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Rolf von Siebenthal

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Beschreibung

Der Tod einer Journalistin wühlt die Redaktion des Liestaler Tagblatts auf. Max Bollag ist überzeugt davon, dass seine Kollegin wegen einer Recherchearbeit sterben musste. Gemeinsam mit einer jungen Volontärin macht er sich auf die Suche nach dem Täter. Sie kommen einem Ring von skrupellosen Betrügern auf die Spur und dringen in dessen Netz ein. Bollag nähert sich der Wahrheit und wittert eine große Story. Erst spät merkt er, dass er sie mit seinem Leben bezahlen könnte.

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Rolf von Siebenthal

Schlagzeile

Kriminalroman

Über das Buch

Eiskalt Während die Menschen auf den Baselbieter Straßen Fasnacht feiern, ist die Stimmung beim Tagblatt in Liestal gedrückt. Die Journalistin Tanja Schneider ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Gleichzeitig hat der neue Verleger einen massiven Stellenabbau angekündigt. Max Bollag ist überzeugt davon, dass seine Kollegin umgebracht wurde. Er ignoriert die Anweisungen seiner Chefin und macht sich auf die Suche nach dem Täter. Unterstützung bekommt er dabei von der jungen Volontärin Rebecca Tobler. Die Kollegin entpuppt sich als fähige Journalistin mit einem guten Riecher. Sie hält auch dann noch zu Bollag, als der selbst ins Visier der Polizei gerät. Denn einiges deutet darauf hin, dass er Tanja ermordet hat. In der Folge lässt das Tagblatt Bollag fallen, und ein übereifriger Staatsanwalt macht Jagd auf ihn. Derweil ringt Kripo-Chef Heinz Neuenschwander mit seinem Gewissen: Ist Bollag tatsächlich der Mörder?

Rolf von Siebenthal, Jahrgang 1961, ist ausgebildeter Sprachlehrer. Er arbeitete viele Jahre bei einer Tageszeitung und im Schweizer Verkehrsministerium, heute ist er selbstständiger Journalist und Texter. Er lebt mit seiner Familie in der Nordwestschweiz.

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Höllenfeuer (2014)

Schachzug (2013)

Impressum

Dieses Buch wurde vermittelt durch

die Literaturagentur Lesen & Hören, Mechler

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

ISBN 978-3-8392-4784-6

Widmung

Für Friedy und Alfred

1

Unter dem Blaulicht des Krankenwagens blinkten die Schneehaufen grell wie eine Leuchtreklame. Mitten auf der Straße stand ein Polizist und fuchtelte mit seiner Stablampe herum, als ob er einen Airbus zum Abstellplatz dirigierte.

»Verdammt noch mal.« Mit den Fingern trommelte Bollag auf sein Lenkrad. »Macht endlich den Weg frei.«

Doch die beiden Automobilisten vor ihm hatten es nicht eilig und begafften Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter rings um den Allschwiler Weiher. Es dauerte ewig, bis sie Gas gaben.

Bollag setzte den linken Blinker zum Parkplatz, der Polizist mit der Stablampe stellte sich augenblicklich vor seine Motorhaube. Einer von diesen glattrasierten jungen Kerlen, die mit dem Dienstreglement auf dem Nachttisch einschliefen. Die ließen nicht mit sich reden. Bollag stöhnte. Also wieder tricksen. Er ließ die Scheibe halb herunter. »Ist Kripo­-Chef Neuenschwander schon hier?«

Der Polizist ließ den Arm sinken und kam heran. »Noch nicht. Und wer sind Sie?«

Bollag streckte ihm seinen Presseausweis entgegen. »Ich bin vom Tagblatt, Neuenschwander kommt bestimmt gleich. Sagen Sie ihm, dass ich mich beeilt habe. Danke.« Ohne ein weiteres Wort schloss er die Scheibe und lenkte seinen Polo auf den Parkplatz. Im Rückspiegel sah er den Polizisten noch mit der Lampe wedeln, schließlich wandte der sich aber doch dem nächsten Auto auf der Gemeindestraße zu.

Bollag fuhr bis ans hintere Ende des langgestreckten Parkplatzes von der Form eines U, in dessen Mitte sich zusammengeschobener Schnee türmte. Natürlich hatte ihn nicht Neuenschwander aus dem Bett geholt; der bärbeißige Kripo-Chef hätte ihn eher zum Teufel gejagt.

Sein Handy steckte in der Innentasche der Jacke, Bollag holte es heraus und drückte die Wahlwiederholung. Es klingelte vier-, fünfmal. Verflucht, so eine Unfallmeldung ließ sich Tanja doch sonst nie entgehen. Nur weil die Kollegin nicht erreichbar gewesen war, hatte der Tagblatt-Portier schließlich ihn geweckt. Um 5.40 Uhr an einem Sonntagmorgen! In wessen Bett Tanja wohl ihren Dienst verpennte?

Bollag stieg aus dem Wagen, die Scheißkälte umklammerte ihn sofort. Er war ein Idiot! Er hätte die Winterstiefel anziehen, die Handschuhe und die Mütze mitnehmen sollen. Bollag rieb die Hände aneinander.

Geruch von Diesel hing in der Luft, Generatoren ratterten. Gegen den Weiher hin fiel der Parkplatz leicht ab, Scheinwerfer erhellten ihn wie eine Theaterbühne. Dem Ufer entlang verlief eine schneebedeckte Straße, zwei Pa­trouillenfahrzeuge der Polizei sperrten sie ab. 20 Meter entfernt standen ein Krankenwagen, ein Feuerwehrauto und zwei Transporter mit offenen Hecktüren, weiter vorn ein Abschleppwagen wie wild geparkt.

Also los.

Bollag schritt links um die Baracke am Uferweg, deren Wände mit Graffiti bedeckt waren: Vergiss die Waffen – Armee abschaffen! Ein Abschleppwagen, der rückwärts zum Weiher stand, versperrte ihm die Sicht auf die Rettungsarbeiten. Bollag entschied sich für den Weg zurück und zur anderen Seite der Baracke. Dort, ein Stück entfernt, ragte eine kleine gemauerte Plattform in den Weiher hinaus.

Vorsichtig trippelte Bollag über den rutschigen Boden bis zu den zwei Bänken auf der Plattform, ein Abfallkübel quoll über mit Verpackungen von McDonald’s. Er machte drei Schritte bis zum Drahtzaun, lehnte sich vor und blickte durch kahle Büsche über den Weiher. Er maß etwa 50 mal 20 Meter, Eis bedeckte die gesamte Fläche bis auf ein klaffendes Loch. Im Licht der Scheinwerfer funkelte zwischen den Eisschollen das Heck eines dunkelblauen Autos – ein kleiner Wagen, ein Opel vielleicht. Wie er in den Teich hi­neingekommen war, ließ sich anhand der Lücke im Schneewall und des heruntergerissenen Zauns leicht nachverfolgen. Er musste mit einiger Geschwindigkeit auf das Eis geprallt sein.

