Hoferbe - Nicole Kordek - E-Book

Hoferbe E-Book

Nicole Kordek

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Beschreibung

"Bitte bringen Sie unsere Anna zurück", lautet der Hilferuf der Bäuerin Elisabeth Klockmann, die die Detektei Phönix mit der Suche nach ihrer Schwiegertochter beauftragt. Die junge Rechtsanwältin Charlotte Kemburg übernimmt diesen Fall und trifft bei ihren Recherchen auf Mauern aus Resignation, Hoffnungslosigkeit und Tradition. Nebenbei steckt sie mitten in den Hochzeitsvorbereitungen mit ihrem Verlobten Alexander von Laurenbach, der zunächst nichts von ihrer Detektivarbeit weiß. Nicht nur das stellt Charlotte vor ganz neue Herausforderungen.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Über die Autorin

Nicole Kordek, geboren in Rheine, lebt und arbeitet im Münsterland. Sie studierte an den Universitäten Greifswald und Düsseldorf, arbeitete während ihres Praktischen Jahres in Göttingen und Peterborough/England und ist als promovierte Pharmazeutin seit vielen Jahren in der Industrie tätig. In Kindertagen hat sie mit der Schreibmaschine ihrer Mutter kurze Geschichten geschrieben. Diese Begeisterung fürs Schreiben hat sie nie losgelassen. „Hoferbe“ ist ihr erster Roman. Mit ihrer Familie lebt sie in der Nähe von Münster/Westfalen.

Für Matthias und Leo

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Prolog

Langsam bog das Auto um die Ecke und folgte den Hinweisschildern zum Parkplatz. Es war eine graue regnerische Aprilnacht, mitten in der Woche, kurz nach ein Uhr. Die Scheibenwischer gingen schnell und konnten dennoch die Regenmassen kaum bewältigen. Kein Mensch war zu sehen.

Die Scheinwerfer des Autos erhellten nur einen kleinen Teil der Parkanlage. Alte Bäume ragten auf und dahinter lag undurchdringliche Dunkelheit. Das Auto fuhr geradeaus in Richtung See. Die Wasseroberfläche war unruhig und glitzerte im Licht der Scheinwerfer. Das Fahrzeug hielt am Rande des Sees auf der Rampe, über die an Schönwettertagen die kleinen Ruderboote ins Wasser gelassen wurden.

Der Fahrer stellte den Motor ab und öffnete die Autotür. Ungeachtet des prasselnden Regens umrundete er den Wagen und klappte den Kofferraumdeckel auf, darin lag die Leiche, eingepackt in einen großen blauen Plastiksack und verschnürt mit orangefarbenen Seilen.

Das Wasser tropfte ihm in die Augen. Die Kleidung war innerhalb weniger Minuten vollkommen durchnässt und lastete schwer auf seinen Schultern. Aus der Jackentasche nestelte er eine Stirnlampe, schaltete sie an und streifte sie sich über den Kopf. Dann schob er beide Arme unter den Sack und hob ihn mit einem Ruck an. Das Knistern des blauen Plastiks war trotz des Starkregens deutlich zu hören. Der Mann schaute sich noch einmal zu allen Seiten um, erblickte aber niemanden.

Sie war leicht wie eine Feder. Es war also ganz einfach.

Von der Rampe trug er sie zu den Ruderbooten, die schon für glückliche Familienausflüge im Sommer mit anschließendem Eisessen im nahe gelegenen Café bereitstanden.

Alles war nass und glitschig. Er musste aufpassen, um nicht auszurutschen. Vorsichtig hob er sie in eines der Ruderboote und winkelte ihre Knie so an, dass sie in einer Embryo-ähnlichen Haltung auf dem Boden des Ruderboots lag. Er ging noch mal zum Auto und holte eine Schaufel aus dem Kofferraum. Wieder zurück beim Boot, warf er sie neben den Plastiksack.

Das Boot ließ sich problemlos aus seiner Verankerung am Ufer lösen, vorsichtig griff er nach den Rudern und legte ab. Mit der gleichmäßigen Bewegung der Ruder wurde auch sein Atem ruhiger.

