Höllenfeuer - Rolf von Siebenthal - E-Book

Höllenfeuer E-Book

Rolf von Siebenthal

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Beschreibung

Qualvoll stirbt der angesehene Arzt Dr. Michael Brunner beim Brand seiner Villa in Liestal. Schnell findet die Polizei Baselland heraus, dass sie es mit Mord zu tun hat. Personalmangel in den Sommerferien und zugeknöpfte Zeugen behindern die Ermittlungen von Kripo-Chef Heinz Neuenschwander. Zudem steckt auch noch der Journalist Max Bollag seine Nase überall hinein. Doch die beiden Männer müssen sich zusammenraufen, wenn sie Schreckliches verhindern wollen.

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Rolf von Siebenthal

Höllenfeuer

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © patrice52 – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4514-9

Widmung

Für Rös

1. Kapitel

Der Schmerz breitete sich von der Ohrmuschel in den Gehörgang aus, durchdrang das Trommelfell und die Cochlea, bahnte sich einen Weg über den Hörnerv ins Gehirn. Es fühlte sich an, als ob eine Nadel langsam in Brunners Kopf gestoßen würde. Er wollte schreien, zu hören bekam er ein leises Stöhnen.

Er ließ seinen Kopf auf den Boden sinken, die Qualen ließen ein wenig nach. Brunner öffnete die Augen. Um ihn herum lag alles im Dunkeln. Ein scharfer, unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase. Sein Gaumen war ausgetrocknet, er empfand den Drang, sich über die Lippen zu lecken. Es ging nicht, etwas verstopfte seinen Mund. Er wollte seine Hände hochnehmen, doch die Arme gehorchten ihm nicht. Sie waren hinter seinem Rücken verschränkt, zusammengebunden. Behutsam drehte er den Kopf, augenblicklich bohrte sich der Schmerz tiefer in sein Ohr.

Stillhalten! Nicht bewegen!

Verdammt, wo befand er sich? Und was hatte er um seinen Kopf? Sachte hob er die Augenbrauen, Klebeband umwickelte seinen Mund. Was war bloß passiert?

Nach der Spätschicht hatte er bei Toni reingeschaut, zwei oder drei Whisky getrunken. Er war nach Hause gefahren, die Deckenleuchten im Flur hatten nicht funktioniert. Er hatte die Tür verriegelt, den Aktenkoffer auf den Boden gestellt, den Schlüssel im Flur auf die Kommode gelegt, war die Treppe zum Schlafzimmer hochgegangen und … An mehr konnte er sich nicht erinnern.

Vorsichtig bewegte Brunner seine Beine. Sie ließen sich strecken, die Fußgelenke waren allerdings ebenfalls zusammengeschnürt. Langsam drückte er die Knie durch, stieß mit den Füßen gegen einen Gegenstand, der umstürzte und laut klapperte. Flüssigkeit tropfte auf seine Füße. Was war das für ein Geruch?

Er hörte ein Quietschen, ein Knarren, ein bekanntes Geräusch. Das war die Tür zum Dachboden, die Holztreppe. In seinem Haus! Jemand stieg die Stufen hoch, Schritte folgten über ihm, zwei Menschen. Sie gingen zielstrebig herum, verharrten, gingen weiter, verharrten. Die Treppe knarrte erneut, die Schritte kamen näher. Brunner drehte den Kopf, wie ein Blitz durchfuhr ihn der Schmerz. Die Schritte erstarben, ein Lichtschein erhellte den Streifen unter der Tür. Dort draußen standen sie, wer immer sie waren. Er riss an seinen Armen, die Fesseln schnitten in seine Handgelenke, er musste …

Brunner vernahm ein Gluckern, anschließend entfernten sich die Schritte den Flur hinunter. Er atmete auf, sah dem Lichtschimmer nach, für einen Moment erkannte er den Fuß der Stehlampe in seinem Wohnzimmer. Das Licht verschwand.

Wer zum Teufel …?

Viktor! Natürlich! Das mussten Viktors Leute sein. Der wollte ihm Angst einjagen, weil er im Rückstand mit den Raten war. Dieser Scheißkerl! Schickte der einfach ein paar Arschlöcher los, die mit ihren dreckigen Pfoten seine Sachen durchwühlten. 700 Franken steckten im Flurschrank, der Laptop, die zwei kleinen Goldbarren im Schlafzimmer, seine Omega. Er tastete mit den Fingern nach der Uhr am Handgelenk. Die hatten sie übersehen, diese Schwachköpfe. Der Kabelbinder, mit dem er gefesselt war, schnitt in seine Haut ein. Er verdrehte die Hände, zog die Arme auseinander, keine Chance.

Der Gestank war beißend. Er betastete seine Hose, sie war feucht zwischen den Beinen. Urin. Er musste sich vollgepisst haben. Diese Hurensöhne! Das würde Viktor büßen. Doch es stank nicht allein nach Urin, da war ein anderer Geruch. Er erinnerte Brunner an die Werkstatt von Onkel Konrad.

Mein Gott: Benzin!

Sachte drehte er sich auf den Bauch, eine Welle aus Schmerzen durchflutete sein Hirn. Er reckte den Kopf in verschiedene Richtungen, versuchte den Qualen zu entkommen. Wenn er den Schädel auf die linke Schulter sinken ließ, waren sie halbwegs erträglich. Er sammelte seine Kräfte, zog mühsam die Knie unter den Oberkörper. Was würde er für einen Schuss Morphium geben! Er ließ das Gesäß auf die Waden sinken, spürte die durchtränkte Hose.

Schritte polterten durch das Haus, sie wurden schneller, hektischer. Brunner rutschte mit dem Hintern von seinen Waden auf den Boden, machte eine Drehung und streckte die Beine aus. Er saß auf etwas, wühlte mit den Schuhen durch den Haufen unter ihm, bis er das Parkett spürte. Verflucht, worauf hockte er da? Waren das Bücher?

Er stemmte die Schuhabsätze gegen den Boden, drückte die Beine durch, rutschte rückwärts, kam nicht weit, stieß gegen einen Gegenstand. Mitten im Wohnzimmer? Er drehte sich um, legte sich nach hinten, reckte die Füße in die Höhe und drückte dagegen. Das musste sein schwerer Esstisch sein, der auf die Seite gekippt eine Wand bildete. Hier kam er nicht weiter.

Er hörte Gemurmel, hektisch, gehässig. Es klang nach Streit. Unter der Tür schimmerte wieder Licht. Brunner konnte erkennen, dass der Plasmafernseher, das Ledersofa und der Tisch in einem Kreis um ihn herum aufgebaut waren. Alles schimmerte feucht, war sicher benzingetränkt. Sein Nacken tat höllisch weh wegen der komischen Kopfhaltung.

Aus dem Flur tönte es, als ob eine Wildsau durch sein Haus hetzte. Sie rumorte in der Küche, stieg durch den Kamin ins Dach, polterte die Treppe hoch. Brunner stieß den Fernseher mit den Füßen weg, verlor das Gleichgewicht, kippte auf die Seite, sein Kopf knallte auf den Boden, die Schmerzen stiegen ins Unermessliche. Benzin tropfte von den Möbeln in sein Genick. Der Lärm im Flur änderte sich, glich nun dem Zischen eines Dampfkochtopfs, ein neuer Geruch breitete sich aus. Er reckte die Nase in die Höhe, schnupperte.

Rauch.

Die Härchen an Brunners Armen stellten sich auf.

Feuer!

Er blickte zur Tür, der Rauch zog durch die Ritzen ins Zimmer. Er kam erneut auf die Knie, robbte über das Parkett, stieß mit dem Kopf gegen seine Kommode, ignorierte den Schmerz in seinem Kopf. Es stank nach brennendem Holz und Plastik. Er drehte sich um, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Kommode, stützte sich mit den Ellenbogen ab, kam langsam hoch.

Mit einem lauten Knall flog die Wohnzimmertür auf, der Rahmen fing sofort Feuer. Eine Woge aus Hitze und dichtem Qualm umfing ihn und sog die Luft aus seinen Lungen. Brunner warf sich auf den Boden, Glas splitterte draußen, eine Explosion im Flur ließ den Boden zittern.

