Höllenqual - Ed James - E-Book

Höllenqual E-Book

Ed James

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Beschreibung

Er entführt seine Opfer, hält sie über Wochen gefangen und setzt sie unerträglicher Folter aus – dieser Pageturner lässt einem das Blut in den Adern gefrieren!

Auf einer Landstraße in Oxfordshire wird eine ausgemergelte junge Frau gefunden. Sie ist nackt. Die Polizei geht von einer Drogensüchtigen aus, doch Detective Sergeant Aidan Corcoran ahnt, dass hier ein grausames Verbrechen geschehen ist. Und seine Vermutung wird bald zur Bestätigung: Das Opfer weist Fesselmale auf und wurde über Wochen festgehalten und ausgehungert. Um mehr über den Täter und seine Motive herauszufinden, wird die Kriminalpsychologin Dr. Marie Palmer zu den Ermittlungen hinzugezogen. Sie soll ergründen: Gibt es womöglich noch mehr Opfer, die in genau diesem Augenblick höllische Qualen erleiden müssen?

Packende Thriller-Unterhaltung aus Großbritannien – Ed James führt den Leser in die finsteren Abgründe der menschlichen Seele. Machen Sie sich auf schlaflose Nächte gefasst. Sie werden diese durchlesen!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 496

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Buch

Auf einer Landstraße in Oxfordshire wird eine ausgemergelte junge Frau gefunden. Sie ist nackt. Die Polizei geht von einer Drogensüchtigen aus, doch Detective Sergeant Aidan Corcoran ahnt, dass hier ein grausames Verbrechen geschehen ist. Und seine Vermutung wird bald zur Bestätigung: Das Opfer weist Fesselmale auf und wurde über Wochen festgehalten und ausgehungert. Um mehr über den Täter und seine Motive herauszufinden, wird die Kriminalpsychologin Dr. Marie Palmer zu den Ermittlungen hinzugezogen. Sie soll ergründen: Gibt es womöglich noch mehr Opfer, die in genau diesem Augenblick höllische Qualen erleiden müssen.

Autor

Ed James war Projektmanager im IT-Bereich, bevor er mit dem Schreiben begann. Seine ersten Bücher verfasste er vor allem in Flugzeugen und Zügen während seiner wöchentlichen Pendeltouren zwischen Schottland und London. Auf diese Weise vollendete er drei Romane in sieben Monaten. Seine im Selfpublishing veröffentlichten Krimis haben sich hunderttausendfach verkauft. Der Autor lebt mit seiner Frau und einer Horde geretteter Tiere in East Lothian, Schottland.

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

ED JAMES

HÖLLEN-QUAL

THRILLER

Aus dem Englischen von Bernd Stratthaus

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Senseless« bei Headline Publishing Group, a Hachette UK Company, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2020 by Ed James

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von photocase.de (clytus)

JA · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26676-9V001

www.blanvalet.de

Für Kat

ERSTER TAG

1

[Bob, 11:10 Uhr]

Bob Rutherford trat einen Schritt zurück und warf einen letzten Blick auf sein Werk. Abgesehen davon, dass auf der Schiefermauer ein wenig Efeu fehlte, hätte niemand sagen können, welchen Teil der Wand er in den vergangenen Stunden ausgebessert hatte. Dünne Schichten, ordentlich übereinandergelegt entlang der Straße, die sich in Richtung des Dorfes schlängelte.

Hinter ihm rumpelte ein Auto viel zu schnell über die einspurige Fahrbahn. Bob presste sein Gesicht gegen den eigenen Transporter, während der dunkle SUV in einer Wolke aus aufgewirbeltem Laub und Dieselabgasen an ihm vorbeischoss und dann um die Kurve verschwand, wo er ihn wegen des dichten Blattwerks nicht mehr sehen konnte.

Der hat mich um Haaresbreite verfehlt!

Idiot.

Bob sprang in die Fahrerkabine und drehte den Schlüssel im Zündschloss. Der Motor sprang stotternd an, und er fuhr los. Das Handy auf seinem Armaturenbrett begann derweil zu klingeln.

»Bist du auf dem Heimweg?«, dröhnte Shirleys Stimme aus dem Lautsprecher.

Bob drehte die Lautstärke herunter und fuhr vorsichtig um die Kurve.

»Ich muss ja noch meine Steuererklärung machen, oder? Außerdem bin ich echt am Verhungern. Aber die Mauer hab ich gut hingekriegt, auch wenn das ein Eigenlob ist.« Keine Spur von dem Spinner in dem SUV, der vor ihm die Straße langgefahren war. Bob bog um die nächste Kurve, hier standen die Bäume noch dichter und schirmten die Strahlen der Morgensonne ab. Auf beiden Seiten ragten weitere Schiefermäuerchen empor, links kam dann eine Lücke an der Stelle, wo der Weg zur Proudfoot-Farm abzweigte. Er sah den SUV rechts am Straßenrand stehen. Kurz darauf entfernte er sich in einer Geschwindigkeit, die Bob nicht einmal hoffen konnte zu erreichen.

Im nächsten Moment bemerkte er eine Gestalt auf dem Boden, die vor dem üppigen Grün beinahe weiß wirkte.

Bob trat auf die Bremse, die ein ohrenbetäubendes Quietschen von sich gab. Ruckartig beugte er sich vor, der Sicherheitsgurt schnitt ihm dabei in die Rippen.

»Was ist los, Bob?«

Flach ausgestreckt auf einem Bett aus Nesseln und fast verborgen durch das dichte Gebüsch, das die Straße säumte, lag ein Körper.

Ein menschlicher Körper.

»Bob?«

»Shirley, ich glaube, ich hab gerade eine Leiche gefunden.«

Aus den Lautsprechern drang ihr Keuchen. »Ruf die Polizei!«

»Ja, natürlich.« Bob löste sich mit einem energischen Nicken aus seinem Entsetzen, als ob sie ihn sehen könnte. »Ich ruf dich wieder an.« Er drückte auf den roten Knopf und tippte dann die Notrufnummer ein, während er wie gebannt auf die reglose Gestalt starrte. Dabei zitterte sein Bein nervös, und das Telefon klingelte und klingelte und …

»Notrufzentrale. Mit wem wollen Sie verbunden werden?«

»Mit der Polizei, bitte.« Bob öffnete die Tür einen Spaltbreit und stieg aus. Eine sanfte Brise strich die Straße hinunter und trug den süßlichen Duft von Akelei durch das wispernde Laub.

Er warf einen weiteren Blick auf die Leiche. Es war offenbar eine Frau. Eine junge Frau, so nackt, wie Gott sie erschaffen hatte …

»Sie sind mit der Polizei verbunden.« Eine männliche Stimme, heiter und fröhlich wie ein Sommertag. »Wie lautet die Adresse oder der Ort Ihres Notfalls?«

Bob umklammerte das Handy fester und blieb stehen, wo er war. Dann sah er die Straße auf und ab. »Ich habe keine genaue Postleitzahl oder eine Lage auf der Karte, aber ich befinde mich gerade ein Stück außerhalb von Minster Lovell, einem kleinen Dorf in der Nähe von Witney in Oxfordshire. Ich bin … Ich bin an der Hauptstraße, die ins Dorf hineinführt.«

»Eine Sekunde. Und wie heißen Sie, Sir?«

»Bob Rutherford.« Er hielt in beiden Richtungen nach irgendwelchen anderen Autos Ausschau, lauschte angestrengt und machte dann einen weiteren Schritt über die Straße.

»Hi, Bob, ist das vielleicht die Leafield Road?«

»Kann schon sein. Ich hab hier eine Mauer für ein altes Ehepaar wieder in Ordnung gebracht. Sie heißen Maitland und leben ein paar Hundert Meter hinter der Ortseinfahrt.«

»Okay, ich habe Sie.« Es klang, als ob der Mann am anderen Ende der Leitung lächelte. »Also, Bob, was ist passiert?«

»Ich habe den Körper einer jungen Frau gefunden.« Bob sah noch einmal zu ihr hinüber. Sie war furchtbar mager. Er stöhnte auf. »Hören Sie, sie ist nur Haut und Knochen. Vielleicht ist sie drogenabhängig.«

»Atmet sie noch?«

»Kumpel, Sie müssen jemanden herschicken, der sich darum …«

Da drehte die Frau sich auf die Seite.

»Um Gottes willen!« Bob machte einen Satz nach hinten und drückte sich gegen seinen Transporter.

Die junge Frau hatte die Augen geschlossen, aber ihre Brust hob und senkte sich, als ob sie ganz flach Luft holte.

»Sie lebt.«

»Danke, Bob. Das ist … Das ist doch gut.«

Mit rasendem Herzen trat Bob gebückt näher an sie heran. »Sind Sie okay?«

Die Frau reagierte nicht.

»Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe der Zentrale gesagt, ich bräuchte die Polizei. Aber Sie müssen einen Krankenwagen schicken, und zwar schnell.«

»Beides schon unterwegs, Bob.«

Die junge Frau schlug die Augen auf und wandte ihm den Kopf zu. Ihr Blick wirkte verwirrt und auf nichts im Speziellen gerichtet. Vielleicht waren tatsächlich Drogen für ihren Zustand verantwortlich, vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise war es etwas anderes.

»Alles in Ordnung?« Bob streckte die freie Hand nach ihr aus und lächelte sie an. »Ich heiße Bob, wie heißen Sie?«

Ihre Finger zuckten, dann krallten sie sich um die Pflanzen, auf denen sie lag, zerdrückten Nesseln und Ampfer. Es sah aus, als ob sie aufstehen wollte, aber einfach nicht genügend Kraft dazu hatte.

