Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der etwas andere Krimi, in dem es zwischen Deutschen und Schweizern ganz schön »menschelt«... Eigentlich wollte Dr. Selma Schwarz dem sozialen Dichtestress der Grossstadt entfliehen. Eigentlich wollte sie Mord und Totschlag den Rücken kehren. Eigentlich suchte sie die Ruhe und Abgeschiedenheit eines Schweizer Dorfes am Rande der Alpen. Eigentlich wollte sie in einem Tiny House dem einfachen Leben frönen, um dort zu entschleunigen. Eigentlich... Das Dörfchen Winken belehrte sie eines Besseren. Ausser ihrer eigenen Mitte fand sie dort, wo alles so idyllisch wirkte, einiges mehr. Denn Menschen sind nicht immer, was sie scheinen. Und selten etwas besseres. Der etwas andere Krimi, in dem Leute verschwinden, und mysteriöse Todesfälle Rätsel aufgeben. Wo Deutsche auf Schweizer treffen, pfiffige Pathologen sich mit kantigen Kriminologen messen. Wo vielseitig empfängliche Dorfobere mit sturen Weltverbesserern zu kämpfen haben. Und ein kleiner Junge mit seinem Hund die Herzen im Sturm erobert, während eine skurrile Alte ständig pupsend durchs Bild läuft...in einem ganz normalen Dorf mit Menschen wie du und ich.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 517
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Eigentlich wollte Dr. Selma Schwarz dem sozialen Dichtestress der Grossstadt entfliehen. Eigentlich wollte sie Mord und Totschlag den Rücken kehren. Eigentlich suchte sie die Ruhe und Abgeschiedenheit eines Schweizer Dorfes am Rande der Alpen. Eigentlich wollte sie in einem Tiny House dem einfachen Leben frönen, um dort zu entschleunigen. Eigentlich…
Das Dörfchen Winken belehrte sie eines Besseren. Ausser ihrer eigenen Mitte fand sie dort, wo alles so idyllisch wirkte, einiges mehr. Denn Menschen sind nicht immer, was sie scheinen. Und selten etwas besseres.
Der etwas andere Krimi, in dem Leute verschwinden, und mysteriöse Todesfälle Rätsel aufgeben. Wo Deutsche auf Schweizer treffen, pfiffige Pathologen sich mit kantigen Kriminologen messen. Wo vielseitig empfängliche Dorfobere mit sturen Weltverbesserern zu kämpfen haben. Und ein kleiner Junge mit seinem Hund die Herzen im Sturm erobert, während eine skurrile Alte ständig pupsend durchs Bild läuft…in einem ganz normalen Dorf mit Menschen wie du und ich.
Petra Kochgruber, geboren 1966 in Lörrach, hat nach ihrem Wirtschaftsstudium und über zwanzig Berufsjahren im Marketing Management internationaler Unternehmen die klassische Karriere an den Nagel gehängt, um mehr Freiräume zu schaffen für ihre anderen persönlichen Leidenschaften: Reisen, Texten, Schreiben, Fotografieren, Gärtnern und Kochen. Heute lebt und arbeitet sie in der Schweiz. Mit ihrem Mann und Hund bereist sie Europa und Afrika zu Fuss oder mit dem Wohnmobil. Über ihre Abenteuer, Erlebnisse und Erfahrungen berichtet sie, gemeinsam mit ihrem Mann Robert, in Reportagen, Fotos und Videos auf ihrem Blog Magazin:
www.nurmut.ch
»Das Leben ist unendlich viel seltsamer als irgendetwas, das der menschliche Geist erfinden könnte. Wir würden nicht wagen, die Dinge auszudenken, die in Wirklichkeit blosse Selbstverständlichkeiten unseres Lebens sind.
(Sir Arthur Conan Doyle)
Intro
Willkommen im Heidiland
Winken für Anfänger
Hallo Liebes, lebst du noch?
Sonntags um neun ist die Welt noch in Ordnung
Selma
Von Ritualen und einsamen Fürzen in der Nacht
Montagsblues und die Sache mit der Vergangenheit
Von Traditionen und dem Luxus im Verborgenen
Auch heile Welten haben kleine Risse
Die Ruhe vor dem Sturm
Abgehangen
Höhlengereift
Winken macht Schlagzeilen
Das ist doch alles Käse
Durchgeputzt
Vom Gemüsebeet in die Stadt
Was haben Sushi und Pathologen gemeinsam?
Von Gürteln und roten Ohren
Analog statt digital
Unterkühltes Tribunal
Hals-und Schädelbruch
Weltverbesserer und Höheners Paradies
Fladen, Büsi und Brocki
Von Ärztinnen und starken Frauen
Menschen sind nicht immer, was sie scheinen
Aggressive Hunde und beherzte Albaner mit Biss
Glück im Unglück
Der Fisch fängt am Kopf an zu stinken
Eine Hand wäscht die andere
Schwarz wie mein Name und süss wie die Liebe
Schöne Aussicht oder Harmonie
Das Balzverhalten des Glögglifroschs
Hubers Schweigen
Pärchenabend und Beichtmutter
Die Karten lügen nicht
Ausgabenüberschuss
Wenn Zartbitterschokolade auf Gitarrensaiten trifft
Von limitierten Genpools und roten Schuhen
Nichts als Ärger mit dem Ruedi
Durchschaut
Savoir vivre à la Suisse
Strawberry Fields forever
Abgeschleppt
Menschen, die man mag
Die Sauchöggli bei der Wurzel packen
Blaue Augen und dunkle Flecken
Mal gewinnt der eine, mal der andere
Mildernde Umstände nach Feierabend
Vollmondnacht im Bambiland
Von vagen Theorien und seltenen Blutgruppen
Sozialer Dichtestress
Nach dem Verdacht ist vor dem Verdacht
Eine neue Baustelle
Die Hölle, das sind die anderen
Das Leben der anderen
Tarzan, Ferkel und dicke Schädel
Jeder ist normal, bis du ihn besser kennst
Opera d’arte
Alles hängt an einem Seil
Die Hoffnung stirbt zuletzt
Wie jeden Morgen raste Moggel den Hügel hinauf über die Wiese zur Tür des kleinen Holzhauses. Wo er freudig wedelnd, mit gespitzten Ohren und schräg gelegtem Kopf erwartungsvoll stehenblieb und gespannt wartete. Peter stiefelte langsam hinter seinem Hund her. Deutlich weniger enthusiastisch. Denn die Tür, hinter der sonst stets ein älterer Herr gewartet hatte, um Peter fröhlich »Grüezi« zu sagen und Moggel mit einem Leckerli zu begrüssen, blieb seit einigen Wochen geschlossen.
»Man darf nie zu schnell aufgeben!«, hatte Wickie stets zu Peter gesagt. »Egal, worum es geht im Leben«, schärfte er ihm immer wieder ein, »wenn man etwas wirklich will und sich ganz fest wünscht, dann kann man es auch erreichen. Man darf nur nicht frühzeitig die Flinte ins Korn werfen.«
Dieser Ratschlag fiel dem Jungen jedes Mal ein, wenn er an dem Häuschen mit der verschlossenen Tür vorbei kam. Schon seit Wochen fasste er sich immer wieder ein Herz und klopfte zaghaft hoffend mit seiner kleinen Faust dagegen. Auch heute wieder. Keine Reaktion.
Peter setzte sich wie immer, wenn es nicht regnete oder schneite, auf die Holzveranda und wartete einen Moment.
»Wo könnte er nur sein? Und wieso meldet er sich nicht?«, nachdenklich zog er seine Stirn in Falten und rümpfte seine Stupsnase mit den Sommersprossen. Das tat er stets, wenn er nachdachte, traurig war oder besonders glücklich. Heute war er traurig, denn sein guter Kumpel Wickie fehlte ihm. Genau wie das tägliche Morgenritual vor der Schule. Ohne Wickie begannen die Tage fad. Gedankenverloren stützte er seinen Kopf in die rechte Hand und blickte in die Ferne, während er mit der linken die samtigen Ohren von Moggel kraulte, der wie immer neben ihm sass. Aber nicht lange. Denn plötzlich stellte der Mischling seine Ohren, lauschte und flitzte beinahe im selben Moment los. Über die Wiese zu dem anderen kleinen Häuschen, das als zweites auf diesem idyllischen Hügel über dem kleinen Schweizer Dorf thronte.
»Moggel, wo willst du hin?«, rief Peter verdutzt und wurde jäh aus seinen trüben Gedanken gerissen. »Komm zurück, du Spinner!« Er vermutete eine der vielen Katzen von den umliegend verstreuten Bauernhöfen. Meist kam der Hund nach kurzer Zeit wieder zu ihm zurück, weil die Katzen sowieso viel schneller waren. Und weil Moggel als Pazifist sowieso keinem anderen Tier etwas zuleide tat.
»In der freien Wildbahn wäre der schon längst verhungert«, pflegte Wickie früher in solchen Fällen zu sagen, und damit war der Junge mit seinen Gedanken bereits wieder ganz woanders.
Als Moggel nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch nicht um die Ecke gebogen war, rappelte sich Peter langsam auf und schlenderte in Richtung des zweiten Hauses, wohin sein Hund verschwunden war.
»Nicht, dass er wieder ein Huhn von Tom getroffen hat«, brummelte er vor sich hin. Und erinnerte sich daran, wie sein Hund als neugieriger, pubertierender Jungspund eine Henne, die sich vor Schreck tot stellte, mit einer Pfote festhielt, um ihr in aller Seelenruhe am Hühner Popo zu schnüffeln. Anderen Tieren am Popo zu schnuppern, war definitiv ein Hobby von Moggel. Damals hatte es richtig Ärger gegeben mit dem Hühnerbesitzer. Obwohl alle quietschfidel, nur mit dem Schrecken davon gekommen waren. Der Thomas verstand überhaupt keinen Spass mit seinen Tieren. Das wusste Peter.