»Was macht denn Sigi so lange? Ist der abgesoffen?«, rief ein Feuerwehrmann neben dem Abschleppwagen. Die gelben Streifen auf seiner Brandschutzweste leuchteten.

Mit klammen Fingern öffnete Bollag seine Jacke und holte einen Notizblock aus der Innentasche. Er zeichnete eine kleine Skizze: der Weiher, die steile Böschung, darauf Bäume und Sträucher, die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite, das Auto im Eis.

In den Fenstern der Wohnsiedlung hinter dem Weiher entdeckte Bollag dick vermummte Gestalten. Vielleicht war es jemand von dort gewesen, der am frühen Morgen beim Tagblatt angerufen und vom Unfall berichtet hatte. Für solche Tipps zahlte die Zeitung 50 Franken – diesmal war das eine gute Investition. So ein spektakulärer Unfall mitten in Allschwil würde es vielleicht auf die Frontseite schaffen.

»Er kommt«, hallte es vom Feuerwehrmann am Abschleppwagen über das Eis.

Mit einem Zischen tauchte neben dem versunkenen Auto der Kopf eines Tauchers auf. Er nahm den Atemregler aus dem Mund. »Verdammt, ist das kalt. Meine Eier sind klein wie Nüsse.«

»Dann hat deine Sandra ja was zum Knacken heute Abend«, rief ihm ein Kollege vom Ufer zu. Die Polizisten und Feuerwehrleute lachten.

Dumme Sprüche halfen beim Stressabbau – Bollag kannte das aus der Medienbranche.

Der Taucher hob eine Hand aus dem Wasser und machte damit eine Kreisbewegung. »Das Auto hängt am Haken.«

»Rausziehen!«, befahl am Ufer ein Polizist mit Pelzmütze.

Der Fahrer des Abschleppwagens ließ den Motor an und setzte die Winde in Gang. Das Seil spannte sich langsam, zog sich straff. Das Eis knackte, Wellen schwappten über, dann geriet das Auto langsam in Bewegung. Die ganze Hecktür tauchte auf, die Seitenfenster, die Hinterräder. Eindeutig ein Opel Corsa, der im Flutlicht metallicgrün funkelte.

Die Winde zog den Opel sachte ans Ufer, dann die Böschung herauf, kurze Kommandos der Feuerwehrmänner begleiteten die Aktion.

Erst als der Corsa dicht hinter dem Abschleppwagen auf der Uferstraße stand, stellte der LKW-Fahrer die Winde ab. Bollag machte auf der Plattform kehrt und schlenderte bis auf etwa 20 Meter an das geborgene Auto heran. So störte er das Unfallteam nicht und hatte alles im Blick. Dellen am rechten Kotflügel wiesen auf den Aufprall hin, ansonsten sah der Wagen überraschend unversehrt aus.

Als auf der gegenüberliegenden Seite der Polizist mit der Pelzmütze die Fahrertür öffnete, rauschte ein Schwall Wasser auf den Schnee der Uferstraße.

»Verflucht.« Mit einem Sprung brachte sich der Mann in Sicherheit. Er wartete ein paar Sekunden, dann trat er wieder vor und leuchtete mit der Taschenlampe in den Innenraum. »Da liegt jemand. Eine Frau. Jung.«

Die Männer um ihn herum hielten inne. Bollag stellte sich auf die Zehenspitzen, konnte jedoch nichts erkennen. Die Frau musste auf den Sitzen oder im Fußraum liegen.

»Überprüft das Kennzeichen.« Pelzmütze klemmte die Taschenlampe unter den Arm, beugte sich in das nasse Wrack, tauchte nach einer Weile wieder auf. »Kein Portemonnaie, keine Fahrzeugpapiere.«

Verfluchte Kälte. Bollag fror sich den Arsch ab. Das hier würde sich bestimmt noch eine Weile hinziehen. Wie auch immer, er hatte genug Informationen beisammen. Die Eindrücke vor Ort konnte er in den Artikel einfließen lassen, den Tanja schreiben würde. Schließlich hatte er heute frei. Bollag holte das Handy aus seiner Jacke, kurz vor sieben müsste sie doch mal aufstehen. Er wählte ihre Nummer, hörte das Rufzeichen.

»Herrgott!« Pelzmütze machte einen Satz rückwärts. Dann näherte er sich erneut dem Opel, bückte sich, griff hinein, holte etwas heraus. Das Gerät in seiner Hand spielte ein Stück von Coldplay. »Mann, das Mobiltelefon hat mich echt erschreckt. Ein Wunder, dass das noch funktioniert.«

Bollag runzelte die Stirn. Dieser Klingelton …

Ein Feuerwehrmann blickte Pelzmütze über die Schulter. »Nein. Diese Outdoor-Handys sind praktisch unverwüstlich.«

Pelzmütze hielt das Handy vor sein Gesicht. »Offensichtlich.«

»Willst du nicht abnehmen?«

Bollag presste das Handy fester an sein Ohr, hörte das Rufzeichen. Verdammt, Tanja!

Pelzmütze drehte den Kopf. »Spinnst du? Das ist vielleicht ihr Freund oder Vater. Was soll ich dem denn sagen?«

»Wie heißt das arme Schwein?«

Pelzmütze studierte das Display. »Max Bollag.«

2

Das Tor der stillgelegten Fabrik in Frenkendorf quietschte in den Angeln, als Kripo-Chef Neuenschwander ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen gab. Krachend fiel es hinter ihm ins Schloss. Er stampfte auf den Hallenboden und befreite seine Stiefel von Schnee und Eis. Der Wind pfiff durch die Fugen der Blechwände, hier drin war es nicht wärmer als draußen. Von oben warfen Neonröhren helles Licht auf akkurat aufgereihte Fahrzeuge: vorn ein zerbeulter VW Golf, in der Mitte ein Toyota Hilux ohne Motorhaube und Windschutzscheibe, dahinter ein total zerfetztes Autowrack ohne erkennbare Marke. »Akim?«, rief Neuenschwander.

»Hier hinten, Chef.«

An einem weiteren Dutzend Fahrzeugen vorbei schritt er durch die Halle, in der die Kriminaltechniker sie in Augenschein nahmen, bevor sie ins Labor gebracht wurden.