Bob machte einen weiteren Schritt auf sie zu und lächelte noch breiter. »Hey, alles in Ordnung.«

»Sir, ich muss Ihnen den Rat geben …«

Sie begann heftig und rasch zu blinzeln. Dann kniff sie die Augen zusammen, blickte auf Bob und stöhnte tief und laut auf – wie die Wildkatze, die einmal unter ihrer Terrasse Zuflucht gesucht und ihren Wurf verteidigt hatte, als die Frau vom Tierschutz sie zur Umsiedlung hatte einfangen wollen.

Als er einen weiteren Schritt auf sie zumachte, begann sie zu schreien.

2

[Corcoran, 11:55 Uhr]

Detective Sergeant Aidan Corcoran ruckte auf dem Beifahrersitz herum und versuchte, eine bequeme Position zu finden, während sie die Landstraße entlangdonnerten. Er streckte sein Bein in den Fußraum aus. Seine rechte Hüfte krampfte, es war zwar kein unerträglicher Schmerz, aber trotzdem …

Etwas knackte, und er stieß einen flachen Seufzer aus; beinahe hätte er vor Erleichterung aufgekeucht.

DI Alana Thompson fuhr den Volvo aus dem Fuhrpark wie eine Wahnsinnige, raste polternd über die Brücke, sodass unter ihr ein metallisches Knirschen zu hören war. Das Kricketfeld und der dazugehörige Parkplatz huschten blitzartig an ihnen vorbei, dann scherte sie aus, um einen Radfahrer zu überholen, und holperte dabei über den grasbewachsenen Straßenrand. Die Blätter einer Trauerweide peitschten gegen die Windschutzscheibe.

Corcoran sah sie an. »Ma’am, könnten Sie ein bisschen langsamer fahren?«

»Kommen Sie mir nicht mit ›Ma’am‹, Sergeant. Sie sind nicht mehr bei der Londoner Polizei.« Thompson bog um die Kurve und auf eine andere Straße ab, die ihr die richtige zu sein schien. Allerdings wusste man das hier draußen in der Pampa nie so genau. Sie durchquerten in einem Affenzahn ein malerisches Postkartenidyll, ein Dorf mit Landgasthof und einem zusammengewürfelten Haufen kleiner Steinhäuschen, manche von ihnen mit Reet gedeckt. Dann dünnte sich die Besiedlung auf diese mittelenglische Weise aus, in der das Dorf noch nicht ganz bereit war, seinen Griff zu lockern, während es dennoch ganz allmählich zu Land wurde. An einem Parkplatz rechts von ihnen gab es keinerlei Beschilderung, die angezeigt hätte, wozu er diente, nur ein Warnschild für eine einspurige Straße ohne Überholmöglichkeit. Ordentliche Schiefermäuerchen säumten die Fahrbahn auf beiden Seiten.

Thompson kam abrupt mit quietschenden Reifen zum Stehen.

Ein junger Bursche in Uniform lehnte an einer der Mauern und hatte ein Klemmbrett in der Hand, eine halbe Rolle Absperrband flatterte in der Brise und blockierte die Durchfahrt. Beflissen eilte er auf sie zu.

Thompson ließ das Fenster herunter und streckte ihm den Dienstausweis entgegen. »Ist das hier wirklich notwendig, Constable?«

Der Beamte richtete sich kerzengerade auf, als ob er der Queen gegenüberstünde. »Sorry, Ma’am, aber ich dachte, dass vielleicht noch die Spurensicherung kommt?«

Sie drehte den Zündschlüssel, und der Motor kam rasselnd zum Stillstand. »Ist sie denn tot?«

»Nein, Ma’am, aber …«

»Lassen Sie die ›Ma’am‹ stecken. Ich heiße Alana.« Thompson stieg aus und knallte die Tür hinter sich zu.

Corcoran ließ seinen Sicherheitsgurt langsam einrollen, öffnete dann seinerseits die Tür und trat auf die Straße hinaus. Dabei nahm er sich Zeit, die Umgebung genau zu betrachten.

Vor ihnen parkte ein Krankenwagen mit blinkendem Blaulicht im hellen Sonnenschein. Zwei weitere Beamte standen daneben und sprachen mit einem grün gekleideten Sanitäter. In der Ferne sperrte eine Beamtin den Gegenverkehr ab.

Thompson steckte die Hände in die Taschen. »Irgendeine Vorstellung, wer sie ist?«

»Leider nicht. Der Kerl hat sie nackt hier liegen gesehen. Ich habe zwar alles in der Umgebung abgesucht, aber keine Kleidung und kein Telefon gefunden, auch keine Brieftasche, gar nichts.«

»Und warum suchen Sie nicht weiter?«

»Ihre Kollegin hat mir gesagt, ich soll hier übernehmen.« Der Polizist zeigte auf eine Beamtin in Zivilkleidung, die auf halber Höhe auf der Straße stand.

Corcoran kannte sie nicht, aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Sie nahm die Aussage eines rotgesichtigen Mannes auf, der neben einem Transporter stand. Er trug den Overall eines Steinmetzes und war, wie viele hier in der Gegend, eher stämmig gebaut. Landbevölkerung; die Röte in den Wangen deutete darauf hin, dass er gern trank, der Bauch ließ darauf schließen, dass es sich dabei um Bier handelte.

Der Polizist wies mit einem Kopfnicken die Straße hoch. »Das da ist der Typ, der sie gefunden hat. Bob Rutherford. Ich hab mich ein bisschen mit ihm unterhalten. Was für ein Langweiler, Mann.« Er grinste Corcoran an, dann kratzte er sich am Hals. »Er behauptet, kurz vorher einen SUV beobachtet zu haben, der ziemlich schnell hier entlanggefahren sein soll. Den hat er verfolgt, aber als er sie da hat liegen sehen, hat er angehalten. Könnte ein VW oder auch ein Vauxhall gewesen sein. Schwarz, vielleicht auch dunkelgrau.«

Corcoran sah wieder zu Bob, der noch immer seine Aussage machte, und versuchte, ihn einzuschätzen. Den Anruf bei der Notrufnummer hatte er sich schon auf dem Weg hierher angehört, und die Aussage würde er sich später auch noch durchlesen, dann würde er sich eine Meinung bilden. Falls dieser Kerl wirklich ein Riesenlangweiler war, würde er die Geschichte einfach nur wiederholen, allerdings würde jede neue Version davon seine Rolle dabei weiter aufblasen.

Corcoran nickte dem Polizisten verschwörerisch zu. »Dann folge ich mal Ihrem Rat.« Er sah sich in der unmittelbaren Umgebung um. Keine Spuren, keine Fußabdrücke, nicht einmal der Abdruck eines menschlichen Körpers. Nur eine Stelle mit Unkraut unter einem Busch. »Tun Sie mir den Gefallen und geben Sie einen Suchauftrag für diesen SUV raus, ja?«

»In Ordnung, Sergeant.«

Thompson klopfte dem Polizisten auf den Arm. »Rufen Sie außerdem die Leitstelle an und sagen Sie ihnen, dass ich gern die Spurensicherung hier hätte, okay?«

Er nickte nervös und tippte auf sein Polizeifunkgerät. »Geht klar, Ma’am.«

Thompson trampelte, ohne groß achtzugeben, durch das Absperrband hindurch und ging dann die gewundene Straße hinunter, die Schultern tief nach unten gezogen, den Kopf nach vorn gereckt und die Straße mit scharfem Blick musternd.

Corcoran folgte ihr, hatte aber Mühe, mit ihr Schritt zu halten. »Alana, warten Sie.«

Sie hielt an, runzelte die Stirn und drehte sich zu ihm um. »Ehrlich, das hört sich komisch an.«

»Sollen wir dann vielleicht doch einfach bei ›Ma’am‹ bleiben?«

»Nein, anscheinend muss ich ein besseres Verhältnis zu meinen Untergebenen entwickeln, also belassen wir es bei ›Alana‹.« Thompson verlangsamte ihre Schritte, als sie sich dem Krankenwagen näherten, dessen Motor noch immer lief. Zwei Polizisten ließen Thompson zu dem Sanitäter durch. »Wo ist sie?«

Der Sanitäter hielt kurz damit inne, die Rampe wieder einzuklappen. »Neil Hart« stand auf seiner Uniform. Mit dem linken Daumen zeigte er in den Krankenwagen. »Da drin.«

»Okay, gehen Sie mir aus dem Weg.« Thompson drückte ihn beiseite.

Im Inneren kauerte Neils Kollege neben einer Krankenliege und hielt eine riesige silberne Decke in den ausgestreckten Händen. »Kommen Sie schon, Sie müssen …«

»Nein!« Eine Frauenstimme, schwach zwar, aber es war immer noch ein Schrei. »Nein!«

Doch der Sanitäter setzte sich durch und wickelte die Frau in die Decke ein. Sie lag mit erhöhten Beinen auf dem Rücken ausgestreckt auf der Krankenliege. Ihr Kopf ragte durch ein Loch in der silbernen Decke, mit irrem Blick und geöffnetem Mund, als ob sie anhaltende Schmerzen hätte. Ihr lockiges Haar war verfilzt und erinnerte an schlecht gemachte Dreadlocks. Die Haut war blass, fast weiß, mit einem bläulichen Schimmer. Und sie war klapperdürr, weder Fett noch Muskeln polsterten die Knochen ihres Schädels und ihres Kiefers.

Der Sanitäter legte ihr außerdem noch eine Wolldecke um die Schultern, wogegen sie sich nicht mehr sträubte.

