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Der Winter rückt näher. Für einige Zeit glaubt Emma, die mit ihrer Familie erst kürzlich aus dem Ruhrgebiet zu ihrer Großtante in ein abgelegenes Bergdorf in Osttirol gezogen ist, ihre ungewollte Schwangerschaft nach einem One-Night-Stand sei ihr einziges Problem. Aber das alpenländische Idyll in Horngries bekommt Risse, als ein kleines Kind spurlos verschwindet. Und nachdem zwei Bergwanderer in der berüchtigten Höllerklamm eine grausige Entdeckung machen, nimmt das Unheil Fahrt auf. Eine Serie bizarrer Morde versetzt die Menschen der kleinen Dorfgemeinschaft in Angst. Bald kommt es zu gegenseitigen Verdächtigungen. Und das schreckliche Ungeheuer aus einer uralten Tiroler Legende, das in früheren Jahrhunderten regelmäßig Menschenopfer forderte, scheint zum Leben erwacht zu sein. Jedenfalls ist der alte Brandner Seppi, der seit vielen Jahren als Sonderling gilt, davon überzeugt. Als schließlich starker Schneefall einsetzt und die ganze Region in eine weiße Hölle verwandelt, ist auf Hilfe von außen nicht mehr zu hoffen. Spannung pur in einem beunruhigenden Thriller, so düster und beklemmend wie das fiktive, abgelegene Dorf in den Hochalpen, umgeben von schroffen Felsmassiven und gefangen in einer erbarmungslosen Schneehölle.
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Seitenzahl: 348
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Der Winter rückt näher. Für einige Zeit glaubt Emma, die mit ihrer Familie erst kürzlich aus dem Ruhrgebiet zu ihrer Großtante in ein abgelegenes Bergdorf in Osttirol gezogen ist, ihre ungewollte Schwangerschaft nach einem One-Night-Stand sei ihr einziges Problem. Aber das alpenländische Idyll in Horngries bekommt Risse, als ein kleines Kind spurlos verschwindet. Und nachdem zwei Bergwanderer in der berüchtigten Höllerklamm eine grausige Entdeckung machen, nimmt das Unheil Fahrt auf. Eine Serie bizarrer Morde versetzt die Menschen der kleinen Dorfgemeinschaft in Angst. Bald kommt es zu gegenseitigen Verdächtigungen. Und das schreckliche Ungeheuer aus einer uralten Tiroler Legende, das in früheren Jahrhunderten regelmäßig Menschenopfer forderte, scheint zum Leben erwacht zu sein. Jedenfalls ist der alte Brandner Seppi, der seit vielen Jahren als Sonderling gilt, davon überzeugt. Als schließlich starker Schneefall einsetzt und die ganze Region in eine weiße Hölle verwandelt, ist auf Hilfe von außen nicht mehr zu hoffen.
Spannung pur in einem beunruhigenden Thriller, so düster und beklemmend wie das fiktive, abgelegene Dorf in den Hochalpen, umgeben von schroffen Felsmassiven und gefangen in einer erbarmungslosen Schneehölle.
Copyright © 2025 Ruben Schwarz
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
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HÖLLERKLAMMThriller
Ruben Schwarz
"Die Alpen sind nicht bloß eine Landschaft, sie sind eine Welt für sich, groß, gewaltig und unerbittlich."
Adolf PichlerÖsterreichischer Schriftsteller und Geologe1819 - 1900
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
„Und wenn diese Tante Antonie eine Enkelin der Großtante deiner Mutter ist, ist sie dann deine Urgroßtante, oder Ururgroßtante, oder was?“ Lutz Plöns hielt das Lenkrad, wie meistens, nur mit der linken Hand, während er die rechte lässig auf dem Knauf des Schalthebels abgelegt hatte. „Und bist du dann ihre Urgroßnichte, oder Ururgroßnichte?“ Christine stellte fest, dass sie ihren Mann in den letzten Wochen selten so gut gelaunt erlebt hatte.
„Boah, Papa, du nervst“, beschwerte sich Emma, die im Fond des Wagens zwischen mehreren Reisetaschen und Rucksäcken eingeklemmt war.
„Ich hab keine Ahnung“, sagte Christine Plöns. Sie war entspannt auf dem Beifahrersitz heruntergerutscht und hatte die Beine so weit ausgestreckt, wie es die Sitzeinstellung des altersschwachen Passat Variant zuließ. „Sie hat gesagt, wir sollen sie einfach Tante Toni nennen, wie es alle machen, oder noch besser einfach Toni. Und fahr nicht so weit links, du machst mich ganz nervös.“ Lutz antwortete nicht, schmunzelte aber still vor sich hin, während er den Blinker setzte und zum Überholen eines weißen LKW mit geschlossener Ladefläche ansetzte, obwohl die langgezogene Kurve aus Christines Perspektive ein Überholmanöver eigentlich ausschloss. Der Truck hatte ein italienisches Kennzeichen und wirbelte feinen Sprühregen von der nassen Fahrbahndecke auf. Christine las die blaurote Aufschrift Carrefour, während Lutz den Passat an dem Laster vorbeirauschen ließ. Die Scheibenwischer fegten die Gischt von der Frontscheibe.
Die Familie Plöns hatte die Nacht in einem kleinen erschwinglichen Hotel in einem Außenbezirk von Innsbruck verbracht – was man so erschwinglich nannte -, und war heute früh schon um sieben Uhr aufgebrochen, um die letzte Etappe in ihr neues Leben hinter sich zu bringen. Sie waren zuerst über die Inntalautobahn Richtung Schwaz und Jenbach gefahren. Da war der Verkehr zu der frühen Stunde schon ziemlich dicht gewesen, aber immerhin hatte es da noch nicht geregnet. Auf der Bundesstraße 165 vor Zell am Ziller waren sie dann in einen Stau geraten, der sie fast dreißig Minuten gekostet hatte. Aber zum Glück hatten sie es nicht besonders eilig, und lediglich Emma auf der Rückbank hatte genörgelt. Aber das war bei ihr in letzter Zeit eher der Standard. Eigentlich, seit die Familie sich endgültig dazu entschlossen hatte, ihre Zelte in Duisburg abzubrechen.
„Man könnte meinen, du seist ein Kleinkind und nicht neunzehn Jahre alt“, hatte Christine ihre Tochter zurechtgewiesen. „Du wirst sehen, dieser Tapetenwechsel tut uns allen gut.“
„Ja, am Arsch“, hatte Emma erwidert.
„Bitte!?“ Christine Plöns hatte sich entrüstet zu ihrer Tochter umgedreht.
„Ja, am Arsch der Welt“, hatte die daraufhin ergänzt.