Doch weder das Huhn noch die Katze waren Ziel des stürmischen Vierbeiners gewesen. Er sass auf der Veranda des anderen Hauses und liess sich genüsslich in der ersten Morgensonne seine weichen Ohren und den Nacken kraulen.
»Wer ist das denn?«, fuhr es Peter durch den Kopf. »Die hab ich hier noch nie gesehen.«
Neben seinem Hund sass eine schlanke Frau. Blonde, kurze Haare, Jeans, Kapuzen Shirt, Turnschuhe an den Füssen und eine Tasse in der Hand, aus der ein Teebeutel baumelte. Überrascht, weil er eigentlich alle im Dorf kannte, die hier aber noch nie gesehen hatte, sagte er schüchtern:
»Grüezi.«
»Hallo«, antwortete eine leicht heisere, aber freundliche Stimme, »ist das dein Hund? Wie heisst er denn?«
»Wickie«, antwortete der Junge.
»Das ist aber ein ungewöhnlicher Name für einen Hund.«
»Äh, nein, nicht der Hund. Der Wickie ist weg«, stammelte Peter ganz in Gedanken und sichtlich nervös, weil er um diese Jahreszeit an diesem Ort so gar nicht mit Fremden gerechnet hatte. Mit seinen zehn Jahren war er ein eher zurückhaltender Junge, der nicht gern viele Worte machte. Er beobachtete lieber still und machte sich seine eigenen Gedanken.
»Moggel, heisst er. Eigentlich Mogge, aber ich hab ihn Moggel getauft. Das ist eine längere Geschichte«, schickte Peter erklärend mit rotem Kopf hinterher.
»Moggel also«, sagte die Frau mit ruhiger Stimme und strich dem Hund über den Kopf. Um ihre grünen Augen bildeten sich feine Lachfältchen.
»Ich bin Selma«, sagte sie aufmunternd in Hochdeutsch mit leichtem Akzent, der Peter ganz entfernt bekannt vorkam.
»Nein, die ist ganz sicher nicht von hier«, dachte er.
So schnell der kleine Junge mit seinem Hund aufgetaucht war, war er auch wieder verschwunden. Und liess Selma mit ihrer Teetasse und ihren Gedanken zurück.
»Moggel«, dachte sie und lächelte. Im Schwarzwald, wo sie aufgewachsen war, nennt man kleine Kinder liebevoll Moggele oder Mockele. So hatte ihre geliebte Großmutter sie als Kind auch genannt. Ja, die Oma. Sie hatte doch auch immer gesagt, der erste Eindruck, den man hat von einem neuen Ort, und der erste Mensch, den man dort trifft, sind ausschlaggebend dafür, ob man sich wohl fühlen wird.
Nun sass sie also auf der Terrasse vor ihrem gemieteten Tiny House. An einem neuen Ort, namens Winken, der in den nächsten drei Monaten zu ihrer Wahlheimat werden sollte. Und hatte dort als ersten diesen rothaarigen Jungen mit den vielen Sommersprossen getroffen. Mit seinem zutraulichen, freundlichen Hund Moggel. Kein schlechter Anfang, fand Selma, und nahm einen Schluck ihres Kräutertees, der gar nicht so übel schmeckte. Eigentlich brauchte sie morgens eine Tasse Kaffee, um wach zu werden. Aber leider hatte sie in ihrem neuen Heim zwar eine tolle Schweizer Kaffeemaschine vorgefunden, jedoch keine Kaffeebohnen, so dass sie einstweilen mit dem vorhandenen Kräutertee vorlieb nahm.
»Passt ja auch irgendwie gut in die Gegend«, sagte sich Selma beim Blick auf die umliegenden sanften, grasbedeckten Hügel und den imposanten Gebirgszug mit den noch Schnee bedeckten Gipfeln am Horizont. Unweigerlich fielen ihr die saftigen Kräuterwiesen ein, über die das unbeschwerte Heidi im gleichnamigen Buch von Johanna Spyrig lief, aus dem die Oma ihr als Kind immer vorgelesen hatte. Und der Film, den sie später so oft angeschaut hatte wegen der herrlichen Landschaft. Genau so sah es hier aus.
Mit einem Seufzer holte Selma tief Luft und schaute sich um in der ruhigen Morgenstille. Für Anfang April wärmte die Morgensonne an der Holzfassade ihren Rücken schon erstaunlich angenehm. Und das auf beinahe tausend Metern Höhe.
Was war das denn? Dort hinten an den Hecken, die das Grundstück begrenzten, raschelte etwas. Selma traute ihren Augen nicht. Zwei Eichhörnchen spielten Fangen und schienen sie gar nicht zu bemerken. Begeistert beobachtete sie die possierlichen Tierchen, wie sie schliesslich hintereinander in Spiralen einen Baumstamm hinauf jagten. Definitiv, sie war im Heidiland gelandet. Solch ein Idyll hatte sie wahrlich nicht erwartet, als sie vor zwei Monaten die Anzeige im Internet gelesen hatte: Tiny House - genau das Richtige für eine Auszeit - alleine mitten in der Natur! Ein umfangreicher Bioladen in unmittelbarer Nähe ist immer geöffnet. Der Luxus ist die wunderbare Einfachheit. Vom Bett aus schauen Sie in die Schweizer Hügel, von der Terrasse aus hören Sie das beruhigende Geläut glücklicher Kühe. Die Abendsonne scheint lange und zaubert unvergessliche Sonnenuntergänge über die Bergwelt. Ihre Unterkunft ist einfach und sehr gemütlich, lassen Sie sich auf dieses spezielle Erlebnis ein.
Für Kühe war es wohl noch etwas zu früh im Jahr. Aber die Eichhörnchen waren ja noch viel authentischer, um das Gefühl zu haben, mitten in der Natur zu wohnen. Die Abendsonne hatte Selma noch nicht erlebt, denn als sie gestern Abend gegen zwanzig Uhr hier angekommen war, zeigte sich der Himmel stark bewölkt und es dunkelte schon.
Fast den ganzen Weg von Berlin hierher hatte es geregnet. Erst auf der Höhe von München hatte der Dauerregen endlich nachgelassen. Nach elf stressigen Stunden Autofahrt mit einigen Staus auf der Strecke war Selma viel später als geplant in dem kleinen Schweizer Dorf Winken eingetroffen. Sie hatte von unterwegs bei der Agentur Hin & Weg angerufen, um ihr späteres Eintreffen anzukündigen, und dabei bereits ihr erstes Erlebnis der Schweizer Art gehabt.
»In der Schweiz arbeiten wir am Freitag nicht länger als bis siebzehn Uhr. Wenn sie es nicht bis siebzehn Uhr schaffen, deponieren wir den Hausschlüssel und die Informationsmappe für sie unter dem Fussabstreifer«, hatte ihr das Fräulein am Telefon mit dem charmantem Schweizer Akzent mitgeteilt, den Selma so sehr mochte.
»Ist das denn auch sicher mit dem Schlüssel unter’m Fussabstreifer?«, hatte Selma, aus dem kriminellen Großstadtdschungel Berlins kommend, skeptisch gefragt.
Worauf das gut geschulte Fräulein höflich antwortete: »Bei uns ist es so sicher, dass sie die Haustüre eigentlich gar nicht abschliessen müssten. Wir wünschen ihnen einen erholsamen Aufenthalt!«
Genau das war es, was Selma suchte. Eine ruhige, sichere Gegend ohne Kriminelle und Verbrechen.
So war sie gestern Abend also todmüde angekommen im Haselweg 1, der sich oberhalb des Dörfchens Winken einen kleinen Hügel hinauf schlängelte. Das rechte von zwei frei stehenden Häusern auf dem weitläufigen Hügelgrundstück sei ihres, hatte man ihr erklärt. Dahinter konnte sie am Ende des Haselwegs auf einem kleinen, eben gestampften Naturparkplatz ihr Auto parken. Da sie wusste, dass ihr gemietetes Tiny House insgesamt nur fünfundzwanzig Quadratmeter Wohnfläche haben würde, hatte sie sich beim Gepäck beschränkt. Worüber sie nach der langen Fahrt mehr als froh gewesen war, denn der kleine Koffer, der Rucksack und die Laptoptasche waren schnell ausgeladen. Sowohl im Dorf, das sie zuvor durchquert hatte, als auch hier oben war ihr um diese Zeit keine Menschenseele mehr begegnet. Welcher Kontrast zu Berlin.
Als sie die vorgelagerte Terrasse ihres Häuschens betreten hatte, leuchtete automatisch eine kleine Lampe über der Eingangstür auf, die den Eingangsbereich in warmes Licht tauchte.
Gespannt hatte sie den Fussabstreifer angehoben, auf dem in roten Lettern stand: »Sönd willkomm!« Darunter hatte eine grüne Mappe gelegen, in der sie zwei Hausschlüssel, ein Anschreiben, ein Instruktionsmanual und eine Strassenkarte der Umgebung fand. Sehr ordentlich. Erwartungsvoll hatte Selma die Holztür aufgeschlossen. Im kleinen Entrée, rechts der Tür, befand sich ein Lichtschalter. Ihre paar Habseligkeiten hatte Selma dort abgestellt und spähte neugierig ins Haus. Ein edler Holzboden veranlasste sie, in Socken weiterzugehen. Geradeaus ging es ins Bad, wohin ihr Weg sie nach der langen Fahrt direkt geführt hatte.
»Erstmal Pippi machen und dann Hände waschen.« Überrascht hatte sie sich in dem kleinen, modernen Badezimmer umgesehen. Sogar eine Waschmaschine gab es gegenüber der geräumigen Dusche und neben einem schicken Waschbecken, das in ein Holz Sideboard eingelassen war. Ein Spiegelschrank sowie das Keramik WC unter einem Fenster komplettierten den Raum.