Corcoran drehte sich um und lächelte dem Sanitäter Neil zu. »Besteht die Möglichkeit, dass wir mit ihr sprechen können?«

»Wir müssen Sie wirklich dringend ins Krankenhaus bringen.« Ein energisches Kopfschütteln. »Ihr Körper steht kurz vor dem Verhungern, also müssen wir sie stabilisieren. Die Decken lassen fürs Erste ihre Körpertemperatur steigen, aber wir haben hier nur begrenzte Möglichkeiten. Ich habe das Krankenhaus angefunkt, dort bereiten sie ein Zimmer für sie vor.«

»Im Radcliffe?«

»Leider ja.« Neil sah auf die Uhr. »Der Verkehr in Oxford ist schon zu den besten Zeiten ein Albtraum, und jetzt ist es am schlimmsten.«

»Ich sehe mal, was ich tun kann, um Ihnen das Durchkommen zu erleichtern.« Thompson zog ihr Handy heraus und entfernte sich.

»Wir hatten ziemliches Glück, dass wir so schnell hergekommen sind. Unmittelbar vorher hat es nämlich einen falschen Alarm in Witney gegeben – das erste Mal, dass ich dankbar für so einen Scherzbold war.« Neil schüttelte wieder den Kopf. »Wenn wir nicht so rasch hier gewesen wären, hätte sie es nicht viel länger geschafft.«

Corcoran warf noch einen Blick auf die Frau, die inzwischen unkontrolliert zu zittern begonnen hatte, weil ihr Körper sich allmählich aufheizte. Es war schon verrückt zu sehen, wie ein Mensch funktionierte.

»Drogenabhängige in Oxfordshire!«, rief der Steinmetz ein Stück die Straße hinunter, die Arme weit ausgebreitet. »Was ist bloß aus dieser Welt geworden, frage ich Sie.«

Corcoran erwog diese Möglichkeit: eine schwer verschuldete Heroinsüchtige, vielleicht auch eine Prostituierte. Nach draußen aufs Land geschafft und dort frei, aber am Leben gelassen, um ihr und ihren Kolleginnen auf dem Strich eine Botschaft zu senden. Nicht getötet, damit sie ihre Schulden zurückzahlen konnte.

Oder war er mit dem Hirn noch immer in London gefangen? Hier draußen in Oxfordshire hatten sie sicher auch Probleme, aber so was?

Stirnrunzelnd blickte er zu Neil. »Gibt es denn irgendwelche Anzeichen dafür, dass sie drogenabhängig ist?«

»Sie meinen Heroin?« Der Sanitäter hielt mit dem, was er tat, inne und atmete einmal tief durch. »An den Armen gibt es keine Einstichstellen.« Dann sah er noch mal mit gerunzelter Stirn in den Krankenwagen. »Was allerdings ihre Handgelenke betrifft …«

»Da gibt es welche?«

»Nein.« Neil schnalzte mehrmals mit der Zunge. »Die Sache ist die … Ihre Haut ist ganz aufgerieben, so als ob sie gefesselt gewesen wäre, und zwar nicht in dem Sinn, dass ihr Freund Geburtstag hatte, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

Corcoran versuchte, die Beweise abzuwägen.

Anzeichen für Fesseln. Ausgehungert. Panik, aber nicht annähernd genug Kraft, um auch nur einen wohlmeinenden Sanitäter abzuwehren, der sie zudeckte.

Worauf deutete das hin? Auf Entführung? Längere Gefangenschaft? Seine Drogen-Prostituierten-Rache-Theorie fühlte sich immer weniger plausibel an. Aber eine Alternative hatte er bisher auch nicht.

Er sah den Sanitäter entschlossen an. »Ich muss mit ihr sprechen.«

»Wir müssen …«

»Irgendwer hat ihr das angetan. Und ich muss diese Person finden. Außerdem müssen Sie hier ja erst noch zusammenräumen, oder? Dreißig Sekunden, mehr verlange ich gar nicht.«

Neil schnalzte erneut mit der Zunge, dann nickte er. »Aber keine Sekunde länger.«

»Danke.« Corcoran lächelte und stieg dann mit stechender Hüfte hinten in den Krankenwagen.

Der andere Sanitäter kümmerte sich noch immer um das Opfer, indem er der Frau eine zweite Wolldecke um Beine und Hüften wickelte.

Die Frau lag auf dem Rücken ausgestreckt und betrachtete das Innere des Krankenwagens, ihr Blick verweilte kurz auf allem, was sie umgab. Nur nicht auf Corcoran. Halb verrückt, verhungert und voll tiefem Unbehagen.

Corcorans Theorie einer Gefangenschaft wurde immer wahrscheinlicher. Er lächelte sie an und wartete, bis sie ihm in die Augen sah, nicht nur flüchtig, sondern bis sie wirklichen Blickkontakt herstellte.

Da. Er lächelte. »Ich heiße Aidan. Ich bin Detective. Ich möchte dabei helfen herauszufinden, wer Ihnen das angetan hat.« Tränen traten in ihre blauen Augen. »Lassen Sie uns mit Ihrem Namen beginnen, einverstanden?«

Aber er hatte sie schon wieder verloren. Ihr Kopf ruckte nach hinten und verharrte in dieser Position, den Blick starr nach oben gerichtet. Ihr Atem ging stoßweise, die Nasenflügel bebten.

Der zweite Sanitäter packte Corcoran am Arm. »Ich muss ihr eine Infusion legen, könnten Sie bitte mal …?«

Corcoran trat beiseite und ließ ihn arbeiten.

Aber das Keuchen der Frau formte sich zu vier gleichförmigen Lauten, als ob sie ein Instrument spielte.

Eins. Zwei. Drei. Vier.

Sa. Rah. Lang. Ton.

Corcoran kauerte sich neben sie und sah zu ihr hoch. »Sarah Langton?«

Sie nickte, leicht und flüchtig zwar, aber es handelte sich definitiv um ein Kopfnicken.

»Danke, Sarah. Sie sind hier in guten Händen, in Ordnung?« Corcoran sprang wieder nach draußen auf den Asphalt, und die Hintertür des Krankenwagens schloss sich mit einem Knall.

Thompson riss sie noch einmal auf, mit einer Polizistin im Schlepptau.

Der Sanitäter sah sie böse an. »Wir müssen …«

»Ich möchte, dass sie auf Spuren einer Vergewaltigung untersucht wird, okay?« Dann schob sie die Polizistin auf die Tür zu. »Außerdem muss eine Beamtin im Krankenwagen mitfahren, um die Beweiskette zu gewährleisten. Okay?«

»Na gut.« Der Sanitäter half der Polizistin hinten ins Fahrzeug und knallte ihr dann die Tür vor der Nase zu.

Thompson blickte zu Corcoran hinüber und verzog das Gesicht. »Ganz ehrlich, Aidan, man könnte fast den Eindruck gewinnen, wir stünden auf entgegengesetzten Seiten oder so.«

Der Krankenwagen fuhr unter Sirenengeheul los. Vor ihm räumten die Polizisten das Absperrband aus dem Weg, damit er durchfahren konnte.

Corcoran zog sein Funkgerät aus der Tasche und legte es ans Ohr.

»Leitstelle, ich höre, over.«

»Verbindung ist sicher. Hier spricht DS Aidan Corcoran. Ich brauche eine Datenbanksuche für eine Sarah Langton. Weiße Mitteleuropäerin, Mitte zwanzig, over.«

»Haben Sie eine Adresse?«

Corcoran knirschte mit den Zähnen. »Leider nicht.«

»Sekunde.«

Corcoran wartete, während die Brise einen süßlichen Geruch heranwehte.

»Okay, ich habe eine vermisste Person gefunden. Eine gewisse Sarah Kimberley Langton, sechsundzwanzig Jahre. Sie wurde vor sechs Wochen in Cambridge als vermisst gemeldet.«

3

[12:40 Uhr]

»Komm schon, komm schon, komm schon.« DI Thompson raste durch den Kreisverkehr und folgte dem Krankenwagen beinahe Stoßstange an Stoßstange. »Was dauert da so lange?«

Corcoran blickte zum Krankenhaus hinüber, es war das am wenigsten nach Oxford aussehende Gebäude der Welt: acht oder neun Stockwerke aus Sechzigerjahre-Beton und Glas, in dem sich die Strahlen der Nachmittagssonne brachen. Es erweckte den Eindruck, als gehörte es zu einer vollkommen anderen Welt als die alten Universitätsbauten die Straße hinunter. »Bitte, funken Sie sie nicht an.«

»Ich funke an, wen ich will.« Thompson hielt an einem weiteren Kreisverkehr, wo der Strom von Autos von rechts nicht abreißen wollte. Sie blickte mit hochgezogenen Brauen zu ihm hinüber. »Haben Sie schon irgendwas über sie rausgefunden?«

Corcoran steckte sein Telefon wieder ein. »Ich habe den zuständigen Ermittler ausfindig gemacht, ein Detective Constable aus Cambridge. Er zeigte auf das Krankenhaus. »Er schrieb, er würde uns da treffen.«

»Und wer ist sie?«

Corcoran hielt sein Smartphone mit dem Foto aus Sarahs Vermisstenanzeige hoch. Glücklich, mit runden Wangen und leicht gebräunt. »Sieht das für Sie nach der Frau im Krankenwagen aus?«

Thompson nahm das Telefon entgegen und betrachtete das Bild aufmerksam. »Könnte irgendwer sein.« Sie gab es ihm zurück, dann fuhr sie quer über den Kreisverkehr und bog auf den Krankenhausparkplatz ab, wo sie direkt auf einem Behindertenparkplatz hielt. »Könnte sogar ein Foto von mir sein, wenn ich zwanzig Kilo abnehmen würde.« Sie schaltete den Motor ab.