»… 5 Uhr früh«, hörte er seinen Assistenten sagen. Feldweibel Jonas Schaub schaute durch das Seitenfenster ins Innere eines Opel Corsa.

Akim Oecal, der Leiter der Forensik, stand daneben und sah mal wieder aus wie ein Banker auf dem Weg zur Aktionärsversammlung: eleganter schwarzer Mantel, Hosen mit Bügelfalte, perfekter Krawattenknoten über dem weißen Hemd. »Und keine Zeugen? Der Weiher liegt doch mitten in einem Wohngebiet.«

»Bis jetzt hat sich niemand gemeldet. Aber wir klappern die Anwohner ab.« Jonas blickte auf. »Morgen, Heinz.«

Neuenschwander knurrte bloß. Seine Partnerin Brigitte hatte ihn an diesem Sonntagmorgen eigentlich zu einem Brunch eingeladen. Nach Akims Anruf hatte er absagen müssen. Jetzt war es bald 10 Uhr, und er hatte immer noch nichts im Magen. »Wehe, wenn das hier Firlefanz ist.«

Akim rückte den Krawattenknoten zurecht. »Die Blechschäden deuten darauf hin, dass das Auto beim Aufprall 30 bis 40 Stundenkilometer draufhatte.«

»Spar dir die Details.« Für derlei stand Neuenschwander nicht der Sinn. »Am Telefon hast du gesagt, es sei dringend.«

Mit dem Kinn wies Akim auf die Fahrertür. »Ich will es euch zeigen.« Seine glänzenden Lederschuhe klackten über den Betonboden, als er um den Corsa herumschritt. »Die Frau hatte keinen Sicherheitsgurt umgelegt, als die Kollegen sie mit dem Wagen aus dem Weiher fischten.« Akim zog am Griff, die Fahrertür ließ sich ohne Schwierigkeiten öffnen.

»Sollen wir ihr einen Strafzettel schicken oder was? Das wird ja kaum der Grund sein, weshalb du uns am Sonntagmorgen hierher bestellt hast.« Neuenschwander trat eine leere Zigarettenschachtel zur Seite und verschränkte die Arme. »Komm schon, Akim.«

Jonas bückte sich und betrachtete den Sicherheitsgurt. Der Ausschnitt seiner schwarzen Windjacke zeigte ein hellblaues Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Ein ungewohnter Anblick bei Jonas, der sonst einen Hang zu schrillen Farben hatte. Er musste mit seiner neuen Freundin einkaufen gegangen sein.

»Könnte die Frau den Gurt nicht selber gelöst haben, als sie sich befreien wollte?«, fragte Jonas.

»Könnte schon, hat sie aber nicht.« Akim nahm den Gurt in seine schwarzen Lederhandschuhe, fuhr mit dem Daumen über das Gewebe. »Das Nylon weitet sich bei einem Aufprall aus. Doch hier fehlen die Dehnungsstreifen.«

Den Befund würde Neuenschwander ungelesen unterschreiben, Akim irrte sich nie. »Und?«

Akim ließ den Gurt sinken, schritt zur Motorhaube und wies links auf die gesprungene Windschutzscheibe. Wie ein Spinnennetz zogen sich Risse darüber, dessen Zentrum vor dem Beifahrersitz lag. »Hier ist die Frau mit dem Kopf gegen die Scheibe geprallt. Wenn sie selbst am Steuer gesessen hätte, wäre das an dieser Stelle nicht möglich.«

Deshalb hatte Akim ihn geholt, Fremdverschulden stand im Raum. Neuenschwander ging um das Auto herum und schaute durch das Beifahrerfenster. »Du meinst, jemand anderes saß am Steuer?«

Mit einer Hand fuhr Akim sich durch das akkurat gescheitelte Haar. »Ich denke, dass sich die Frau beim Aufprall alleine im Auto befand. Sonst hätten wir am Weiher Spuren finden müssen. Doch selber ins Wasser gefahren ist sie nicht.« Er marschierte zurück zur offenen Fahrertür und wandte sich an Jonas. »Wie groß war sie?«

Der öffnete seine Schultertasche, nahm ein Aktenmäppchen heraus und fuhr mit dem Finger über die Einträge darin. »1,61 Meter.«

Akim ging in die Knie und deutete in den Fahrgastraum. »Schaut mal, wie weit der Sitz zurückgeschoben ist. Der Fahrer maß bestimmt 1,80.«

Neuenschwander stellte sich hinter ihn und blickte über Akims Schulter. Reste von Wasser bedeckten die Fußmatten, CDs, durchweichte Papiertaschentücher und Straßenkarten lagen herum, es roch modrig. Tatsächlich, mit dieser Sitzstellung hätte eine so kleine Frau das Pedal kaum erreichen können.

Akim richtete sich vor ihm auf. »Ich stelle mir das so vor: Eine große Person hat das Auto nach Allschwil chauffiert, die Frau saß auf dem Beifahrersitz. Auf dem Parkplatz hat der Fahrer das Auto in Position gestellt und den Gang eingelegt. Vermutlich war die Frau zu diesem Zeitpunkt bewusstlos oder bereits tot. Er ließ den Wagen langsam anrollen und sprang raus. Der Parkplatz fällt gegen den Weiher hin ab. So konnte das Auto genug Fahrt aufnehmen, um den Schneewall und den Zaun zu durchbrechen. Raste aufs Eis, brach ein. Dann versank es im Weiher.«

Verdellisiech, das hätte er sich ja denken können. Natürlich hätte ihn Akim nie ohne Grund am Sonntagmorgen hierher bestellt. Neuenschwanders Ärger verflog auf der Stelle. »Mord also.«

»Davon gehe ich aus. Ich werde den Corsa gleich in die Gutsmatte bringen lassen. In unserer Labor-Werkstatt kann ich ihn genauer untersuchen.« Akim holte sein Handy aus der Manteltasche, drückte eine Taste, tippte sich mit zwei Fingern der anderen Hand an die Stirn und marschierte in eine Ecke der Halle.

Neuenschwander wartete, bis er Akim ins Handy sprechen hörte. »Was wissen wir schon über das Opfer?«

Jonas blätterte in seinen Unterlagen. »Tanja Schneider, 32 Jahre alt, ledig, wohnhaft in Binningen.« Er blickte hoch. »Du hast bestimmt schon etwas von ihr gelesen. Der Artikel letztes Jahr über unsere Probleme mit dem Polizeifunk, der stammte von ihr.«

Neuenschwander riss den Kopf hoch. »Die Journalistin? Tanja Schneider vom Tagblatt?«

Jonas nickte.