„Das ist nicht der Arsch der Welt“, hatte Lutz eingeworfen. „Man kann ihn aber von da aus schon ganz gut sehen.“ Der erwähnte Arsch der Welt war in diesem Fall die kleine Bauernschaft Horngries am Grathkogel, die vielleicht zwanzig, oder maximal fünfundzwanzig Seelen zählte und zur Gemeinde Turnach gehörte. Aber auch im Dorf Turnach lebten kaum mehr als dreihundert Menschen, sofern Wikipedia sich nicht irrte.
Bei Mittersill hatte das Navi sie von der B 165 auf die 108 gelotst, die Felbertauernstraße, und hier waren die Berge den Fahrbahnen immer näher gerückt und von Kilometer zu Kilometer höher zu beiden Seiten aufgeragt.
„Da, guck“, machte Christine ihren Mann aufmerksam und zeigte mit dem Finger auf die Frontscheibe.
„Ja, Matrei, Osttirol“, bestätigte Lutz, der das Hinweisschild ebenfalls gesehen hatte. Es regnete nicht mehr, aber die Fahrbahn war noch nass. „Noch knappe vierzig Kilometer. Aber wir müssen früher runter, bei Prossegg, wenn ich mich recht erinnere.“ Das Verkehrsaufkommen war inzwischen deutlich geringer geworden, die Landstraße stieg leicht, aber stetig an, und schlängelte sich in langgezogenen Kurven mehr oder weniger parallel zum Tauernbach Richtung Süden.
„Nach drei Kilometern fahren Sie rechts ab auf die Grubenstraße, Richtung Prossegg“, schaltete sich das Navigationsgerät ein, welches mit einem Saugnapf innen an der Windschutzscheibe befestigt war.
„Yes, Ma´am“, bestätigte Lutz Plöns gut aufgelegt. Christine schaute aus dem Seitenfenster und bewunderte die bewaldeten Berghänge, an deren düstere Gipfel sich graue Regenwolken klammerten. Von der Rückbank kamen keine Kommentare mehr, und sie hoffte, dass Emma sich ihren eBook-Reader vorgenommen hatte. Oder wenigstens ihr Smartphone. Obwohl sie bezweifelte, dass man hier zwischen den Bergen überall Netz hatte.
„Nach tausend Metern biegen Sie rechts ab.“ Es gab sogar eine Verzögerungsspur. Die Grubenstraße führte durch ein kleines Gewerbegebiet mit, unter anderem, einer KFZ-Werkstatt, einem Baumarkt, einem Schnellimbiss und einer Tankstelle.
„Willst du hier noch mal …?“, fragte Christine und deutete auf die Tankstelle, aber dann waren sie auch schon vorbei.
„Nein, ach was. Der Tank ist ja noch halb voll. So weit ist es gar nicht mehr.“ Christine musste sich eingestehen, dass sie jetzt doch ein bisschen nervös wurde. Sie hatte Tante, Großtante, oder Urgroßtante Antonie noch nie gesehen. Als sie den Brief von ihrer Mutter bekam, hatte diese sehr geheimnisvoll getan. Die Mutter wohnte in Recklinghausen, und sie hatten sie zusammen mit Emma an einem Samstagnachmittag besucht.
„Vielleicht ist das ja wirklich was für euch“, hatte Sabine Hellwig gesagt, als sie alle zusammen an der Kaffeetafel gesessen hatten. Christine hatte den Brief auseinandergefaltet und zuerst auf die steile und akkurate Sütterlinschrift gestarrt. Ihre Mutter Sabine hatte ihr das Dokument aus der Hand genommen und vorgelesen. Absenderin war eine Frau Antonie Reisinger, die anscheinend nach einigem Aufwand die Adresse von Christines Mutter herausgefunden hatte. Irgendwann in den 1920er Jahren, so hatte Antonie Reisinger in dem Brief erklärt, habe eine Vorfahrin von ihr, namens Hildegard Stüting, einen Alois Sempling aus Sankt Veit geehelicht und war ihrem frischgebackenen Ehemann aus ihrer Heimatstadt im Ruhrgebiet nach Osttirol gefolgt. Seither hatte es, zumindest soweit Sabine Hellwig berichten konnte, keinen Kontakt mehr zwischen der Verwandten in Österreich und ihrer Familie in Deutschland gegeben. Vermutlich war die Heirat ohne Zustimmung der Brauteltern erfolgt, und die Auswanderung mehr eine Flucht gewesen, so hatte die Mutter gemutmaßt. Und dann war Hitler an die Macht gekommen, es hatte Krieg gegeben, und die Menschen hatten andere Sorgen als Ahnenforschung zu betreiben. Die Eltern von Hildegard Reisinger, geborene Stüting, waren bei einem Bombenangriff auf Gelsenkirchen in ihrem Haus verschüttet worden. Aus diesem Blickwinkel betrachtet waren Hildegards Heirat und die Umsiedlung an den Allerwertesten der Welt, wie Emma es ausgedrückt hätte, eine gute Entscheidung gewesen.
Lutz und Christine Plöns hatten den Vorschlag der alten Dame aus Horngries bei Turnach spontan als absurd abgetan. Welchen Grund sollten sie haben, ihre Heimat zu verlassen, um in irgendein abgelegenes Kaff in den Bergen zu ziehen? Mal für zwei Wochen im Urlaub – ja. Das war sicher schön, gesunde Bergluft, Almwiesen, Kühe, Gipfelkreuze. Aber dort leben?
Sicher, es gab tatsächlich keinen zwingenden Grund dafür, aber Argumente gab es schon. Warum wohl hatte Christines Mutter ihnen überhaupt den Brief gegeben? Immerhin stand bei Thyssenkrupp in Duisburg die nächste Entlassungswelle ins Haus. Bisher war Lutz, der dort als Industriemechaniker für die Instandhaltung und Einstellung von Maschinen verantwortlich war, von den Entlassungen verschont geblieben, aber die Einschläge kamen erkennbar immer näher. Und Emma, die ihr duales Studium der Kindheitspädagogik abgebrochen hatte, weil ihr die Nasen der Kolleginnen und die der Eltern in der Kindertagesstätte nicht gefallen hatten, in der sie den praktischen Teil ihres Studiums absolvierte, wohnte ohnehin seit zwei Monaten wieder bei den Eltern und war mehr als unzufrieden mit ihrer Situation.
Christine Plöns, die schon vor Jahren ihren Job als Tierpflegerin im Duisburger Zoo aufgegeben hatte, um sich ganz der bildenden Kunst zu widmen – mit der sie sogar inzwischen Geld verdiente – konnte überall arbeiten. Einen Hof mit Kühen und Hühnern zu bewirtschaften hatte also durchaus seinen Reiz, zumal sich die berufliche Anbindung der Familie an ihre nordrhein-westfälische Heimat in Auflösung befand.