»Daher habe ich unseren Freund aus Cambridgeshire auch gebeten, ihren Mann mitzubringen. Der soll uns bestätigen, dass wir ganz sicher seine Sarah Langton gefunden haben und nicht irgendwen sonst.« Corcoran starrte erneut auf das Foto und wischte dann zur Vermisstenanzeige zurück. »Sie wurde in Cambridge als vermisst gemeldet, und sechs Wochen später liegt sie in Oxfordshire in einem Straßengraben, mindestens zwei Stunden Fahrt entfernt. Ein ganz schönes Stück.«

Thompson öffnete die Fahrertür. »Haben Sie irgendwelche Theorien?«

»Zu viele, und von allen wird mir schlecht.«

[12:57 Uhr]

»Inspector?« Eine Ärztin trat in der Notaufnahme zu ihnen. Sie war mittelgroß, hatte leicht angegrautes Haar, und ihr Gesicht war mit Lachfältchen übersät, die tiefer wurden, als sie zur Begrüßung breit grinste. »Dr. Tamara Yadin. Kann ich Sie kurz sprechen?«

Thompson wies mit dem Daumen auf Corcoran. »Macht es Ihnen was aus, wenn das Wunderkind hier mitkommt?«

»Ganz und gar nicht.« Dr. Yadin marschierte durch die trostlose Höllenlandschaft des Wartebereichs der Notaufnahme. Sechs Reihen Stühle standen einander paarweise gegenüber, und auf fast allen saßen Verletzte, die noch laufen konnten, sowie die Verwandten der Kranken und Sterbenden. Yadin hielt ihnen eine Tür auf.

Thompson gab Corcoran nicht die Gelegenheit, ihr den Vortritt zu lassen. Also ließ er erst Yadin hindurchgehen und folgte ihr dann.

In eine Art Wandschrank. Die Regalbretter an den Seiten waren mit Putzkram und medizinischer Ausrüstung gefüllt. Ein Mopp stand in einem Eimer, der nach aggressiven Chemikalien und Schlimmerem stank.

»Tut mir leid, aber der Platz ist heute knapp, also mach ich es kurz.« Dr. Yadin lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und verschränkte die Arme. »Sarah wird gerade rehydriert. Das ist jetzt unsere oberste Priorität. Zwar ist ihr Körper nicht in kritischem Maße ausgetrocknet, aber wir müssen sie an eine fünfprozentige Glc-Lösung hängen, um …«

»An was?«

Yadin seufzte und sah Thompson an. »Eine Kochsalzlösung mit fünf Prozent Glukose. Wir beginnen, ihren Körper langsam wieder mit Nahrung zu versorgen, indem wir der Lösung Vitamine und Kalium zusetzen, um mögliche Komplikationen mit dem Herzen zu vermeiden. Ein Refeeding-Syndrom ist für die nächsten vierundzwanzig Stunden das größte Risiko, also müssen wir ihren Zustand permanent überwachen und kleine Anpassungen vornehmen.« Sie biss die Zähne zusammen. »Ich warne Sie gleich vor, es wird nicht schnell gehen. Es wird Tage, vielleicht sogar Wochen dauern, bis wir eine Prognose stellen können.«

Thompson rollte mit den Augen. »Sie meinen, wir dürfen nicht mit ihr sprechen?«

»Sie können es gern probieren, ich werde Sie nicht aufhalten, das wissen Sie, aber sie ist in einem extrem geschwächten Zustand, und ihr Genesungsprozess sollte für uns alle Vorrang haben.«

»Der Zustand, in dem sie sich befindet, liegt der am Nahrungsentzug?«

»Auf jeden Fall.« Dr. Yadin warf einen Blick auf ihr Tablet, das sie auf ihrer Armbeuge abstützte. »Sarah zeigt sämtliche Symptome wie Hautausschlag, Haarausfall, Zahnfleischbluten, Krämpfe. Und sie ist so schwach wie ein einen Tag altes Kätzchen.« Sie sah auf. »Ich hatte schon mit einer ganzen Reihe von Essstörungen bei erwachsenen Patienten zu tun und …« Sie verstummte, und ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich.

Thompson gab ihr ein paar Sekunden. »Was bedeutet das konkret, Doc?«

»Wie gesagt, es wird eher Tage oder Wochen dauern, statt nur ein paar Stunden. Und dabei ist noch gar nicht sicher, ob sie überhaupt durchkommt. Tut mir leid.«

[14:38 Uhr]

Es klopfte.

Thompson öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte hinaus. Dann öffnete sie sie ganz. »Willkommen in unserer Grotte.«

Ein riesiger Mann duckte sich unter der Türzarge hindurch und schlängelte sich herein. Anfang vierzig, kahlköpfig, ein billiger Anzug hing ihm lose über den Schultern. Er streckte Corcoran die Hand entgegen. »DC Will Butcher, Polizei von Cambridgeshire. Haben wir miteinander telefoniert?«

»Das ging ja schnell.« Corcoran schüttelte ihm die Hand und zeigte dann auf seine Chefin. »Das ist DI Alana Thompson.«

Sie ließ die Hände in den Taschen. »Haben Sie den Ehemann dabei?«

»Ja.« Butcher deutete hinter sich. »Er wartet draußen. Ist schon eine komische Welt, hm?«

»Was ist so komisch daran?« Thompson öffnete erneut die Tür und ging an ihm vorbei.

»Was hat die denn für ein Problem?« Butcher warf einen finsteren Blick auf die sich schließende Tür. »Soll sie doch mal versuchen, auf der Straße mit einem Zivilisten auf der Rückbank hundert zu fahren …«

»Sie ist zu allen so, Constable. Nehmen Sie’s nicht persönlich.«

Butcher blickte Corcoran durch zusammengekniffene Augen an. »Sarahs Eltern hab ich bis jetzt noch nicht erreicht. Allerdings hab ich beiden Nachrichten draufgesprochen und eine SMS geschickt.« Er rieb sich mit der Hand über die blassen Lippen. »Ist es denn ganz bestimmt Sarah?«

»Das versuchen wir gerade rauszufinden.«

[14:50 Uhr]

Christopher Langton stand mit zitternden Händen in einer anderen Tür und hörte Dr. Yadin zu. Ihre Worte schienen jedoch nicht richtig zu ihm durchzudringen. Durchschnittlich groß, mittelbraunes Haar und schlank wie ein Läufer. Keine besonderen Kennzeichen – die Art Mensch, den finden zu müssen ein Albtraum wäre, falls er jemals vermisst würde. Er wirkte vollkommen fertig, erschöpft von der Sorge, die sich schon vor einiger Zeit in Trauer verwandelt hatte. Ein leerer Blick drang aus Augen, unter denen sich dunkle Ringe abzeichneten – aber nun schimmerte wieder ein Funke Hoffnung darin. Er nickte und folgte Dr. Yadin zu einem Krankenzimmer; die kleine Tafel davor zeigte an, dass Sarah Langton darin lag.

Das Fensterglas beschlug von Butchers Atem, als er murmelte: »Ihr Zustand ist ja schrecklich …«

Sarah lag auf dem Bett und schlief. So sah sie sogar noch älter aus als auf der Landstraße, ihr Gesicht wirkte noch härter.

Ihr Ehemann stand vor ihr wie eine Statue. Dann kauerte er sich hin und drückte die Augen zusammen, in denen Tränen glitzerten. Er sagte irgendetwas und streckte die Hand nach Sarah aus.

Dr. Yadin ergriff ihn am Handgelenk und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Langton legte die Hand über die Augen und nickte knapp. Dann trat er wieder auf den Korridor hinaus, rieb sich die Augen und atmete schnell und stoßweise. »Das ist sie. Das ist meine Sarah.« Er gab einen Laut von sich, irgendetwas zwischen einem Seufzen und einem Stöhnen. Es klang noch nicht ganz nach Erleichterung. Vor ihm lagen weitere Wochen voller Sorgen, aber immerhin entfernte er sich nun von der elenden Verzweiflung. »Sie ist so abgemagert. Ich hab sie kaum wiedererkannt. Ich kann nicht glauben, dass ihr jemand so was angetan hat.«

Dr. Yadin führte ihn weg.

Thompson trat zwischen die beiden Polizisten. »Jungs, ihr müsst ihn befragen, während ich die zuständigen Behörden informiere.« Sie schüttelte den Kopf. »Zwei Zuständigkeitsbereiche … Das wird ein Riesenspaß.«

4

[15:12 Uhr]

»Hier entlang, Sir.« Corcoran öffnete die Tür und ließ Langton den Vortritt in eines der Familienzimmer. Es war geschmackvoll in Beigetönen eingerichtet, drei Sofas gruppierten sich um einen quadratischen Couchtisch. Eine Schachtel Taschentücher stand neben ein paar frischen weißen, rosa und lila Blumen.

Corcoran hielt Butcher kurz zurück. Dabei musste er zu ihm aufsehen – der Kerl war fast einen halben Kopf größer als er, allerdings wogen sie wohl ungefähr das Gleiche. »Ich führe das Gespräch, einverstanden?«

»Okay, Sergeant.« Butcher trat ein und setzte sich dem Ehemann gegenüber, seine langen Beine versperrten dabei den Durchgang zwischen ihnen.