Das Steinfurter Bagno hatte er ganz bewusst ausgewählt, denn sie hatte Luxus und Schönes immer geliebt. Das Ziel der Ruderfahrt war die Ruineninsel inmitten des Sees, ursprünglich als Sommersitz für die gräfliche Familie angelegt. Verfallene Reste eines Wartturms und anderer starker Gemäuer bedeckten die hoch aufgeworfene Insel. Es handelte sich um künstlich angelegte Ruinen, die den Prunk des 18. Jahrhunderts in Parkanlagen widerspiegelten.

Das Boot stieß am felsigen Ufer an. Mit einem Seil befestigte er es an einem sich herabneigenden Ast. Er nahm den leblosen Körper im blauen Plastiksack huckepack und stolperte an Land. Dann bewegte er sich vorsichtig die leichte Anhöhe hinauf, wobei er ständig festen Halt auf dem nassen Untergrund suchte.

Die gesamte Parkanlage inklusive der Ruineninsel gehörte zu einem Naturschutzgebiet und das Betreten war streng verboten. Das war ein weiterer Grund, die Tote ausgerechnet hierhin zu bringen.

Angekommen bei den Mauerresten, musste er sich kurz orientieren. Neben den Gemäuern lag ein kurzer unterirdischer Gang, der früher unter einer mächtigen Felskaskade hindurchgeführt hatte. Vor mehr als hundert Jahren waren hier Wassermassen hochgepumpt worden, um einen Wasserfall zu bilden, den man vom Seeufer aus bestaunen konnte. Außerdem gab es noch einen weiteren unterirdischen Gang, der als Eiskeller angelegt worden war. Dort hatten sich seltene Fledermausarten angesiedelt.

Langsam bewegte er sich in Richtung des kurzen Ganges. Es waren nur wenige Schritte. Er legte den Plastiksack auf den nassen Boden. Im Strahl der Stirnlampe sah er, dass es ein wenig abschüssig und die Decke recht niedrig war. Er fasste den Plastiksack an einem Ende und zog ihn in den Gang hinein. Es roch nach feuchter Erde. Trotz der Anstrengung spürte er die Kälte in seinem Körper aufsteigen. Kurzerhand legte er den Sack ab, stieg darüber, lief zum Boot zurück und holte die Schaufel.

Nachdem er in den Gang zurückgekehrt war, fing er an, ein so großes Loch wie eben möglich in den harten Boden zu graben. Schon nach wenigen Schaufeln stieß er auf felsigen Untergrund. Das musste ausreichen. Er zog den blauen Plastiksack in die Vertiefung und bedeckte ihn mit Erde. Die nassen Handschuhe machten die Arbeit nicht gerade leichter. Er schaufelte aus allen Ecken des Ganges Erde und Laub zusammen, bis der Plastiksack vollständig bedeckt war. Ohne sich umzublicken, verließ er das unterirdische Grab und begab sich, so schnell es der glitschige Boden zuließ, zum Boot am Ufer zurück.

Der Regen hatte nicht nachgelassen. Er holte weit aus und warf die Schaufel in den See. Sollte sie an Land gespült werden, würde sich niemand darüber wundern. Die Leute warfen ihren Müll eh überall hin. Er stieg in das Boot und ruderte zurück zur Anlegestelle, vertäute es genau so, wie auch die anderen Boote befestigt waren, ging zum Auto, nahm den Gang heraus und schob es über die Rampe in den See hinein.

Er blickte dem sinkenden Kleinwagen hinterher. Den würde keiner so bald finden. Niemand hatte ihn gesehen, da war er sich ganz sicher. Spuren hatte er auch nicht hinterlassen. Wie wenig er doch fühlte.