»Hueresiech. Natürlich kannte ich die. Mehr als einmal hat die mich genervt, so stur war sie … Stur, aber korrekt. Kein einziges Mal konnte ich ihr einen Fehler nachweisen.« Verflucht, die Medien würden ihnen die Hölle noch heißer machen als sonst. »Wir müssen sofort eine Sonderkommission zusammenstellen. Schau in der Zentrale nach, wer verfügbar ist.«

Jonas steckte die Aktenmappe zurück in die Schultertasche. »In Ordnung.« Er holte eine Flasche Cola heraus und öffnete sie zischend.

Neuenschwander schlang die Arme um sich. »Komm, lass uns in die Gutsmatte fahren. Ich brauche etwas zu beißen.«

Sie schritten auf das Tor zu, Neuenschwander schüttelte den Kopf. »Bestimmt gefriert dir dieses Zeugs im Magen. Bei dem Wetter solltest du Kaffee trinken. Oder Tee.«

»Im Gegenteil. Nichts geht über eiskalte Cola.« Jonas nahm einen Schluck, hielt inne. »Das Tagblatt hat übrigens schon Wind davon gekriegt. Die Kollegen haben erzählt, dass Bollag in der Früh am Allschwiler Weiher aufgetaucht ist.«

Neuenschwander blieb stehen. »Gopfridstutz.« Bollag, dieser Terrier, war an normalen Tagen eine Nervensäge. Nach dem Mord an einer Kollegin würde der sich zu einer biblischen Plage entwickeln. »Wusste er, wer das Opfer war?«

Jonas rückte das Gestell seiner Metallbrille zurecht. »Die Kollegen sagen, dass er zunächst alles aus der Ferne beobachtet habe. Plötzlich habe er die Fassung verloren und herumgetobt. Er wollte die Frau aus dem Wagen holen, schrie nach einem Arzt. Zwei Kollegen mussten ihn vom Unfallort wegzerren, sonst hätte er alle Spuren vernichtet.«

Neuenschwander griff nach der eiskalten Klinke und öffnete das quietschende Tor. Für Journalisten hatte er normalerweise nichts übrig. Doch diesmal empfand er Mitleid.

3

Bollag saß da mit den Ellenbogen auf den Knien und starrte auf das Parkett seines kleinen Büros. Er fühlte sich wie ein Boxer im Ring, der gerade eine Abreibung erhalten hatte. Er hing in den Seilen, suchte eine Strategie gegen einen übermächtigen Gegner. Doch er wusste, dass er sich geschlagen geben und den Ring als Verlierer verlassen musste.

Er hob den Kopf, starrte ein paar Worte auf dem Monitor an: Sie wollte immer das Schlechte gut und das Gute besser machen.

Lange hatte Bollag am Schreibtisch über dem Satz gebrütet, ihn umgeschrieben, gelöscht, die nächste Variante ausprobiert, auch die gelöscht. Am Ende gab er sich mit der ersten Version zufrieden – nachdem er endlich begriffen hatte, dass er Tanja mit keiner Zeile wirklich gerecht werden konnte.

Durch die Tür sah er, dass sich der Newsroom des Tagblatts nach und nach füllte. Normalerweise war an einem Sonntag nur ein reduziertes Team im Einsatz. Doch dies war kein normaler Sonntag. Die Nachricht von Tanjas Tod hatte sich herumgesprochen, viele kamen spontan nach Liestal, setzten sich in kleinen Grüppchen zusammen und versuchten, mit der Trauer klarzukommen.

In einer kurzen Besprechung hatten die verantwortlichen Redakteure den Beschluss gefasst, dass sie ihrer toten Kollegin eine Doppelseite widmen würden. Und jeder sollte einen Satz über Tanja beisteuern.

Sie wollte immer das Schlechte gut und das Gute besser machen.

Tanjas bleiches Gesicht, die blassblauen Lippen, der Pferdeschwanz aus feuchten, dunkelblonden Haaren. Am Weiher hatte er sie in den Arm nehmen wollen, nach Hilfe geschrien. Schließlich hatten ihn zwei Polizisten abgeführt. Auch jetzt konnte er es immer noch nicht glauben, wollte es nicht glauben. Tanja, seine beste Freundin in der Redaktion, war tot.

Der Himmel hing bleigrau über der Kantonalbank gegenüber. Wie viele andere Journalisten auch hatte Bollag über Hausbrände und Verkehrsunfälle geschrieben, mit trauernden Angehörigen gesprochen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, eine Distanz zwischen sich und die Schreckensbilder zu bringen. Ging es jedoch um eine Freundin, nützten all die sorgfältig entwickelten Bewältigungsstrategien nichts.

Bollag streckte sich im Stuhl. Alles tat weh.

Im Newsroom saßen Stefanie Gyr und Michael Lipp von der Lokalredaktion mit hängenden Schultern auf ihren ergonomischen Stühlen und starrten auf die Monitore. Bollag hörte keine Spötteleien, niemand tratschte vor der Kaffeemaschine, keiner fluchte über die Konkurrenz. Die Stimmen blieben gedämpft, sogar das Klingeln der Telefone schien leiser als sonst.

Aber sie mussten eine Zeitung produzieren. Und jeder Einzelne würde sich voll ins Zeug legen – zum Gedenken an Tanja.

Dokumentalistin Alexandra Rüegger grub im Archiv Artikel aus, die Tanjas Schreibtalent unter Beweis stellten. Die Layouter bastelten eine Collage aus prägnanten Überschriften. Fotograf Roland Ulrich suchte Bilder, die ihre Kollegin im Einsatz für das Tagblatt zeigten: im Landrat, an Pressekonferenzen, bei Interviews.

Bollag öffnete ein neues Textdokument und zwang sich in den Journalistenmodus. Er schuldete Tanja einen richtig guten Text, verdammt noch mal.

Für die Frontseite der Montagsausgabe schrieb er in den folgenden zwei Stunden eine Reportage über den Unglücksort in Allschwil, legte den Fokus auf die Arbeit der Einsatzkräfte und das Bergen des Autos. Mehrfach rief er die Polizeizentrale an und erkundigte sich nach dem neusten Stand. Jedes Mal vertröstete ihn der stellvertretende Polizeisprecher. Die Autopsie sei für Montag angesetzt, die Kriminaltechniker untersuchten noch das Fahrzeug, zurzeit gebe es weder eine offizielle Ursache noch einen genauen Zeitpunkt für den Tod der jungen Frau.