»Alles, was der Mensch braucht«, hatte Selma zufrieden festgestellt, die eine tägliche Dusche sehr schätzte. Und wie sauber und frisch alles aussah. Als ob sie die erste Bewohnerin sei.
Aus dem Badezimmer war Selma rechts hinaus getreten in die gemütliche Küche mit Tisch und gepolsterter Eckbank unter einem grossen und zwei kleinen Fenstern. Alles aus demselben, warmen Fichtenholz gefertigt, das ihr schon im Bad begegnet war, und das einen unglaublich guten Duft verströmte. Ein Cerankochfeld, ein Backofen, eine Kaffeemaschine, sogar ein Dampfabzug und ein grosser Kühlschrank. Die begnadete Hobbyköchin konnte ihr Glück nicht fassen, hatte sie sich unter »wunderbarer Einfachheit« doch nicht einen solchen Luxus auf kleinstem Raum vorgestellt.
Von der Wohnküche führte ein breiter Durchgang weiter in ein kleines Wohnzimmer, wo sie endgültig staunte. Hier stand ein kompaktes Zweisitzer Sofa und ein Designklassiker als Sessel vor einem runden Kamin. Ein dazu passender Mini Couchtisch, eine schmale Stehlampe und ein Holzregal mit ein paar Büchern an der Wand rundeten das Ensemble ab. An der Stirnseite führte eine verglaste Terrassentür hinaus. Wohin, das wollte bei Tageslicht erkundet werden. Die moderne Tapete mit silbernem Blütendessin auf grauem Grund an der Wand hinter dem Holzregal, die sie bereits an der Küchenwand hinter der Eckbank gesehen hatte, war Selma gleich positiv aufgefallen. Sie bildete optisch einen stilvollen Kontrast zu all dem Holz. Dies war absolut keine Alphütte, sondern eher ein kleines, feines Luxus Chalet. Der Eigentümer bewies viel Geschmack.
Das Schlafzimmer ihres Tiny Houses befand sich am anderen Ende, vom Badezimmer aus links. Dort stand ein Doppelbett, dessen karierte Bettwäsche Selmas Heidiland Vorstellungen komplett erfüllte. Ein gekonnter Stilbruch zur Blumentapete, die sich auch hier an der südlichen Wand fortsetzte. Vom Bett aus sah man direkt zu einer zweiten verglasten Terrassentür, auf deren Aussicht am nächsten Morgen Selma sehr gespannt war. An der Wand befand sich ein Kleiderschrank, daneben ein schmaler Schreibtisch mit einem Holzhocker.
Vor diesem Schlafzimmer, in dem sie letzte Nacht tief und traumlos geschlafen hatte, sass Selma nun auf der kleinen Terrasse mit ihrem Tee und liess den Vorabend gedanklich Revue passieren.
Ihre Müdigkeit war beim Anblick dieses hübschen Häuschens gestern schnell verflogen gewesen. Bei ihrem Erkundungsgang hatte sie hie und da kleine Aufsteller aus Papier mit ihrem Namen darauf bemerkt. Zum Beispiel im Wohnzimmer auf dem Kamin stand: »Liebe Selma, bitte Dampfabzug nicht benutzen, während Holz im Kamin brennt.« Oder an einem Technikpaneel im Eingang stand: »Liebe Selma, von hier aus können die Infrarotheizkörper in den einzelnen Räumen gesteuert werden.« Und am Kühlschrank schliesslich: »Liebe Selma, hier drin befindet sich eine kleine Überraschung.«
Selmas anfängliche Skepsis, das Haus nicht persönlich übergeben zu bekommen, war wie weggeblasen gewesen. Als ob kleine Heinzelmännchen alles liebevoll für sie vorbereitet hätten, hatte sie ihr neues Zuhause wohlig warm und perfekt ausgestattet vorgefunden. Im Grunde war sie sogar froh gewesen, nach der blöden Autofahrt ihre Ruhe zu haben und mit niemandem mehr reden zu müssen. So hatte sie sich am Abend nur noch ein Stückchen von dem würzigen Bergkäse gegönnt, den sie im Kühlschrank zusammen mit einer kühlen Flasche Bier aus der Region gefunden hatte. Dazu ein Stück des frischen, rustikalen Brots und zum Dessert eins von den herrlich süssen Lebkuchenteilchen, die mit Marzipan gefüllt waren. All die feinen Dinge, welche für sie als Willkommenspaket deponiert waren.
»Das ist ja besser als im Hotel hier«, hatte Selma selig vor sich hin gemurmelt und sich satt und müde in ihre karierte Decke eingekuschelt.
Frisch ausgeschlafen hat auch der erste Tag in ihrem Häuschen so gut begonnen, wie der gestrige Abend geendet hatte. Die Räume waren angenehm warm, das Duschwasser ebenfalls, und der Induktionsherd in der Küche hatte ihr Teewasser in Rekordzeit zum Kochen gebracht. Alles schien zu funktionieren.
Die Tasse Tee hatte gut getan und Selmas Lebensgeister geweckt. Sie stand auf, blinzelte in die Sonne und sah auf ihre Armbanduhr.
»Schon zehn Uhr«, dachte sie, »jetzt hätte ich den Jungen noch fragen können, wie lange hier die Geschäfte offen haben.«
Denn so fein der Kräutertee auch schmeckte, am morgigen Sonntag wollte sie doch lieber wieder die gewohnte Tasse Milchkaffee mit viel Zucker zum Frühstück geniessen. Ausserdem war der Kühlschrank nicht so voll gewesen, dass der Inhalt fürs Wochenende gereicht hätte.
Selma leerte kurzerhand ihren Rucksack, in dem sie ihre Sportsachen und Schuhe transportiert hatte, schnappte sich ihre Umhängetasche mit dem Portemonnaie, Jacke, Sonnenbrille und machte sich auf den Weg ins Dorf. Das Auto liess sie stehen.
»Wer weiss, ob es Samstagmorgens überhaupt einen freien Parkplatz gibt?«
Ausserdem war der Einkauf zu Fuss am Samstag auch zuhause, in ihrem Berliner Kiez, ein lieb gewordenes Ritual.
»Sicherlich haben die Läden hier auf dem Land nicht durchgehend bis spät in die Nacht offen. Besser, ich beeile mich ein bisschen.« Aus ihrer Kindheit wusste sie, dass auf dem Dorf, zumindest in Deutschland, andere Öffnungszeiten galten als in der Millionenstadt Berlin. Das war in der Schweiz bestimmt nicht anders.
»Mal sehen, ob ich den Bioladen aus dem Inserat finde. Und was es hier sonst noch so alles gibt.«
Voller Elan folgte sie dem gekiesten Haselweg und bog links auf den schmalen, geteerten Hauptweg ein, der direkt ins Dorf führte. Zu ihrer Rechten passierte sie ein grosses, eingezäuntes Grundstück mit einer Wiese, auf der unter alten Bäumen ein Gartenhaus mit schmiedeeisernen Fenstergittern stand. Gegenüber ein Hühnerstall mit Hühnerleiter, vor der fünf schwarze Hennen im Gras pickten, und ein schwarz weiss gepunkteter Hahn herum gockelte. Als er Selma sah, krähte er laut und heiser wie ein rostiger Wasserhahn.
»Ich wünsch dir auch einen wunderschönen guten Morgen, Herr Nachbar«, rief Selma dem Federvieh übermütig zu und blieb kurz stehen, um sich den herrlich verwunschenen Garten anzusehen.
Diese glücklichen Hühner gehörten zu dem einzigen anderen Haus, das sich in der Nachbarschaft der beiden Tiny Häuser befand. Ein stattliches altes Bauernhaus aus Holz mit geschindelter Fassade und einem geräumigen, längs angebauten Stall. Einige der alten Sprossenfenster wurden mit Holzläden von oben geschlossen, die Selma so noch nie gesehen hatte. Ähnlich wie ihr kleines Häuschen lag auch dieses Anwesen erhöht mit phantastischer Rundumsicht auf Dorf und Umgebung. Als Selma entlang des weitläufigen Holzzauns die östliche Stirnseite des Bauernhauses erreichte, sah sie dort eine ebenfalls mit Holzsprossen versehene Eingangstür am Ende einer kleinen Treppe, die wohl in ein Geschäft führte.
Thomas Widmer - Sennensattlerei stand darüber auf einem Holzschild. Interessiert blickte Selma zu den erhöht liegenden Fenstern des Geschäftes, durch die sie im Hintergrund nur ein paar Holzregale sehen konnte und den oberen Rand eines gebeugten grauen Haarschopfs.
»Den heb ich mir für nächste Woche auf«, dachte Selma im Vorbeigehen, »jetzt ist was zu Futtern wichtig.«
Die Strasse führte sie weiter bergab, wo die Besiedlung dichter wurde. Selma fielen die vielen alten Bauernhäuser auf mit grossen Gärten und Wiesen drumherum. Wie verschwenderisch man hier noch mit dem Platz umgehen konnte. Nach den vielen Jahren Grossstadt, wo sie seit ihrem Studium hauptsächlich gelebt hatte, war sie solche Dimensionen nicht mehr gewöhnt.
In einem der Gärten war eine ältere Frau gerade dabei, die Erde ihrer Blumenbeete mit einer kleinen Hacke aufzulockern. Hie und da sah man schon ein wenig Grün spriessen. Tulpen oder Narzissen, vermutete Selma, weil diese in den Blumenrabatten vor ihrem Arbeitsplatz in Berlin bereits schon vor ihrer Abreise in die Höhe geschossen waren. Daneben schimmerten Forsythien bereits gelb durch die Hecken. Die alte Dame mit dem flotten, grauen Kurzhaarschnitt und einem dunkelblauen Anorak über ebensolchen Hosen richtete sich auf. Als sie Selma kommen sah, lächelte sie interessiert und sagte:
»Grüezi.«
»Grüezi«, antwortete Selma, amüsiert über ihren ersten wackeligen Versuch, Schweizerdeutsch zu sprechen, und wunderte sich im ersten Moment, dass sie als Fremde bemerkt und sogar gegrüsst wurde. Das war ihr in den letzten Jahren schon lange nicht mehr passiert.
