ich weiß es nicht. Ich habe keinen Hunger. Ich mag nicht mehr rausgehen. Ohne Poldi ist alles sinnlos.“ Dann schlurfte er zum Sofa, legte sich hin, faltete die Hände über dem Bauch, starrte zur Decke und sagte kein Wort mehr. Er magerte ab, trotz des gut gefüllten Kühlschrankes, den Erika regelmäßig von faulendem Essen säuberte.

Erika war verzweifelt. Herr Hagedorn entglitt ihr. Es war ihrer Position nicht würdig, einen Schutzbefohlenen zu verlieren. Sie fühlte sich müde, als sie mit einer Tüte, die nur wenige Lebensmittel enthielt, das Haus betrat.

Frau Schulze musste ihr aufgelauert haben. Wie aus dem Boden geschossen versperrte ihr kugeliger achtmonatiger Schwangerschaftsbauch Erika den Weg. „Sie sind doch der neue Hausmeister, Frau Schmidt?“

Erika bejahte und wuchs um einen Zentimeter auf einen Meter einundsiebzig.

„Unternehmen Sie etwas gegen die Ratten! Neulich waren zwei dieser Biester im Badezimmer. Sie müssen durch den Luftschacht gekommen sein. Soll Lucie-Sophie“, Frau Schulze legte beide Hände auf ihren Bauch, als müsse sie das Kind schon jetzt gegen furchterregende Rattenzähne schützen, „von diesen Bestien aufgefressen werden?“

„Ihrem Kind“, sagte Erika Schmidt im Ton eines Generals, der weiß, dass er in der Übermacht ist, „wird in diesem Haus nichts passieren. Dafür sorge ich.“ Sie war jetzt ein Meter fünfundsiebzig groß.

„An der Rattenplage ist der Rohe schuld“, wütete Frau Schulze. „Hat bis obenhin Vogelfutter in seinem Keller gestapelt, weil es im Angebot war. Ein Rattenparadies. Aber die Voliere mit den Wellensittichen ist doch weg, oder?“

„Ja“, sagte Erika begütigend. „Die Vögel haben Leute vom Tierheim abgeholt.“

„Der Rohe ist einfach abgehauen? Hat anderen die Arbeit überlassen?“, entrüstete sich Frau Schulze.

„Geld verdirbt den Charakter“, stellte Erika weise fest.

„Im Keller lagert aber noch Futter, oder?“ Frau Schulze blickte sie argwöhnisch an. „Ich wollte mal nachsehen, doch die Tür ist abgeschlossen. Sie haben einen Generalschlüssel?“

„Erika Schmidt war ein Meter achtzig groß. „So ist es.“ Sie neigte würdevoll den Kopf. „Ich habe Zugang zu jedem Raum. Keine Sorge, ich erledige das.“

Über Frau Schulzes angestrengte Gesichtszüge huschte ein Lächeln.

Nachdenklich fuhr Erika in den zwölften Stock. Die Ratten würden ein echtes Problem werden. Sie wusste nicht, wie sie es lösen sollte.

Später, dachte Erika, ich werde später darüber nachdenken.

Dafür aber war ihr bei der Erwähnung des Tierheims die Lösung für ein anderes Problem eingefallen. Sie verstaute die Lebensmittel in ihrer Wohnung, sah auf die Uhr, stellte fest, dass Zeit genug blieb, bis sie die Kinder abholen musste, lief aus der Wohnung und fuhr ins Tierheim.

Sie schellte an Hagedorns Tür. Nichts geschah. Sie schlug mit der Faust dagegen. Nichts rührte sich. Sie rief Herrn Hagedorns Namen. Es blieb still. Erika schaute auf den Hund, der ungewöhnlich ruhig dasaß und leise fiepte, als wittere er Unheil