Corcoran musste hinter Langton vorbeigehen, um sich auf das dritte Sofa setzen zu können. »Danke, dass Sie Ihre Frau identifiziert haben, Sir. Ich kann verstehen, wie schwer das für Sie gewesen sein muss. Aber wir sind fest entschlossen, denjenigen zu finden, der ihr das angetan hat.« Er wies auf Butcher. »Ich weiß, dass Sie mit meinem Kollegen hier alles schon durchgegangen sind, aber …«

»Lassen Sie mich eine Sache anmerken. Jetzt, wo Sie sie gefunden haben, interessieren Sie sich für den Fall?« Langton stieß ein freudloses Lachen aus. »Der geeignete Zeitpunkt dafür wäre gewesen, als die Spur noch heiß war. Sie …«

»Ich kann verstehen, dass …«

»Sparen Sie sich das!« Langton deutete energisch mit dem Zeigefinger zur Tür. »Sie haben gesehen, in was für einem Zustand sie sich befindet! Sie haben gesehen, wie kaputt sie ist!« Noch eine kraftvolle Bewegung mit dem Finger, dann ließ er den Kopf hängen. »Sie hätten sie früher finden sollen.«

»Ich verstehe, dass Sie frustriert sind, Sir.« Corcoran rutschte auf seinem Platz nach vorn. »Ich wünschte, wir hätten mehr Ressourcen, um uns mit Fällen wie dem Ihrer Frau zu befassen, aber DC Butcher hier …«

»Quatsch.« Langton konnte sich nicht dazu durchringen, Butcher anzuschauen. »Vollkommener Quatsch. Er hätte vor sechs Wochen viel mehr tun können.« Er schluckte seine Worte herunter und presste dann die Augen zu. »Tut mir leid.« Er sah zu Butcher hinüber. »Ich bin vollkommen durch den Wind, ich …«

»Ich verstehe, Sir. Und Sie haben ja recht.« Butcher lächelte ihn an. »Es kann immer mehr getan werden, und es tut mir sehr leid, dass wir Sarah nicht früher ausfindig gemacht haben. Aber jetzt, nachdem wir sie gefunden haben, wissen wir, dass ihr ein Unglück zugestoßen ist. Vorher, na ja, da hätte es auch …«

Corcoran lenkte Butchers Aufmerksamkeit auf sich, und sein finsterer Blick brachte den Mann zum Schweigen. Er sah zu Langton hinüber. »Bis wir mit Sarah sprechen können, betrachte ich diesen Fall als mutwilliges Verbrechen. Ich gehe davon aus, dass ihr das angetan worden ist, und ich will die verantwortliche Person finden und sie dafür – mit etwas Glück und genug Zeit – zur Rechenschaft ziehen.«

Langton saß einfach nur da und blickte Corcoran durchdringend an. »Irgendwer hat sie einfach an den Straßenrand geworfen? Wie kann …« Langton nahm sich ein Taschentuch und tupfte sich damit die Augen ab. »Wie kann ich helfen?«

»Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie uns alles noch einmal von Anfang an erzählen könnten. Ich weiß, es ist …«

»In Ordnung.« Langton sah Corcoran fest an. Er musste diese Rede viele Male geprobt, sie vor Freunden, Familienangehörigen, Kollegen und sogar der Polizei gehalten haben. »In jener Nacht, es war ein Freitag, bin ich zum Squash gegangen. Danach hab ich mit den Jungs noch ein paar Bier getrunken und bin dann heimgefahren, aber Sarah war nicht da. Das Haus war ganz kalt, obwohl sie normalerweise die Heizung eingeschaltet hätte. Sie mag es warm. Und auch der arme Milhouse hatte kein Futter bekommen. Das ist unser Kater. Sarah vergöttert ihn.« Er schloss die Augen. »Er hat sie vermisst …«

»Haben Sie niemals irgendwelche Nachrichten erhalten?«

»Nie. Und Sie können mir glauben, dass ich danach gesucht habe.« Langton gestikulierte in Richtung Butcher. »Es gibt nicht viele Leute, denen ich den Inhalt meines Handys zeigen würde, aber er hat es durchkämmt.«

»Mit dem feinen Kamm.« Butcher nickte. »Sarahs Handy haben wir nicht finden können. Das letzte Mal, dass es geortet wurde, war vor ihrem Haus.«

Corcoran sah Langton an. »In Cambridge, richtig?«

»Ein ruhiger Vorort.« Langton seufzte. »Ich denke immer, dass es ihnen viel schwerer gefallen wäre, sie zu entführen, wenn wir in einer Stadt leben würden.«

»In einer Stadt zu leben, schützt nicht wirklich vor Verbrechen, Sir.«

Langton nickte, als ob diese Bemerkung ihm eine seiner Sorgen genommen hätte. »Was kann ich Ihnen sonst noch erzählen? Sie liebt Fotografie. Zu Weihnachten hab ich ihr eine neue Sony-Kamera geschenkt, jetzt wo sie …« Seine Nasenflügel bebten. »Wir laufen beide. Nehmen jedes Jahr am London- und am Paris-Marathon teil. Die in Boston und New York hatten wir als Nächste ins Auge gefasst.«

Corcoran warf Butcher einen Blick zu. »Hatte sie einen Fitnesstracker?«

»Letzten Sommer hat sie sich eine Smartwatch gekauft, um ihre Läufe zu überwachen und so weiter. Jeden Morgen hat sie auf einer dieser Fitnesswaagen ihr Gewicht kontrolliert … einem von diesen Hightech-Dingern, die auch das Körperfett messen und …« Langtons Lippen zitterten. »Sie war wie besessen davon, den Anteil unter fünfzehn Prozent zu drücken. Jetzt ist sie …« Er nahm sich noch ein Taschentuch und verbarg die neuerlichen Tränen, indem er sich die Nase putzte.

Ein Schatten huschte über die Glastür, bevor sie geöffnet wurde. Lächelnd stand Dr. Yadin im Rahmen. »Mr. Langton, Sarahs Eltern sind eingetroffen. Darf ich Sie bitten, ihnen behilflich zu sein?«

»Natürlich.« Langton stand auf, hielt dann inne und sah mit gerunzelter Stirn zu Corcoran. »Oder brauchen Sie mich noch?«

»Ich bin sicher, wir haben noch weitere Fragen, Sir, aber jetzt sollten sie mit ihnen Zeit verbringen.«

»Okay.« Mit gesenktem Kopf folgte Langton Yadin nach draußen.

Butcher erhob sich und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Armer Kerl.«

»Das ist eine Sichtweise.« Corcoran lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. »Worum ging es denn bei diesen ganzen Feindseligkeiten?«

»Er ist wütend auf alle für das, was passiert ist. Das haben Sie vermutlich selbst bemerkt.«

»Sind Sie sicher, dass es nicht um mehr geht?«

»Ich weiß, was Sie denken. Ich bin kein idiotischer Dorfpolizist, der nur Mist baut.« Butcher ließ die Schultern hängen. Er schien sich nicht wirklich darüber zu freuen, dass eine Vermisste, die in seine Zuständigkeit fiel, wiederaufgetaucht war. Eher zeigte er die Angst eines Mannes, der einen Tritt in den Hintern verpasst bekommen würde, weil er sie nicht selbst gefunden hatte. Kraftlos sank er auf den Platz nieder, auf dem Langton gerade noch gesessen hatte. »Das Dumme ist, dass Sarah einfach nur irgendeine Vermisste war. Bei Ihnen in Thames Valley muss es von denen doch nur so wimmeln, oder? Studierende mit immensem Druck, in Oxford das Studium erfolgreich abzuschließen. Das Gleiche gilt für Cambridge. Manche von denen, die nicht versuchen, sich umzubringen, hauen einfach ab. Dann gibt es noch die ganzen Kleinstädte und Dörfer, in denen jeden Tag irgendwer von zu Hause wegläuft …«

»Gab es denn irgendwelche Verdächtige?«

»Seltsam, dass Sie fragen.« Butcher lehnte sich vor und blickte zur Tür. »Ich hab es für möglich gehalten, dass er sie umgebracht hat.«

Die meisten Mordopfer kannten ihren Mörder. Bei der Familie anzufangen, war die naheliegendste Vorgehensweise.

»Was hat Sie zu dieser Annahme verleitet?«

»Mein erster Gedanke war, dass sie vielleicht mit irgendwem durchgebrannt ist.« Ein finsterer Ausdruck trat auf Butchers Gesicht. »Aber wir konnten keine großen Kontobewegungen oder irgendwelche anderen verräterischen Indizien dafür finden, dass sie geplant hätte, sich aus dem Staub zu machen. Und er … Er hat die ganze Zeit bei mir angerufen. Es gab nie was Neues, aber es fühlte sich so an, als fischte er im Trüben und wollte herauskriegen, ob er zu den Verdächtigen gehörte.«

»Haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte dafür gefunden, die diese Theorie erhärten?«

»Die Sache ist die, wir haben seine Geschichte überprüft, und er ist tatsächlich mit seinen Squash-Kumpels unterwegs gewesen. Es gab Bilder von Überwachungskameras aus der Kneipe, dem Bus und von der Straße.« Butcher packte sich an die Oberschenkel. »Das heißt aber nicht, dass ihm niemand geholfen haben könnte.«

Die Tür öffnete sich erneut. Thompson trat geräuschvoll ein, ließ sich neben Corcoran aufs Sofa fallen und stupste ihn mit dem Schuh gegen das Schienbein. »Rücken Sie mal.« Sie zog eine Packung Pfefferminzbonbons aus der Tasche und zerbiss eins davon, ohne einem der anderen eines anzubieten. »Ich habe mit meinem Chef und unseren jeweiligen Gegenstücken bei der Polizei von Cambridge gesprochen. Das Ganze ist jetzt ein Fall mit hoher Priorität, und ich leite die Ermittlungen. Hat wohl was mit meinem Sündenregister zu tun. Mein Arsch ist also in der Schusslinie. Und wir kriegen weiteres Personal, das uns aushilft.« Sie bedachte Butcher mit einem eisigen Blick. »Ich bin dankbar für Ihre Bemühungen bis hierher, Constable. Sie sind meinem Team zugeteilt worden, dafür können Sie mir später danken. Unser Hauptquartier richten wir in Thames Valley ein, in Ordnung?« Sie steckte sich noch ein Bonbon in den Mund, das sie diesmal allerdings lutschte. »Die Medien halten wir vorerst mal aus der Sache raus. Wir stechen so wenige Details wie möglich durch. Das Letzte, was wir wollen, ist, die Leute in Panik zu versetzen.« Sie zog die Augenbrauen hoch. »Es sei denn, Sie glauben, sie sollten Angst haben?«