»De Frühelig chunt efengs«, schickte die alte Dame ihrem Gruss noch freudig hinterher.
»Ja, die Sonne hat schon ganz schön Kraft«, antwortete Selma, froh darüber, dass das Schweizerdeutsch dem Alemannischen ihrer Kindheit sehr ähnelte. Auch wenn sie das Gefühl hatte, den typischen Schweizer Kehllaut und das rollende »R« niemals perfekt zu beherrschen und deshalb lieber beim Hochdeutschen blieb. Obwohl ihre Verwandten am Kaiserstuhl ihr als Kind das berühmte »Chuchichäschtli« immer und immer wieder versucht hatten, beizubringen. Bei ihr war diesbezüglich Hopfen und Malz verloren.
Die ältere Gärtnerin bemerkte erst jetzt, dass Selma wohl nicht aus der Region kam, und schaltete blitzschnell ihrerseits um auf Hochdeutsch mit charmantem Akzent.
»Ich wünsch’ ihnen ein schönes Wochenende!« Sprach’s, bückte sich wieder über ihr Beet und häckelte weiter.
»Danke, ebenso.«
Zwei Kinder, ein Mädchen und ein Bub, kamen Selma auf der Strasse entgegen. Beide hatten Brottüten in den Händen und sahen Selma freundlich an:
»Grüezi«, sagten sie im Chor.
»Grüezi.« Selma war erstaunt. Sogar die Kinder. Nein, das kannte sie aus Berlin so nicht. Wie lang war es her, dass diese offene Freundlichkeit für sie ebenfalls selbstverständlich gewesen war?
Plötzlich fühlte sie sich auf einer Zeitreise in die eigene Kindheit. Mit leicht gemischten Gefühlen. Denn sie wusste nicht genau, ob sie sich darüber freuen sollte oder nicht. Lange konnte sie sich deswegen jedoch keine Gedanken machen, denn sie kam nun unten im Dorfkern an, wo das Samstagstreiben ihre volle Aufmerksamkeit verlangte.
Vorbei an einer kleinen Kirche und einem klitzekleinen Park mit alten Bäumen, unter deren Schatten Bänke auf einer Wiese standen, führte sie ihr Weg geradewegs auf den zentralen Dorfplatz. Dieser hatte vor Jahren einmal einen Schweizer Preis gewonnen für seine historischen, gut erhaltenen Bürgerhäuser. Sie schaute sich um. Mit den geschweiften Dach- und Giebelformen erinnerten die Häuser Selma ein wenig an Frauen, die ganz frisch onduliert vom Friseur kamen. Schön herausgeputzt, mit kleinen Erkern und Türmchen sowie aufwändigen Holztäfer Füllungen an den Fassaden machten die viergeschossigen Gebäude Eindruck, wie sie ordentlich aneinander gereiht den Dorfplatz schmückten. Die meisten von ihnen breit und stattlich, dazwischen ein kleineres, schmales, das Selma sofort zu ihrem Liebling erkor. Hatte ihr neues Tiny Zuhause bereits abgefärbt auf ihre Gebäudepräferenzen?
Um sie herum herrschte reger Verkehr auf der Hauptstrasse, die mitten durch Winken führte. Auch auf den Parkplätzen des Dorfplatzes ein Kommen und Gehen. Polierte Familienvans mit getönten Scheiben und gestressten Müttern, ihre Kinder im Schlepptau. Daneben praktische, gebrauchte Allrad-Kombis, denen Landwirte oder Landfrauen in Gummistiefeln entstiegen. Grosse SUVs, in denen Paare in schicker Freizeitkleidung heran brausten. Eine bunte Mischung bot sich hier. Alle auf dem Weg zum Einkaufen in Winkens einzigem Supermarkt und der Metzgerei daneben. Nicht zu vergessen, all die Samstagseinkäufer mit Rucksäcken, Taschen oder Trolleys, zu Fuss unterwegs wie Selma.
»Gut, dass ich das Auto zuhause gelassen hab. Zu Fuss geht’s wirklich einfacher«, räsonierte Selma, während sie eines der grossen SUV Schlachtschiffe direkt vor sich ausparken liess.
Hier schienen sich alle irgendwie zu kennen, manche Leute standen in Zweier- oder Dreiergrüppchen auf dem Bürgersteig und schwatzten miteinander. Jeder grüsste jeden und meist wurde dazu gewinkt, auch aus den vorbeifahrenden Autos heraus.
»Heisst ja auch Winken hier«, ging es Selma kurz durch den Kopf. Im Vorübergehen hörte sie, dass alle sich immer mit Namen begrüssten, meist mit den Vornamen. Und immer wieder hörte sie. »Hoi«, anstatt »Grüezi«. Auch sie selbst kam beinahe gar nicht mehr aus dem »Grüezi sagen« heraus, denn sie war mittendrin statt nur dabei. Irgendwie fühlte sie sich gut damit. Und weniger fremd. Ein Zitat ihres Lieblingskomikers Karl Valentin fiel ihr spontan ein: »Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.«
Da alle dem kleinen Supermarkt zustrebten, verschob Selma ihre Suche nach dem Bioladen, den sie bis jetzt noch nirgends gesehen hatte, auf später. Sie hatte ja noch soviel Zeit, das Dorf zu erkunden. An der Eingangstür zum Supermarkt, die man über drei Stufen erreichte, hing ein Schild: »Behindertengerecht«. Weit und breit kein Lift und keine Rampe zu sehen. Selma wunderte sich kurz, stieg dann aber selbst die Treppe hinauf und betrat das Geschäft namens Volg, wo sie sich im Eingangsbereich einen Einkaufswagen schnappte, der ohne Münzen zu bekommen war. Ein bärtiger, älterer Herr in Kordhosen, mit einem bunten Strickpullover bekleidet und einer Schiebermütze auf dem Kopf, hatte sie freundlich gegrüsst und ihr galant den Vortritt gelassen. Es gab noch echte Kavaliere hier.
Eine gut sortierte Obst- und Gemüseabteilung war Selmas erster Anlaufpunkt. Als Vegetarierin fand sie hier alles, was ihr Herz begehrte. Sogar Bioprodukte waren im Angebot. Alles frisch und appetitlich präsentiert. Ihr Einkaufswagen füllte sich rasch. Noch ein paar Eier, Butter, Käse, Sahne. Das Kühlregal überforderte sie beinahe. So viele verschiedene Sorten an Milchprodukten! Ihr Feinschmeckerherz schlug höher, und sie griff zu. Aber wo bitte fand sie Sahne? Die brauchte sie für ihr Kartoffelgratin.
»Entschuldigung«, fragte sie eine junge Frau neben sich, »wo finde ich denn bitte die Sahne?«
»Rahm meinen sie? Vollrahm oder Halbrahm? Schauen sie, dort drüben. Da hat’s auch noch Sauerrahm.«
»Vielen Dank! Na klar, der Rahm.« Selma lernte schnell dazu. Es gab wohl noch einiges, was sie neu in ihren Wortschatz integrieren musste. Ob es wohl ein Schweizer Wörterbuch gab? Damit hatte sie sich vor ihrer Reise gar nicht beschäftigt. »Muss ich später mal googeln«, nahm sich Selma vor.
Schnell noch zum Schokoladenregal, in der Schweiz ja wohl ein Muss. Zumal Selma allem Süssem gegenüber sehr aufgeschlossen war. Mit ein paar Tafeln dunkler sowie Nuss Schokolade, einer Packung fair gehandelter Kaffeebohnen und je einer Flasche Rot- und Weisswein in ihrem gut gefüllten Wagen stellte sie sich schliesslich in die Schlange vor der einzigen Kasse.
»Hoi, Rösli! Was macht dein Rheuma?«
»Säg nüt!«
Trotz der langen Warteschlange fand die Kassiererin noch Zeit und Musse, mit jedem einzelnen Kunden ein paar persönliche Worte zu wechseln. Und sie schien auch jede und jeden zu kennen. Die Wartenden nahmen das mit stoischer Gelassenheit hin, unterhielten sich leise miteinander und standen geduldig, bis es wieder ein Stückchen voran ging. Niemand drängelte oder nörgelte. Im Gegenteil, als ein junger Mann, nur mit einer Dose Cola und einer Tüte Chips von hinten in Richtung Kasse ging, liess man ihn vor, wofür er sich überschwänglich bedankte. Selma beobachtete, staunte und spürte selbst, wie sich eine wohltuende Ruhe und Gelassenheit einstellte. Als sie schliesslich an der Reihe war, sprach die Kassiererin auch mit ihr über das schöne Wetter und blickte sie dabei lächelnd an. Ungewöhnlich.
»Einen Moment bitte! Ich komm gleich wieder«, sagte die junge Kassiererin plötzlich zu ihr, stand auf und ging zum Eingang. Ein Kollege von ihr, der eben noch die Regale aufgefüllt hatte, sprang ebenfalls zur Tür. Selma konnte zunächst nicht sehen, was die beiden dort machten. Bis sie mit einer älteren Dame im Rollstuhl auftauchten, den sie kurzerhand rechts und links an den Armlehnen gepackt und mitsamt der Frau die Treppe hinauf gehievt haben. Dort setzten sie ihre Fracht vorsichtig ab und wünschten der Vreni einen guten Einkauf, die mit einem fröhlichen Lachen ihren Rollstuhl in Richtung Gemüse lenkte.
»So, da bin ich wieder«, meinte die Kassiererin leicht ausser Atem und setzte ihre Arbeit fort.
»Brauchen sie noch ein Säckli?«
»Nein, danke. Es sollte so gehen. Ich hab den Rucksack dabei.«
»Sonst melden sie sich gern. Fünfundneunzig Franken zehn bitte!«
Selma stutzte kurz. Konnte das sein für die paar Sachen? Aber sie wollte den ganzen Laden nicht noch mehr aufhalten und zückte schnell hundert Franken.