Ich muss die Polizei alarmieren, damit sie die Tür aufbrechen, dachte Erika Schmidt und im selben Moment durchfuhr es sie glühend heiß. Sie war auf keine Hilfe angewiesen! Ein Griff in die Jackentasche. Sie holte ihren Schlüsselbund heraus, schob alle Schlüssel beiseite bis der Generalschlüssel freigelegt war. Andächtig führte Erika ihn ins Schloss. Umdrehen. Lautes Knacken. In Erikas Ohren eine Hymne und sie öffnete die Tür. Sie erwartete, Herrn Hagedorn auf dem Sofa vorzufinden oder am Fenster, von dem aus er unentwegt auf einen nicht erkennbaren Punkt in der Ferne starrte. Aber dort war er nicht. Erikas Herz schlug höher, sie würgte den Kloß im Hals runter und überwand sich, ins Schlafzimmer zu gehen. In seinem guten Anzug lag Herr Hagedorn auf dem Bett, die Hände über dem Bauch gefaltet, die Augen geschlossen. Schlief er oder …? Erika stand wie festgefroren. Poldi jedoch machte einen Satz und der quirlige Straßenköter saß auf Herrn Hagedorns Brust und kläffte aus voller Hundekehle.

„Poldi!“ Herr Hagedorn erwachte zum Leben. Er drückte und küsste den Hund, rief immer wieder seinen Namen, fragte: „Wie kommst du denn hierher? Bist ausgebüxt?“

Dann begriff er und sah entsetzt zu Erika Schmidt hinüber, die er erst jetzt wahrnahm. „Sie sind hier, um ihn zurückzubringen?“

„Nein! Ich habe ihn gerade aus dem Tierheim geholt. Er bleibt bei Ihnen.“

Verwundert sah Gustav Hagedorn auf Erika Schmidt. „Aber“, flüsterte er, „wenn der Holz“, und er wies in die Richtung seines Nachbarn, „sich wieder beschwert?“

Erika hob beschwichtigend die Hand. Eine souveräne Geste, die eine Königin mit Neid erfüllt hätte. „Ich bin die Hausmeisterin“, entgegnete sie. „Ich bestimme! Wenn Herr Holz meckert, weiß ich schon, wie ich ihn zum Schweigen bringe.“ Das Lächeln, das Gustav Hagedorn auf Erika Schmidts Lippen sah, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Andererseits war es ihm gleichgültig, was sie sich unter „zum Schweigen bringen“ vorstellte. Wie eine Karawane folgte Erika das Danke-Gestammel von Herrn Hagedorn bis die Wohnungstür hinter ihr zufiel.

7

Auf dem Weg vor ihr sah Erika den gebeugten Rücken von Herbert Holz. Ein kurzer Spurt und sie war an seiner Seite, zwang ihn stehen zu bleiben. „Wohin, Herr Holz?“

„Weg, weg, alte Hexe!“ Er stieß mit dem Gehstock nach ihr. „Sie haben den Köter zurückgeholt. Er bellt. Er bellt Tag und Nacht. Aber ich, ich werde …“

Besorgt sah Erika, wie Herrn Holz‘ Ohren rot anliefen und zwischen den weißen Haarsträhnen und dem Stoppelbart abflugbereit wirkten.

„… dafür sorgen, dass er wieder verschwindet. Es ist mein Recht. Mein gutes Recht. So steht’s im Mietvertrag.“ Er hatte tatsächlich den Mietvertrag dabei und schlug bei jedem Wort damit durch die Luft. „Haustierhaltung verboten, da steht’s! Sie durften das nicht entscheiden. Der Wetter wird den Hund rausschmeißen und Sie gleich mit. Dafür sorge ich!“ Jetzt glühte auch Herbert Holz‘ Nase und ein breiter roter Streifen zog sich quer über seine Stirn.

Ein Schatten fiel auf Herrn Holz. Tiefschwarze Wolken waren am Himmel aufgezogen und schluckten nach und nach jeden hellen Flecken. Kalt entzog der Wind dem Frühlingstag die Wärme.

„Wissen Sie, dass außer Ihnen, sich niemand über den Hund beschwert hat?“

„Alles Feiglinge!“ Jede Runzel im Gesicht von Herbert Holz vertiefte sich zum Stellungsgraben. Sein Mund arbeitete wie ein Schnellfeuergewehr.

Erika Schmidt verstand nur die Hälfte der nicht jugendfreien Beschimpfungen. Der Wind pfiff laut und sorgte dafür, dass sie allein auf der Straße standen. Alle anderen waren geflüchtet.

„Sie halten mich nicht auf!“, schrie Herbert Holz.