Es war zum Verrücktwerden. Doch wie die Polizei Tanjas Tod einstufte, spielte keine Rolle. Bollag griff nach einem Bleistift auf seinem Pult und drehte ihn zwischen seinen Fingern. Er wusste Bescheid. Nie und nimmer hätte die Frohnatur Tanja, die unaufhörlich Zukunftspläne schmiedete, sich das Leben genommen. Sie war ein Mensch voller Tatendrang gewesen, hatte kurz vor dem Umzug in ihre Traumwohnung im Basler Gundeli-Quartier gestanden. Nein, Selbstmord schloss er kategorisch aus.

Aber auch ein Unfall kam nicht infrage. Total besoffen hätte Tanja sein müssen, um auf diese Weise in den Allschwiler Weiher zu krachen. Dabei trank sie höchstens mal ein Glas Weißwein und nie, wenn sie selbst am Steuer saß.

Es blieb nur Mord übrig. Irgendein Arschloch hatte Tanja umgebracht. Mit einem Knacken zerbrach der Bleistift in seiner Hand. Tanja, seine Kollegin. Seine Fast-Freundin. Umgebracht.

Vor zwei Jahren, in den Monaten nach der Trennung von seiner Ehefrau, wären sie beinahe zu einem Paar geworden. Bollag hatte sich zu Tanja hingezogen gefühlt, sie hatte seine Gefühle wohl erwidert. Dass der Funke dann doch nicht richtig übergesprungen war, hatte nicht zuletzt am Altersunterschied gelegen. Bollag hatte sich als Mentor der gut zehn Jahre jüngeren Kollegin betrachtet, hatte sich verantwortlich für sie gefühlt.

Daran änderte ihr Tod nichts, im Gegenteil. »Dieses Arschloch werde ich kriegen, Tanja, das schwöre ich dir.« Er warf den kaputten Bleistift in den Abfalleimer.

Tanja hatte eine Spürnase für Geschichten besessen und nie lockergelassen. So hatte sie sich einflussreiche Feinde gemacht. In der Woche vor ihrem Tod hatte Bollag sie kaum zu Gesicht bekommen. Sie musste intensiv an einer Geschichte gearbeitet haben.

Er blickte hinüber in den Newsroom. Die grünen Leuchtziffern der Uhr an der hinteren Wand zeigten 16.10, Tanjas Schreibtisch stand verwaist inmitten der aufgereihten Designermöbel. Nie mehr würde sie dort sitzen. Von seiner Besenkammer aus hatte Bollag ihr oft dabei zusehen können, wie ihre rotlackierten Fingernägel über die Tastatur geflogen waren. Im Licht ihrer Schreibtischlampe hatten die Armreifen geglitzert – eine Sammlung von schmalen Ringen aus verschiedensten Metallen, die sie immer um ihr linkes Handgelenk getragen hatte. Einen goldenen Armreifen mit Schuppenmuster hatte er selbst ihr zum 30. Geburtstag geschenkt.

Der Cursor auf Bollags Bildschirm blinkte unaufhörlich, er musste diesen Artikel zu Ende bringen. Ob er es nochmals beim Polizeisprecher versuchen sollte? Bollag streckte die Hand nach dem Telefonhörer aus.

Moment.

Wenn er es sich recht überlegte, musste es kein Nachteil sein, dass die Polizei noch keine offizielle Todesursache festgestellt hatte.

Er stand auf und verließ das Büro, das er der Chefredaktion nach einem zähen Ringen abgetrotzt hatte. Bestimmt würden Tanjas Unterlagen bei einer Morduntersuchung abtransportiert oder versiegelt werden. Aber bis es so weit war …

Er durchquerte den Newsroom, ging vor Tanjas Schreibtisch in die Hocke und drückte den Startknopf des Computers. Langsam fuhr der hoch. Bollag zog den Sessel unter der Tischplatte hervor und setzte sich. Lokalchefin Corinne Moser beobachtete ihn mit argwöhnischem Blick über den Rand ihrer Lesebrille hinweg.

Am Außenrand des Monitors hafteten Fotos: Tanja beim Reiten, mit einer Freundin beim Skifahren, mit Bollag im Schwimmbad Gitterli. Ein gelber Post-it-Zettel klebte da­runter. Mami anrufen!

Ob jemand die Eltern informiert hatte? Bestimmt hatte das die Polizei übernommen. Tanja war das jüngste Kind einer achtköpfigen Bauernfamilie aus Langenbruck gewesen, das erste, das es an die Universität geschafft hatte.

Früher oder später würde Bollag mit ihrer Mutter sprechen müssen. Ihm graute davor.

Ein orangeroter Sonnenuntergang hinter der Belchenfluh erschien auf dem Bildschirm. Bollag hatte sie aufgezogen wegen des kitschigen Fotos. Das ist der schönste Ort der Welt, hatte sie ihm gesagt. Ein paar Wochen später hatte sie ihn dort hochgeschleppt und ihm lang und breit die korrekte Aussprache erklärt: Bölchen und nicht Belchen.

Die Computermaus lag auf der rechten Seite der Tastatur. Eigenartig. Tanja hatte sie immer mit der linken Hand bedient. Ob die Putzfrau die Maus verschoben hatte?

Bollag öffnete den Ordner Artikel und sortierte die Word-Dateien nach Erstellungsdatum. Er klickte auf den jüngsten Artikel mit dem Dateinamen Chienbäse und überflog den Inhalt.

Ostschweizer klauen Liestaler Chienbäse

Der Chienbäse, das zentrale Element der Liestaler Fasnacht, zog alljährlich Zehntausende von Besuchern an. Dabei marschierten Fasnächtler mit brennenden Besen und Wagen durch das Stedtli. Eine Gemeinde im Kanton Thurgau hatte diese Tradition kopiert – zur Empörung der Liestaler.

Bestimmt hätte der Artikel in den nächsten Tagen erscheinen sollen, in einer Woche fand der Chienbäse statt. Perfektes Timing. Aber würde jemand Tanja deswegen um …?

»Was tust du da, Bollag?« Lokalchefin Corinne Moser schaute auf ihn herunter. »Du weißt genau, dass die Polizei uns strikte Anweisungen gegeben hat.«

Die Polizei konnte ihm den Buckel runterrutschen. »Ähm. Mein Artikel über die illegale Hundezucht. Tanja hat mir dabei geholfen. Ohne ihre Notizen kann ich ihn nicht fertig schreiben.« Er griff nach einem Memorystick auf dem Pult und hielt ihn hoch. »Ich mache mir bloß eine Kopie.«

Corinne nagte auf der Unterlippe, Fransen ihres weißblonden Haars hingen ihr in die Stirn. »Okay, aber beeil dich. Und danach schaltest du den Computer gleich wieder aus.« Sie wandte sich ab.