»Sie können sonst auch gern mit Karte bezahlen«, die freundliche Kassiererin deutete auf ein Kartenterminal und nahm den Schein entgegen, während Selma ihre restlichen Sachen im Rucksack verstaute, der bereits gefährlich spannte.
»Hier haben sie doch noch ein Säckli«, mit diesen Worten reichte die Kassiererin Selma eine Papiertüte, ihr Wechselgeld und den Kassenbon.
»Uf wiederluege un es schöns Tägli!«
»Auf Wiedersehen.«
Draussen schulterte Selma ihren übervollen Rucksack, als der ältere Herr von vorhin ebenfalls aus dem Supermarkt trat.
»Sie sind von Dütschland, stimmt’s? Ein dütsches Fräulein! Machen sie Ferien bei uns?«, interessiert und ein wenig amüsiert musterte er sie, während er auf ihre Reaktion wartete.
»Ja, also nein. Nicht direkt.«
Er hatte sie ein wenig aus dem Konzept gebracht.
»Also, ja. Ich komme aus Berlin. Und nein, ich mache nicht nur Ferien hier. Ich wohne in einem der Tiny Houses dort oben am Hang.«
«Ah, beim Wickie also! Der sucht sich schon immer die hübschesten Fräuleins aus. Willkommen in Winken! Aber wie eine Berlinerin klingen sie nicht gerade«, damit drehte der ältere Herr sich um und schlenderte von dannen.
Irritiert und doch auch ein wenig geschmeichelt ob seines Kompliments stand Selma verblüfft vor dem Supermarkt. Hatte der kleine Junge heute morgen nicht auch etwas von einem Wickie gesagt? In Gedanken ging Selma mit ihren Einkäufen durchs Dorf zurück. Wieder begegnete ihr jemand mit einer Brottüte unter dem Arm, der aus einer Nebenstrasse eingebogen war. Brot hatte sie vergessen.
»Mal sehen, wo die Bäckerei ist«, Selma bog links ab. Dort vorne musste sie sein.
»Bäckerei & Confiserie Stängeli« stand in geschwungenen Lettern auf dem Schaufenster, wo neben verschiedenen Brotsorten auch kunstvolle Pralinés, Petit Fours und verführerische Torten ausgestellt waren.
»Das wird vermutlich mein Lieblingsgeschäft«, dachte Selma, als sie das Schlaraffenland betrat, aus dem ihr der unwiderstehliche Geruch frischer Backwaren in die Nase stieg. Hier war gerade nicht viel Betrieb, so dass ihr gar keine Zeit blieb, sich in Ruhe umzuschauen. Ein kleines Café gehörte noch dazu, soviel sah sie auf den ersten Blick. Eine üppige, sehr gepflegte Frau mittleren Alters mit dicken roten Locken und Sommersprossen im Gesicht lächelte hinter der Theke und fragte, was es denn sein dürfe.
»Ein Brot und vier Brötchen bitte.«
»Weggli oder Bürli?«
Selma überlegte. In ihrer alten Heimat, im Süden Deutschlands, hatte man zu Brötchen Weckle gesagt. Also antwortete sie: »Weckle bitte.«
Worauf die Rothaarige vier Stück in eine Tüte packte.
»Und was für eine Brot darf’s denn sein?«
»So ein rundes dort drüben gern«, Selma zeigte mit dem Finger auf ein Regal, in dem dunkle Bauernbrote lagen.
»Ah, ein Dinkel dunkel also!«, sie packte auch dieses in eine Papiertüte.
Aus einem Raum hinter der Theke flitzte ein kleiner Junge nach vorne und rief:
»Mama, chan i für’s z’ Mittag zwei Bürli ha?«
»Peter, ich bin grad am Bedienen, nimm sie dir einfach«, sagte die Frau zu dem Jungen, den Selma sofort wiedererkannte. Ihr kleiner Freund mit dem Hund von heute Morgen. Als er sie sah, nickte er ihr kurz zu, lief ein wenig rot an und sagte schüchtern:
»Hoi, Selma!«
»Hoi, Peter«, antwortete Selma lächelnd. Sie freute sich, dass er sich ihren Namen gemerkt hatte, und dass sie nun auch seinen kannte.
Peters Mutter war sichtlich irritiert, dass die beiden sich wohl kannten, sagte jedoch nichts, ausser:
»Neun Franken fünfundsiebzig bitte.«
Peter verschwand mit seinen Bürli wieder nach hinten, während Selma ihre Einkäufe verstaute. In diesem Augenblick klingelte ihr Mobiltelefon in der Jackentasche. Entschuldigend blickte sie zu Frau Stängeli, die geduldig hinter der Theke wartete, bis Selma alles verpackt hatte, bevor sie die nächste Kundin bediente. »Immer im falschen Augenblick«, murmelte Selma, »ich glaube es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, dass Telefone immer im unpassenden Moment läuten. Auf Wiedersehen!«
Leicht genervt stürmte Selma aus dem Geschäft, um draussen das lästige Ding aus der Jacke zu fischen.
Axel stand auf dem Display.
»Den hab ich ja komplett vergessen!«, murmelte Selma und nahm das Gespräch an.
»Hallo, Liebes! Lebst du noch?«, das vertraute Timbre ihres Freundes Axel drang mit einem vorwurfsvollen Unterton an ihr Ohr. »Ich habe es bestimmt schon viermal versucht bei dir. Zweimal gestern Abend und dann wieder heute Morgen.«
»Axel, sorry, ich bin gerade beim Einkaufen. Der Akku ist gleich leer. Und ja, ich lebe noch. Kann ich dich später in Ruhe zurückrufen?«
Selma wartete keine Antwort ab, sondern legte auf und verstaute das Handy wieder in der Jackentasche. Denn sie wusste, was es bedeuten würde, sich mit Axel in endlose Diskussionen zu verstricken.
Da ihr Rucksack und die Papiertüte gut gefüllt ein beachtliches Gewicht hatten, war Selma die Lust vergangen, noch nach dem Bioladen zu suchen. Sie hatte ja nun erst einmal alles, was sie für die nächsten Tage brauchte, und machte sich auf den Heimweg. Ihr schlechtes Gewissen, weil sie sich noch nicht gemeldet hatte, tat das Übrige.
Eine sportlich gekleidete Joggerin überholte sie leichtfüssig neben der Sennensattlerei auf der steil ansteigenden Strasse, die zum Haselweg hinauf führte.
»Grüezi!«, ohne merklich zu schnaufen zog die Mittvierzigerin flott an Selma vorbei, die das nicht ohne Bewunderung registrierte. In Berlin war sie zwar auch regelmässig laufen gegangen im Park, aber solche steilen Steigungen gab es dort nicht. Sie hatte mit ihrer Einkaufslast schon im langsamen Tempo zu kämpfen und keuchte gemächlich den Hang hinauf.
»Die dünne Luft hier oben«, tröstete sich Selma selbst, »die bin ich noch nicht gewöhnt. Aber das kommt schon mit der Zeit.«
Von vorne kam ihr auf der schmalen Strasse, wo es keine Gehwege für Fussgänger gab, ein breiter Traktor entgegen, dem sie ausweichen musste. Auf Höhe des kommunikativen Hahns, der Selma auch auf dem Rückweg ein stolzes Kikeriki entgegen schmetterte, drückte sich Selma eng an den Zaun, damit das Ungetüm an ihr vorbei donnern konnte. Zum Dank ein knappes Winken des Landwirts, der eine lange, dünne und krumme Zigarre schräg im Mundwinkel hängen hatte. Irgendwie verwegen, wenn auch nicht ganz so sexy wie Jean Paul Belmondo mit Zigarette.
Endlich oben bei ihrem Häuschen angekommen, hörte sie die Kirchturmuhr zwölf Mal schlagen. Und mit Sekundenverzögerung eine zweite. Hier schien man ja sehr christlich zu sein. Zwei Kirchen in einer so kleinen Gemeinde. Selma selbst war nicht besonders religiös, auch wenn ihre gläubige Oma sie als Kind katholisch geprägt hatte. Heutzutage fühlte sich Selma der buddhistischen Lebensphilosophie zugetan, wenn überhaupt. Doch den Klang von Kirchenglocken mochte sie nach wie vor. Er erinnerte sie an ihre dörfliche Kindheit und die regelmässigen Maiandachten, die sie damals mit der Oma immer besucht hatte. Aus dieser Zeit stammte vermutlich auch ihr Faible für Friedhöfe. Denn sie war damals an lauen Frühsommerabenden vor der Andacht immer mit ihrer Grossmutter über den Friedhof gegangen, wo sie die Grabsteine, Trauersprüche und Blumen betrachtet und verglichen hatten.
Ihrer Grossmutter hatte ihr starker Glaube geholfen, den Verlust des geliebten Ehemanns als sehr junge Kriegswitwe irgendwie zu ertragen und zwei Kinder alleine gross zu ziehen. Deshalb hatte Selma ein gewisses Verständnis für religiöse Menschen und brachte ihnen Respekt entgegen. Obwohl sie selbst, mitunter aufgrund ihres Berufes, als Erwachsene den Glauben an einen gerechten, liebenden Gott verloren hatte. Im Prenzlauer Berg in Berlin lag ihre Wohnung ebenfalls in der Nähe einer Kirche, so dass sie an Kirchenglocken gewöhnt war und diese eher beruhigend als störend empfand. Ganz im Gegensatz zu ihrem guten Freund Axel, der zwei Etagen über ihr wohnte und sich jedes Mal über das laute Gebimmel der Katholiken echauffierte. Neben der Lärmbelästigung hatte er auch persönlich einen guten Grund dafür, nicht gut auf die katholische Kirche zu sprechen zu sein. Denn Axel war schwul.