Das Feuer breitete sich über das Benzin im Wohnzimmer aus, Flammen kletterten die Kommode empor, blau und rot. Sie leckten gelb an den Büchern, tänzelten über das Sofa, umzingelten ihn. In der unerträglichen Hitze presste er seinen Kopf auf den Boden, atmete flach, saugte die Luft wie durch einen Strohhalm ein. Er suchte nach einer Lücke im Flammenring, seine Atemwege kratzten.

Es krachte im Zimmer, als ob jemand Holz spaltete. Die Flammen auf den brennenden Möbeln zogen den Kreis um ihn herum enger. Nun erkannte er, dass er mitten auf seiner Sammlung erotischer Bücher saß. Wie auf einem Scheiterhaufen.

Brunner gab sich nicht geschlagen. Er wälzte sich über Glassplitter. Plötzlich konnte er die Beine bewegen, gleich danach waren die Arme frei. Er blickte an sich herab, das Plastik verschmolz mit seinen Handgelenken, die Haut färbte sich schwarz.

Brunner hob den Kopf und setzte zu einem tierischen Gebrüll an, als der Raum um ihn herum in einem grellen Blitz zerbarst. Es dauerte den Bruchteil einer Sekunde, dann war alles vorbei.

2. Kapitel

Bollag fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und streifte den Schweiß an der Gesäßtasche ab. Verfluchte Hitze. Um 8.15 Uhr fühlte es sich bereits an wie in der Sauna. Im Schatten der Liestaler Bahnhofunterführung griff er in seine Umhängetasche, zog seinen kleinen Schreibblock und einen Kugelschreiber heraus und vergewisserte sich, dass dieser funktionierte. Ein einziges Mal in seiner Karriere hatte er eine Pressekonferenz ohne brauchbaren Stift durchlitten. Das würde ihm nie mehr passieren.

Das Hemd klebte ihm am Rücken, als Bollag die Sichternstrasse hochging. Seit elf Tagen quälte die Sommerhitze die Schweiz, die Menschen kauften Klimaanlagen wie blöd und flüchteten ins Freibad. Er stöhnte leise beim Gedanken an das kühle Wasser.

Bollag bog in die Widmannstrasse ein und entdeckte reichlich Trubel etwa hundert Meter entfernt. Zwei Feuerwehrautos, drei Patrouillenfahrzeuge der Polizei und weitere Autos blockierten die Durchfahrt. Er schlängelte sich zwischen ihnen hindurch und stutzte beim Anblick eines Leichenwagens, eines metallicgrauen Mercedes Kombi. In der Polizeimeldung war lediglich von einem Brand die Rede gewesen. Die Hintertür des Mercedes stand offen, er war leer.

»Hier können Sie nicht durch.« Der junge Polizist in Uniform versperrte ihm den Weg und hob die Hand.

Bollag zückte seinen Presseausweis.

Der Polizist prüfte das Kärtchen und sah sich um. Ein paar seiner Kollegen schwirrten um die abgebrannte Villa herum, deren geschwungenes Dach teilweise eingestürzt war. Die Dachbalken ragten wie ein schwarzes Skelett in die Höhe, Ruß bedeckte die Fassade. Schließlich zuckte er mit den Schultern. »Also gut, bis zur Absperrung.«

Bollag schob den Ausweis zurück in sein Portemonnaie. »Wer ist an der Brandstelle zuständig?«

»Kripo-Chef Neuenschwander.«

Der Chef persönlich erschien bei einem Hausbrand? Bollag nickte dem Polizisten zu, schlüpfte zwischen den zwei eng parkierten Feuerwehrautos hindurch und wich mehreren Wasserlachen aus.

Er ging vor bis zum gelben Absperrband, etwa zehn Meter von dem Haus entfernt. Dort hatte sich eine kleine Schar Gaffer versammelt, Nachbarn vermutlich, zu denen Bollag Abstand hielt. Der Geruch von verbranntem Holz und Plastik hing in der Luft. Vom herrschaftlichen Glanz der Villa war nicht viel übrig geblieben. Reifenspuren zerfurchten den Rasen des gepflegten Gartens, das Gras war mit Glassplittern gesprenkelt. In der Einfahrt stand ein großer, dunkelblauer BMW, bedeckt mit einer Schicht grauer Asche. Feuerwehrleute in beigen Brandschutzwesten mit gelben Leuchtstreifen rollten dicke Schläuche auf, sammelten Spitzhacken ein und verluden Atemschutzmasken. Zwei Polizisten mit verdreckten Hosen liefen über den matschigen Rasen und schauten in Kellerfenster.

Oben im ersten Stock blitzte ein Licht in einem verkohlten Fensterrahmen. Außen lehnte eine silberne Leiter aus Aluminium an der Fassade. Ein weiterer Blitz. Offenbar arbeiteten die Techniker der Kriminalpolizei dort oben und machten Fotos. Fotos wovon? Einer Leiche?

Bollag überprüfte die Reihen der Gaffer, Konkurrenz war keine da. Normalerweise würde das Tagblatt einen Hausbrand mit einer kurzen Polizeimeldung abhandeln. Doch der Brandort lag in einem vornehmen Quartier zehn Minuten von der Redaktion entfernt, deswegen hatte er sich zu dem kleinen Spaziergang aufgemacht.

»Hueresiech, verschwindet aus dem Garten. Ihr Schafsköpfe zertrampelt alle Beweise.«

An der dröhnenden Stimme erkannte Bollag den Kripo-Chef, bevor der mit seinem massigen Körper um die Hausecke kam. Neuenschwander scheuchte die beiden Polizisten mit den dreckigen Hosen vor sich her. Er ging auf die 60 zu und pflegte seinen Ruf als scharfer Hund. Das spärliche Haar auf seinem Kopf war kurz geschoren, die Haut bleich wie junger Emmentaler Käse.

Bollag wartete, bis Neuenschwander an der Absperrung vorbei durch den Garten stampfte. »Schüchtern Sie wieder Ihre Mitarbeiter ein?«

Brüsk drehte Neuenschwander den Kopf, blieb stehen und verzog das Gesicht. Mit der Hand strich er sich über die Halbglatze und hinterließ dabei einen Streifen Ruß. Er kam auf Bollag zu. »Sie haben mir gerade noch gefehlt. Was tun Sie hier?«, grunzte er.

»Das Gleiche wie Sie. Arbeiten.« Bollag wies mit dem Daumen über seine Schulter auf den Leichenwagen. »Gab es einen Toten?«

Neuenschwander spitzte die Lippen und beäugte Bollag skeptisch. »Ich will hier keinen Medienrummel.«

»Geben Sie mir einen Tipp, und ich bin weg.«

Der Kripo-Chef kratzte sich am Kinn. »Ist das ein Versprechen? Und Sie schreiben heute nichts für Tagblatt online?«

Bollag nickte zweimal.

Mit dem Kinn wies Neuenschwander hinauf zum ersten Stock, er senkte die Stimme. »Wir haben einen Toten dort oben. Der ist nicht identifiziert.«

Als ein Feuerwehrmann im ersten Stock pfiff, um seinen Kollegen im Garten auf sich aufmerksam zu machen, drehten Bollag und Neuenschwander den Kopf. Der Mann stieg schnell die Leiter zum Fenster hoch, während zwei Mitarbeiter des Leichenbestatters einen Metallsarg über den Rasen trugen. Der Kripo-Chef straffte seine Schultern. »Im Gegensatz zu Ihnen braucht man mich hier. Aber ich habe einen zweiten Tipp für Sie.« Er richtete den Zeigfinger auf Bollags Gesicht. »Stehen Sie früher auf, dann haben Sie Zeit zum Rasieren.« Er machte auf dem Absatz kehrt, seine schwarzen Gummistiefel erzeugten ein schmatzendes Geräusch auf dem Rasen.

Bollag fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln und grinste. Heute hatte der Kripo-Chef ja richtig gute Laune. Normalerweise hätte der einen Journalisten gleich zum Teufel gejagt. Er sah hinauf zum ersten Stock, wo der Feuerwehrmann mittlerweile angekommen war und sich von der Leiter aus ins Innere des Hauses beugte. Wenige Sekunden später griff er mit der Linken nach dem Leiterholm, in der Rechten hielt er eine Schlaufe. Beim nächsten Tritt nach unten wurde ein schwarzer Leichensack sichtbar. Der Feuerwehrmann stieg Sprosse für Sprosse nach unten, sein Kollege sicherte die Fracht von oben mit einem Seil. Sie ächzten in ihren schweren Schutzanzügen. Unten übergab er den Sack an die beiden Männer mit dem Sarg. Sie legten ihn behutsam hinein, schoben den Deckel darüber und trugen die Metallkiste zum Mercedes.