Aber, verdammt, immerhin waren sie beide über vierzig, Lutz sogar deutlich drüber, und in dem Alter war man normalerweise in einem Stadium seines Lebens, in dem man sich nicht mehr neu orientierte. In dem man angekommen war und seinen Platz kannte. Oder? Emma, ja mit Emma war das vielleicht ein kleines Problem. Aus ihr würde wohl kaum eine Jungbäuerin werden. Für sie mussten sie sich noch etwas einfallen lassen. Vielleicht konnte sie eine Ausbildung in einer nächstgrößeren Stadt beginnen, wenn der ganze Kram mit der Einbürgerung in Ösi-Land über die Bühne gegangen war. Oder sie konnte vielleicht doch nochmal studieren; Innsbruck hatte doch auch eine Universität. Christine hatte da schon mal ein bisschen gegoogelt.
„Ein Studium auf Lehramt, wäre das nichts für dich?“, hatte sie ihre Tochter mal gefragt.
„Von Kindern hab ich fürs Erste die Nase voll“, war die entschiedene Antwort. Okay, war ja nur ein Versuch gewesen. Ob die Sache mit Emmas eher semi-phänomenalem Abitur überhaupt was geworden wäre, war noch die Frage. Schließlich war das auch der Grund, warum sie sich für ein duales Studium entschieden hatte.
Der alte Diesel-Passat überquerte jetzt den Tauernbach. Die Brücke war nur einspurig, aber es gab ohnehin keinen Gegenverkehr. Nirgendwo war ein Schild zu sehen, das von Turnach, oder gar von Horngries kündete, aber die dominante Dame im Navi war sich ihrer Sache offenbar sehr sicher.
„Da ist der Berggasthof Strumerwirt“, sagte Christine und deutete nach links aus dem Fenster, wo ein großes holzverkleidetes Bauernhaus mit ausladenden Balkonen etwas unterhalb der Straße direkt am Bach stand. „Das stand so in der Beschreibung. Wir sind also richtig.“
„Sicher sind wir das“, sagte Lutz. Eine schmale Straße führte jetzt relativ steil nach oben. Es folgten Kurven nach links, Kurven nach rechts, und wieder nach links. Der Himmel hatte aufgeklart und zeigte blaue Wolkenlücken. Zu beiden Seiten erhoben sich bewaldete Berghänge, aus denen an vielen Stellen nackter Fels ragte.
„Schau doch mal, Emma, ist das nicht schön?“, sagte Christine.
„Ja, schon“, antwortete Emma. Und es klang sogar, als würde es ihr wirklich gefallen.
Als sie draußen die erregten Rufe hörte, trat Sieglinde Ganglhofer, ein Küchentuch in der Hand, auf den Balkon. Die unzähligen Geranien in den Blumenkästen sahen bemitleidenswert aus. Sie würde sie in den nächsten Tagen entsorgen müssen. Ende Oktober war ihre Zeit endgültig abgelaufen.
„Henni!“, rief eine helle Frauenstimme. Unten auf dem Weg zwischen dem Ziegenstall und dem hölzernen Unterstand, wo Kassian seine Kawasaki neben dem alten FAHR-Traktor und dem Volvo abgestellt hatte, mit dem bereits sein Vater gefahren war, sah Sieglinde Ganglhofer die Schwiegertochter des Gassnerbauern, unten aus Turnach. Ihren Vornamen wusste sie nicht. Der Frau hatten sich ein paar Leute aus dem Dorf angeschlossen. Immer wieder riefen sie den Namen. Als die Gruppe näherkam – Bärbel, eine Enkelin der Stiglerin und der alte Schorschi Schobler, der früher die Post in der Gemeinde ausgefahren hatte, waren unter ihnen – blickte sie zum Balkon hinauf, auf dem Sieglinde, die Schwiegertochter des Gassnerbauern stand. Die Schwiegertochter des Gassnerbauern hatte halblange dunkle Haare und trug einen Jeansrock, eine lange Strickjacke und feste Bergschuhe.
„Die Henni“, rief sie zu Sieglinde herauf, „hasch du die Henni gesehen, Ganglhoferin?“ Sie schien ziemlich aufgeregt zu sein. Sieglinde kannte die kleine Henriette, sie musste jetzt sechs oder sieben Jahre alt sein und ging wahrscheinlich auch schon zur Schule.
„Nein“, rief Sieglinde. Sie hatte ihre Hände auf der hölzernen Balkonbrüstung abgestützt und schüttelte den Kopf.
„Mein Gott“, stieß Marie hervor. Sie hieß Marie, das war Sieglinde eben eingefallen. Die anderen Leute blickten sich ratlos um. „Danke, ich muss weiter“, keuchte die Schwiegertochter des Gassnerbauern. Sie war ziemlich außer Atem, denn der Weg von Turnau herauf nach Horngries wies eine beachtliche Steigung auf.
Die Gruppe musste einem mit Baumstämmen beladenen LKW ausweichen, der holpernd auf das Gelände des Sägewerks fuhr. Dann lief Marie Gassner den grasbewachsenen Hügel neben dem Holzstoß und der Scheune hinauf, hinter der ein Mobilfunkmast aufragte. Der Mobilfunkmast, der die einzige digitale Verbindung zwischen Horngries und der Welt darstellte. Ihre Begleiter folgten ihr den Weg weiter hinauf. Bis Horngries war es von hier aus noch etwa ein Kilometer, wahrscheinlich mehr. Weiter oberhalb führte dann ein Kletterpfad hinauf zur Tenneralm, unterhalb des Grathkogels.
Sieglinde fragte sich, wie die Marie darauf kam, dass ihr kleines Madl allein bis dort hinaufgelaufen sein könnte. Eine leise Ahnung hatte sie, was in Maries Kopf vorgehen könnte. Der alte Gassner war schon immer abergläubisch gewesen, und vielleicht hatte das auf seine Schwiegertochter abgefärbt. Nur der alte Schorschi Schobler kapitulierte offenbar vor dem beschwerlichen Anstieg. Er stand noch immer unterhalb des Balkons.
„Die Henni isch heute Mittag nicht nach Hause gekommen“, erklärte er schwer atmend. Seine wenigen, viel zu langen grauen Haare waren vom Wind in alle Richtungen verwirbelt worden. „Mit dem Schulbus ist sie wohl angekommen“, sagte er. „Das sagt die Sara, die Kleine vom Steininger Michl. Die fährt doch immer mit ihr. Aber nach Hause gekommen ist sie nicht.“ Der alte Mann hob bedauernd die Schultern. „Wird schon wieder auftauchen, das Madl“, sagte er und hob den Arm. „Griaß di, Sieglinde“, fügte er hinzu, dann drehte er sich um und machte sich auf den Weg zurück zum Ort. Das war noch ein ordentlicher Marsch für den alten Mann. Sieglinde blieb noch einen Moment auf dem Balkon stehen und beobachtete, wie die vier Leute hinter einer Anhöhe oberhalb des Sägewerks verschwanden.