Butcher bedachte sie mit einem neutralen Blick. »Ich weiß nicht, was Sie damit meinen.«

»Es sieht ganz danach aus, als ob jemand eine Frau entführt hat, Constable, sie irgendwo sechs Wochen lang gefangen gehalten hat.« Thompson warf ein Foto auf den Tisch. Es war eine Aufnahme aus etwas weiterer Entfernung, Sarah Langton in ihrem Laufoutfit. Darauf wärmte sie sich gerade auf. Ihre athletische Figur hatte nichts mit dem Skelett zu tun, das sie am Straßenrand gefunden hatten. »Meine Frage lautet, ob es da draußen jemanden gibt, der fürchtet, es könnte bekannt werden, dass wir ihm auf der Spur sind. Und ob er es noch einmal tun wird.«

Butcher brauste auf. »Was …«

»Alana.« Corcoran warf Butcher einen Blick zu, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Hören Sie, wir wissen ja noch immer nicht, ob es sich überhaupt um eine Entführung handelt. Sie könnte genauso gut einen psychotischen Schub erlitten und von sich aus gehungert haben.« Er nahm das Foto in die Hand. »DC Butcher hatte Pech, aber jetzt haben wir sie gefunden, sie ist am Leben, und wir können mit angemessener Ausstattung sorgfältigere Ermittlungen durchführen. Wir haben schon die Möglichkeit angesprochen, ob ihr Ehemann etwas mit ihrem Verschwinden zu tun haben könnte. Das würde ich gern genauer untersuchen.«

»Einverstanden.« Thompson zerbiss noch ein Pfefferminzbonbon. »Also, die übliche Vorgehensweise: Ehemann, Familie, Nachbarn, Kollegen, Ex-Freunde, Ex-Freundinnen, Kontakte zu Kriminellen, Bankkonten. Des Weiteren alle Spuren, die mit Drogenmissbrauch zu tun haben könnten, psychische Krankheiten, medizinische Probleme. Im Augenblick ermitteln wir mit allem, was wir haben.«

Corcoran sah zu Butcher. »Gibt es noch etwas, was wir im Auge behalten sollten, Constable?«

Butcher räusperte sich. »Eine weitere Vermutung führt zu ihrem Job. Sie hat als wissenschaftliche Assistentin für ein pharmazeutisches Labor gearbeitet und ist da für die Statistik zuständig gewesen. Von diesen Laboren gibt es in der Gegend von Cambridge zwar eine ganze Reihe, aber dieses spezielle war auf dem Schirm einiger extremer Tierrechtler. Im Lauf der Jahre hat es einen ganzen Haufen von Drohungen bekommen.«

»Aber?«

»Sarah hat selbst keine Experimente durchgeführt. Und persönlich ist sie auch nie bedroht worden.«

Corcoran spielte das durch. »Ich halte es trotzdem für eine Möglichkeit, Alana.«

»Sie haben meinen Segen.« Thompson stand auf und steckte sich ein weiteres Bonbon in den Mund. »Okay, solange ich mich also um die Einrichtung einer Einsatzzentrale mit allem Zipp und Zapp kümmere, fangen Sie beide noch mal bei null an? Und nur damit das klar ist, Butcher: Das ist keine Kritik an Ihnen.« Sie zwinkerte Corcoran zu. »Fahren Sie nach Cambridge rauf und verfolgen Sie sämtliche Spuren. Finden Sie raus, ob es sich hier um eine Entführung handelt, und falls ja, schnappen Sie die Person, die der armen Frau das angetan hat. In Ordnung?«

5

[17:42 Uhr]

Corcoran hielt vor dem Tor an und wartete. Das Hauptquartier der Polizei von Cambridgeshire erstreckte sich um ihn herum, ein Klumpen wulstigen Betons, der einen Parkplatz umgab, über den eine ausladende Eiche ihre Äste breitete. Er ließ das Fenster herunter.

Seitlich von ihm befand sich ein Empfangshäuschen, aus dem blecherne Opernmusik schallte. Die Tür öffnete sich, und ein Sicherheitsbeamter hinkte zu seinem Wagen herüber. Jeder einzelne seiner windschiefen Schritte schien ihm große Mühe zu bereiten.

Corcoran streckte ihm seinen Dienstausweis entgegen. »Ich bin mit DC Butcher verabredet.«

»Mit Little Will?« Der Wachmann runzelte die Stirn, dann spannten sich seine Gesichtszüge an, und er nickte zu einem grauen Mondeo hinüber, der zwischen zwei Streifenwagen stand. »Viel Glück bei der Suche. Wenn man wohlwollend ist, könnte man sagen, er ist ein scheues Reh und kein schlüpfriger Geselle.« Er drückte auf einen Knopf auf einer Fernbedienung, und die Schranke hob sich fast synchron zu Corcorans Fenster. Langsam rollte er hindurch.

Ein Auto fuhr aus einem der Plätze unter dem riesigen Baum, und Corcoran stellte seinen Wagen dort ab. Wegen seiner Hüftschmerzen ließ er sich Zeit mit dem Aussteigen. Ein dumpfes Pochen hatte sich eingestellt, als er sich über die höllische Ortsumfahrung von Oxford gequält hatte. In diesem Moment hätte er einige Jahre seines Lebens für eine Tiefenmassage geopfert. Er schloss die Tür und freute sich, dass er dabei einen neuerlichen Schmerzensstich vermied.

»Da sind Sie ja.«

Corcoran drehte sich ruckartig um, sodass der Schmerz ihm scharf in die Seite fuhr.

Butcher zog an einer Zigarette und bückte sich tief, um seine riesige Gestalt unter das Raucherhäuschen falten zu können. Er hielt Corcoran die Schachtel hin, erntete aber nur ein Kopfschütteln. »Versuchen Sie aufzuhören?«

Corcoran blieb ein paar Schritte vor dem Häuschen stehen, aber dennoch wehten bläuliche Rauchschwaden zu ihm herüber. »Ich hab sechsmal versucht anzufangen, aber es war einfach nicht mein Ding.«

Butcher lachte bellend, dann nahm er einen tiefen Zug. »Heute dreht sich ja alles entweder um Krebs oder diese elektronischen Zigaretten. Oder beides.« Er atmete durch die Nasenlöcher aus, langsam und mit geschlossenen Augen, als ob ihm sonst keine Freude im Leben vergönnt sei. »Ich brauche einfach nur eine gute, ehrliche Zigarette.«

Corcoran bemühte sich, einen Platz gegen den Wind zu finden. »Also, wo sollen wir Ihrer Meinung nach anfangen?«

Butcher starrte zu Boden und vermied noch immer jeden direkten Blickkontakt. »Sie sind der Boss.«

»Die Akte wäre doch ein guter Ausgangspunkt. Dann die Zeugenaussagen, die Bilder der Überwachungskameras und wo auch immer wir im Lauf des Abends sonst noch so hingelangen.«

Butcher drückte seine Kippe auf dem Mülleimer aus und ließ sie dann hineinfallen. »Sie sind wirklich sehr bescheiden, oder?«

[17:42 Uhr]

Corcoran folgte ihm den Korridor entlang. »Haben Sie ein Problem mit mir?«

Schließlich sah Butcher ihn doch an, während er seinen Ausweis durch das Lesegerät der Sicherheitsschleuse zog. »Mit Ihnen nicht.«

»Geht es um Thompson?«

»Bingo. Hat gerade mal zwei Versuche gebraucht.« Butcher ging einen langen Flur hinunter, ohne auf Corcoran zu warten. Die Gummisohlen seiner Schuhe quietschten auf dem Linoleum. »Was ist los mit ihr?«

»Sie ist eine Polizeikommissarin.« Corcoran versuchte, ihn einzuholen, geriet dabei aber außer Atem. »Die gibt es hier doch sicher auch, oder?«

»Kumpel, spielen Sie mir nicht den Schlaumeier. Ich meinte, ob sie eine Quereinsteigerin oder so was ist.«

»Ich bin erst seit Kurzem in ihrem Team, also hab ich keine Ahnung. Aber Sie wissen doch sicher auch, in welche Richtung sich die Polizei entwickelt. Sie trägt eine riesige Last auf ihren Schultern. Schlimm genug, heutzutage Sergeant zu sein.«

Butcher schüttelte den Kopf.

Corcoran war klar, dass seine Argumente bei ihm vollkommen verpufften. »Hören Sie, sie hat sich nicht fies verhalten, weil Sie Scheiße gebaut haben, sie ist einfach nur …«

»Scheiße?« Butcher hielt ihm die Tür auf. »Glauben Sie wirklich, dass …«

»Nein, aber ich weiß, Sie glauben, dass sie glaubt, Sie hätten …« Corcoran hielt inne und seufzte. »Sie steht unter Stress, okay? Wir haben Sarah Langton gefunden, und es besteht die Möglichkeit, dass irgendwer sie entführt und gefoltert hat. Das bedeutet eine ausführliche Untersuchung. Thompson ist stellvertretende Einsatzleiterin, also hat sie den ganzen täglichen Verwaltungskram an der Backe, den ganzen Stress, den ganzen Ärger, den ganzen Druck. Sie muss sich mit Leuten wie mir rumschlagen.« Das brachte ihm ein Lächeln ein. »Im Moment hat es wirklich nicht oberste Priorität, sich über irgendwelchen Quatsch zu streiten. Wir müssen herausfinden, ob jemand Sarah das angetan hat, und wenn ja, müssen wir diese Person finden. Und falls Sie wirklich irgendwelchen Scheiß gebaut haben, dann wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, mir das zu beichten.«

Butcher starrte ihn ein paar Sekunden lang an, seine Lippen zuckten, als wollte er etwas sagen, doch stattdessen stieg er die Treppe hoch und ballte dabei die Fäuste in den Hosentaschen.