Wer wohnte in diesem Haus? Bollag suchte einen Briefkasten und ging den Gartenzaun entlang zur Einfahrt, wo das Wasser große Pfützen gebildet hatte. Über der mannshohen Hecke zum Nachbargrundstück ragte ein Flachdach in die Höhe, in dessen Mitte ein Fenster offen stand. Dort verharrte ein schwarz gekleideter Mensch mit einer Kamera vor dem Gesicht. Interessant. Bollag spazierte hinüber und wich ein paar Gaffern aus. Der Rasen vor dem modernen, hellblauen Kasten strahlte trotz der Hitze in sattem Grün. Bollag schritt durch das Gartentor und klingelte an der Haustür. Nichts passierte.

Erst nach dem dritten Klingeln hörte er Schritte und eine junge Frau mit neonblauem Haar öffnete. Sie war vielleicht 18, trug Ringe in der Nase, einen Nagel in der Augenbraue und elegante schwarze Klamotten. Eine Tochter aus reichem Haus, die auf Protest machte. Bollag setzte ein Lächeln auf. »Verkaufen Sie mir Ihre Aufnahmen?«

Ihre Blicke huschten schnell über ihn wie Ameisen. »Wer sind Sie überhaupt?«

»Ich bin Journalist beim Tagblatt.« Bollag zückte eine Visitenkarte und streckte sie ihr entgegen. »Wir zahlen Ihnen 300 Franken, wenn Ihre Fotos brauchbar sind.«

Sie betrachtete die Karte wie eine stinkende Socke. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Verschwinden Sie. Mit einem Schreiberling von diesem Scheißblatt will ich nichts zu tun haben.« Sie knallte die Tür zu, bevor er ein Wort sagen konnte.

Bestimmt war das Herzchen der Augenstern seiner Eltern.

Er schlenderte zurück zu dem abgebrannten Haus, wo sich der Leichenwagen in Bewegung setzte. Nochmals nahm er das Bild in sich auf: die verkohlten Balken, die Gaffer, die schwitzenden Feuerwehrleute, die Glassplitter, den BMW. Daraus ließ sich eine schöne Reportage machen.

3. Kapitel

Akim Oecal sah aus wie ein Konfirmand. Der Scheitel war wie mit dem Lineal gezogen, die Krawatte unter dem weißen Overall perfekt gebunden. Es erstaunte Neuenschwander immer, dass der Kriminaltechniker in der schmutzigsten Umgebung makellos aussehen konnte. Akim ging um die verkohlten Möbel herum, die in der Mitte des Wohnzimmers ungefähr im Kreis angeordnet waren. Dort hatte die Leiche gelegen. Eigenartig.

Angestrengt blickte Akim zu Boden. Er bückte sich, hob ein Stück Glas auf, steckte es in einen Plastikbeutel und beschriftete ihn mit einem Filzstift. Anschließend kratzte er mit einem Sackmesser Rückstände vom Türrahmen ab und ließ sie in einen zweiten Beutel fallen. Aus seiner Schultertasche holte er eine kleine Digitalkamera und machte Fotos von den verrußten Wänden.

Der Kripo-Chef stellte sich neben ihn. »Etwas gefunden?«

Mit der Kamera wies der Kriminaltechniker auf die Spuren an der Wand. »Die Hitzemuster zeigen, dass das Feuer nicht hier entstanden ist. Es kam aus dem Flur.«

Neuenschwander nickte. Das Feuer hatte Spuren in der Brandruine hinterlassen, die ein Fachmann wie Akim lesen konnte. Er verfolgte den Weg des Feuers bis zu dessen Ursprung. »Wann kannst du uns erste Ergebnisse liefern?«

Akim zeichnete den Raum und die Möbelstücke auf einen Block mit Diagrammpapier. »Bald.«

Hoffentlich sehr bald. Neuenschwander war verschwitzt und müde, die Hitze machte ihn fertig. In der Frühe hatte ihn die Einsatzleitzentrale aus dem Bett geholt, bis jetzt hatte er die Untersuchungen überwacht. Nun hatte er bereits zum dritten Mal die wacklige Leiter in den ersten Stock hochklettern müssen, weil die Feuerwehr die Holztreppe wegen Einsturzgefahr abgesperrt hatte.

»Ach, da bist du.« Jonas Schaub erschien im Fensterrahmen. »Ich habe ein paar Informationen über den Hausbesitzer.« Sein schmächtiger Assistent, der mit seiner Metallbrille aussah wie ein Buchhalter, kletterte die letzten Sprossen hoch und hievte sich ins Zimmer. Er nahm einen Rucksack vom Rücken, holte einen Notizblock heraus. »Brunner Michael, 56 Jahre alt, Chefarzt für Orthopädie am Kantonsspital Liestal.« Er blätterte ein paar Seiten vor und zurück. »Ach, hier. Eine Nachbarin hat berichtet, dass sie seinen BMW letzte Nacht gegen 1 Uhr hat die Straße rauffahren sehen. Das Auto steht in der Einfahrt. Wir können also davon ausgehen, dass er der Tote ist.«

Neuenschwander holte ein Taschentuch aus dem Jackett und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Danach war es von schwarzen Schlieren überzogen. »Stärneföifi. Bin ich verdreckt?«

Jonas grinste. »Du siehst aus, als ob du das Feuer ganz alleine gelöscht hättest.«

»Verdelli.« Neuenschwander befeuchtete das Taschentuch mit Spucke und wischte sich damit über das Gesicht. »Hast du die Nachbarn nach Angehörigen des Toten gefragt?«

Jonas nickte. »Niemand kennt sie. Offenbar ist Brunner erst vor ein paar Jahren hierher gezogen und hat alleine gelebt. Ein Einsiedler, sagen die Nachbarn. Die Kollegen suchen in den Trümmern nach privaten Unterlagen. Ich habe die Nachbarn nach seinem Zahnarzt gefragt. Fehlanzeige. Im schlimmsten Fall müssen wir die Praxen in Liestal und Umgebung abklappern.«

Neuenschwander knurrte. »Das dauert zu lange.« Sie mussten sich schnell Gewissheit über die Identität des Toten verschaffen, und dazu brauchten sie die Röntgenbilder von Brunners Zahnarzt. »Fragt im Kantonsspital nach. Als Chefarzt hatte er bestimmt eine Sekretärin. Die weiß das vielleicht.«

Akim kam aus dem Nebenraum und trat neben sie. »Ich kann euch eine erste Einschätzung geben.« Sie nickten, und Akim kletterte voran die Leiter hinab. Im Erdgeschoss nahmen sie die Treppe in den Keller, Akim beleuchtete die Räume mit einer Taschenlampe. Das Feuer hatte eine schwarze Kohlengrube hinterlassen. Mit großen Schritten stiegen sie über zerborstene Weinflaschen, deren Inhalt mit dreckigem Löschwasser vermischt war.