„Ich fürchte, doch“, sagte Erika laut, aber mit Buttermilchstimme.

Holz schlug mit dem Gehstock nach ihr und versuchte an ihr vorbeizukommen. Ohrenbetäubend raste ein Donnerschlag zur Erde. Der Gehstock fiel, der Mietvertrag flatterte im Wind davon. Herbert Holz hielt sich die Ohren zu. „Furchtbare Zeit, furchtbare Zeit“, stammelte er.

Erika hob den Gehstock auf, erhaschte den Vertrag, legte Herrn Holz den Arm um die Schultern, zwang ihn sanft in Richtung Haus Nr. 1 und brachte ihn bis vor die Wohnungstür.

„Morgen ...“, Herr Holz hatte sich gefangen, „Morgen schreib ich an den Wetter. Sie halten mich nicht auf!“ Als seine zittrigen Hände es nicht schafften, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, half ihm Erika und ging erst, nachdem sie Herbert Holz sicher in seiner Wohnung wusste.

Am nächsten Morgen sah Herbert Holz durch den Türspion. Zuvor hatte er auf die Uhr gesehen und sich vergewissert, dass die Schmidt aus dem Haus war, die Gören wegbringen. Er lauerte, bis der Hagedorn sich wie üblich gegen neun Uhr auf dem Weg zum Arzt machte, wo er nun wieder einmal die Woche vorstellig wurde. Danach war der Flur leer. Alles ruhig.

Herbert Holz zog einen Mantel über den Schlafanzug, fuhr nach unten, holte die Post und fuhr zurück in den vierten Stock. Zwischen dem ganzen Werbekram und den Rechnungen lag ein großer, weißer Umschlag. Teures Papier, Sonderbriefmarke, kein Absender. Seine Adresse darauf wie gemalt. Ein zarter Parfümduft ging von dem Brief aus. Der Tanzabend im Altenheim vor einer Woche. War es möglich, dass die Dame mit den schimmernden weißen Haaren und den hellblauen Augen, die Dame mit der er den ganzen Abend getanzt hatte, ihm schrieb? Herbert Holz fühlte sich jung. Er fühlte sich stark. Der Hund kam weg. Der Schmidt würde er einen Tritt verpassen, der sie in die Bedeutungslosigkeit zurückbeförderte, und gleich würde er diesen geheimnisvollen Brief öffnen. Vor Hagedorns Tür blieb er stehen und lauschte. Stille. Der verdammte Köter fiepte nicht mal. Holz nahm den Gehstock und hagelte den Knauf gegen die Tür. Die Antwort war ein rasendes Gebell. Holz grinste zufrieden und hörte den Höllenhund bis in seine Wohnung. Bestimmt würde er genügend Unterschriften auf seinem Beschwerdebrief an Herrn Wetter bekommen.

Nur im Schlafanzug, einen Becher Kaffee und dick belegte Wurstschnitten vor sich, begann Herbert Holz in der Küche sitzend langsam und sorgfältig den weißen Umschlag aufzuschlitzen. Genüsslich zog er den Brief aus Büttenpapier heraus. Eine Fotokopie war angeheftet. Ein Bild von uns beim Tanz? Er schaute genau hin. Etwas unscharf. Er holte seine Brille und innerhalb einer Sekunde erfasste er die Tragweite des Inhalts.

8

Emil Plum bewegte seine Arme schnell und kraftvoll. Die Handflächen nach hinten gedreht, schaufelte er sich wie ein Maulwurf durch den Gang des Präsidiums, bis er vor Victor Kranskis Dienstzimmer stand. Er klopfte an und stand, ohne die Aufforderung einzutreten abzuwarten, im Raum. Dafür war er bekannt. Es interessierte ihn nicht, ob er willkommen war oder störte. Nicht alle Kollegen nahmen diese Eigenschaft gelassen hin. Besonders mit Vorgesetzten bekam er des Öfteren Ärger.

Emil Plum ließ sich, indem er einen Seufzer ausstieß, auf den Stuhl vor Kranskis Schreibtisch fallen und sah den Kommissar neidisch an.