Warum sollte das Mädchen ausgerechnet dort hinauf gegangen sein? dachte Sieglinde. Und ganz alleine, das hatte überhaupt keinen Sinn. Genauso gut könnte sie sich in irgendeiner Scheune versteckt haben und mit ihrem Kaninchen spielen. Oder sie trieb sich mit anderen Kindern unten in Turnau auf der Wiese hinter dem Bärenwirt herum, wo es im Sommer manchmal Musikveranstaltungen gab, und wo sich Kinder aus dem Dorf oft unter der hölzernen Bühne versteckten. Aber Marie fürchtete sich vor etwas ganz anderem, darauf würde Sieglinde wetten.
So ein Kind konnte überall sein. Ihre eigenen, Max und Leopold, waren heute Nachmittag auch unterwegs. Sie kannten sich in der Umgebung aus. Sie wussten, wo sie sich herumtreiben durften, und wo sie sich fernzuhalten hatten. Das wussten alle Kinder hier am Berg. Und das sollte eigentlich auch für die kleine Gassner Henni gelten. Sieglinde war, wie der alte Schorschi, jedenfalls davon überzeugt, dass sich das Mädchen spätestens am späten Nachmittag, wenn es langsam dämmerte und sie Hunger bekam, wieder einfinden würde. Aber die Marie Gassner gehörte offenbar zu den Müttern, die zu viel Zeit dafür hatten, sich unnötige Gedanken zu machen.
Der alte Passat tat seinen Dienst, ohne zu murren. Christine Plöns hatte ihren Mann gefragt, ob sie ihn beim Fahren ablösen sollte, aber das hatte er abgelehnt.
„Jetzt bringe ich euch erstmal sicher bis zu deiner Groß-, Urgroß-, oder Ururgroßtante“, hatte er gesagt, „danach übernimmst du die Führung.“ Eben durchfuhren sie das Dorf Turnach, auf dessen kleinem Marktplatz - wenn man die Freifläche überhaupt als Marktplatz bezeichnen wollte - eine hölzerne, etwas verwitterte Madonnenfigur betend neben einer Bank stand. Der Platz wurde von Häusern umrahmt, die im alpenländischen Stil teils mit Holz verkleidet waren, und teils weißgetünchte Außenwände aufwiesen, mit hölzernen Balkonen und Schnitzereien an den Dachgiebeln.
Es waren nur wenige Menschen unterwegs. Der mutmaßliche Marktplatz, augenscheinlich die Dorfmitte, bildete den am tiefsten gelegenen Punkt des Ortes, denn die wenigen Straßen und Häuser schmiegten sich links und rechts an die Berghänge. Turnach war winzig, fand Christine, winziger als sie es sich vorgestellt hatte. Es gab keinen richtigen Stadtkern mit Geschäften, Lokalen und Souvenirläden, wie sie es eigentlich gehofft hatte. Ihre neue Heimat schien noch abgelegener und hinterwäldlerischer zu sein, als Emma befürchtet hatte. Diese hatte auch in den letzten zwanzig Minuten kein Wort mehr gesprochen.
Zuvor waren sie durch mehrere kleine Dörfer gefahren, deren Namen Christine nicht gekannt, und die sie sich auch nicht gemerkt hatte. Es war stetig bergauf gegangen. Die menschlichen Ansiedlungen bestanden ausschließlich aus kleinen Wohnhäusern und Bauernhöfen. Auf schrägen Bergwiesen weideten Kühe, und weiter oben kroch dichter Nadelwald an den Hängen empor. Die nicht sehr breite Straße führte zwischen Feldern und bewaldeten Hügeln durch einen tiefen Einschnitt in der Landschaft, der die Fernsicht nach allen Seiten stark einschränkte. Oberhalb des Waldes ragten felsige Gipfel in den grauen Himmel empor. Auf einigen waren Schneereste zu erkennen.
Am Ortsausgang von Turnach fragte Emma: „Und, ist das jetzt hier irgendwo in dem Kaff?“ Ihre Stimme war eine Mischung aus Ungeduld und Resignation. Christine drehte sich um, nickte ihrer Tochter zu und versuchte, ein fröhliches Gesicht zu machen. Dieser Umzug war ein harter Einschnitt und würde ihnen allen noch einiges abverlangen, aber sie war sich sicher, dass ihre Entscheidung die richtige gewesen war.
„Horngries liegt noch ein bisschen außerhalb“, erklärte Lutz und gab Gas. Die Straße führte jetzt kerzengerade durch ein kleines Laubwäldchen, dessen Bäume weitestgehend kahl waren. „Da oben.“ Er deutete durch die Frontscheibe nach vorn. „Oberhalb von Turnach. Quasi am Ende des Tals.“
„Da ist dann auch die Straße zu Ende“, ergänzte Christine. „Da gibts dann nur noch Berge und Natur.“
„Na, Mahlzeit“, sagte Emma. „Und ich hab kein Netz.“ Hinter dem Laubwäldchen folgte das Gelände eines Sägewerks, was man gut daran erkennen konnte, dass auf dem großen Platz vor den Gebäuden Unmengen an Baumstämmen gestapelt waren. Sie kamen an einer Art Carport vorbei, unter dem ein alter Traktor, ein modernes Motorrad und ein Oldtimer standen. Danach ging es ein kurzes Stückchen steil nach oben, und hinter einer engen Kehre erreichten sie eine freie Anhöhe mit hügeligen Wiesen, auf denen Kühe hinter Elektrozäunen weideten. Die Straße war jetzt nur noch ein Schotterweg, und die Reifen des Passats knirschten vernehmlich. Nach links blickte man in einiger Entfernung auf eine im Gegenlicht düster wirkende Bergkette, und rechts schlängelte sich ein Bach plätschernd zwischen Sträuchern und Felsbrocken zu Tal. Direkt in Fahrtrichtung gab die Anhöhe den Blick auf eine Ansammlung von Häusern, Scheunen und Ställen frei, die willkürlich und mit großen Abständen zueinander, direkt unterhalb einer schroffen Felswand, auf den Hang gestreut zu sein schienen.
„Alter“, rief Lutz aus und blickte zu Christine auf dem Beifahrersitz.
„Ist das toll“, bestätigte sie. „Was sagst du, Emma?“ Die Bauernhäuschen wirkten vor dem Hintergrund des steil aufragenden Berges wie die Miniaturen einer Modelleisenbahn.
„Gucci“, sagte Emma im Fond, was auch immer sie damit meinte, aber es klang, als sei auch sie beeindruckt. Lutz kurvte den Wagen um eine Ansammlung großer, teilweise mit Moos bewachsener Findlinge herum. Der Schotterweg führte direkt auf die Bauernhäuser zu und zwischen einem niedrigen Stall und einem winzigen Unterstand aus Holz hindurch, der einem Wartehäuschen für Zwerge glich. Nach einer Bushaltestelle sah es aber nicht aus. Sehr wahrscheinlich war es auch nicht, dass es hier oben eine Buslinie gab.