Im Heizungskeller strahlte Akim mit seiner Lampe einen tellergroßen Fleck auf dem Boden an. Er wurde von der hellen Mitte gegen die ausgefransten Enden hin dunkler. Akim ging in die Hocke. »Das ist ein Gießmuster. Jemand hat hier eine Flüssigkeit ausgeleert und in Brand gesteckt. Die Flüssigkeit hat die Fläche darunter geschützt, während sich das Feuer über den Rand ausbreitete. Ähnliche Muster habe ich im Erdgeschoss und im ersten Stock entdeckt.«

Neuenschwander beugte sich zu dem Fleck hinunter. »Und was heißt das?«

Akim stand auf und schnaufte. »Brandstiftung, eindeutig.« Mit der Hand deutete er in Richtung Ausgang. »Kommt mit, da ist noch etwas.«

Der Kriminaltechniker ging voran, Neuenschwander folgte ihm auf dem Fuß. Im Gehen wandte er sich zu Jonas um. »Wir werden eine Sonderkommission einrichten müssen. Klär nachher gleich ab, wer überhaupt verfügbar ist.«

Sie stiegen die Treppe hoch und betraten durch die Haustür den Garten, wo Akim sich zum Haus umdrehte und auf die Fassade deutete. »Die meisten Fenster standen offen, als die Feuerwehr ankam. Das sagt der Einsatzleiter.«

Jonas runzelte die Stirn. »Und?«

»Der Luftzug sorgte dafür, dass der Brand richtig in Fahrt kam. Wer immer das Feuer legte, wollte auf Nummer sicher gehen.«

Neuenschwander kratzte sich am Hinterkopf. Da hatte jemand ganze Arbeit geleistet. Jemand, der sich mit Feuer auskannte. Mit dem Rücken zum Haus blickte er über Schaubs Schulter zu Michael Brunners Nachbarn hinter dem Absperrband, es waren sieben, acht Leute. Abseits von dem Grüppchen stand eine Frau, die die Arme eng um ihren Körper geschlungen hatte und ein Taschentuch gegen die Augen presste. Ihr Oberkörper wippte leicht hin und her. Sie maß bestimmt eins achtzig, hatte breite Hüften und schwarze, zerzauste Haare.

»Ein ungewöhnliches Feuer.« Akim tippte auf seine Notizen. »Der Brandstifter hat alles akribisch vorbereitet. Als er das Streichholz anzündete, ging das Haus hoch wie ein Feuerwerk am ersten August.« Er marschierte voran ins Haus und gab Neuenschwander ein Zeichen, mitzukommen. Schaub trottete hinter ihnen her.

Im Flur blieb Akim stehen und schnupperte. »Riecht ihr das?«

Neuenschwander sog die Luft durch die Nase ein. »Den Rauch meinst du nicht?«

»Nein. Da ist etwas anderes.«

Neuenschwander schloss die Augen, versuchte die Gerüche zu identifizieren. Verbranntes Holz, Plastik, Asche, mehr war da nicht. »Verdeckel, Akim. Rück raus mit der Sprache.«

Akim klopfte mit der Hand auf seine Tasche. »Ich werde die Proben im Gas-Chromatografen analysieren. Ich bin ziemlich sicher, dass als Brandbeschleuniger eine Mischung aus Diesel und Benzin verwendet wurde.«

Jonas reckte neugierig den Kopf. »Was heißt das?«

Akim lächelte. »Benzin brennt leicht, das Feuer erreicht eine hohe Temperatur und erlischt schnell. Wenn man Benzin aber im richtigen Verhältnis mit Diesel mischt, bekommt man einen völlig anderen Zündstoff, der die hohe Brenntemperatur des Benzins und die lange Brenndauer von Diesel vereint. Ein teuflisches Zeug.« Er blickte zuerst Neuenschwander und dann Schaub in die Augen und vergewisserte sich, dass er ihre volle Aufmerksamkeit hatte. »Hier waren Profis am Werk, kein Zweifel. Mehr weiß ich am Nachmittag.« Er tippte mit zwei Fingern an die Schläfe und ging nach draußen.

Jonas fischte eine Flasche Cola aus seinem Rucksack, nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. »Igitt, lauwarm.«

Neuenschwander pfiff zwischen den Zähnen hindurch. »Profis also. Wir werden das ganze Umfeld von Brunner unter die Lupe nehmen müssen. Im Kantonsspital fangen wir an. Noch etwas.« Er betrat ein verkohltes Zimmer im Erdgeschoss und deutete durch das Fenster zu den Nachbarn an der Absperrung hinüber. »Ich will, dass ein Kriminaltechniker Bilder von diesen Leuten macht. Speziell interessiert mich …« Er blickte über den Gartenzaun zur Absperrung. »Gopfridstutz.«

Die weinende Frau mit dem zerzausten Haar war weg.

4. Kapitel

Bollag klickte auf Abschicken und der Artikel verschwand von seinem Bildschirm. In seiner Reportage hatte er die Brandruine, die Aufräumaktion und die Bergung der Leiche beschrieben. Nach einer Recherche beim Grundbuchamt wusste er, dass die Villa unter Denkmalschutz stand und seit vier Jahren einem Arzt aus dem Kantonsspital gehörte. Den Namen ließ er weg, da die Polizei ihn noch nicht bestätigt hatte. Ergänzt mit einem Bild der Brandruine ergab das einen guten Aufhänger für den Lokalteil.

Bollag blickte aus dem Fenster. Die Sicht über die Kreuzung vor der Kantonalbank war nicht zu vergleichen mit dem Blick aus den Chefbüros, der auf die Altstadt hinausging. Die Größe seines Büros ließ ebenfalls zu wünschen übrig, es war nicht viel mehr als eine Besenkammer. Doch es war seine.

Gegenüber, im Hauptsitz der Kantonalbank, standen viele Schreibtische leer. Die Angestellten machten Mittagspause. Er wühlte in seiner Pultschublade, fischte eine angebrochene Packung Zwieback heraus und steckte sich ein Stück in den Mund. Hart, aber essbar. In seinen Schränken zu Hause sah es nicht besser aus. Auf dem Heimweg würde er ein paar Schnellgerichte in der Coop einkaufen.

Durch den Türrahmen spähte Bollag in den großen Newsroom. Seine Kollegin Tanja Schneider hatte Tagesdienst in der Lokalredaktion, ihre rot lackierten Fingernägel huschten über die Tastatur. Sie stoppte mit dem Tippen, sah zu ihm herüber und reckte den Daumen in die Höhe. Eben hatte sie seinen Artikel über den Brand bekommen.

Vor gut einem Jahr waren die meisten kleinen Büros der Redaktion herausgerissen worden. Nun teilten sich die Journalisten des Tagblatts, von Tele Nordwest und Radio Edelweiß ein Großraumbüro. Bollags Blick schweifte über die indirekte Beleuchtung, die weißen Designermöbel, den dunkelblauen Spannteppich im Newsroom.

Hinter Tanja besprachen sich Stephanie und Michael aus der Lokalredaktion, Claudia von Radio Edelweiß biss in ein Sandwich. In den ersten Wochen nach dem Umbau der Redaktion hatte Bollag selbst dort draußen gearbeitet. Die vielen Geräusche, das ständige Telefongeschnatter und der Mangel an Privatsphäre hatten ihm stark zugesetzt. Nicht zuletzt deswegen hatte er seine Stelle vor gut einem Jahr gekündigt. Auf Drängen des Chefredaktors war er nach zwei Monaten Pause zum Tagblatt zurückgekehrt, wobei er eine Bedingung gestellt hatte: ein eigenes Büro.

Das hatte er bekommen. Allerdings war die Tür seiner Kammer beim Umbau aus unerfindlichen Gründen verschwunden und bisher nicht aufgetaucht. Nun latschte jeder, der gerade Pause oder Lust auf einen Schwatz hatte, einfach in sein Reich.

Eben baute sich Lokalchef Adrian Rieder hinter Tanja auf und las über ihre Schulter seinen Artikel. Wenn der ihr bloß nicht ins Handwerk pfuschte und selbst redigierte. Zu Tanja hatte Bollag völliges Vertrauen, sie war ein Profi. Rieder hingegen war ein Aktenschieber und Dummschwätzer. Er verdankte seinen Aufstieg in erster Linie seiner Heirat der Tochter von Tagblatt-Verleger Hermann Pfister.

Bollag seufzte und blickte auf seine Aktenberge, die er nach dem geologischen Prinzip geordnet hatte: Das älteste Zeugs lag zuunterst. Er griff nach einem kleinen Stapel Papiere ganz oben und blätterte ihn durch: Fünf Tote bei Mord in Seewen.

Die Artikel stammten aus dem Jahr 1976, als in der kleinen Solothurner Gemeinde fünf Menschen erschossen worden waren. Es war der größte Mordfall in der neueren Geschichte der Nordwestschweiz, der Täter war nie gefasst worden. Bollag wollte den Fall in eine Sommerserie über ungeklärte Verbrechen in der Region aufnehmen. Er sollte Ende dieser Woche als dritter von sechs Teilen erscheinen. In der Sauregurkenzeit musste das Tagblatt dafür sorgen, dass die Seiten irgendwie voll wurden.