»So, schnell die Sachen in den Kühlschrank verstauen. Mal sehen, wohin ich die anderen Lebensmittel räumen kann.« Selma war überrascht, wieviel Stauraum in ihrem Tiny House vorhanden war. Als der Kühlschrank gut gefüllt war, fand sie praktische Vorratsschränke in der Küche und jede Menge Stauraum unter der aufklappbaren Eckbank für die anderen Produkte.
»Jetzt eine schöne Tasse Kaffee, ein Käsebrötchen und dann Axel«, als alleinlebender Teilzeit Single hatte Selma die Angewohnheit, ab und zu Selbstgespräche zu führen. Sie fischte ein Brötchen aus der Tüte, stellte die frisch gekaufte Butter und den Käse auf den Tisch sowie einen der weissen Keramikteller mit roten Tupfen und ein Messer. Leider fand sie keine Gebrauchsanweisung für die edle Kaffeemaschine. Da sie in Berlin nur eine kleine praktische Kapselmaschine hatte, deren Chemiekaffee Axel stets despektierlich kritisierte, war sie mit diesem Wunderwerk der Technik hier überfordert. Ein roter Schriftzug prangte vorne drauf. Derselbe wie bei der Maschine, mit der Axel ihr in Berlin manchmal einen leckeren Espresso oder Cappuccino zauberte.
»Der Kaffee muss wohl doch noch warten.« Sie schnitt eines der Brötchen auf, das unerwartet weich war, und nicht so knusprig, wie sie es sich gewünscht hätte.
»Was sind denn das für Weckle?« Kritisch beäugte sie das softe Etwas auf ihrem Teller, das sich nur widerwillig mit der kühlen, festen Butter bestreichen liess. Zuviel Butter ist sowieso ungesund. Sie gab ihr Unterfangen auf, schnitt eine Scheibe Käse von dem dicken, keilförmigen Stück ab, belegte damit eine Hälfte des Wegglis und biss herzhaft hinein. Es schmeckte gut. Der Käse würzig, wie sie ihn liebte, sogar mit kleinen, feinen Salzkristallen. Und das Brötchen angenehm mild im Geschmack, beinahe ein wenig süsslich. In Deutschland würde man wohl Milchbrötchen dazu sagen.
»Gar nicht so schlecht, aber vielleicht doch lieber morgen früh mit Marmelade«, dachte Selma, nachdem sie das erste verspeist hatte. Sie schnitt noch eine Scheibe von dem frischen Brot ab, das perfekt war zu der frischen Butter.
»Hallo Axel, ich bin’s Selma!«
»Wer ist dort? Ich kenne keine Selma.«
Sie kannte ihn, er spielte mal wieder den Beleidigten.
»Axel, du bist wirklich meine letzte Rettung. Stell dir vor, hier steht so eine tolle Kaffeemaschine wie deine, und ich hab keine Ahnung, wie ich die bedienen muss.«
Sie wusste genau, wann sie das unwissende Weibchen spielen musste, um die männliche Eitelkeit zu bedienen und die Harmonie wieder herzustellen. Das funktionierte auch bei Axel. Immer.
»Liebes, du hast eine Jura dort? Endlich bist auch du im Zenit der wahren Kaffeetrinker angekommen. Hast du frische Kaffeebohnen?«
»Ja, klar, sogar Fair Trade.«
Axel führte sie Schritt für Schritt durch die Handgriffe, um die Maschine mit Kaffeebohnen und Wasser zu füllen, eine Probetasse für den Schüttstein herauszulassen und einen wunderbar cremigen Espresso per Knopfdruck zu produzieren.
»Hast du denn auch die richtigen Tassen, Liebes?«
»Hier im Schrank stehen so klassische, braune Espresso- und Kaffeetassen, innen weiss, unten auf dem Boden ist ACF - Made in Italy eingeprägt.«
»Nicht dein Ernst!«, rief Axel in den Hörer, »die gibt’s doch seit Ewigkeiten nirgends mehr zu kaufen. Das sind die besten. Pass bloss gut auf die auf. Wieviele hast du denn von denen?«, seine Begeisterung überschlug sich förmlich.
»Vier kleine und vier grosse.«
»Mon dieu, Selma«, staunte ihr Freund, »so viel Glück hast du Chemiekaffeetante gar nicht verdient. Was gibt es denn sonst noch so alles an Überraschungen in deinem Hasenstall?«
Bereits in Berlin hatte er das Tiny House stets als Hasenstall bezeichnet, nachdem Selma ihm von ihrem Plan erzählt hatte.
»Liebes, 25 Quadratmeter Wohnfläche? Da ist ja mein Wohnzimmer grösser. Du bekommst garantiert den Koller innerhalb eines Tages«, hatte Axel damals gesagt und mit den Augen gerollt. »Vermutlich musst du im Stroh schlafen und auf einem Melkschemel sitzen. Jeder Mensch weiss doch, dass die nur Plumpsklos haben auf ihren Almen. Und das Licht mit dem Hammer ausmachen.« Axel war durch und durch ein Stadtkind, und obwohl er die Fotos des Tiny Houses im Internet gesehen hatte, liebte er es, den Grossstadt Snob zu mimen und Selma ein wenig damit aufzuziehen.
»Ach, Axelino«, seufzte sie, »jetzt weiss ich, was mir hier wirklich fehlen wird.«
»Meine Schokoladenschublade!«, antwortete er prompt.
Ihr guter Freund, Arbeitskollege und Nachbar schaffte es mit seiner unvergleichlichen Art immer wieder, Selma ein amüsiertes Schmunzeln zu entlocken.
»Nein, du, als Gesamtkunstwerk! Denn Schokolade gibt es hier mehr als genug. Ich hab mich schon eingedeckt.«
Die berühmte Schokoladenschublade von Axel, die Selma in Berlin zuweilen vor Unterzuckerung rettete, wenn sie spätabends müde aus dem Institut der Rechtsmedizin nach Hause kam und mal wieder nicht zum Einkaufen gekommen war. Ihre beiden Wohnungen lagen, nur durch eine andere Wohnung getrennt, übereinander in einem sanierten Altbau im Prenzlauer Berg. Selma hatte sich dort vor Jahren eine grosse Eigentumswohnung im vierten Stock geleistet, nachdem Axel, der im selben Haus die Maisonette Wohnung im Dachgeschoss besass, ihr von deren Verkauf erzählt hatte.
Seitdem pflegten die beiden nicht nur ein berufliches, sondern auch ein freundschaftliches Verhältnis, das man beinahe als Wohngemeinschaft über zwei Stockwerke bezeichnen konnte. Axel hatte in Selmas Abwesenheit den Wohnungsschlüssel, kümmerte sich um die paar wenigen Pflanzen, sah nach dem Rechten und sammelte die Post, wobei er die wichtigen Sendungen an Selma weiterleitete. Entweder eingescannt via PC oder per Post. Die Nachsendung durch die deutsche Post in das nicht-EU-Land Schweiz war ihr nach diversen Abklärungen zu kompliziert erschienen. Axel genoss ihr volles Vertrauen. Wenn er sie ärgern wollte, sagte er stets: »Wir sind doch schon wie ein altes Ehepaar.« Denn er wusste, dass Selma der Institution Ehe mehr als kritisch gegenüber stand, und auch nie vorhatte zu heiraten. Von ihrer sexuellen Orientierung abgesehen, waren sie tatsächlich so eng miteinander, dass manches Ehepaar vor Neid erblasst wäre.
Selma leitete als promovierte Ärztin das Institut für Rechtsmedizin in Berlin, wo sie zuvor zehn Jahre als Oberärztin tätig gewesen war. In dieser Zeit hatte sie ihren Kollegen, Dr. Axel Pawelko, kennengelernt, seines Zeichens Kriminalbiologe. Das heisst, sie arbeiteten an einigen, komplexen Fällen zusammen, wohnten im selben Haus und gingen abends ab und zu gemeinsam essen oder schwofen. Mit Axel hatte Selma bisher ihre lustigsten Abende in den einschlägigen Lokalen verbracht, wo sie wenigstens nicht plump angequatscht wurde. Seit zwei Jahren war Selma nun auch noch Axels Vorgesetzte, was an der Freundschaft jedoch nichts geändert hatte. Beide waren professionell genug, um Berufliches und Privates zu trennen. Da Axel nicht annähernd so ehrgeizig war wie Selma, sass er lieber in seinem Labor über einem Mikroskop, um akribisch zu forschen, als sich mit Bürokratie und Personalfragen herumzuschlagen. Er gönnte seiner Freundin Selma den Karriereschritt neidlos und von Herzen.
»Stell dir vor, Axel, in meinem Wohnzimmer steht so ein schicker Designersessel. Ich meine, das ist der kleine Bruder von deinem grossen, cognacfarbenen Ledersessel. Meiner ist rot und hat einen Stoffbezug.«
»Du meinst den Schwan? Mensch, Selma, jetzt machst du mich aber wirklich neugierig auf deinen Hasenstall. Gibt es denn auch ein Gästezimmer?«
»Fehlanzeige, aber ein ausziehbares Sofa, das man zum Gästebett umfunktionieren könnte. Wieso fragst du?« Selma wusste natürlich genau, wieso Axel fragte. Schliesslich kannte sie seine Neugier und Reiselust.
»Na, ich wollte schon immer mal in die schöne Schweiz. Wie sieht’s denn so mit der Nachbarschaft aus? Was Knackiges dabei?«
»Axel, das hab ich doch in einem halben Tag noch nicht herausgefunden. Zumal mein nerviger Berliner Nachbar mich telefonisch davon abhält, hier neue, gut aussehende Nachbarn ausfindig zu machen.«
Schallendes Gelächter drang an Selmas Ohr.