„Und wo jetzt?“, fragte Lutz. Christine musterte die einzelnen Häuschen. Es waren nicht mehr als sechs oder sieben, dazu kamen einige andere landwirtschaftliche Gebäude. Ihr Blick fiel auf ein zweistöckiges, winkelförmiges Haus aus dunkelbraunem, verwittertem Holz mit weiß getünchtem Fundament, das mit der rückwärtigen Wand an einer steilen Wiese errichtet war.
„Wenn mich nicht alles täuscht, ist das der Reisingerhof, wo Tante Antonie lebt“, antwortete Christine. „Unser neues Zuhause“, fügte sie zögernd hinzu, und für einen Moment kamen ihr beklemmende Zweifel, die sie mühsam wieder verdrängte. Lutz lenkte den Wagen auf die halbwegs ebene Fläche vor dem besagten Gebäude, die aus Schotter und Lehm bestand, auf der aber auch Unkraut wucherte. Der rechte Teil des Winkelhauses besaß viele kleine Fenster und im oberen Stock einen Balkon, der die ganze Front ausfüllte und von der Dachschräge überschattet wurde. Der linke Teil verfügte nur im Obergeschoss über zwei Fenster und einen kleineren Balkon. Eine Holztreppe verlief seitlich an der geschlossenen Holzwand entlang nach oben zu einer niedrigen Holztür, die mit Schnitzereien verziert war.
Es war keine Menschenseele zu sehen, aber als Lutz und Christine die Autotüren öffneten, um auszusteigen, erschien an der Tür des Bauernhauses eine Person. Die Frau war alt, trug ein blaues Kopftuch um die Haare gewickelt und stand leicht nach vorn gebeugt in der geöffneten Tür.
„Komm, steig aus, Emma“, sagte Christine und blickte hinüber zu der alten Frau. Ja, das musste wohl Tante Antonie sein. Christine überlegte kurz, ob sie irgendein Gepäckstück an sich nehmen sollte, entschied sich aber dann doch dafür, zunächst ihre Verwandte zu begrüßen.
„Hallo!“, rief sie.
„Griaß eich Gott“, rief die Tante. Ihre Stimme klang hoch und ein bisschen zittrig. Christine drehte sich zu Mann und Tochter um, die ebenfalls den Wagen verlassen hatten, und entdeckte vier Autos, die sich schnell auf dem Weg von Turnach herauf näherten. Es waren ganz eindeutig Polizeifahrzeuge.
Solch ein Polizeiaufgebot hatte Annika Wimmer noch nicht live erlebt. Sie waren im Konvoi durch den Ort gefahren und hatten ziemlich eindeutig Horngries zum Ziel. Das war um die Mittagszeit gewesen. Es hatten sich auch zwei Mannschaftswagen in der Kolonne befunden, und Annika hatte sich beim besten Willen nicht vorstellen können, was für ein Ereignis es in so einer winzigen Bauernschaft am Fuß des Grathkogels gegeben haben mochte, um einen derartigen Aufmarsch auszulösen.
Während Annika Gläser und Tassen aus dem Geschirrspüler in die Hängeschränke der Küche räumte, summte sie die Melodie von Billy Joel mit, die im Radio lief. Den alten Song Piano Man liebte sie seit vielen Jahren – es war Mamis Lieblingssong gewesen. Eigentlich war Annika glühender Fan von Billie Eilish, weil die alles verkörperte, was sie selbst nicht war, vor allem, was Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein betraf. Obwohl man das ja bei Stars nie genau wissen konnte. Die spielten ja in der Öffentlichkeit auch nur eine Rolle und waren in ihrem Inneren oft zerrissen und unsicher, wie man zum Beispiel bei Amy Winehouse gesehen hatte, für die Annika als Teenager geschwärmt hatte. Als sie noch in Ramsau im Zillertal lebte. Als sie dort im Salon Klages in der Ausbildung gewesen war. Und als sie von einem eigenen kleinen Café geträumt hatte, am besten in Mayrhofen, direkt an der Hauptstraße, unterhalb der Penkenbahn. Damals, als ihre Eltern noch am Leben gewesen waren. Jetzt war sie erst dreiundzwanzig Jahre alt, und dennoch schien das alles gefühlt Jahrzehnte her zu sein.
Well, we‘re all in the mood for a melody, and you‘ve got us feelin‘ alright tönte Billy Joel in nicht gerade berauschender Qualität aus dem kleinen roten DAB-Radio, das auf der Küchentheke stand. Annika klappte den Geschirrspüler zu, nahm den weißen Kaffeebecher mit dem blauen Werbeaufdruck der KFZ-Werkstatt Kaltenbacher von der Spüle und gönnte sich einen beherzten Schluck. Der weiße Burgunder, der sich darin befand, war nicht gekühlt, aber darauf kam es nicht an.
Mit dem eigenen Café hatte es nicht geklappt, aber immerhin hatte Matheo nach ihrer Hochzeit eingewilligt, aus der kleinen Einliegerwohnung im Obergeschoss zwei getrennte Appartements mit Kochnischen und Bädern zu machen, damit Annika diese an Feriengäste vermieten konnte. Weil sie ansonsten in diesem Kaff keine andere Beschäftigung fand. Obwohl Matheo in Turnach geboren und bekannt war, wie ein bunter Hund, fühlte Annika sich als seine Ehefrau auch nach zwei Jahren noch immer wie eine Fremde. Und daran war unter anderem auch Matheo schuld, der irgendwie sein eigenes Leben führte, und selten etwas zusammen mit seiner Frau unternahm.
Ganz anders war das mit Sonja Egger. Die Frau logierte seit ein paar Tagen in einem ihrer Appartements, und Annika verspürte immer eine seltsame Nervosität, wenn sie mit ihr sprach oder nur in ihrer Nähe war. Sonja Egger war nett auf eine irgendwie spröde und distanzierte Art. Sie war freundlich, hatte aber bisher nicht viel von sich erzählt. Annika mochte das unruhige Gefühl nicht, das sie überkam, wenn sie ihrem weiblichen Gast begegnete, und ihr fehlten immer die richtigen Worte, um ein Gespräch in Gang zu halten, was man ja wohl von ihr als Gastgeberin erwartete. Aber gleichzeitig wünschte sie sich, die Frau würde ein bisschen weniger kurz angebunden sein, und ihr hin und wieder Gesellschaft leisten.
Yes, they‘re sharing a drink they call loneliness, but it‘s better than drinkin‘ alone.Annika nahm noch einen Schluck und stellte die Tasse ab. Die Leute in der Nachbarschaft grüßten zwar, wenn sie ihr auf der Straße begegneten, manchmal nannte man sich auch die Tageszeit oder erwähnte das Wetter, aber irgendwie fand sie keinen richtigen Zugang zu ihnen. Wenn jemand schon nicht hier geboren war, musste er wohl mindestens dreißig Jahre hier gelebt haben, um mit den Leuten vertraut zu werden.