Bollag hatte in den vergangenen Jahren mehrere Artikel über den Mordfall geschrieben, selten hatte es Fortschritte zu vermelden gegeben. Er musste sich bei der Polizei nach dem neusten Stand erkundigen und griff zum Telefon.

»Ein Brief für dich.« Monika Ziegler vom Empfang stand im Türrahmen. Die rundliche Mittfünfzigerin wedelte mit einem weißen Couvert. Sie legte es oben auf den höchsten Stapel.

Auf dem Umschlag stand in einer schönen, schwungvollen Schrift Bollags Name. Er nahm das Couvert in die Hand, drehte es um. Der Absender fehlte. »Woher kommt der?«

»Keine Ahnung.« Monika zuckte mit den Schultern. »Ich bin kurz rausgegangen und habe mir einen Kaffee am Automaten geholt. Als ich zurückkam, lag er auf meinem Tisch. Das war vor …«, sie blickte auf ihre Uhr, »… etwa 20 Minuten. Entschuldige, ich muss zurück an den Empfang.« Sie winkte ihm zu und verschwand aus dem Zimmer.

Bollag befühlte den Umschlag, er war dünn und biegsam. Er riss ihn mit einem Bleistift unter der Lasche auf. Er enthielt einen ausgeschnittenen, vergilbten Zeitungsartikel aus dem Tagblatt.

Am Rhein verliert sich Tariks Spur

Birsfelden. pfu. Nach dem rätselhaften Verschwinden eines dreijährigen Jungen in Birsfelden hat die Polizei trotz intensiver Suche mit Helikoptern, Spürhunden und Polizeibooten keine Spur des Kindes gefunden. »Es gibt keine Anhaltspunkte«, sagte Polizeisprecher Daniel Villiger. Denkbar sei ein Unglück, ein Verbrechen könne jedoch nicht ausgeschlossen werden.

Tarik war am Dienstagnachmittag zuletzt im Bereich des Birsköpfli gesehen worden. Er hatte an den Spielgeräten geturnt, während sich seine Mutter wenige Meter entfernt auf der Wiese niedergelassen hatte. Die Mutter war nach Angaben der Polizei für ein paar Minuten eingenickt. Als sie aufwachte, war Tarik verschwunden.

Das Gelände liegt 50 Meter vom Rheinufer entfernt. Möglicherweise sei das Kind in den Fluss gefallen und habe es nicht mehr an Land geschafft, meinte Villiger. Zu Tariks Familie wollte der Polizeisprecher aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes keine Angaben machen. Er bestätigte lediglich, dass sie in Birsfelden wohnt.

Das Foto über dem Text zeigte einen Polizisten, der einen Schäferhund an der Leine führt und den Rhein entlanggeht. Ein paar Wörter waren mit verwischter Tinte auf das Foto geschrieben. Bollag bekam eine Gänsehaut.

Der Junge lebt!

5. Kapitel

Justizminister Lorenzo Cortesi machte eine Geste wie ein Zirkusdirektor, der den nächsten Artisten ankündigt. Petra Mangold setzte sich und sank tief im überdimensionierten, schwarzen Ledersofa ein. Cortesi hatte dicke Teppiche über das Parkett verteilen lassen, die Wände zierten historische Gemälde mit Bergen, Burgen und Seen. Vor den breiten Fenstern hingen keine Vorhänge, das Panorama mit Eiger, Mönch und Jungfrau kam hervorragend zur Geltung.

Auf dem Buchregal rechts, gut sichtbar für jeden Besucher, standen gerahmte Fotos: Cortesi mit George W. Bush, Cortesi mit Nelson Mandela, Cortesi mit Angela Merkel. Er bemerkte ihren Blick und vollführte eine Bewegung, die zwischen Achselzucken und Kopfnicken lag. »Ach, ich bin 15 Jahre Bundesrat, zwei Mal war ich Bundespräsident. Da trifft man viele Leute.« Er machte eine Pause und ließ sie über die Bedeutung seiner Worte nachdenken.

Mangold wollte sich nicht lumpen lassen. »Die Schweizer Bevölkerung kann sich glücklich schätzen, einen erfahrenen Mann als Justizdirektor zu haben, Herr Bundesrat.«

»Wenn jemand glücklich sein darf, bin ich das.« Er wedelte das Kompliment mit der Hand weg. »Es ist nicht selbstverständlich, dass ich meinem Land lange dienen durfte.« Cortesi zeigte ein breites Lächeln, das nicht bis zu den Augen reichte. »Nun, werte Kollegin, wie geht es Ihnen? Es muss sehr schwer gewesen sein, als Außenseiterin an die Spitze des Verkehrsdepartements gestellt zu werden. Sie haben in der Bundesverwaltung ja bei null anfangen müssen. Ich war zehn Jahre Ständerat und zwölf Jahre Nationalrat, bevor ich zum Bundesrat gewählt wurde. Haben Sie sich mittlerweile gut eingelebt?«

Der Ton irritierte Mangold, trotzdem gab sie Cortesi recht. Ihre Wahl an die Spitze des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation vor zwei Jahren war eine Überraschung für alle gewesen, besonders für sie selbst. Nach dem plötzlichen Tod ihres Vorgängers hatte sich das Parlament nicht auf einen Kandidaten aus den eigenen Reihen einigen können. Also war die Wahl auf die junge Berner Regierungsrätin gefallen, die aus der kleinen Grün-Demokratischen Partei stammte und nie auf der nationalen Bühne politisiert hatte. Dass sie ihnen vor die Nase gesetzt worden war, ließen altgediente Politiker Mangold bei jeder Gelegenheit spüren. »Mir geht es sehr gut. Mittlerweile kenne ich mich in allen Dossiers bestens aus.«

»Gut, gut, das freut mich. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich habe meine Pflichten vernachlässigt, hätte Ihnen als amtsältester Bundesrat mehr zur Seite stehen sollen.« Er wies mit der Hand auf ein paar dünne Akten, die auf seinem Pult lagen. »Die viele Arbeit. Sie wissen ja, wie das ist.« Er strich sich mit der Hand über die spärlich sprießenden Haare.

»Ich verstehe, dass Sie sehr beschäftigt sind. Ich hatte von Anfang an tolle Unterstützung von den Mitarbeitern in meinem Generalsekretariat.« Und doch hätte ihr eine Allianz mit dem mächtigsten Strippenzieher im Bundeshaus sehr geholfen.

Er schlug die Beine übereinander, die maßgeschneiderten Lederschuhe glänzten in der Sonne. »Im Bundesrat sind wir ein Team, wir müssen zusammenhalten … Sind Sie eine Teamplayerin?«

Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Noch immer verstand Mangold nicht, weshalb Cortesi sie kurz nach dem Mittagessen in sein Büro gebeten hatte. »Ich glaube, das habe ich in den vergangenen zwei Jahren zur Genüge bewiesen. Ich habe mich hinter die Entscheide des Bundesrats gestellt, selbst wenn ich nicht damit einverstanden war.«

Er spreizte die Finger, tippte die Fingerkuppen aufeinander. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie den Bau des zweiten Autobahntunnels durch den Gotthard infrage stellen. Das haben Sie nicht mit uns abgesprochen.«

Ach, daher wehte der Wind. Als Bundesrat aus dem Tessin unterstützte Cortesi natürlich den Bau einer zweiten Röhre durch die Alpen. Mangold hingegen grauste vor dem Mehrverkehr und der Umweltbelastung. Woher wusste Cortesi davon? Bisher hatte sie sich lediglich in ihrem engsten Umfeld dazu geäußert. »Mein Departement wägt das Für und Wider sorgfältig ab und wird dem Bundesrat eine Vorlage unterbreiten. Einen Mehrheitsentscheid der Regierung werde ich respektieren, wie immer er ausfallen mag.«

»Eine junge Frau wie Sie kann vielleicht nicht abschätzen, wie wichtig dieser Tunnel für unser Land ist. Deswegen bitte ich Sie, die Details der Vorlage mit mir zu besprechen, bevor Sie den gesamten Bundesrat informieren. Mit meiner Erfahrung kann ich Ihnen bestimmt helfen, bevor … Nun, wie soll ich es formulieren …?« Nachdenklich spitzte er die Lippen. »Bevor Sie Unbedachtes tun.«