Bollag wartete ein paar Sekunden, dann klickte er sich durch weitere Artikel der vergangenen Wochen. Der Herr der Fliegen handelte von einem Lebensmittelinspektor, der beliebten Restaurants im Kanton Baselland eine schlechte Note ausstellte. In Geschäfte unter Freunden hatte Tanja Korruption in der kantonalen Verwaltung aufgedeckt. Und nachdem der Artikel über Die Steuertricks der Frau Landrätin erschienen war, hatte die Politikerin zurücktreten müssen.

Bestimmt waren einige Menschen aus diesen Artikeln wütend gewesen auf Tanja. Wütend genug für einen Mord?

Bollag klickte sich zurück zum Desktop und öffnete den Ordner Recherchen. Die beiden neusten Unterordner trugen die Titel Autoschieber und Baumann. Baumann?

Er klickte darauf, es erschienen diverse Artikel aus der Schweizer Mediendatenbank über den neuen Ersten Staatsanwalt des Kantons Baselland. Ob Tanja ein Porträt über ihn hatte schreiben wollen? Bollag musste sich beeilen. Also steckte er den Memorystick in die Buchse und kopierte die Ordner. Dann fuhr er den Computer herunter.

Er wollte aufstehen, hielt inne. In einem ledergebundenen Büchlein hatte sich Tanja immer Notizen über ihre Recherchen gemacht: Ideen, Namen, Telefonnummern. Ob die Polizei das im Auto gefunden hatte? Oder lag es irgendwo hier?

Die oberste Schublade ihres Pultes enthielt nur Krimskrams: Sicherheitsnadeln, Lippenstift, Tampons, Spiegel, Bürste, Klebstoff, Kugelschreiber, Teebeutel.

Laut räusperte sich Stefanie Gyr, die Kollegin aus der Lokalredaktion, an ihrem Pult gegenüber. Sie schüttelte energisch den Lockenkopf.

Bollag hielt einen Finger hoch. Die Schublade darunter hatte Tanja mit Druckerpapier und Notizblöcken gefüllt. Und ganz unten lagen eine Regenjacke, T-Shirts und Laufhosen – Tanja war eine leidenschaftliche Joggerin gewesen. Im Wald auf der Sichtern hatte sie Bollag jeweils gnadenlos abgehängt.

Möglicherweise enthielt einer der Notizblöcke einen Hinweis. Nochmals zog Bollag die mittlere Schublade auf, nahm jeden einzelnen in die Hand, blätterte ihn durch. Nichts als leere Seiten.

Stefanie erhob sich von ihrem Platz und kam herüber.

Bollag schob die Notizblöcke zurück in die Schublade, sie stießen gegen einen Widerstand. Mit einer Hand tastete er ganz nach hinten und holte ein dünnes Taschenbuch heraus.

Marcel Proust: À la recherche du temps perdu

Darauf haftete ein rotes Post-it: Für Bollag!

Das Buch streckte er Stefanie entgegen, als sie vor ihm stand. »Habs gefunden.«

4

Nie während der ganzen Woche im Parlament fühlte sich Franz Heusser so lebendig wie in diesem Augenblick, live auf Sendung. Radio Edelweiß strahlte Heussers Stunde jeden Sonntagabend von 20 bis 21 Uhr aus. Heute lief es wieder prächtig, es machte richtig Spaß. »Lassen Sie uns nicht vergessen, liebe Hörerinnen und Hörer, dass wir in einer Demokratie leben. Hier darf jeder sagen, was er denkt. Ich selber bin zwar der Meinung, dass sich unser letzter Anrufer ein Bahnbillett Moskau einfach kaufen sollte. Doch hier, in Heussers Stunde, werde ich niemandem den Mund verbieten. Also, melden Sie sich.« Er kontrollierte den Namen auf dem Monitor am Sprechpult. »Wir haben jetzt Beat Senn in der Leitung. Täglich steht der gute Mann im Stau auf der A2.«

»Und ob. 45 Minuten. Mindestens. Das müssen Sie sich mal vorstellen.« Senn sprach schnelles Baseldeutsch und tönte wie jemand, der seiner Wut endlich einmal Luft machen durfte.

Heusser war es recht, denn nur Emotionen hielten die Hörer bei der Stange. Also ließ er die Anrufer lange reden, schimpfen oder anklagen.

Senn ließ sich gar nicht erst bitten. »Dabei ist Benzin doch weiß Gott teuer genug. Aber wohin fließen unsere Steuer-Milliarden? Nicht in den Ausbau der Autobahn, nein, in den öffentlichen Verkehr. Es ist eine Sauerei.«

Heusser rückte den Kopfhörer zurecht. »Aber Herr Senn, es kommt doch auch Ihnen zugute, wenn die Bahnstrecken ausgebaut werden. Das will uns jedenfalls die Regierung weismachen. Sind Sie anderer Meinung?«

»Das ist Schwachsinn. Verzeihen Sie meine Ausdrucksweise, Herr Ständerat. Aber es ärgert mich, wenn die hohen Herren solchen Blödsinn verzapfen. Überlegen Sie sich mal, welchen wirtschaftlichen Schaden die vielen Staus …«

Der Mann redete wie bestellt. Schließlich regte sich Heusser selbst auf, wenn die Lastwagen seines Transportunternehmens stecken blieben. Wollte er ein Thema anschneiden, ließ Heusser regelmäßig Bekannte mit genauen Instruktionen in der Sendung anrufen. Manchmal zogen sie über die Kirche her, manchmal über eine Partei oder den Bundesrat. Ab und zu beschimpften sie gar Heusser persönlich. Das zeigte Wirkung, die Telefone liefen heiß. Als Stimme der Vernunft versuchte er dann zu beschwichtigen – ein wenig.

Senn jedoch hatte ihm der Herrgott geschickt. Er redete sich in Rage. »… Es wird Zeit, dass das Autobahnnetz endlich zu Ende gebaut wird, verflucht noch mal. Die in Bern oben haben uns das schon in den 1960er-Jahren versprochen …«

Heusser schaute auf die Leuchtziffern der Uhr an der Wand, er würde diesem Senn noch eine Minute zwanzig geben und danach einen Werbeblock einschieben. Schließlich musste er auch Geld verdienen.

Im vergangenen Sommer hatte Heusser, Aargauer Ständerat der Schweizer Konservativen Partei, die Gelegenheit beim Schopf gepackt und sich die Aktienmehrheit der darbenden Mediengruppe aus Liestal gesichert: Radio Edelweiß, Tele Nordwest und das Tagblatt. Freunde hatten ihn vor dem Kauf gewarnt, auf die veraltete Druckerei hingewiesen und von einem Fass ohne Boden gesprochen. Doch Heusser hatte sich nicht beirren lassen.