„Damit die liebe Seele Ruhe hat“, hatte Matheo gesagt und dabei das Gesicht verzogen, als wäre sie nicht ganz bei Trost. „Das hier ist nicht die Seiser Alm. Wer soll denn in Turnach Urlaub machen?“ Und vollkommen Unrecht hatte er damit natürlich nicht gehabt. Es gab zwar eine Gastwirtschaft in Turnach, aber weder eine richtige Bar noch ein Café oder einen Sessellift. Von Abendunterhaltung wie Theater oder Kino ganz zu schweigen. Im Sommer veranstaltete der Bärenwirt manchmal an Wochenenden Volksmusik-Events auf seiner kleinen Bühne, aber dann kamen die altbekannten Horden vom Schützenverein in Aschgrund und die Kerle vom Sportverein in Filsgroden - deren einzige sportliche Qualifikation offensichtlich das Stemmen von Bierkrügen war - und andere Hardcore-Zechanten aus der Umgebung. Noch bevor die Musik dann losging, waren die meistens schon voll wie der Höllerbach nach tagelangem Starkregen. Mit Kindern konnte man da nicht hingehen, und als Frau unter sechzig hielt man sich besser auch nicht in dieser alkoholisierten und testosterongeschwängerten Umgebung auf.
Tatsächlich waren die beiden Appartements im ersten Jahr leer geblieben. Erst nachdem eine Cousine von Matheos Mutter, die mit einer Mitarbeiterin in der Touristen-Information in Prossegg befreundet war, sich der Sache annahm, hatte Annika im vergangenen Juli beide Einheiten für jeweils zwei Wochen an Gäste aus Deutschland vermieten können. Eines an ein junges unverheiratetes Pärchen und das andere an einen älteren Herrn, der vorgab Bücher zu schreiben, unter dessen Namen Annika aber bei Amazon kein einziges Buch gefunden hatte. Letzterer hatte schon am zweiten Tag seines Aufenthalts reklamiert, das Pärchen sei zu laut, und er würde nachts kein Auge zumachen. Annika hatte daraufhin ein peinliches Gespräch mit dem Pärchen führen müssen, wobei die junge Frau andauernd gekichert hatte, während ihr Begleiter den alten Herrn als vertrockneten Spießer, und Turnach als Hinterwäldler-Kaff bezeichnet hatte. Das Ganze war Annika ziemlich unangenehm gewesen, und Matheo hatte ihr angekündigt, die Piefkes eigenhändig aus dem Dorf zu jagen, wenn sie ihre Großmäuler noch einmal aufreißen würden. Zum Glück hatten die Gäste von dem Streit nichts mitbekommen. Zumindest hoffte sie das.
Im Radio kamen jetzt die Nachrichten, die jedoch nach einem langanhaltenden Knistern jäh abbrachen. Hier in den Bergen war der terrestrische Rundfunkempfang, je nach Wetterlage, eine schwierige Sache. Im Wohnzimmer hatten sie noch das Internetradio, aber mit Mobilfunk und W-LAN verhielt es sich hier im Tal nicht viel besser.
Draußen knatterte ein Motorrad vorbei, das Annika ohne Schwierigkeiten als die Kawasaki vom Ganglhofer Kassian identifizieren konnte, der oben zum Sägewerk gehörte. Sie schaltete das Radio aus und blickte nach draußen auf die Straße. Die Polizeifahrzeuge waren bisher noch nicht wieder abgerückt. Über den Bergrücken zogen dunkle Gewitterwolken herauf, und da würde es mit dem Radioempfang in nächster Zeit wohl nicht besser werden. Draußen vom Flur her hörte man die Haustür. Da Matheo um diese Zeit noch bei Kaltenbacher in der Werkstatt arbeitete, würde es ziemlich sicher die Frau Egger sein. Annika öffnete die Küchentür und spähte in den Hausflur.
„Grüß Gott, Frau Egger“, sagte sie. „Schon zurück von der Wanderung?“
„Hallo Frau Wimmer, sagen Sie doch Sonja zu mir. Und was heißt schon? Bis zur Halmbachhütte und über die Kieferdecker-Alm hierher zurück sind es locker zwanzig Kilometer.“ Sonja Egger lachte entspannt. Ihre Wangen waren etwas gerötet. Annikas Logisgast war nach eigener Aussage Ende fünfzig. Frau Egger hatte auch das genaue Alter genannt, aber Annika hatte es vergessen. Vielleicht achtundfünfzig oder neunundfünfzig. Dafür sah sie ungeheuer fit aus, war schlank (beinahe mager), groß, hatte kurzgeschnittene graue Haare und unternahm täglich weite Touren durchs Gebirge. Und das ganz allein, und bei jedem Wetter. Annika hatte sich nicht getraut zu fragen, ob sie verheiratet war, glaubte es aber nicht.
„Sie waren bis zur Halmbachhütte?“, fragte sie erstaunt. „Das ist heftig. Die wird doch in dieser Jahreszeit gar nicht mehr bewirtschaftet. Sind sie nicht nass geworden?“ Die Frage war rein rhetorisch, denn das tropfnasse Regencape, das die Frau sich locker zusammengelegt über den Rucksack gehängt hatte, war unübersehbar. Deshalb zuckte Sonja auch nur mit den Schultern und zeigte ein schiefes Lächeln.
„Auf dem letzten Stück am Eingang zur Höllerklamm hat es so geschüttet, dass ich kaum noch den Weg sehen konnte.“ Annika hob die Augenbrauen.
„Höllerklamm“, wiederholte sie. „Da sollten sie im Moment nicht reingehen. Nach dem letzten Steinschlag ist der Pfad im mittleren Teil nicht passierbar.“
„Nein, nein, ich war ja nicht drin. Man kommt nur eben auf dem Weg von der Kieferdecker-Alm daran vorbei.“ Der Logisgast schickte sich an, einen ihrer klobigen Bergschuhe auf die Holztreppe zum Obergeschoss zu setzen. Ihr dicker Rollkragenpullover bedeckte die braune Cordhose bis über ihren Hintern.