Er drehte sich auf dem Absatz um und trat den Heimweg an. Sollte er kein Taxi am Bahnhof von Steinfurt finden, lag ein langer Fußweg vor ihm. Dem Taxifahrer würde er einfach sagen, dass er mit seinem Auto liegen geblieben sei. Vielleicht fuhr auch schon eine Bahn. Der Regen war in der Zwischenzeit noch stärker geworden und schlug ihm mit einem böigen Wind ins Gesicht. Gierig füllte er seine Lungen mit der frischen, feuchten Aprilluft.

„Typisches Münsterländer Wetter“, war sein einziger Gedanke. So wie er es liebte.

Kapitel 1

Als empirische Wissenschaft untersucht die Kriminologie die Verbreitung und Entwicklung, die Ursachen, die Prognose und Prävention der Kriminalität und Opferwerdung, die soziale Kontrolle der Kriminalität, die Organisation und Wirkungen der Strafverfolgung, die Kriminalitätseinstellungen in der Bevölkerung sowie Entwicklungen und Folgen der Kriminalpolitik. Damit werden innerhalb der Kriminalwissenschaften die sozialen und persönlichen Bedingungen und Folgen sowohl der Kriminalität als auch der Kriminalitätskontrolle systematisch erforscht.

Einen Absatz weiter hieß es:

Zur Zielgruppe des Studiengangs gehören neben Juristen und Sozialwissenschaftlern auch Polizeibeamte, Sozialarbeiter, Strafvollzugsmitarbeiter sowie Mediziner und Psychologen. In diesem komprimierten und praxisorientierten Aufbaustudium können die Studierenden den international anerkannten Masterabschluss ,,Master of Criminology and Police Science“ machen.

Charlotte legte das Studien-Informationsblatt der Universität mit nachdenklicher Miene beiseite.

„Soll das wirklich mein weiterer Weg sein? Ein Aufbaustudium Kriminologie?“, fragte sie sich.

Schon als Kind hatte sie die Bücher der ,,Drei???“ mit Justus, Peter und Bob, die sich immer nur „speziell gelagerten Sonderfällen“ widmeten, mit großer Begeisterung verschlungen. Aber die Beschreibung des Studiengangs Kriminologie klang im Vergleich zu dem, was diese drei in ihren Fällen erlebten, doch sehr theoretisch und langweilig. Da fand sie die Annonce in der aktuellen Tageszeitung viel interessanter. Sie schlug die Zeitung auf und las die Zeilen ein zweites Mal:

Detektei sucht Aushilfskraft für die Durchführung von Observationen und Recherchen sowie Videoauswertung. Voraussetzungen: Sie sollten eine schnelle Auffassungsgabe haben und zeitlich flexibel sein. Des Weiteren ist es unbedingt erforderlich, dass Sie eine nicht leicht zu erschreckende und unverzagte Persönlichkeit besitzen. Ein unauffälliges Erscheinungsbild sehen wir als vorteilhaft an. Sehr positiv bewerten wir die Fähigkeit Menschen „um den Finger wickeln zu können“. Sie sollten über einen eigenen, unauffälligen PKW verfügen, der Ihnen jederzeit zur Verfügung steht. Darüber hinaus sollten Sie ein Mobiltelefon besitzen und erreichbar sein. Technisches Grundverständnis sollte vorhanden sein. Ein eigener PC mit Internetanschluss sowie das Schreiben auf einer Tastatur wird von uns vorausgesetzt. Zudem sollten Sie zu absoluter Verschwiegenheit bereit sein. Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sind eine zwingende Voraussetzung für eine Mitarbeit.

„Observationen, unverzagte Persönlichkeit, was auch immer das heißt, Verschwiegenheit, schnelle Auffassungsgabe ...“ – sie schmunzelte – „ja, das klingt ganz nach einem Job für mich!“

Sie faltete die Zeitung sorgsam zusammen und versteckte sie mit der Studieninformation in einer Schublade ihres Schreibtischs. Eine endgültige Entscheidung stand noch aus, sie würde sie nicht heute Abend treffen.