„Ich beneide dich!“, unterstrich er phonetisch seinen Gesichtsausdruck. „Deine Arbeit ist leicht. Die Leichen wollen gefunden werden, die Täter nicht. Ich jedoch…“, er seufzte wieder, „führe ein Dasein in der Zwickmühle. Männer und Frauen, die ihre Ehepartner suchen. Ich sehe diesen Ausdruck in ihrem Gesicht und ich weiß nicht, ist es Angst, dass wir sie nicht finden oder dass wir sie finden.“ Ein melancholisches Dämmern hüllte den kleinen runden Mann ein. „Ich erinnere mich noch genau an meinen ersten Fall. Ein Ehemann hatte seine Frau als vermisst gemeldet“, fuhr er aufseufzend fort. „Heulend saß er vor mir. Seine große Liebe, sein Leben, verschwunden, seit zwei Tagen sei er ohne Nachricht von ihr. Kurz zuvor hatte er auch seine Arbeit verloren. Er tat mir wirklich leid!“

Kranski sah Plum wie eine Riesenschildkröte an, die aus ihrem hundertjährigen Leben erzählte.

„Wir suchten die Frau vergeblich. Nach und nach wurde sie zu einem Cold Case. Aber es ließ mir keine Ruhe. Ich suchte in meiner Freizeit weiter. Rate, wo sie war!“

„Du hast Freizeit?“ Kranski war hellwach.

„Rate!“

„Als Ich-AG auf dem Straßenstrich?“

Plums Blick traf Victor Kranski, schwarz wie eine geteerte Straße, die ins Nirgendwo führt.

„In einem Frauenhaus! Der ach so verzweifelte Ehemann hatte sie regelmäßig verprügelt. Den Mut abzuhauen brachte sie auf, nachdem sie erfuhr, dass sie schwanger ist.“

„Du hast sie zurückgebracht?“

„Natürlich nicht! Die Akte habe ich ad acta gelegt.“

„Du alter Katholik! Du hast Gott verraten.“

„Was?“ Plum sprang auf.

„Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht trennen.“

„Und das sagt mir ein hedonistischer Atheist,“ empörte Plum sich.

Um Victor Kranskis Lippen spielte ein vielsagendes Lächeln. „Ernsthaft, Plum, was willst du von mir?“

„Eine Frau hat ihren Ex-Mann als vermisst gemeldet.“

Kranski hob erstaunt die Augenbrauen: „Das ist ein Widerspruch in sich.“ Er zuckte die Achseln. „Bin ich überrascht? Nein! Frauen sind widersprüchliche Wesen.“

Plum lief im Raum auf und ab, ein Maulwurf auf der Suche nach weichem Erdreich. „Die Frau lebt mit einem Türken in Istanbul und besucht zurzeit ihre Eltern hier. Sie wollte wissen, wie es ihrem Ex geht. Er war Hausmeister der Hochhäuser in der Waldschlossstraße. Dort erfuhr sie von dem Hauseigentümer und der neuen Hausmeisterin, einer…“, Emil Plum zog einen Zettel aus der Hemdtasche, hielt ihn weit von sich und las „…einer Frau Erika Schmidt, ihr Mann sei in die Karibik verschwunden. Die Nachricht brachte sie zum Lachen. Sie sagte wörtlich: ‚Mein Mann hat das Spießertum erfunden. Er würde Deutschland nie verlassen und schon gar nicht in ein exotisches Land reisen. Einen Erbonkel hat er auch nicht.‘ Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass ein Ticket in die Dominikanische Republik auf seinen Namen online gebucht und mit seiner Kreditkarte bezahlt wurde. Das Ticket wurde zwar an die Adresse des Herrn Karl Rohe geschickt, jedoch hat kein Passagier unter diesem Namen auf dem Düsseldorfer Flughafen eingecheckt. Natürlich ist auch niemand dieses Namens in der Dominikanischen Republik angekommen. Das Ticket ist unauffindbar.“ Emil Plum setzte sich wieder und wischte Schweißperlen von seiner Stirn. „Seltsam ist, dass zwei Koffer und Kleidungsstücke fehlten, worauf uns seine Ex bei der Durchsuchung der Wohnung aufmerksam machte. Seine geliebten Wellensittiche hatte die Hausmeisterin vom Tierschutz abholen lassen. Sie sagte, es hätte ein Zettel am Käfig gehangen „Sorgt gut für sie“. Ziemlich schräg. Was denkst du?“