„Sagen Sie, Frau Eg … Sonja, haben Sie nicht Lust, mit mir ein Gläschen Wein zu trinken?“, schlug Annika vor, und ihr fiel auf, dass sie in den vergangenen Tagen mehr Worte mit ihrem Gast gewechselt hatte als mit irgendeinem anderen Menschen im Ort, einschließlich Matheo. „Es ist ja noch früher Nachmittag, und was wollen Sie so früh in ihrem Zimmer?“
„Lesen“, antwortete die Ältere. „Ich hab eine Menge Bücher dabei.“ Sie lachte, und Annika fand das Lachen sympathisch. Und da war wieder diese seltsame, irgendwie elektrisch aufgeladene Nervosität. „Aber klar, ein kleines Glas, warum nicht, gern.“ Sie wandte sich von der Treppe ab, und Annika öffnete die Küchentür weit, damit ihr Gast eintreten konnte. Sonja stellte ihren dunkelgrünen Rucksack, aus dem oben zwei zusammengeschobene Teleskop-Wanderstöcke ragten, neben der Küchentür in den Flur. Als sie dicht an Annika vorbeiging und in die Küche trat, nahm diese eine schwache Duftmischung aus feuchter Wolle, Veilchen und frischem Schweiß wahr.
„Aber ich will nicht stören“, sagte Sonja zweifelnd.
„Aber wo“, entgegnete Annika. „Der Matheo arbeitet bestimmt wieder länger in der Werkstatt. Die haben viel zu tun im Moment, sagt er. Und ich freu mich über Gesellschaft.“ Sie sah, wie Sonja Egger zweifelnd herab auf ihre Wanderschuhe blickte, an deren Sohlen noch Reste von feuchtem Lehm klebten, winkte aber ab. „Kommen Sie schon, das ist hier keine Puppenstube.“ Sie bot der Frau einen Platz am Küchentisch an und schaute hinüber zu ihrer Kaffeetasse auf der Spüle, in der sich noch etwas Weißburgunder mit Zimmertemperatur befand, ging aber dann zum Küchenschrank und nahm zwei Weingläser heraus. Die Sache mit der Tasse war ihr dann doch ein bisschen peinlich, und ihr Gast musste nicht wissen, dass sie schon vorgeglüht hatte. Beziehungsweise, dass diese Tasse immer auf der Küchenspüle stand, zumindest während der Zeit, in der Matheo außer Haus war. Was oft der Fall war, und sie ertappte sich immer häufiger dabei, dass es ihr inzwischen sogar recht war, wenn er spät kam und früh aus dem Haus ging. Auf jeden Fall musste Sonja nicht wissen, dass sie immer einen gewissen Pegel aufrechterhielt. Das tat sie nicht geplant, sondern intuitiv. Er war nicht besonders hoch, dieser Pegel. Nicht so, dass ihr Gleichgewichtssinn Probleme machte, oder dass es mit der klaren Aussprache haperte. Aber immerhin so, dass Annika manches leichter fiel, was sonst nicht so leicht zu ertragen war. Das Leben war schließlich schwer genug. Schon in ihrer Kindheit in Ramsau hatte sie es oft nicht als besonders leicht empfunden. Zumindest seit ihre Schwester Frida verschwunden war.
Annika nahm die halbvolle Weißweinflasche von der Anrichte neben dem Messerblock und hielt sie über Sonjas Glas.
„Halt, halt, halt“, lachte die, als es halbvoll war. „Ich vertrage nicht viel, und es ist ja noch früh am Tage.“
„Okay“, erwiderte Annika. „Da haben Sie … ach, lassen Sie uns doch duzen. Hier in den Bergen sagen wir Sie nur zum Arzt oder zum Pfarrer. Oder eigentlich nur zum Pfarrer.“ Sie kicherte. „Was ich sagen wollte, da hascht du natürlich recht.“ Sonja reagierte mit einem Schmunzeln. Die Frau war zwar locker fünfunddreißig Jahre älter als sie selbst und hatte von den Mundwinkeln ausgehend zwei steile Falten, die parallel zueinander abwärts zum Kinn führten, aber trotzdem beneidete sie sie ein bisschen für ihr schmales, markantes Gesicht, bei dem die Wangenknochen und die Kinnpartie deutlich hervortraten. Sie selbst hatte schon immer ein rundes, weiches Gesicht gehabt, das von nicht wohlmeinenden Mitschülerinnen – und von denen hatte es nicht wenige gegeben – gerne als Bratpfannengesicht, oder von Hilde aus der Parallelklasse auch als Pfannkuchengesicht bezeichnet worden war. Aber sie konnte schließlich nichts für ihre Neigung zur Polsterbildung im Gesicht und an den Hüften. Das gehörte zur Erbmasse, die Mami ihr hinterlassen hatte. Annika fand unter anderem ihre Oberschenkel zu dick, und auch die Finger waren entschieden zu kurz und unförmig. Wurstfinger, dachte sie. Das hatte Frida manchmal zu ihr gesagt, bevor sie verschwunden war. Lass deine Wurstfinger gefälligst von meinen Sachen. Das war schon in frühester Jugend so gewesen. Manchmal hatte Annika Ringe getragen, aber dann hatten ihre Finger wie kleine kurze Frankfurter ausgesehen, die man in der Mitte mit einer Metallöse eingeschnürt hatte.
Nachdem sie sich gesetzt hatte, blickte sie verstohlen auf Sonjas Hand, die nach ihrem Glas griff. Sie trug keinen Ring, aber ihre Finger waren lang und schlank, und die Gelenke traten deutlich hervor.
„Prosit“, sagte Annika und hob ihr Glas, das sie ebenfalls nur halb gefüllt hatte, worauf sie sich wahrscheinlich nicht beschränkt hätte, wenn sie allein gewesen wäre.
„Wohl sein“, sagte die ältere Frau und nippte an ihrem Glas. Annika tat es ihr gleich. Draußen ertönte ein Donnerschlag.
„O ja, das gibt noch was“, sagte Annika, die sich über die Gesellschaft freute, aber nicht recht wusste, worüber sie sich mit der Frau unterhalten sollte. Hier in den Bergen sagen wir Sie nur zum Arzt oder zum Pfarrer, hatte sie zu ihr gesagt. Dabei wusste sie, dass Sonja Egger in Salzburg lebte. Da waren die Berge zwar nicht so hoch wie in Turnach, aber als Flachland konnte man das Salzburger Land trotzdem kaum bezeichnen.
„Ja, da kommt noch was runter“, bestätigte Sonja. „Ich bin froh, dass ich jetzt hier drinnen bin.“ Annika war darüber auch froh. In der Küche war es inzwischen beinahe dunkel geworden, weil die dichten Wolken den kompletten Himmel über dem Tal verfinsterten. Die Sonne verkroch sich in Turnach schon früh am Nachmittag hinter den Berghängen.
„Sie sind hier viel allein, Frau … ähm … Annika“, sagte Sonja. „Was macht eigentlich dein Mann?“
„Der arbeitet beim Kaltenbacher in Vilsbrunn. Das ist im Nachbardorf, keine vier Kilometer von hier. Eine Autowerkstatt.“ Sie deutete auf den weißen Kaffeebecher mit dem blauen Werbeaufdruck, der auf der Spüle stand.
„Wenn ich ehrlich sein soll“, sagte Sonja, „also wenn´s nicht zu viele Umstände macht, ein Kaffee wäre jetzt wirklich schön. Ich hab zeitweise richtig gefroren da draußen.“ Dabei blickte sie auf den Kaffeebecher.