Polizisten und ihre empfindlichen Egos …

[17:52 Uhr]

Corcoran betrat das Großraumbüro, blieb stehen und betrachtete das übliche Treiben fauler Polizisten, die sich um einen geschäftigen Anschein bemühten. Zwei ältere Beamte scherzten leise am Wasserspender. Zwei Polizistinnen blickten von ihren Computern auf und Corcoran nach. Butcher machte sich in einer Kochnische neben dem Fenster zu schaffen, aus der der Karamellduft eines kolumbianischen Medium Roast hervorwaberte, während eine Filtermaschine neben ihm vor sich hin blubberte und zischte.

Die Aussicht war zum Großteil von der ausladenden Eiche versperrt, doch das Grellgelb der Streifenwagen stach dennoch durch das Blattwerk.

Butcher streckte sich, das Hemd rutschte ihm dabei aus der Hose. »Sie müssen von der Fahrt doch total geschafft sein. Ich bin es jedenfalls.« Dann hob er die Kanne mit der dunklen Flüssigkeit hoch und gähnte. »Ich mache einen Bombenkaffee.«

»Ich würde mir lieber die Akte ansehen.«

»Da drüben.« Butcher nickte in Richtung eines Schreibtischs in einer Ecke. Ein Bonsai-Apfelbaum stand neben dem Monitor. »Sind Sie sicher, dass Sie keinen wollen …?«

»Nur mit Milch, danke.« Corcoran ging hinüber und zog sich einen leeren Stuhl heran. Die Fallakte lag auf dem Tisch und wirkte frustrierend schmal. Er schlug sie auf und sah sie einmal kurz durch. Standardmaterial – alles war, wo es sein sollte, nur … es gab kaum irgendwas. Die moderne Ressourcenknappheit war das eine, aber das hier schrie geradezu vor Gleichgültigkeit.

Als er sie zum zweiten Mal durchging, bemerkte er, dass wenigstens fünf der Beamtinnen und Beamten ihn aus dem Augenwinkel beobachteten. Es war dieser vertraute sechste Sinn, der präzise die Blicke wahrnehmen konnte, die neugierig auf dem Neuankömmling lagen. Corcoran gewann aus seinem zweiten Durchgang keine neuen Erkenntnisse, aber es stachen ein paar Namen hervor, Leute, mit denen sie noch einmal sprechen sollten, jetzt, wo die Vermisste eine Wiedergefundene war. Ansonsten gab es hier gar nichts.

Butcher stand noch immer drüben an der Kaffeemaschine und roch gerade an einer Milchtüte. Ein Anzugträger quatschte ihn mit irgendetwas voll, zweifellos sein Detective Inspector auf ihm den Arsch rettender Mission. Mit einem letzten Nicken nahm Butcher die beiden Becher in die Hand und kam herüber; die zu Schlitzen verengten Augen seines Chefs richteten sich derweil auf Corcoran.

»Hier, bitte sehr.« Butcher stellte klirrend einen der Becher auf dem Schreibtisch ab und nippte an seinem eigenen. »Na, ist die Grube, die ich mir gebuddelt habe, tief genug, um mich darin zu beerdigen?«

Corcoran führte die Kaffeetasse an die Lippen und schnupperte. Erstaunlich gut für eine Polizeiwache. Dann nippte er, genoss die vollmundigen Aromen und den Hauch von süßem Karamell auf seiner Zunge. »Guter Kaffee.«

»Ich bin für die Maschine zuständig.« Butcher trank einen weiteren Schluck; er saß nun auf der Tischkante, obwohl sein eigener Stuhl noch frei war. »Man muss diese Mistkerle immer im Auge behalten, sonst schütten sie löslichen in die Kanne.«

Corcoran musste lachen, und zwar laut genug, um die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Wenn man in der Löwengrube saß, musste man so tun, als gehörte sie einem. »Er ist gut. Falls dieser Polizeiquatsch irgendwann den Bach runtergehen sollte, haben Sie eine vielversprechende Karriere als Barista vor sich.« Er stupste die Fallakte über den Schreibtisch. »Okay, lassen Sie uns damit anfangen, ob es irgendjemanden gab, mit dem Sie im Januar nicht sprechen konnten.«

Butcher stellte die Tasse ab und nahm die Akte in die Hand. »Ich bin so gründlich vorgegangen, wie es meine Zeit erlaubte. Hab mit allen Nachbarn und ihrer Chefin gesprochen.«

»Das haben Sie sehr gut unter Vorbehalt formuliert.«

Butcher zuckte mit den Schultern. »Mein DI hatte dem Fall keine oberste Priorität eingeräumt.«

Corcoran bemerkte aus dem Augenwinkel, wie sich der Anzugträger auf sie zubewegte. »Hat irgendwer irgendwas gesehen?«

»Nada.«

»Überwachungskameras?«

Bevor Butcher antworten konnte, streckte der Anzugträger Corcoran mit breitem Lächeln die Hand hin. Er war wohl Mitte vierzig, aber die Augenringe und die schlaffe Haut am Hals ließen ihn älter wirken. Das schüttere Haar war für seinen Hautton ein paar Spuren zu dunkel. »DI Thomas Hinshelwood. Sie müssen Corcoran sein, stimmt’s?«

»Ganz recht.« Corcoran begrüßte ihn mit einem schönen festen Händedruck, was sein Gegenüber nur mit hochgezogenen Brauen quittierte. »Ich nehme an, man hat Sie informiert, Sir?«

»Nennen Sie mich doch Tom.« Hinshelwood stand jetzt mit verschränkten Armen da. »Und ja, Will hat mich auf dem Weg hierher angerufen. Kommen Sie gut klar?«

»Er ist ein Goldstück.«

Hinshelwood lachte laut auf, offenbar genoss er es, dass Butcher errötete. »Könnten wir beide uns kurz unterhalten?«

»Klar.« Corcoran folgte ihm zu einem vollkommen verglasten Büro, das an drei Seiten von Aktenschränken gesäumt war. Das Fenster nach draußen wurde von einem Schreibtisch versperrt, auf dem sich die Papiere stapelten. Er ließ die Tür offen stehen.

Hinshelwood setzte sich nicht hin, sondern schritt stattdessen auf dem begrenzten Platz, der ihm zur Verfügung stand, auf und ab. »Hören Sie, Sergeant, ich möchte ganz offen mit Ihnen sprechen. Ihre Anwesenheit hier gibt mir Anlass zur Sorge.« Er seufzte. »Nach meiner Erfahrung ist es so, dass, wenn Leute wie Sie Spuren wieder ausgraben, die wir nicht weiterverfolgt haben, na ja, sicher verstehen Sie, wie das dann aussieht …«

»Wie denn?«

Ein weiteres Seufzen. »Am Tag, nachdem Will den Fall übernommen hatte – buchstäblich am nächsten Tag –, gab es hier einen spektakulären Mordfall, ein junges Pärchen wurde erdrosselt im Cam gefunden, direkt hinter der Stadtgrenze. Die Sache war überall in den Nachrichten. Ich hatte keine Wahl, ich musste Will darauf ansetzen. Ich hatte wirklich keine Wahl.«

»Verstehe, Sir. Ich bin nicht hier, um Ihre Inkompetenz zu evaluieren.« Corcoran erntete als Antwort darauf einen finsteren Blick anstelle eines Lächelns. »Aber Tatsache ist, dass Sarah Langton auf einer Landstraße in Oxfordshire wiederaufgetaucht ist. Halb verhungert. Und wir werden herausfinden, warum das passiert ist und wer das getan hat.«

»Falls es einen Täter gibt.«

»Sicher.«

Hinshelwood richtete seine Manschettenknöpfe, sodass sie im Licht der Deckenstrahler aufblitzten. »Die Sache ist die, anlässlich meines Personalengpasses habe ich mir den Fall selbst noch einmal angeschaut und ihn als übliches ›von zu Hause weglaufen‹ eingestuft. Gibt es denn irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass es sich um etwas anderes handelt?«

»Im Moment ist das noch schwer zu sagen.«

»Nun, falls es so sein sollte, wird mir das den Schlaf rauben, das können Sie mir glauben.« Hinshelwood bahnte sich einen Weg zu seinem Stuhl, setzte sich hin und umklammerte die Knie mit den Händen. »Wir waren nicht in der Lage, den Fall weiterzuverfolgen, weil uns nicht genug Personal zur Verfügung stand, also seien Sie nachsichtig mit uns, okay?«

»Haben Sie den Mörder geschnappt? Von den Erdrosselten im Cam?«

Hinshelwood hob eine Akte hoch und starrte geistesabwesend darauf. »Die Mörder.«

»Das ist doch immerhin etwas.«

»Hm-hm.« Hinshelwood legte die Akte wieder hin und fixierte Corcoran mit festem Blick. »Was auch immer Sie jetzt denken mögen, es handelt sich hier weder um Böswilligkeit noch um Inkompetenz. Wir haben einfach nicht genug Leute, um unseren Job anständig zu erledigen. In Thames Valley drüben ist es doch sicherlich auch nicht anders?«

Corcoran lächelte ihn an und ließ das Eis ein wenig schmelzen. »Wir haben nicht mal den Luxus, dass sich unsere Detectives mit Vermisstenanzeigen befassen können.«

»Gute alte Zeit …« Hinshelwood schüttelte mit bitterer Miene den Kopf. »Dann lass ich Sie mal weitermachen, okay? Ich freue mich, dass Sarah wiederaufgetaucht ist. Ganz ehrlich … Ich wünschte einfach nur, sie wäre gesund und munter, nicht … so. Was mit ihr passiert ist.«

»Danke, Sir.« Corcoran schenkte ihm ein breites Lächeln und überließ ihn dann seinen düsteren Gedanken und seinem noch düstereren Bedauern.