Mangold setzte sich aufrecht hin, spürte Ärger in sich aufsteigen. »Ich danke Ihnen für das Angebot. Aus Gründen der Fairness kann ich darauf nicht eingehen. Und ich kann Ihnen versichern, dass ich nichts Unbedachtes tun werde.«

Er unterdrückte einen Seufzer, das Lächeln war verschwunden. »Ich wünschte, ich könnte mir da sicher sein. Leider hat sich in den vergangenen Monaten gezeigt, dass Ihre Entscheide nicht immer … nun ja … sehr vernünftig waren.«

Mangold zog die Augen zu Schlitzen zusammen. »Worauf wollen Sie hinaus?«

Cortesi machte ein Gesicht wie ein Lehrer, der einer ungezogenen Göre gegenüberstand. »Mir liegt viel daran, dass das Ansehen unserer Regierung keinen Schaden nimmt. Wir müssen uns vorbildlich verhalten, sowohl im beruflichen wie im privaten Bereich. Einige Kollegen im Bundesrat haben Zweifel geäußert, ob Ihr Privatleben diesen Ansprüchen genügt.«

Dieser arrogante Mistkerl! Abrupt stand sie auf. »Ich diskutiere gerne über politische Geschäfte mit dir, Lorenzo. Mein Privatleben geht dich überhaupt nichts an.« Bewusst hatte sie zum Du gewechselt, das inoffiziellen Gesprächen unter den Bundesräten vorbehalten war.

Sein Kopf fuhr zurück, als ob sie ihn geschlagen hätte. »Nun, es ist Ihre Entscheidung.« Cortesi stemmte sich langsam aus dem Sessel hoch, ging zur Tür. Mit der Hand am Griff blickte er von seinen fast 1,90 Metern zu ihr herab. »Junge Frau, Sie sollten auf gut gemeinte Ratschläge hören. Sonst werden Sie nicht mehr lange Bundesrätin bleiben.«

Die offene Drohung machte Mangold wütender, grußlos marschierte sie aus Cortesis Büro. Draußen, auf dem Weg vom Bundeshaus West zu ihrem Büro im Bundeshaus Nord, blieb sie auf dem glühend heißen Bundesplatz stehen und sah einer Gruppe Kinder zu. Zwischen den Fontänen des Wasserspiels tollten sie ausgelassen herum.

Mangold atmete durch. Es war nicht zu fassen, was sie sich da gerade hatte anhören müssen. Ja, sie war geschieden und hatte einen Lebenspartner. Klar passte das Cortesi, Mitglied der Schweizer Konservativen Partei, nicht in den Kram – zumal ihr Partner Journalist war. Vor einem guten Jahr waren sie und Bollag ein Paar geworden, keine Minute hatte sie es bereut. Den Teufel würde sie tun und diese Beziehung infrage stellen. Selbst wenn sie sich dadurch den mächtigsten Mann in der Bundeshauptstadt zum Feind machte.

6. Kapitel

Kinder standen im Rinnsal der Birs, bespritzten sich und kreischten. Auf der Wiese setzten sich wenige Männer in Shorts und Frauen in Bikinis der direkten Sonne aus, die meisten Badegäste hatten Schutz im Schatten gesucht. Ein Windhauch trug den Geruch von Bratwürsten herüber, zwei Teenager schleckten Glacés. Es fühlte sich an wie in den Sommerferien.

Bollag war zum Arbeiten hier. Er hatte das Auto bei der Schleuse abgestellt und war den Rhein entlang zum Birsköpfli spaziert. Wie abgemacht wartete Furrer dort, wo die Birs in den Rhein floss. Er war um die 50, füllig, im geröteten Gesicht trug er eine Hornbrille. Beim Händeschütteln war seine Hand feucht vom Kondenswasser einer Büchse Feldschlösschen. »Danke, dass Sie sich mit mir treffen.« Bollag sah sich um. Wo der wohl das kühle Bier herhatte?

Furrer winkte ab. »Einem Kollegen helfe ich gerne.«

»Sie waren ein guter Journalist.« Bollag meinte das Kompliment ernst, er hatte ein paar von Furrers Geschichten aus dem Archiv geholt. Vor 17 Jahren hatte der beim Tagblatt gearbeitet und den vergilbten Artikel im Couvert geschrieben, wie Bollag bei seiner Recherche festgestellt hatte. Heute verdiente der Exjournalist sein Geld mit der Kommunikation für eine große Krankenversicherung. »Vermissen Sie den Job?«

»Manchmal. Der Kitzel bei der Recherche, die Spannung vor Redaktionsschluss, das Hochgefühl nach einer Exklusivgeschichte – das vermisse ich. Und den Status. Damals hatte ich jederzeit direkten Zugang zu Firmenchefs und Regierungsräten. Heute grüßen die mich nicht einmal mehr.« Furrer schaute über den Rhein, auf seiner Oberlippe bildeten sich Schweißperlen. Er schien seinen Gedanken nachzuhängen. »Die unregelmäßigen Arbeitszeiten, den Termindruck – nein, das vermisse ich ganz und gar nicht. Ich bin dem Hamsterrad entkommen.« Er hob die Büchse wie zum Toast. »Und ich verdiene das Doppelte von früher.« Er nahm einen Schluck. »Sie sind verdammt gut, ich lese Ihre Artikel gerne. Kein Interesse an einem Jobwechsel? Bei uns in der Versicherungsbranche wird immer wieder etwas frei.«

Die Frage überrumpelte Bollag, ein Moment unbehaglichen Schweigens trat ein. Furrer war einer von ihnen gewesen, war den Mächtigen auf die Füße getreten, hatte Missstände aufgedeckt. Dann war er übergelaufen. Nun setzte er seine Erfahrung dafür ein, Probleme zu verschleiern, die Medien zu manipulieren. Auch Bollag fühlte sich zuweilen im Hamsterrad gefangen und hatte einen Jobwechsel mehrmals ins Auge gefasst. Als PR-Fuzzi bei einer Bank oder Versicherung würde er jedoch bestimmt nicht enden. »Danke, eine andere Stelle ist für mich kein Thema«, log er.

Furrer nahm einen letzten Schluck und warf die Büchse in einen Abfalleimer. »Sie wollen also über den verschwundenen Jungen sprechen? Darf ich fragen, wieso?«

Bollag berichtete von dem anonymen Brief. »Natürlich kann der Hinweis von einem durchgeknallten Leser stammen. Sie wissen selber, dass wir regelmäßig solche Sachen bekommen. In diesem Fall will sich allerdings niemand wichtigmachen, es gibt keinen Absender.«

»Das würde mich ebenfalls neugierig machen. Zumal die ganze Geschichte eigenartig ist. Gehen wir ein Stück?«

Sie spazierten in Richtung Kraftwerk, unterhalb der steilen Böschung ließen sich ein paar Schwimmer den Fluss hinabtreiben. Furrer sah sich um. »Viel verändert hat sich nicht.« Er blickte rückwärts. »Der Steg über die Birs ist neu.« Er deutete geradeaus. »Die drei hohen Wohnblöcke, die Liegewiese, diesen Weg, das alles gab es damals schon.«

Rechts auf einer Wiese turnten Kinder auf Klettergerüsten und einer großen Lokomotive aus Holz, sie bestiegen Schaukeln und Wippen. »Der Spielplatz sieht nicht viel anders aus. Dort hat ein Jogger den Jungen zum letzten Mal gesehen. Ich kann mich erinnern, dass es ein warmer Junitag war. Dort drüben ist die Mutter eingeschlafen.« Er wies auf den Rasen neben dem Spielplatz. »Wer wollte es ihr verübeln?«

Bollag nickte anerkennend. »Sie können sich verdammt gut erinnern, dabei ist das alles 17 Jahre her.«

»Ich habe ein Elefantengedächtnis.« Furrer hakte die Daumen in die Hosentaschen und grinste. »Und geholfen hat, dass ich über Mittag meine alten Artikel im Onlinearchiv gelesen habe.« Er machte sich auf den Weg Richtung der Treppe, die zum Rhein hinabführte. »Kommen Sie.« Er winkte Bollag, ihm zu folgen. Unten blieben sie vor einem Warnschild stehen: Zugang verboten ausgenommen für Schiffspersonal. Zuwiderhandlungen werden mit Bussen von 5 Franken bis 200 Franken geahndet.