,,Lotta! Schatz? Wie sieht es aus, bist du bald fertig? Du weißt, dass unsere Eltern uns um 19 Uhr im Restaurant erwarten. Beeil dich bitte!“

Sie hörte Alexander die Treppe heraufkommen und ins Badezimmer gehen. Hastig lief sie von ihrem Arbeitszimmer ins Schlafzimmer und schlüpfte in ihr wunderbar feierliches Abendkleid. Es fühlte sich frisch und leicht auf ihrer Haut an und passte zum heißen Sommerabend. Sie betrachtete sich im Spiegel und lächelte zufrieden: Ihr mittellanges blondes Haar fiel ihr locker ins Gesicht und das Kleid schmeichelte ihrer sportlichen, aber doch weiblichen Figur. Plötzlich stand Alexander hinter ihr, umfasste ihre Taille und küsste ihren Hals.

,,Du siehst wunderbar aus. Am liebsten würde ich mit dir hierbleiben.“

Charlotte schaute sich das verliebte Paar im Spiegel an: Charlotte Kemburg und Alexander von Laurenbach. Sein Aftershave machte sie wahnsinnig. Und diese kurzen schwarzen Haare und seine wunderbaren Hände, die locker auf ihrer Hüfte lagen. Nicht zu vergessen der knackige Po, den sie jetzt leider nicht, dafür aber den Rest ihres Lebens bewundern konnte. Sie drehte sich langsam zu ihm um. Seine Hände streichelten zärtlich ihren Rücken und er küsste sie leidenschaftlich.

,,Lass uns gehen, bevor wir zu spät kommen. Du weißt, dass mein Vater das nicht mag.“

„Ja, ja, die lieben Eltern. Denkst du, sie werden überrascht sein, wenn wir ihnen unsere Hochzeitspläne verkünden? Mama wird wahrscheinlich verrücktspielen und direkt anfangen, mit deiner Mutter alles zu organisieren. Ich sehe die beiden schon Pläne schmieden. Hoffentlich kommt es bei dem ganzen Wirbel, den sie veranstalten werden, nicht zum Eklat zwischen unseren Familien. Aber wir werden trotzdem so feiern, wie wir es uns wünschen, nicht wahr?“

„Lotta, Schatz, du wirst deinen Dickkopf wie immer durchsetzen. Aber jetzt lass uns gehen.“ Alexander gab ihr einen Klaps auf den Po. Charlotte schnappte sich ihre Handtasche und folgte ihm.

Als sie die Treppe hinunterging, dachte sie wieder einmal, was für ein großes Glück sie doch hatten, dass ausgerechnet sie, in Anbetracht der zahlreichen Interessenten, den Zuschlag für dieses hübsche alte Haus erhalten hatten. Und sie hatten es sich genau nach ihren Vorstellungen eingerichtet. Jedes Mal, wenn sie nach einem stressigen Tag über die Türschwelle trat, empfand sie große Ruhe und Harmonie. Ja, es war die richtige Entscheidung gewesen, dieses Haus zu kaufen.

Schon als Kind wollte sie es haben. Sie war damals jeden Tag nach der Grundschule mit dem Fahrrad daran vorbeigefahren und hatte das ständige Kommen und Gehen der verschiedenen Mieter beobachtet. Das Haus trug damals im Dorf den schönen Namen „Villa Kunterbunt“.

Für sie war klar, dass sie langfristig in ihrem Heimatort in der Nähe ihrer Familie wohnen bleiben wollte. Während der ersten Studienjahre hatte sie in einer Wohngemeinschaft in Münster gelebt. Dann hatte sie den einige Jahre älteren Alexander kennen- und lieben gelernt und er ließ sich davon überzeugen, mit Charlotte sein Leben in eben diesem Dorf zu verbringen. Als ihre „Villa Kunterbunt“ zum Verkauf stand, war sofort klar, dass sie ein Angebot abgeben würden. Wie groß war ihre Freude, als sie den Zuschlag erhielten! Alexander hatte es von hier nicht weit bis zur elterlichen Kanzlei und auch sie hatte die restliche Studienzeit zunächst als Pendlerin, später als stolze Autobesitzerin überstanden.