»Na, dann legen wir jetzt schnell auf, Liebes. Ich bin jedenfalls froh, dass du gut gelandet bist im Heidiland und wünsche dir viel Erfolg bei der Jagd. Pass auf dich auf. Ich melde mich wieder.«
»Oder ich. Mach’s gut und grüss mir die Heimat. Tschüss, Axel!«
Amüsiert legte Selma ihr Mobiltelefon in das kleine praktische Regal neben der Eingangstür und räumte das Geschirr ihrer Mittagsbrotzeit in den Geschirrspüler, den es in ihrem kleinen Refugium ebenfalls gab.
Selma sass sonntagmorgens mit einem cremig süssen Milchkaffee und einem Marmeladen Weggli auf ihrer grossen Terrasse in der Morgensonne, als sie ihr erstes Déja-vu hatte in Winken.
Der kleine braune Hund stand wieder erwartungsvoll vor ihr. Gefolgt von seinem jungen Herrchen.
»Guten Morgen, ihr beiden!«, rief sie fröhlich und kraulte Moggel hinter den samtweichen Ohren.
»Hoi, Selma«, antwortete der Junge mit einem kurzen Winken.
»Das scheint eure Stammstrecke zu sein«, stellte sie fest, während der Junge näher kam und unschlüssig vor ihrer Terrasse stehen blieb.
»Ja, wir gehen hier jeden Tag vorbei. Wenn Wickie da ist, trink ich sonntags immer eine Ovo mit ihm, und Moggel bekommt ein Wienerli«, entgegnete Peter mit melancholischem Unterton.
»Sag mal, wer ist denn Wickie?«, wollte Selma wissen.
»Er wohnt da drüben, in dem anderen Häuschen. Wenn er nicht grad auf Reisen ist. Er hat mir Moggel geschenkt. Den hat Wickie als Hundebaby aus Spanien mitgebracht.«
»Und jetzt ist er gerade wieder verreist?«
»Das weiss ich nicht so genau. Normalerweise erzählt er mir immer, wenn er fährt. Aber diesmal war er auf einmal einfach weg. Bestimmt schon acht Wochen oder so hab ich ihn nicht mehr gesehen. Und eine Karte hab ich auch nicht bekommen.«
»Eine Karte?«
»Er schreibt mir von überall her Postkarten mit bunten Briefmarken. Die hängen alle an der Wand in meinem Zimmer. Wenn ich gross bin, will ich dort auch überall hin, wo Wickie schon war. Sogar in Afrika ist er schon gewesen.« Peters grüne Augen begannen zu leuchten, und sein Gesicht entspannte sich zu einem Lächeln.
»Magst du was trinken?«, fragte Selma ihn. »Leider hab ich keine Ovomaltine, aber ein Glas Milch oder einen Orangensaft kann ich dir anbieten, wenn du magst.«
»Ich weiss nicht«, sichtlich verlegen stand der Junge vor ihr, während sein Hund sich bereits zuhause fühlte bei Selma. Er lag zu ihren Füssen auf den Holzplanken der Terrasse und döste in der Sonne. Selma stand auf und ging ins Haus, was Moggel nur zu einem kurzen Blick aus halb geschlossenen Augenlidern veranlasste.
»Wart mal kurz«, rief sie Peter über die Schulter zu. Kurz darauf kehrte sie mit einem Glas, einer Flasche Orangensaft, einer Packung halbfetter H-Milch und einer kleinen, festen Hartwurst auf einem Tablett zurück.
Peter stand wie angewurzelt noch immer an derselben Stelle, während sein Hund bereits wieder eingeschlafen war.
»Setz dich doch ein paar Minuten zu mir auf die Terrasse. Alleine frühstücken ist langweilig. Ich würde mich über ein wenig Gesellschaft freuen. Milch oder Orangensaft?«
»Exgüsi«, mit diesem seltsamen Gruss stieg der Junge die Stufen zur Terrasse hinauf. Er setzte sich dort auf eine Stuhlkante, gegenüber der kleinen Bank, auf der Selma an der Hausfassade Platz genommen hatte.
»Saft bitte«, sagte er mit einem verschämten Blick auf die beiden Getränke auf dem Tablett.
»Magst du Milch nicht so?«
»Doch schon, aber nicht so gerne die aus dem Supermarkt«, antwortete er vorsichtig. »Wickie holt die Milch immer direkt beim Rees und der Anneli.«
»Oh, direkt beim Bauern?« Selma war begeistert.
»Vielleicht kannst du mir verraten, wo das ist? Dann hol ich dort auch meine Milch. Ich hab noch nie Milch direkt von der Kuh getrunken.«
Peter schaute sie mit grossen Augen und gerunzelter Stirn an.
»Echt nicht?« Er nahm einen grossen Schluck von seinem Orangensaft.
»Magst du denn auch ein Weggli mit Marmelade?«
»Nein, danke. Ich hab nicht so gern Konfi. Lieber Käse und Wurst. Aber ich hab schon gefrühstückt.«
»Du kannst auch gern ein Stück von der Wurst hier haben. Die hatte ich eigentlich für Moggel mit raus gebracht. Als Wienerli Ersatz, dachte ich. Aber ihr könnt sie euch gern teilen.«
»Und du?«
»Ich mag keine Wurst und kein Fleisch. Die Salami hab ich als kleine Überraschung in meinem Kühlschrank gefunden. Wär doch schade drum.«
»Isst du nie Wurst und Fleisch?«
»Nö, seit meinem sechsten Lebensjahr nicht mehr.«
»Warum?«
»Das ist eine längere Geschichte. Die erzähl ich dir gern ein andermal, wenn du magst.«
Peter nahm das kleine scharfe Messer und schnitt die Wurst in Stücke.
»Das ist ein Pantli, keine Salami«, erklärte er ihr, als er das erste Stück genüsslich in den Mund steckte. Das zweite warf er seinem Hund zu, der inzwischen vom Geruch des Pantli erwacht, das Leckerli treffgenau in der Luft auffing.
»Gehst du immer allein spazieren mit Moggel?« Selma fand das irgendwie ungewöhnlich für einen kleinen Jungen.
»Ja, weisst du, meine Eltern haben keine Zeit. Die sind immer im Geschäft. Ich musste versprechen, dass ich mich ganz allein um den Moggel kümmere, bevor ich ihn haben durfte. Eigentlich wollten sie keinen Hund wegen dem Laden und der Hygiene und so. Aber Wickie und ich haben solange gebettelt, bis sie es erlaubt haben. Moggel ist mein bester Freund.«
Als ob der Hund jedes Wort verstanden hätte, setzte er sich dicht neben Peter und rieb seinen Kopf liebevoll an seinem Bein.
»Ja, ja, du kriegst schon noch ein Stückchen«.
»Und Wickie? Ist auch dein Freund?«, fragte Selma, die sich freute, dass Peter ein wenig aufzutauen schien. Ausserdem war sie neugierig geworden, wer denn dieser ominöse Wickie war, den auch der ältere Herr im Supermarkt schon erwähnt hatte.
»Ich glaub schon.«
Peters Blick schweifte wieder zu dem zweiten Tiny House. Als ob er seinen Freund Wickie damit herbei zaubern könnte.
»Wer dir einen so wunderbaren Hund schenkt, der ist ganz sicher dein Freund.«
Sie versuchte, den Jungen ein wenig aufzumuntern, denn ihre feinen Antennen signalisierten ihr, dass er wieder ins Grübeln geriet über den Verbleib von Wickie.
»Hey, was hast du heute noch Schönes vor?«
»Sonntags und in den Ferien machen wir immer eine grössere Runde, Moggel und ich. Später helfe ich dann im Geschäft. Geschirr spülen. Weisst du, am Sonntag ist immer viel los bei uns im Café. Vor allem bei schönem Wetter. Deshalb gehe ich auch vorher eine grosse Runde mit Moggel. Dann ist er nachher müde und schläft in seinem Körbchen in meinem Zimmer.«
Selma spürte einen Stich in der Herzgegend. Sie wusste nur zu gut, was es bedeutete, das Kind selbständiger Geschäftsleute mit einem Ladenlokal zu sein.
»Hättest du was dagegen, wenn ich euch heute auf eurer Runde begleite? Du könntest mir ein bisschen die Gegend zeigen. Ich kenn mich hier ja noch nicht aus.«
Sie mochte den rothaarigen Buben mit den vielen Sommersprossen und seine höfliche, zurückhaltende Art.
»Wenn du willst. Der Weg im Wald ist aber ziemlich matschig.«
Skeptisch ruhte Peters Blick auf Selmas weissen Segeltuch Turnschuhen. Er selbst hatte feste, knöchelhohe Lederschuhe an, wie Selma sie höchstens zum Wandern in den Bergen anziehen würde. Da sie jedoch eigentlich nie wanderte, besass sie keine solchen Schuhe.
»Ich zieh mir schnell noch andere Schuhe an. Fünf Minuten. Dann kann’s losgehen!«, damit räumte Selma das Geschirr und die Reste des kleinen Frühstücks auf das Tablett und verschwand.
Mit dunkelblauen Segeltuch Turnschuhen derselben Marke an den Füssen kehrte sie zurück. Peter sah sie an, sagte jedoch nichts.
»Meine andere Jacke ist noch im Auto, komm!«
Sie ging an Peter vorbei, der ihr die hundert Meter ans Ende des Haselwegs folgte, wo ihr Fahrzeug stand.
»Ist das deiner?«
»Hhm, ja. Mein Traktor«, murmelte Selma und schloss die Fahrertür auf.
»Das ist aber kein Traktor. Das ist ein Porsche«, erwiderte der Junge. »Eins meiner Lieblingsautos im Auto Quartett.«
Selma tauchte aus dem Innern des Sportwagens wieder auf, eine blaue Jacke in der Hand.
»Gibt’s das denn noch? Auto Quartett? Das hab ich ja schon als Kind mit den Nachbarjungs gespielt. Und weisst du was? Der Porsche war auch immer mein Favorit. Deshalb hab ich mir den alten hier vor ein paar Jahren geleistet.«
»Wieso sagst du Traktor?«, wollte Peter wissen und umrundete ehrfürchtig das Olivgrau metallic farbige Cabriolet.