Das Wasser floss träge unter ihnen, der Rhein maß an dieser Stelle weit über 100 Meter Breite. Die Böschung fiel steil ab und war mit Betonplatten bedeckt. Furrer zeigte auf die Treppenstufen. »Hier hat man die Schuhe des Jungen gefunden. Deswegen ging die Polizei davon aus, dass er am Wasser gespielt hat, hineingefallen und ertrunken ist.«

»Hat man damals andere Möglichkeiten überhaupt in Betracht gezogen?«

»Ich fand, dass die Polizei die Sache seriös angegangen ist. Der Einsatzleiter hieß Amsler, der hatte einen guten Ruf. Er hat eine aufwendige Suche durchführen lassen und ist jedem Hinweis nachgegangen.«

Eine junge Frau kreischte, als sie von zwei männlichen Teenagern 20 Meter flussabwärts ins Wasser geworfen wurde. »Sie sagten, dass Sie die Geschichte eigenartig finden. Was meinten Sie damit?«

»Ich habe mich mit Experten unterhalten. Menschen verschwinden nicht einfach im Rhein, früher oder später tauchen sie auf. Als Leichen.« Furrer deutete mit dem Kopf den Fluss hinab. »Die meisten werden im Rechen beim Kraftwerk Kembs gefunden, 20 Kilometer von hier.«

»Könnte der Junge nicht vorher hängen geblieben sein, an einem Baum zum Beispiel?«

»Kommen Sie, hier ist es mir zu heiß.« Furrer steuerte erneut auf die Treppe zu, wandte sich im Gehen halb um. »Er könnte sich durchaus unter Wasser in Ästen verfangen haben oder in einen Strudel geraten sein. Aber mit der Zeit bildet ein toter Körper Gase, die tragen ihn an die Oberfläche. Amsler hat mir erzählt, dass Leichen hier im Schnitt nach zwei Wochen auftauchen, in einem Fall dauerte es mal sechs Monate. Früher oder später findet man jedoch alle. Nur eben diesen Tarik nicht.«

Bollag folgte Furrer in den Schatten eines großen Baumes neben dem Spielplatz. »Tarik, was ist das für ein Name?« Sie blieben nebeneinander stehen.

»Die Eltern sind Türken.«

»Was hatten Sie für einen Eindruck von ihnen? Könnten sie etwas mit dem Verschwinden zu tun haben?«

»Ausgeschlossen. Das sind einfache, anständige Leute.«

»Meinen Sie, die Eltern würden sich mit mir treffen?«

Furrer zögerte, studierte eingehend den Asphalt. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«

»Warum?«

Furrer sah ihm in die Augen. »Diese Familie musste viel durchmachen. Die Mutter hatte einen Nervenzusammenbruch, landete im Spital. Für uns Journalisten war das ja bloß eine Geschichte, für die Familie jedoch der blanke Horror. Erst seit ich selber Kinder habe, kann ich das nachfühlen. Je länger ich weg vom Beruf bin, desto kritischer verfolge ich die Medien. Es wäre besser, wenn Sie die Familie in Ruhe ließen.«

Offenbar hatte die PR-Branche Furrers Gewissen geweckt. »Meinen Sie nicht, dass die Familie darüber entscheiden sollte? Ihren Namen finde ich auch selbst heraus.«

Furrer massierte sich den Nacken und nickte schwach. Schließlich zuckte er mit den Schultern. »Meltem und Altan Kaymaz. Damals wohnten sie in Birsfelden, vielleicht tun sie das heute noch. Ich glaube allerdings nicht, dass sie mit Ihnen sprechen werden.«

7. Kapitel

Am Nachmittag erreichte die Hitze ihren Höhepunkt: 37,6 Grad. Die Klimaanlage im Kantonsspital Liestal arbeitete auf Hochtouren. Viele ältere Menschen hatte Neuenschwander auf dem Weg in die Orthopädie im zweiten Stock in den Gängen gesehen. Ein starker Geruch von Putz- und Desinfektionsmitteln hing in der Luft. Eine Glasscheibe trennte den nüchternen Wartebereich vom Gang und den Fahrstühlen ab, davor schob eine junge Frau in einem grauen Overall einen Wischmopp über das Linoleum. Sie verlangsamte ihren Schritt und warf einen neugierigen Blick durch ihre Brille mit dicken Gläsern herein, bevor sie um die Ecke verschwand.

In den vergangenen 20 Minuten hatte Neuenschwander in einem Geo geblättert und das ausgelegte Menü der Kantine studiert: Fleischkäse, Salzkartoffeln und Spinat. Sein Magen knurrte.

Ein Arzt, komplett in Weiß gekleidet, betrat den Wartebereich, und Neuenschwander schob sich aus seinem Stuhl hoch. Der Arzt ignorierte ihn jedoch und schritt zu einer alten Dame, die in einer Ecke saß. Trotz der Hitze draußen trug sie eine Strickjacke über dem geblümten Kleid. Er beugte sich zu ihr hinunter, fasste mit der Hand um ihren Oberarm und sprach mit leiser Stimme in ihr Ohr. Die Alte hörte zu und nickte, schließlich lächelte sie.

Der Arzt richtete sich auf und kam mit ausgestreckter Hand auf Neuenschwander zu. Er war Mitte 40, klein und dünn. »Es tut mir leid, dass Sie warten mussten. Ich bin Dr. Konrad Dürst, der stellvertretende Chefarzt.« Sein Griff war weich wie labberige Nudeln. »In ein paar Minuten muss ich zurück in den Operationssaal. Ich habe nicht viel Zeit.«

Mit einer Handbewegung lotste er Neuenschwander in den Stationsflur, wo er neben drei Rollwagen stehen blieb. »Bei uns geht alles drunter und drüber. Der Tod von Dr. Brunner … Was für ein Schock.«

Wollte der ihn hier abfertigen? »Könnten wir uns für ein paar Minuten in ein Büro zurückziehen?«

Dürst schob den Ärmel seines rechten Arms zurück und schaute demonstrativ auf seine goldene Armbanduhr. »Wie gesagt, ich habe eine Minute. Ich bin sicher, dass ich Ihre Fragen hier beantworten kann.«

Der Tod seines Chefs schien ihn nicht sehr zu beschäftigen, ging es Neuenschwander durch den Kopf. »Wie ich Ihnen bereits am Telefon gesagt habe, ist die Identität des Toten nicht bestätigt. Einiges deutet allerdings darauf hin, dass es Ihr Kollege ist. Von Dr. Brunners Zahnarzt haben wir Röntgenbilder bekommen, die uns bald Gewissheit verschaffen werden.« Die Putzfrau hatte am Ende des Flurs kehrtgemacht und kam ihnen entgegen. Ihr Overall war ein paar Nummern zu groß, sie starrte geradeaus.

Das rechte Augenlid von Dürst zuckte, er sah erschöpft aus. »Und was wollen Sie von mir?«

Neuenschwander zückte sein Notizbuch. »Ich versuche, mir ein Bild von Dr. Brunner zu machen. Wie würden Sie ihn beschreiben?«

»Er war eine Kapazität. In der Chirurgie von Knie- und Hüftgelenken hat er neue Maßstäbe gesetzt.« Dürst hob ein Magazin von einem der Rollwagen, die im Flur herumstanden: Der Orthopäde. »Seine Artikel wurden in wichtigen Fachmagazinen weltweit veröffentlicht, er hat auf vielen Tagungen referiert. Ohne ihn hätten wir niemals so viele Forschungsgelder bekommen. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll.« Er legte das Magazin wieder hin.

Interessant. »Von welchen Summen sprechen Sie?« Eine Schiebetür aus weißem Glas glitt neben den Rollwagen zur Seite und eine Krankenschwester betrat den Flur. Neuenschwander erhaschte einen Blick in das Stationszimmer mit Computern, Drucker und Kaffeemaschine.