Es würde zwar noch mindestens zwei Jahre dauern und harte Einschnitte erfordern, um die Mediengruppe auf Trab zu bringen. Aber ein gutes halbes Jahr nach der Übernahme war er überzeugter denn je, dass er ein gutes Geschäft gemacht hatte. Selbst wenn der Laden noch immer rote Zahlen schrieb, hatte Heusser durch ihn jetzt Einfluss auf die öffentliche Meinung. Und er selbst blühte richtig auf. Wöchentlich schrieb er eine Kolumne für das Tagblatt und ließ sich regelmäßig von Tele Nordwest befragen.

Die größte Befriedigung verschaffte ihm jedoch diese sonntägliche Stunde im Radio. Hier kam seine sonore Stimme, um die ihn viele Kollegen im Parlament beneideten, richtig zur Geltung. Mittlerweile stiegen auch die Hörerzahlen an. Und nicht nur Radio Edelweiß übertrug Heussers Stunde. Radio Argovia aus dem Aargau und das Solothurner Radio 32 hatten sich zugeschaltet. Weitere Lokalradios zeigten Interesse.

Auf dem Monitor blinkte eine Nachricht auf. Leitung drei, Sandra Widmer aus Rheinfelden: Sie wären ein toller Bundesrat!

Heusser schmunzelte und reckte den Daumen in die Höhe. Den Werbeblock konnte er auch ans Ende der Sendung schieben. In der Regie, auf der anderen Seite des schalldichten Fensters, nickte der Techniker, den Telefonhörer am Ohr.

Derweil beschwerte sich Beat Senn über das Schweizer Fernsehen. »Viel zu viel Gewalt und Pornografie, ich kann meine Kinder nicht mehr alleine vor der Glotze sitzen lassen. Die Leitung des Senders sollte man …«

Drei, zwei, eins … »Vielen Dank, Herr Senn, für Ihren Anruf. Sie geben uns da ein paar wichtige Denkanstöße.« Mit einem Knopfdruck am Mischpult warf ihn Heusser aus der Leitung, dann machte er eine Kunstpause. »Folgende Frage hat uns während der Sendung von Margrith Gloor aus Aesch erreicht: Wieso fährt der Bundesrat für seine Klausurtagung nächste Woche in die Bündner Berge? Die Antwort ist ganz einfach, Frau Gloor: Weil er wenigstens dort ein Echo findet.«

Ein kleiner Witz ab und zu lockerte die Stimmung, das hatte Heusser von seinem Sprechtrainer gelernt.

Er drückte den Knopf für Leitung drei. »Ich begrüße Sandra Widmer aus Rheinfelden. Willkommen bei Heussers Stunde, Frau Widmer. Was möchten Sie unseren Hörerinnen und Hörern mitteilen?«

»Vielen Dank, dass Sie meinen Anruf entgegennehmen.« Sie hatte eine rauchige Stimme, sexy. »Ich finde, dass wir einen miserablen Bundesrat haben.«

Das klang wie Musik in Heussers Ohren. »Ein hartes Urteil, Frau Widmer. Was ärgert Sie?«

»Die Bundesräte vergessen uns, die kleinen Leute. Sie lassen sich in Limousinen herumkutschieren, fliegen im Jet nach Peking oder Rio, schütteln die Hände von all diesen berühmten Leuten. Nehmen Sie nur die Frau Mangold als Beispiel …«

»Was ist denn mit Bundesrätin Mangold?« Heusser beugte sich vor, nur zu gerne ließ er über diese Schlampe lästern.

»Jetzt will sie wieder die Preise für die Bahnbilletts erhöhen, dabei ist Zugfahren doch wirklich teuer genug. Aber Frau Mangold bekommt ja auch ein Generalabonnement geschenkt, erste Klasse. Wann hat sie wohl das letzte Mal ein Billett kaufen müssen? Diese Frau hat vergessen, wo sie herkommt, wer sie gewählt hat. Ich meine, schauen Sie sich bloß ihren Lebenswandel an …«

Heussers Mundwinkel hoben sich. »Ja?«

»Ich möchte ja nichts Schlechtes über andere Menschen sagen. Aber ich finde, eine Bundesrätin sollte nicht in wilder Ehe leben. Sie muss ein Vorbild sein. Leider zählen christliche Werte heute gar nichts mehr.«

Wunderbar, eine Steilvorlage. Seit das Parlament die junge Berner Regierungsrätin Petra Mangold überraschend in den Bundesrat gewählt hatte, bekämpfte Heusser sie mit Inbrunst. Denn dieses Weibsbild saß auf dem Sitz, der ihm zustand. Er würde nicht ruhen, bis er Mangold vertrieben hatte. Doch dabei musste er subtil vorgehen, denn sie war beliebt. »Ich verstehe, was Sie meinen. Aber Bundesrätin Mangold ist sehr jung. Diese Generation kennt leider die Zehn Gebote nicht mehr.«

»Wie wahr, Herr Ständerat. Unsere Generation ist anders aufgewachsen. Letzte Woche habe ich von dieser Umfrage gelesen im Tagblatt. Die Menschen sind überzeugt davon, dass Sie ein besserer Bundesrat wären.«

»Ach, das sollten Sie nicht überbewerten, da gaben bloß 5.000 Leute Auskunft.« In Wahrheit waren es 500 Menschen gewesen. Und die Fragen waren von einer beauftragten Medienagentur so gestaltet worden, dass ein gutes Ergebnis für Heusser hatte herauskommen müssen.

»Seien Sie nicht so bescheiden, Herr Ständerat. Sie haben eine wunderbare Familie, führen ein erfolgreiches Unternehmen. Ich bin überzeugt davon, dass Sie ein ausgezeichneter Bundesrat wären.«

»Wenn Sie das sagen, Frau Widmer. Aber wie Sie wissen, wählt nicht das Volk den Bundesrat, es ist das Parlament. Und dort entscheidet nicht allein das Können eines Politikers oder dessen Integrität. Ich will ganz ehrlich mit Ihnen sein. Ein Mann, der kein Blatt vor den Mund nimmt, hat es sehr schwer in Bern.«

»Was für eine Schande. Es wird Zeit, dass endlich wir Schweizerinnen und Schweizer die Regierung wählen dürfen. Meine Stimme hätten Sie auf jeden Fall.«

»Vielen Dank, Sandra. Ihre Stimme bedeutet mir mehr als die jedes Politikers in Bern. Einen wunderschönen Abend wünsche ich Ihnen.« Heusser unterbrach die Verbindung und grinste den Techniker in der Regie an.