Der weitläufige Garten, der nach hinten zu einem kleinen Bach abfiel, war zu dieser Jahreszeit einfach wunderschön. Alexander schloss die großen Flügeltüren, die sich zur Terrasse hin öffneten, ging in die Küche und nahm die Autoschlüssel. Damit war also auch die Frage geklärt, wer heute fuhr.

,,Damit du gebührend auf dein bestandenes Examen anstoßen kannst, Frau Juristin. Falls wir zwei dann auf unsere Hochzeitspläne mehrfach mit der Familie anstoßen müssen, werden wir uns ein Taxi zurücknehmen“, rief ihr Alexander über die Schulter zu.

„Jawohl, Herr Kollege! Das sehe ich genauso.“ Sie schlüpfte auf den Beifahrersitz ihrer Limousine und Alexander gab Gas.

Nach einer halben Stunde Fahrt parkten sie den Wagen in der Tiefgarage und gingen schnellen Schrittes zum Lieblingsrestaurant von Alexanders Mutter: edle französische Küche, was sonst. Seit Charlotte Alexander kennengelernt hatte, durfte sie sich bei offiziellen Essen der Familie von Laurenbach mit so exquisiten Sachen wie Austern, Weinbergschnecken und Kaviar beschäftigen.

Vorher hatten solche Dinge in ihrem Leben keine große Rolle gespielt und, wenn sie ehrlich war, taten sie dies auch heute nicht.

Was den Lebensstandard anging, waren ihrer beider Leben bisher wirklich vollkommen unterschiedlich verlaufen. Von Kindheit an musste Charlotte zu Hause mithelfen: sei es bei der Gartenarbeit, im Haushalt oder beim Beaufsichtigen der jüngeren Schwestern Emma und Jule. Um ihr Studium zu finanzieren, musste sie in den Semesterferien immer arbeiten. Auch ihr erstes eigenes Auto bekam sie nicht etwa geschenkt, sondern hatte lange dafür gespart und Urlaube verbrachte sie stets auf Campingplätzen – allerdings in der ganzen Welt. Letzteres änderte sich in der Studienzeit auch mit Alexander nicht, obwohl dieser immer ein Verzeichnis der besten Hotels in der Nähe zur Hand hatte – nur für den Notfall wie Dauerregen oder Ähnlichem, verstand sich. Komisch nur, dass schlechtes Wetter nie ein Hinderungsgrund für ihn war, wenn es darum ging, mit seinen Freunden und Kollegen einen Jagdausflug zu machen. Ihre Hochzeitsreise sollte natürlich anders aussehen. Da hatten sich die beiden etwas ganz Besonderes ausgesucht.

Jetzt hieß es aber erst mal, die Eltern zu begrüßen und einen netten Abend mit ihnen zu verbringen.

Als die beiden das Restaurant betraten, vernahmen sie schon im Eingang die Stimmen ihrer Mütter.

,,Einfach nicht zu überhören“, sagte Alexander mit einem Lächeln.

Ein Kellner führte sie in den hinteren Teil des Restaurants an den Tisch, an dem ihre Eltern bereits Platz genommen hatten. Es folgte eine herzliche Begrüßung: Küsschen links, Küsschen rechts.

„Da hat deine Mutter mal wieder alles aus dem Schmucksafe geholt, was der nur hergab“, flüsterte Charlotte Alexander ins Ohr, als sie sich setzten.

„Gut seht ihr aus. Liebe Eltern: auf den heutigen Abend.“

Alle sechs stießen mit ihren gefüllten Champagnerflöten an. Die beiden Väter genossen ganz offensichtlich den kurzen Moment Ruhe.

„Auf dein bestandenes Examen, meine liebe Tochter. Deine Mutter und ich sind stolz auf dich.“

„Bevor wir zum Essen übergehen, möchten Charlotte und ich euch noch etwas ankündigen“, unterbrach Alexander Herrn Kemburg. Er warf Charlotte einen Blick zu, und als sie nickte, fuhr er fort: „Wir werden im nächsten Frühjahr heiraten.“

Großer Jubel brach aus. Die Mütter suchten in ihren Handtaschen nach Taschentüchern, um die Freudentränen zu trocknen, und anschließend fielen sie ihren Kindern abwechselnd um den Hals. Die Väter waren ebenfalls begeistert und freuten sich mit Charlotte und Alexander. Sie bestellten direkt beim Kellner die besten Zigarren.