»Das ist sein Spitzname. Weil er ein bisschen rau ist. Im Ton und zum Fahren. Keine Servolenkung, sehr direkt und nicht ganz so komfortabel wie die neuen. Aber ich liebe ihn. Er hat mich trotz seiner über dreissig Jahre, die er auf dem Buckel hat, noch nie im Stich gelassen. So, von mir aus können wir los.«
Peter rief Moggel zu sich, der weiter oben auf der Wiese eine interessante Spur verfolgte.
»Komm jetzt, Moggel, hier lang.«
Gemeinsam gingen sie den Haselweg hinunter auf den Hauptweg und folgten diesem nach rechts, vom Dorf weg in Richtung Westen, wo man grüne Wiesen, einzelne verstreute Höfe und kleine Waldstücke sah. Die Vögel tirilierten, einzelne Bienen und Schmetterlinge summten und flatterten durch die wärmende Frühjahrsluft. Selma holte tief Luft. Sie fühlte sich frisch und irgendwie befreit in dieser herrlichen Landschaft, fern der Grossstadt. Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her und hingen ihren Gedanken nach. Moggel ohne Leine immer ein paar Meter voraus. Der Weg querte einen Bach, an dem der Hund stehengeblieben war und schwänzelte.
»Und frei!«, rief Peter.
Es machte platsch, Moggel war ins Wasser gesprungen und sah die beiden erwartungsvoll aus dem flachen Bachbett heraus an. Peter suchte in dem kleinen Waldstück, das rechts an den Weg anschloss, kleine Stöckchen und warf sie ins Wasser. Begeistert sprang der nasse Vierbeiner hinterher und fischte sie siegessicher aus dem kühlen Nass, um sie auf einem grossen Stein zu Kleinholz zu verarbeiten.
»Ist das nicht viel zu kalt?«, Selma schauderte beim Gedanken, Anfang April in einen Bach hüpfen zu müssen.
»Nein, Moggel kann’s gar nicht kalt genug sein. Er ist mehr ein Winterhund als ein Sommerhund. Er hat ja auch im Winter Geburtstag.«
»Ach so! Wann denn?«
»Wickie und der Tierarzt schätzen, im Februar.«
»Ein Wassermann, im wahrsten Sinne des Wortes«, grinste Selma, deren heimliches Hobby Sternzeichen und ihre Eigenschaften waren.«
»Keine Ahnung.«
»Wann hast du denn Geburtstag?«
»Am vierundzwanzigsten September.«
»Oh, dann bist du Waage, Peter. Mit Waagen komm ich sehr gut klar«, sagte Selma und warf einen besonders schönen Stock für Moggel.
»Wir gehen jetzt hier den Wald rauf«, erklärte Peter und winkte seinen Hund heran. »Hier nehme ich ihn lieber an die Leine.«
Kaum hatte er den Satz beendet, knackte es von vorne im Unterholz. Laute Männerstimmen drangen an Selmas Ohren. Drei bis an die Zähne martialisch ausgestattete Mountain Biker mit Protektoren und Helmen kamen den steilen Waldhang hinunter gerast. Direkt auf Selma und Peter zu, der Moggel dicht an sich heranzog.
»Sitz!« Der Hund gehorchte sofort.
Als die Radfahrer die beiden mit dem Hund sahen, bremsten sie ab und blieben neben ihnen stehen. Der vorderste, ein grosser Zweimeter Mann mit deutlichem Bauchansatz über seiner weissen, viel zu engen Biker Hose grinste Peter an.
»Hoi, Peterli, hüt in Begleitig?«, sein Blick streifte Selma interessiert, während er den Buben ansprach.
Peter hasste es, wenn man ihn Peterli nannte. Dennoch entgegnete er höflich: »Grüezi, Herr Rechsteiner.«
Selma grüsste die drei Sportler ebenfalls, während sie darüber nachdachte, was Menschen wohl dazu bewog, sich in enge Sportkleidung zu zwängen, die mehr offenbarte als verdeckte. Meist nicht zum Vorteil der Betreffenden. Innerlich musste sie schmunzeln, denn diese drei Exemplare hier waren geschätzt um die Fünfzig und schienen ihre Midlife Krise auf dem Mountain Bike zu kompensieren.
Mit seinem Grinsen im vor Anstrengung hochroten Gesicht wandte sich der weiss gekleidete Herr Rechsteiner nun an Selma, hob seine markante Nase schnüffelnd in ihre Richtung und meinte:
»Du riechst aber gut. Was ist das denn für ein Parfum?«
Völlig perplex ob dieser plumpen Vertraulichkeit eines völlig Fremden ging sie wortlos und konsterniert einfach weiter den Waldweg hinauf.
Vom anzüglichen Feixen der beiden anderen Mountain Biker begleitet, blickte Ruedi Rechsteiner irritiert der Unbekannten hinterher, die ihn kommentarlos hatte stehen lassen, bestieg wieder sein Fahrrad und fuhr von dannen.
»Was war das denn?«, grummelte Selma beim Gehen kopfschüttelnd vor sich hin.
»Der Seifen-Ruedi«, antwortete ihr Peter höflich, der das als sachliche Frage verstanden hatte. »Zu dem muss man nett sein, sagt mein Papa immer, der ist wichtig«, ergänzte Peter noch.
»Aha. Und wieso?«
»Das weiss ich auch nicht so genau. Der macht irgendwas in der Gemeinde und ist ein guter Kollege vom Gemeindepräsidenten.«
Moggel, der an der Leine voraus gegangen war, blieb plötzlich stehen und blickte aufmerksam mit aufgestellten Ohren nach oben in den Wald.
»Pssst…«, Peter legte den Zeigefinger an die Lippen und nickte leicht mit dem Kopf nach vorne. Circa vierzig Meter vor ihnen standen zwei Rehe und spähten witternd in ihre Richtung, bevor sie mit kraftvollen Sprüngen im Dickicht den Hang hinunter zum Bach verschwanden, der sich weit unten entlang schlängelte.
»Wie schön!«, flüsterte Selma leise, obwohl die Rehe längst über alle Berge waren. »Rehe hab ich ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.«
»Die sind heut später dran«, kommentierte Peter trocken, »normalerweise gehen die viel früher an den Bach zum Trinken. Wir treffen die oft. Deshalb nehme ich Moggel sicherheitshalber an die Leine im Wald.«
»Würde er sie denn jagen?« Selma konnte sich den friedlichen Hund nicht als Jäger vorstellen.
»Hinterherrennen sicher schon. Er will allen Tieren immer am Po schmecken. Und dann würden die total erschrecken. Oder ich würde Moggel nicht mehr finden, wenn er zu weit weg rennt. Aber beissen würde er sie nicht. Der hat noch nie jemanden gebissen.«
Hier war es wirklich steil, und Selma kam aus der Puste. Peter bemerkte es und stieg langsamer den schmalen Waldweg hinauf, wo die Frühlingssonne kleine Lichtinseln durch das hellgrüne Blätterdach der Bäume zauberte. Hie und da zeigten sich bereits kleine, zarte Blümchen zwischen dem hellbraunen Laub des letzten Jahres. Sie waren das Ziel umher schwirrender Insekten, deren leises Summen die Luft erfüllte. So still war es hier, dass dies das einzige Geräusch zu sein schien neben ihren Schritten im Laub. Nur ein Vogelschrei durchschnitt die träge Stille dieses Sonntagmorgens.
»Der Milan«, sagte Peter und sah gen Himmel. Aber die Baumkronen verdeckten die Sicht.
Selma nahm ihren eigenen Puls wahr, das Blut hämmerte ein wenig in ihren Ohren.
»Ich wusste gar nicht, dass ich so wenig trainiert bin«, hielt sie sich in Gedanken selbst vor.
»Ganz oben, wo wir wieder aus dem Wald kommen, steht ein Bänkli. Dort machen wir eine kleine Pause.«
Peter, der leichtfüssig hinter seinem Hund den Hang hinauf stieg, konnte wohl Selmas Gedanken lesen.
»Sehr gern!«, japste sie.
Oben angekommen traten sie aus dem schattigen Wald hinaus auf eine saftige Wiese voller Gänseblümchen. Eine Kuppe, von wo man einen phantastischen Rundblick hatte. Die felsigen Voralpen im Süden, beinahe zum Greifen nah. Weiter weg, im Osten, die immer noch weissen Spitzen hoher Alpengipfel im Nachbarland.
»Wenn wir noch ein kleines Stückchen weiter hoch wandern, kommt das Bänkli. Von dort sieht man an klaren Tagen sogar den See.«
Peter überholte Selma, die kurz stehengeblieben war, um die Aussicht zu geniessen und zu verschnaufen. »Ich komm schon!«
Sie gab sich einen Ruck und folgte ihm einen schmalen Weg entlang, immer noch stetig bergauf bis zu einer Holzbank mit einer schön verzierten Lehne. Dort sass Peter bereits und liess seine Beine baumeln. Denn die Bank mit aussergewöhnlicher Beinfreiheit stand exponiert auf einer kleinen Anhöhe am Rande eines kleinen Abhangs.
»Ist das schön hier! Guck mal, da hinten glitzert ein See«, Selma deutete mit dem Finger nach Norden.
»Da sind wir letztes Jahr in den Sommerferien zum Baden gewesen. Mit dem Wohnmobil vom Wickie. Einmal haben wir dort sogar übernachtet und grilliert. Moggel liebt Wasser und ist richtig weit mit Wickie hinaus geschwommen. Er ist ja auch am Meer geboren. In Spanien. Dort hat ihn Wickie am Strand aufgelesen. Halb verhungert, hat er erzählt.«
Wenn er über seinen Freund Wickie sprach, war Peter in seinem Element und vergass völlig seine Schüchternheit.