Dürst wartete, bis die Schwester ihn nicht mehr hören konnte. »Entschuldigen Sie, ist es normal, dass die Polizei nach einem Unfall solche Informationen einholt?«

Er war auf der Hut, Neuenschwander musste größeres Geschütz auffahren. »Es deutet einiges darauf hin, dass Dr. Brunner ermordet wurde.«

Die Lippen des Arztes formten ein stummes O.

»Also, Dr. Dürst, Sie sprachen von Forschungsgeldern.«

Dürst lehnte sich gegen einen der Rollwagen und verschränkte die Arme. Erneut blickte er auf die Uhr. »Sie denken doch nicht, dass das mit den Geldern zusammenhängt?«

»Das werden unsere Untersuchungen zeigen. Von wem stammen die Forschungsgelder?«

Dürst schaute den Flur hinunter, wo ein Patient einen Infusionsständer vor sich herschob. Er trug ein weißes Hemd, das hinten offen stand und sein nacktes Gesäß zeigte. »Diese Information darf ich Ihnen nicht geben, sie ist vertraulich.«

Neuenschwander wölbte die Hand hinter dem Ohr. »Wie bitte? Wir haben es hier vermutlich mit einem Mord zu tun. Ich denke, da können Sie eine Ausnahme machen.«

Dürsts Augenlid zuckte heftiger. »Nein, das kann ich nicht. Wir haben unsere Vorschriften. Sie müssen mir die Einwilligung der Spitaldirektion bringen. Schriftlich.«

»Wie Sie wollen.« Neuenschwander legte den Stift in sein Notizbuch. Das brachte nichts, er musste es auf eine andere Art versuchen. »Was für ein Mensch war Ihr Chef? War er beliebt bei den Angestellten?«

Dürst betrachtete angestrengt das glänzende Metall des Rollwagens, kratzte mit dem Fingernagel daran. »Dr. Brunner wurde von allen sehr geachtet. Klar, es gab ab und zu kleine Auseinandersetzungen. Das ist normal in einem großen Spital.«

»Sie kennen niemanden, der ihn nicht leiden konnte? Entlassene Mitarbeiter, verärgerte Patienten, eifersüchtige Freundinnen?«

»Nein, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«

»Wie war er privat? Hatte er viele Freunde?«

»Unser Verhältnis war rein beruflich. Und Dr. Brunner äußerte sich sehr selten über sein Privatleben. Soweit ich weiß, war er geschieden.« Dürst warf einen Blick auf die Uhr und breitete resigniert die Arme aus. »Es tut mir leid, ich …«

Dieser Kerl verschwieg etwas, da war sich Neuenschwander sicher. Er streckte die Hand zum Abschied aus. »Ich werde mit der Spitalleitung reden und wiederkommen.« Wieder bekam er einen Händedruck wie eine wässrige Suppe. »Und ich erwarte Antworten von Ihnen.« Hoffentlich brachte das den Herrn Doktor ein wenig ins Grübeln.

Mit einem angewiderten Gesichtsausdruck wandte sich Dürst ab und marschierte den Flur hinunter. Auf dem Weg zum Lift hörte Neuenschwander hinter sich quietschende Schritte. Der Wischmopp schob sich an ihm vorbei, die junge Frau ging plötzlich neben ihm her, wandte ihm das Gesicht zu und schaute ihn durch ihre dicken Brillengläser an. Ihr Haar trug sie unter einem grauen Kopftuch versteckt.

Neuenschwander blieb stehen. »Kann ich Ihnen helfen?«

Die Frau spähte den Flur rauf und runter, streckte die Hand aus.

Er ergriff ein Stück Papier. »Was ist das?«

Schnell wandte sie sich ab und schritt weiter durch den Gang, immer den Mopp vor sich herschiebend.

Neuenschwander schaute sich um. In einer Tür am anderen Ende des Flurs stand Dürst und blickte der Putzfrau nach, die um die Ecke verschwand. Neuenschwander hob zwei Finger zum Gruß in Richtung Dürst, ging zum Lift und drückte die Ruftaste. Hatte der Arzt die seltsame Aktion mitbekommen? Erst als sich die Lifttür hinter Neuenschwander geschlossen hatte, entrollte er das kleine Stück Papier in seiner Hand. Er musste seine Lesebrille aufsetzen, damit er die kleine Schrift entziffern konnte. Haltestelle, 18.30 Uhr.

8. Kapitel

»Sie haben was?!« Paul Sonderegger verwarf die Hände und ließ sich in einen Ledersessel fallen. »Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen, Cortesi gegen sich aufzubringen? Sie haben es wirklich vermasselt.«

Petra Mangold saß hinter ihrem Schreibtisch und runzelte die Stirn. Zwar kannte sich Sonderegger gut aus in Bern, kein Zweifel. Und er hatte eine beachtliche Karriere gemacht, trug seinen Lebenslauf geradezu an die Brusttasche seines Nadelstreifenanzugs geheftet: Abschluss in St. Gallen, Doktorat mit summa cum laude, schneller Aufstieg beim Bund und seit zwölf Jahren Generalsekretär des Verkehrsdepartements, die Nummer zwei hinter der Bundesrätin. Doch seine Ausbrüche gingen Mangold auf die Nerven. »Was, bitte schön, habe ich denn vermasselt?«

Er schnaubte. »Alles. Angefangen bei der Chance, jemals ein Geschäft durch den Bundesrat zu bringen, bis hin zu Ihrer Wiederwahl in einem Jahr.«

»Ich denke, Sie übertreiben.«

»Da täuschen Sie sich gewaltig. Cortesi hat im Bundeshaus bereits die Fäden gezogen, als Sie zur Schule gingen. Er kann Ihnen das Leben zur Hölle machen. Sie müssen sich bei ihm entschuldigen.«

Auf welcher Seite stand Sonderegger eigentlich? Mangolds Vorgänger Emil Stucki hatte ihn als Generalsekretär ins Amt gehievt, zuvor war Sonderegger Sprecher der Schweizer Konservativen Partei gewesen. Als Mangold vor zwei Jahren nach Stuckis Herzversagen an dessen Stelle getreten war, hatte sie sich entscheiden müssen: für den bisherigen Generalsekretär mit Beziehungsnetz und Know-how oder für einen unerfahrenen Parteikollegen. Sie hatte Sonderegger gewählt, obwohl der das Heu nicht auf der gleichen politischen Bühne hatte wie sie. In letzter Zeit fragte sie sich allerdings immer öfter, ob das nicht ein Fehler gewesen war. »Ich mich entschuldigen? Das kommt nicht infrage. Cortesi ist es, der eine Grenze überschritten hat.« Ihr Privatleben ging niemanden etwas an.

»Vielleicht, vielleicht nicht. Cortesi ist nachtragend, das kann ich Ihnen versichern. Und in einer Situation wie dieser ist es manchmal besser nachzugeben. Vor allem für jemanden, der nicht lange im Geschäft ist.« Sonderegger lehnte sich in dem dunkelblauen Ledersessel zurück und streckte die Füße von sich.

Den Sessel hatte Mangold von ihrem Vorgänger übernommen. Eigentlich mochte sie Leder nicht besonders, doch sie hatte zu Beginn ihrer Amtszeit anderes im Kopf gehabt als Büromöbel. Nun war es an der Zeit für ein paar Änderungen in der Direktion. Und Sondereggers Ton wollte sie sich nicht gefallen lassen, selbst wenn der 20 Jahre älter war. »Ich habe viel Erfahrung und einen guten Leistungsausweis. Von Politik verstehe ich mindestens so viel wie Sie. Oder sind Sie einmal in ein Amt gewählt worden?«

Sonderegger hob den Kopf. »Ja, natürlich, Sie haben mich falsch verstanden. Ich meinte, dass Sie in der Bundesverwaltung eine Außenseiterin sind.«

Zugegeben, das stimmte. Doch sie war immerhin die jüngste Gemeinderätin von Zweisimmen, jüngstes Mitglied des Berner Kantonsparlamentes und die jüngste Regierungsrätin in der Geschichte des Kantons Bern gewesen. Und mit gerade mal 37 Jahren hatte sie als erste Grün-Demokratin der Schweiz die oberste Sprosse der Leiter erklommen: den Bundesrat. »Entschuldigen werde ich mich auf keinen Fall bei Cortesi. Haben Sie einen anderen Vorschlag?«