„Aber klar, sicher, gerne“, sagte Annika und stand eilfertig auf. „Natürlich, daran hätte ich selbst denken können. Tut mir sicher auch gut. Ich hab auch noch einen halben Marmorkuchen. Den hol ich uns jetzt.“ Sie eilte zum Küchenschrank und hantierte mit Tellern und Tassen, und goss frisches Wasser in die Kaffeemaschine.
„Und Sie … du? Was machst du in Salzburg? Hast du einen Mann?“ Annika, die noch immer an der Arbeitsfläche der Küchenzeile beschäftigt war, glaubte, Sonjas Blick auf ihrem Rücken zu spüren, und als sekundenlang keine Antwort kam, hätte sie ihre indiskrete Frage am liebsten zurückgezogen, wenn das möglich wäre. Ich ziehe die Frage zurück, euer Ehren. Sie musste unfassbar neugierig rüberkommen. Was gingen sie die privaten Angelegenheiten ihrer Gäste an? Die Frau würde vermutlich aufstehen, sich schmallippig verabschieden und in nächster Zeit weiteren Kontakt zu ihr vermeiden. Sie hatte einen Fehler gemacht. Als Sonja schließlich doch antwortete, war es wie die Befreiung von einer schweren Last.
„Nein, ich bin nicht verheiratet. Hat sich nicht ergeben. Und ich arbeite in der Städtischen Bibliothek.“ Die entspannte und kein bisschen verärgerte Stimmlage der Frau war für Annika beinahe eine Wohltat. Sie wandte sich zum Küchentisch um.
„Tut mir leid, ich wollte nicht neugierig sein, es war nur …“
„Überhaupt kein Problem.“ Sonja unterbrach sie mit einem Lächeln im Gesicht. Und in diesem Moment wurde Annika von einer überwältigenden Erkenntnis angesprungen, beinahe wie von einem Raubtier. Noch nie zuvor war es ihr derart klar bewusst geworden, wie einsam sie war. Die Anwesenheit dieser Frau in ihrer Küche fühlte sich so gut an, dass sie sich wünschte, sie würde für immer bleiben. Ja, einsam war sie auch, wenn Matheo zu Hause war. Sie waren eine Zeit lang glücklich gewesen, oder nicht? Aber vielleicht hatte sie sich das auch nur eingeredet. Vielleicht hatte sie Matheo geheiratet, weil sie sich schon davor immer einsam gefühlt hatte. Tatsächlich seit Frida verschwunden war, um nie wieder aufzutauchen. In dieser Zeit hatte Annika irgendwie die Zuneigung ihrer Eltern verloren. Als das übriggebliebene Kind. Das irgendwie nicht ganz so wichtige Kind. Damals war sie seit einem knappen halben Jahr sechzehn Jahre alt gewesen.
„Kannst du mir schnell mit der Girlande helfen, Anni?“ Die Mami stand in Socken auf einem der Polsterstühle aus dem Esszimmer und hatte bei dem Versuch, das eine Ende einer in mehreren Farben schillernden Plastikgirlande mit einer Reißzwecke an der Wand zu befestigen, beide Arme nach oben gereckt. Sie hatte das gute dunkelblaue Jerseykleid angezogen, das mit dem Plisseesaum, welches sie nur selten trug.
„Klar“, sagte Annika erstaunt, die eben aus der Schule nach Hause gekommen war, und eilte zu ihrer Mutter. Sie griff nach dem bunten Gebilde, welches neben dem Stuhl herabhing. Wie sich herausstellte, handelte es sich um die Happy-Birthday-Girlande, die in der Familie seit Jahren verwendet wurde, wenn jemand Geburtstag hatte.
„Aber warum dekorierst du das Zimmer?“, fragte Annika. Und kaum einen Wimpernschlag später dämmerte es ihr, dass die Frage ein Fehler gewesen war. Das dunkelblaue Kleid trug die Mami nur zu besonderen Anlässen. Und dies war ein besonderer Anlass. Als sie nach oben schaute, sah sie den Blick ihrer Mutter, der sie beinahe durchbohrte. Ein stummer Vorwurf lag darin, aber auch eine Spur von kalter Wut.
„Es ist Fridas Geburtstag“, sagte die Mami leise, und Annika hörte sowohl Fassungslosigkeit als auch Verachtung in ihrer Stimme. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, aber das glaubte sie nicht. Ihre große Schwester war auf den Tag genau, es war der vierundzwanzigste Mai, vor zwei Jahren am Abend ihres achtzehnten Geburtstages verschwunden. Während Annikas eigener Geburtstag vor fast sechs Monaten in der Familie verhältnismäßig unspektakulär behandelt worden war – beide Eltern hatten im Geschäft immer viel um die Ohren – wurde alles, was mit ihrer verschwundenen Schwester zusammenhing, zelebriert wie ein religiöser Akt.
„Entschuldige, Mami“, sagte Annika kleinlaut, „wo soll das hin?“ Sie hielt das freie Ende der Girlande in einer Hand.
„Hilf mir einfach hier runter, ich mach das schon.“ Die Mutter griff nach der Hand ihrer Tochter und stieg vom Stuhl herab. Dann nahm sie ihr die Girlande aus der Hand und ging damit zur gegenüberliegenden Wand des Esszimmers. „Bring mir mal den Stuhl hierher“, sagte sie. Annika trug den Polsterstuhl durch den Raum und stellte ihn so an die Wand, dass ihre Mutter hinaufsteigen konnte. In einer Hand die Schachtel mit den Reißzwecken, in der anderen das Girlandenende, stieg die Mutter mit einem großen Schritt auf die Sitzfläche, wobei sie sich mit dem Handballen der rechten Hand auf der Lehne abstützte. Kurz danach spannte sich der grün-gold-rot-blaue Geburtstagsgruß in einem sanften Bogen über den Esstisch.
Es war schrecklich, dass Frida verschwunden war. Niemand wusste, was genau passiert war. Dass die große Schwester aus freien Stücken abgehauen war, hatte niemand ernsthaft geglaubt. Und da sie weder lebend noch tot aufgefunden werden konnte, war die Polizei nach wochenlanger Suche von einem Gewaltverbrechen ausgegangen. Eine Zeit lang hatte der Papi versucht seine Frau mit der Legende, ihre große Tochter könne mit Freunden ins Ausland gegangen sein, zu beruhigen, was die jedoch für ausgeschlossen hielt. Tatsächlich hatte Frida davon gesprochen, nach ihrem Abitur ein Sabbatical einzulegen und mit ihrer Freundin Elif für ein Jahr nach Portugal zu gehen. Oder nach Kanada. Aber dafür hätte sie Geld gebraucht, das sie nicht hatte. Geld von den Eltern. Und außerdem war Elif