Victor Kranski lehnte sich zurück. „Vielleicht gehört er zu denen, die nicht gefunden werden wollen. Lass dem Mann seine Freiheit!“

Plum schüttelte den Kopf. „Die neue Hausmeisterin der Hochhäuser war sehr kooperativ. Sie ließ uns in Rohes Kellerabteil. Leer, aufgeräumt, sauber. Nicht mal Spinnweben! Sogar die Tiefkühltruhe war abgetaut! Da stimmt was nicht“, sagte Plum düster. „Da stimmt was ganz und gar nicht! Also falls eine unbekannte Leiche auftauchen sollte, sei so gut, Victor, komm vorbei und sag mir Bescheid!“

„Welcome to the network, Emil. Internet, Datentransfer! Sagt dir das was?”

„Fiese Amis!“ Emil Plum versuchte ein Lächeln. „Victor, ich bin nicht von gestern. Doch ich ziehe den persönlichen Datenaustausch von Angesicht zu Angesicht vor. Und ich bin gern hier. Deine Arbeit ist leicht.“

„Danke, Schatz! Ich bin heute für Komplimente besonders empfänglich.“

Emil Plum hob abwehrend die Hände. „Lass es mich erklären! Die Leichen leiden nicht mehr. Die Täter sollen leiden. Doch womit habe ich es zu tun? Verzweifelte Eltern, die ihre Kinder als vermisst melden. Kinder, die nicht gefunden werden wollen, oder, wenn wir Glück haben, im verwahrlosten Zustand an Orten aufgelesen werden, von denen Kinder nicht einmal wissen sollten. Und oft“, Emil Plums Schwermut tauchte ab in das schimmernde Grün von Victors Augen, „sind die Kinder schneller wieder von zu Hause ausgerissen als wir sie dorthin zurückgebracht haben. Ich kämpfe gegen Windmühlen, die von politischer Ignoranz angetrieben werden. Verstehst du mich?“

Victor Kranski drückte die Kurzwahl für die Konditorei auf seinem Handy. „Hey, Chris, schick mir sieben Kuchenteilchen rauf! Du kennst ja meine Geschmacksrichtung.“

Emil Plum sah Kranski hoffnungsvoll an.

„Verschwinde!“, knurrte Kranski. „Du löst bei Menschen Unterzuckerung aus.“

Emil Plum erhob sich. Mit hängenden Schultern ging er zur Tür, wo er sich noch einmal zu Viktor umdrehte: „Ich habe ein Versetzungsgesuch in eure Abteilung eingereicht. Innendienst. Meine Chancen stehen gut.“

Victor Kranski drückte Kurzwahltaste eins auf seinem Handy und flehte: „Laura, ich brauche deinen Kaffee. Sofort!“

9

Victors Anruf riss Laura aus dem Schlaf. Der Wecker neben ihr traktierte sie mit einer Zeitangabe, die ihn in Lebensgefahr brachte: elf Uhr. Eine Weile lag Laura wie gelähmt bis das Klingeln unerträglich wurde.

Sie hörte Victors Stimme, die selbst im Befehlston warm und schmeichelnd klang: „Laura, ich brauche deinen Kaffee. Sofort!“

Die dunkelgrünen Vorhänge dämpften das Tageslicht.

Laura sagte müde „Okay“ und quälte sich aus dem Bett. Für niemanden außer Victor würde sie um diese frühe Tageszeit aufstehen. Sie trottete im Pyjama die Treppe hinunter, tappte barfuß über den kalten Küchenboden und setzte Kaffee auf. Für sich. Ganz normal. Schwarz, dazu ein wenig Kondensmilch. Dann schlurfte sie, einen großen Pott Kaffee in der Hand, wieder in das obere Stockwerk, wo sie sich in der dunklen Höhle des Arbeitszimmers in den Lehnsessel fallen ließ, das Radio anstellte, die Augen schloss und versuchte, wach zu werden.

Nach einer Stunde schaffte sie es zu duschen, sich anzuziehen und den Spezialkaffee für Victor zu kochen. Der Kaffee war besonders stark, enthielt, passend zur Mittagszeit, Eigelb, reichlich Sahne und Zucker und einen kleinen Schuss Cognac.