Wieder zurück an Butchers Schreibtisch, schnappte er sich seinen inzwischen lauwarmen Kaffee und leerte die Tasse auf einen Zug. »Irgendwas gefunden?«

»Perfektes Timing.« Butcher nickte in Richtung des Bildschirms, der schwarz und leer wirkte. »Gerade hab ich die Aufzeichnungen der Überwachungskameras von der Nacht rausgesucht, in der Sarah verschwunden ist. Ich hab gewartet, bis Sie fertig sind mit …« Er zog eine Augenbraue hoch. »Was wollte er denn …«

»Spielen Sie’s einfach ab.«

Butcher drückte mit dem Daumen auf die Leertaste seiner Tastatur und lehnte sich dann mit verschränkten Armen zurück.

Das schwarze Display verwandelte sich in das Bild einer dunklen Straße in einem gesichtslosen englischen Städtchen, in dem sich ältere Steinhäuschen mit modernen Ziegelbauten mischten. Regentropfen malten Punkte in tiefe Pfützen, die der Wind wiederum zu einem feinen Nebel zerstäubte. Eine Frau rannte die Straße herunter und trat platschend in die Pfützen, während sie auf die Uhr sah und ein leuchtend weißes Kopfhörerkabel von einem Band um ihren Oberarm herabhing.

Sarah Langton, eine gesunde und fitte junge Frau. Vor dem Trauma, vor der Qual. Dann war sie weg, verloren gegangen zwischen zwei Kameras.

»Was ist mit der Rückseite dieses Gebäudes?«

Butcher lehnte sich quietschend auf seinem Stuhl zurück. »Das ist es ja gerade. Um ihr Haus herum gibt es keine weiteren Kameras.«

Corcoran starrte aus dem Fenster auf einen Ausschnitt des Parkplatzes, auf dem das schwächer werdende Sonnenlicht Tupfen auf den Blättern hinterließ. Sarah so zu sehen, traf ihn mit voller Wucht. Das Vorher-Bild. Gesund und stark, kein Sack aus Haut und Knochen. Der Kaffee lag ihm schwer im Magen. »Spielen Sie es noch mal ab.«

Erneut klackte die Leertaste.

Diesmal achtete Corcoran nicht auf Sarah, sondern konzentrierte sich stattdessen auf die Umgebung. An der Einmündung einer Seitenstraße stand ein silberner Audi mit laufendem Motor, der Auspuff schickte Wolken in die Nachtluft. Er hielt das Bild an und tippte dann auf den Bildschirm. »Wer ist das?«

»Ich hab’s gesehen.« Butcher räusperte sich. »Natürlich hab ich es gesehen.« Er kratzte sich am Hals. »Dummerweise sind die Nummernschilder nicht zu erkennen.«

Corcoran blickte mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm und versuchte, die Hieroglyphen zu entziffern. Butcher hatte recht – die Nummernschilder waren unlesbar. Ob böse Absicht oder Zufall, war eine andere Frage. Er wusste, worauf er wetten würde, wenn er müsste.

»Ich habe sogar die Kameras im weiteren Umkreis überprüft – nicht dass man dort ’ne Menge finden würde. Eine halbe Meile entfernt gibt es eine Sainsbury-Filiale, die mit den Dingern tapeziert ist. Außerdem einen Baumarkt und einen Großhandel daneben. Alles in allem sind einfach zu viele Audi A4 zu dieser Zeit in der Gegend unterwegs gewesen.«

»Ich nehme an, Sie haben …«

»Japp. Alle Fahrer, mit denen ich gesprochen habe, hatten Alibis dafür, wo sie als Nächstes hingefahren sind und woher sie kamen.«

»Und was ist mit denen, mit denen Sie nicht gesprochen haben?«

»Ich hab mit allen gesprochen, Kumpel.« Butcher ließ den Blick zu Hinshelwoods Büro wandern. »Allerdings hab ich keine Chance mehr gehabt, die Alibis auch zu überprüfen.«

Corcoran verfluchte sein Pech und warf noch einen Blick auf den Monitor. Irgendwas an dem Bild stimmte nicht. Er tippte noch einmal gegen das Glas. »Das ist aber kein A4, sondern ein S4.«

Butcher lief rot an. »Sind Sie irgend so ein Autonarr, oder was?«

»Ich kenn mich mit Autos einfach nur aus.« Corcoran zog den Umriss des Autos auf dem Bildschirm mit dem Finger nach. »Der größte Unterschied ist der Motor, aber dieses Modell hat auch eine Sportverkleidung. Es ist teurer als das normale und daher viel seltener. Das bedeutet, es ist einfacher zu finden.« Er richtete sich auf. »Können Sie mir Zugang zu den Überwachungskameras verschaffen? Ich brauche Ihre …«

Butcher stieß einen Seufzer aus. »Na gut. Ich schick alles rüber.«

»Kein Grund, beleidigt zu sein.« Corcoran drückte wieder auf Play und sah sich das Bildmaterial noch einmal an. Ansonsten fiel ihm nichts auf. »Aber Sie sollten bei Ihren Quellen schon mal nach irgendwelchen S4 suchen.«

»Klar.« Butcher setzte sich knurrend hin und ließ seinen Frust an der Tastatur aus.

Corcoran erhob sich, um sich zu strecken. »Wollen Sie noch einen?«

Butcher stupste seinen Becher mit dem Ellbogen zu ihm hin.

Corcoran ging zur Kaffeemaschine hinüber und füllte die Tassen. Die Milch roch sauer, also schenkte er sie nur Butcher ein.

»Sergeant.« Hinshelwood hatte beschlossen, dass dies der ideale Moment sei, um in dem Schrank nach einem Becher zu kramen. »Wie kommen Sie voran?«

»Wir haben vielleicht eine Spur.«

Corcoran prostete ihm mit seiner Tasse zu und ging dann zurück zu Butcher.

»Was gefunden?«

»Danke.« Butcher trank einen Schluck und schnalzte dann mit den Lippen. »Okay, also, ich habe drei Audi S4 gefunden. Alle sind von den Kameras mit der automatischen Nummernschilderkennung eingefangen worden, die dort aufgestellt sind, wo diese Straße auf den M11 einmündet.« Er bedachte Corcoran mit einem Bettelblick. »Wollen Sie mit den Besitzern reden?«

Corcoran lehnte sich auf dem Stuhl zurück, trank seinen Kaffee und dachte nach. Hinshelwood goss sich eine Tasse ein, während er sie unverhohlen fixierte. Jede ihrer Bewegungen würde genau registriert werden, also mussten sie mit Bedacht und präzise erfolgen.

Er lehnte sich nach vorn, näher zu Butcher und seinem Computer hin. Dann spielte er das Filmchen noch einmal ab, diesmal allerdings auf halber Geschwindigkeit. Bei jedem ihrer Schritte wirkte Sarah, als ob sie auf dem Mond unterwegs wäre. Gegen Ende sah sie noch ein zweites Mal auf ihre Armbanduhr und hob dann leicht die Hand. Winkte sie etwa jemandem?

Er spulte zurück und spielte die Stelle erneut ab.

»Sie glauben, dass das eine Neuigkeit für mich ist, stimmt’s?« Butcher rollte mit den Augen. »Sie winkt einem anderen Läufer zu.«

»Jemandem, den sie kannte?«

Butcher öffnete die Fallakte. »Andy Murphy, ein Nachbar. Er ist in derselben WhatsApp-Laufgruppe wie Sarah und Christopher. Da schreiben sie sich, wer an welchem Abend Lust hat zu laufen und so weiter. Andy ist regelmäßig mit Sarah und Christopher gelaufen, also muss er sie ziemlich gut kennen.«

»Warum ist Sarah an dem Abend dann allein unterwegs gewesen?«

Butcher schnaubte und legte die Akte auf seinen Schreibtisch zurück. »Christopher hat mir erzählt, dass Sarah ziemlich oft von der Arbeit nach Hause gelaufen ist – acht Meilen von Tür zu Tür.«

Corcoran trank seinen Kaffee aus, der inzwischen bitter schmeckte.

»Regelmäßig?«

»Wie ein Uhrwerk, Kumpel. Jeden Montag, Mittwoch und Freitag.«

Corcoran fühlte einen Stich in seinen Eingeweiden, die vertraute Erkenntnis, dass irgendwer ihre Bewegungen in- und auswendig kannte, genau wusste, wo sie sich zu welcher Zeit aufhielt. Jemand, der ihr ein paar Wochen lang gefolgt war und ein Muster bemerkt hatte.

Oder jemand, der sie kannte.

6

[18:17 Uhr]

Sarah Langton wohnte in einem zweistöckigen Steinhaus, dessen wenig pflegeintensiver Vorgarten aus Kieselsteinen und immergrünen Sträuchern bestand. Es wirkte verlassen und dunkel. Und es musste gemietet sein – vollkommen unvorstellbar, dass sich ein junges Pärchen in dieser Gegend ein eigenes Haus leisten konnte. Im Inneren miaute eine Katze und kratzte an der Tür.

»Jemand muss das Tier füttern.«

Butcher lehnte sich mit verschränkten Armen und fest zusammengepressten Lippen gegen sein Auto. »Wir sollten Christopher wohl daran erinnern.«

Corcoran ließ ein weiteres Mal den Blick über das Haus schweifen. »Also, dieser Andy?«