Der deutete auf die Uhr, auch auf dem Monitor sprang die Anzeige auf Rot. Es blieben bloß noch drei Minuten Sendezeit, der Werbeblock dauerte eins dreißig.

Heusser nahm ein Blatt vom Tisch vor sich zur Hand. »Letzte Woche habe ich einen alten Wandschrank ausgeräumt, liebe Hörerinnen und Hörer. Ganz unten darin lag eine Kartonschachtel, die ich noch nie gesehen hatte. Ich öffnete sie, es befanden sich Briefe meines Vaters darin. Er hatte sie 1941 geschrieben, als er unsere Grenze verteidigte.« Er macht eine Pause, senkte die Stimme. »Es war beeindruckend zu lesen, wie diese Männer bei Kälte, Nacht und Nebel Wache hielten, immer in der Angst, dass die Nazis jeden Moment angreifen konnten. In den Briefen steht, wie sehr mein Vater seine Frau und Kinder vermisst hat. Darüber hat er mit mir später nie gesprochen, und ich …«

Heusser schluckte und verlieh seiner Stimme einen belegten Klang. »Was ich sagen will: Die Generation unserer Väter und Mütter wusste noch, was Pflichten sind, was die Liebe zum Vaterland bedeutet. Ich habe verstanden, welche Opfer diese Generation gebracht hat, damit es uns heute so gut geht.«

Er machte eine kurze Pause. »Und wie gehen wir mit diesem Erbe um? Es gibt Kantone, in denen sich jeder zweite junge Mann vor dem Militärdienst drückt. Die benehmen sich genau wie einige unserer Bundesräte. Sie haben vergessen, wo sie herkommen, was Werte sind.« Heusser hob eine Hand, die Technik spielte leise Musik ein. »Darüber möchte ich mich am nächsten Sonntag mit Ihnen unterhalten: über Werte. Es würde mich freuen, wenn ich Sie auch dann wieder zu Heussers Stunde begrüßen dürfte. Adieu mitenand, Ihr Franz Heusser.«

Die Musik wurde lauter, er lehnte sich zurück, der Techniker hielt den Daumen hoch. Geschafft!

Bestimmt hatten ein paar Hörer geschluckt bei seiner kleinen Geschichte ganz am Schluss. Heusser setzte den Kopfhörer ab, legte ihn aufs Pult. Leise tönte daraus der erste Spot des Werbeblocks.

»Für Sie fahren wir durch die Schweiz und ganz Europa. Schnell, zuverlässig und kompetent. Heusser Transporte.«

5

Mit zügigen Schritten betrat Petra Mangold am Montagmorgen das Bundeshaus Nord an der Berner Kochergasse. Sie stieg die Steinstufen hoch und wischte sich dabei die Schneeflocken von den Schultern. Mangold kam ins Schnaufen, dabei musste sie nur in den ersten Stock. Ihre Fitness ließ nach. Wann würde sie endlich wieder mal in der Früh die Aare entlangjoggen können? In einem nächsten Leben vielleicht.

Mangold streifte die Handschuhe ab und knöpfte den Mantel auf. Als Erstes brauchte sie einen starken Kaffee.

Nur vier Stunden hatte sie in der vergangenen Nacht geschlafen, weil sie sich durch die Revision der Energieverordnung gekämpft hatte: Integrierte Photovoltaikanlagen, Eigenverbrauchsregelung, Rückerstattung des Netzzuschlags – die Schlagworte schwirrten noch durch ihren Kopf. Natürlich musste sie nicht alle Details kennen, dafür hatte sie schließlich ihre Experten. Doch als erste Bundesrätin der Grün-Demokratischen Partei durfte sie sich auf dem Gebiet der Alternativenergien keine Blöße geben. Deswegen hatte sie den Direktor des Bundesamtes für Energie und zwei seiner Fachleute für 8 Uhr zu einer Besprechung geladen. Sie blickte auf ihre Armbanduhr, es blieben ihr 15 Minuten für Mails, Briefe und Zeitungen.

Über die schwarz-weißen Fliesen mit Schachbrettmuster schritt sie auf ihr Eckzimmer zu, Nummer 114. Stimmen drangen aus der angelehnten Tür von Nummer 115.

»Was ist denn mit Bundesrätin Mangold?«

Ach, Ständerat Heusser spielte offenbar wieder Radiomoderator.

»Jetzt will sie wieder die Preise für die Bahnbilletts erhöhen, dabei ist Zugfahren doch wirklich teuer genug. Aber Frau Mangold bekommt ja auch ein Generalabonnement geschenkt, erste Klasse. Wann hat sie …?«

Mangold stieß die Tür auf, Direktionssekretärin Monika Bürgin saß hinter dem Computermonitor. Sie schaute auf und stoppte die Stimmen mit einem Mausklick.

Mangold rang sich ein Lächeln ab. »Heussers Stunde?«

»Dieser Heuchler ist einfach unerträglich.« Monika kam um den Tisch herum. Das dunkelblaue Kostüm schmiegte sich an ihre schlanke Figur, die weißen Haare hatte sie zu einem Dutt geknotet. In Sachen Eleganz schlug die Sekretärin sie wieder um Längen.

Monika nahm Mangold die Aktentasche und den Mantel ab, hängte ihn in den Kleiderschrank. »Aber wie sagte der chinesische Kriegsherr Sun Tzu: Du musst deinen Feind kennen, um ihn besiegen zu können.« Dann stemmte sie die Hände in die Hüften und studierte Mangolds Gesicht. »Wie lange hast du geschlafen letzte Nacht?«

Mangold winkte ab. »Lange genug.«

Monikas Augen sagten, dass sie ihr kein Wort glaubte. Sie seufzte und griff nach einem Stapel Briefe, die sie auf ihrem Pult neben dem gerahmten Foto ihrer drei Enkelkinder abgelegt hatte.

Mangold nahm das Bündel entgegen und öffnete die Verbindungstür zu ihrem eigenen Büro. Ihre Winterstiefel klapperten über das hellbraune Parkett. Das Licht im Zimmer brannte, der Startknopf der Kaffeemaschine auf dem Ecktisch leuchtete grün.

Mit Tageszeitungen unter dem Arm und der Aktentasche in der Hand folgte ihr Monika. »Um 8 Uhr kommen die Damen und Herren vom BFE, um 9.15 Uhr musst du in die Kommission für Verkehr und Fernmeldewesen. Um 10 Uhr folgt das Treffen mit dem Swisscom-Direktor.«