*

Rot! Laura stoppte vor der Ampel. Die Fahrt zum Polizeipräsidium führte sie in die Nähe des Rathauses. Es weckte Erinnerungen an eine dunkle Zeit ihres Lebens. Andererseits hatte dort das Ereignis stattgefunden, das ihrem Leben wieder Sinn gegeben hatte.

Nach zwölf Semestern hatte sie ihr Philosophiestudium abgebrochen. Ihre Psyche hatte die Deadline erreicht und sie gezwungen, einen Lebenstraum aufzugeben. Reiche fielen auf die Therapiecouch, Arme ins soziale Netz. Laura fiel tief. Sie fand sich im Hartz-IV-Kollektiv wieder.

Eine halbe Stunde vor ihrem Termin war sie im Jobcenter eingetroffen. Dort hatte sie wartend zwischen Park-Bankern, Pavillon-Besetzern und Opfern des wirtschaftlichen Aufschwungs durch Personalkürzungen gesessen. Sie hatte Adorno mit beiden Händen fest umklammert gehalten, hatte sich in das Buch vertiefen wollen, als könnte es sie vor dem Schrecken dieses fremden Ortes schützen und die „Dialektik der Aufklärung“ zur Navigationshilfe werden, die sie aus einer falschen Welt herausführte.

Der Mann im Büro hatte sie in die Kategorie „bedürftig“, eingeordnet, ihr einen Barscheck ausgehändigt und die Empfehlung, sich für keine Arbeit zu schade zu sein, mit auf den Weg gegeben. Laura erfuhr die große Verführung, auf diese Weise zu leben. Doch gleich Herakles, wählte sie den beschwerlichen Weg und setzte alles daran einen Job zu finden. Vielleicht fehlte ihr auch nur das Gen für den beschleunigten Weg in den Abgrund.

Hinter ihr lautes Hupen. Die Ampel zeigte Grün. Laura startete den Mini und fuhr an. Die Tankanzeige begann zu blinken. Laura fuhr am Polizeipräsidium vorbei zur nächsten Tankstelle.

Sowie sie der Benzingeruch traf, flammte die Erinnerung an Vergangenes auf, von dem sie geglaubt hatte, es sei für immer abgehakt. Doch nun erlebte sie das Geschehene noch einmal. Wie ein Video liefen die damaligen Vorgänge vor ihrem inneren Auge ab.

Drei Monate nach ihrer Anmeldung begab sie sich wieder ins Job-Center und saß ihrem Fallmanager gegenüber, auf dessen Namensschild „Julius Glanz“ stand.

Der Mann war kaum älter als sie. Sein helles Haar wellte sich, was den Eindruck erweckte, er hätte die Lockenwickler gerade erst herausgenommen und das Durchkämmen vergessen. Er war korrekt gekleidet und betrachtete sie mit einem Gesichtsausdruck der sagte: „Ich bin Verwaltung.“

Er las laut die Daten aus dem Formular, das Laura vorab ausgefüllt hatte.

„Laura Malo, geboren neunzehnhundertneunundsiebzig. Über dreißig“, stellte er fest und seine Mundwinkel zuckten.

„Ledig, keine Kinder, Religionszugehörigkeit?“

„Pantheist.“

„Beleidigung eines öffentlich Bediensteten ist ein schweres Vergehen, Frau Malo.“ Her Glanz blickte Laura direkt an und sie sah den gesamten Verwaltungsapparat drohend hinter ihm stehen.

So fixierte sie den Punkt zwischen den Augen des Fallmanagers. In der Yogalehre eine Konzentrationsübung, im Krieg das Ziel für den finalen Schuss. Sie legte los: „Der Pantheismus setzt Gott und Natur gleich. Gott wird nicht als Herrscher über die Welt gesehen, sondern als alles beseelendes Prinzip in ihr. Die Konsequenz ist, nach meiner Interpretation“, fügte sie einschränkend hinzu, „macht der Mensch sich die Natur untertan, beutet sie aus und zerstört sie, so vergreift er sich an dem Göttlichen, das heißt an seiner eigenen Seele.

---ENDE DER LESEPROBE---