„Wir haben uns gedacht, dass wir es euch heute sagen und morgen dann Alexanders Bruder und Schwester und meinen beiden Schwestern. Sie besuchen uns morgen früh und wir frühstücken gemeinsam.“

Es wurde ein geselliger Abend mit sehr gutem Essen und viel Champagner. Wie erwartet, fingen die Mütter gleich an zu organisieren, obwohl Alexander und Charlotte höfliche Abwehr signalisierten.

Da mit Charlotte nun eine weitere Juristin in die über mehrere Generationen reichende Juristenfamilie von Laurenbach eintrat, kam natürlich auch ihre berufliche Zukunft zur Sprache.

Für Alexanders Eltern stand fest, dass Charlotte mit in die Familienkanzlei einsteigen und direkt Partnerin werden würde, das zumindest tat Alexanders Vater kund. Sie überging jedoch diese Bemerkung, wobei Alexander sie neugierig von der Seite anschaute. Überrascht schien er nicht zu sein, dafür kannte er seine Lotta schon zu lange und zu gut. Das Thema berufliche Zukunft würde er ein anderes Mal mit ihr diskutieren. Heute wollte er einfach den Abend im Kreis der beiden Familien genießen, und die Nacht anschließend mit Charlotte. Für den Heimweg benötigten sie zwar ein Taxi, ihrer Leidenschaft stand der Alkoholgenuss jedoch nicht im Weg. Glücklich schliefen sie eng umschlungen ein.

Am nächsten Morgen erwartete Charlottes Schwestern Emma und Jule und Alexanders Schwester Henrike sowie seinen Bruder Sebastian mit seiner Freundin Eva ein festlich gedeckter Frühstückstisch auf der großen Terrasse. Bevor sich alle über die vorbereiteten Leckereien hermachten, verkündeten Charlotte und Alexander die Hochzeitspläne. Alle freuten sich für sie und fingen prompt an, alte Geschichten über das Kennenlernen der beiden und die gemeinsamen Erlebnisse zu erzählen. Jeder gab sein Bestes und es wurden Tränen gelacht.

„Und Lotta, wann können wir dich als neue Partnerin in unserer Kanzlei begrüßen?“, fragte Alexanders Bruder Sebastian.

,,Die Frage werden wir später diskutieren, aber nicht an einem so schönen Sonntagmorgen.“

Dankbar schaute Charlotte Alexander an. Dieser zwinkerte ihr nur zu. Damit war das Thema erst mal vom Tisch.

Einige Tagen später sprach sie jedoch auch Alexander auf ihre berufliche Zukunft an.

„Schatz, du weißt, wie sehr mein Vater und ich es uns wünschen, dass du als Partnerin in unsere Kanzlei einsteigst. Bis heute habe ich noch keine klare Aussage von dir dazu gehört. Also, wie sieht deine Planung aus? Neben Punkten wie mich heiraten, mich glücklich machen, Kinder zur Welt bringen.“

Sie mussten beide lachen.

„Nein, ganz im Ernst. Was denkst du? Ich habe so den Eindruck, dass dir etwas ganz anderes vorschwebt.“

Sie hatte gewusst, dass dieser Moment kommen würde. Und sie hatte sich immer wieder gedanklich darauf vorbereitet.

Dennoch war sie jetzt nervös. Sie musste an die Studieninformation und die Zeitungsannonce denken, die sie oben in ihrem Arbeitszimmer versteckt hatte. Sie waren immer ehrlich zueinander, egal, um welche Dinge es ging. Aber Alexander verständlich zu machen, dass sie nach dem doch relativ trockenen Studium etwas Spannendes erleben wollte, war eine Herausforderung.