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Homsarecs -- das sind Homo Sapiens Erectus, eine andere Spezies, wild, scharfzähnig und gefährlich, pansexuell, schön und im Kampf unbesiegbar, und sie sind der spießigen Regierung ein Dorn im Auge, die nach Wegen sucht, sie loszuwerden. Iván, ein 19-jähriger Schüler in einer kleinen Rechtsdiktatur in Ostdeutschland, ist gewarnt worden: "Geh den Homsarecs bloß aus dem Weg!" Aber die Neugier siegt. Nachdem Iván einen Abend im Haus der "Wilden" zu Gast war, wird er bei der Polizei in erniedrigender Weise verhört und untersucht. Sein Vater, Regimekritiker und daher vorbestraft, sieht die Gefahr. Und da tut er etwas, das Iván schockiert: Er vertraut seinen Sohn ausgerechnet den Homsarecs an, damit sie ihn beschützen... Iván lebt mit ihnen, sieht ihre Hauptstadt, erfährt Liebe und wilden Sex mit Männern und mit Frauen und kennt nun auch die Schwächen dieses Volkes. Er weiß von ihrem rätselhaften frühen Sterben und wird zu einer Schlüsselfigur in den Versuchen, dieses seltsame Volk von seinem "Fluch" zu erlösen. Damit hat ihn aber auch ihr Todfeind auf dem Schirm. Überarbeitete Neuauflage, weniger BDSM, mehr Gay.
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Seitenzahl: 797
Veröffentlichungsjahr: 2020
Eine
gar erbauliche &
moralische Geschichte von
der Wandlung eines gefürchteten
Stammes von grausamen Barbaren
zu einem Volk von Weisen.
Zu Genuss & Belehrung
meiner Leser
erzählt
von einem,
der ihnen in die Hände fiel,
Iván Potozki oder Quanah von den Füchsen,
der weiß, dass er nicht imstande ist, seine Geschichte
literarisch perfekt vorzutragen & der sie
auf Wunsch seiner wilden Familie
nach bestem Wissen &
Können aufschrieb.
MMXX
Heute könnte er sterben
Der Piratensender
Endlich in Sicherheit
Der dunkle Bruder
Der Nachtschwalben-Club
Das Recht zu reisen
Ursachenforschung
Da haben wir den Ausreisser
Sinneswandel
Grenzgänger
Die Pilgerstätte nimmt den Betrieb auf
Ein Opfergang
Das Männerreich
Holt sie aus den Häusern!
Noch ein König stürzt
Erklär mir die Splitterwelt
Nachwort
Anhang
Erweiterte und illustrierte Ausgaben:
Iván Potozki, der Erzähler dieser Geschichte
Isatai steht vor dem Spiegel. Er ist ein Homsarec.
Er ist immer noch ein schöner Kerl, stellt er fest.
Lange schwarze Haare liegen auf seinen Schultern und schlängeln sich sanft bis auf die Brust hinab. Sie umspielen das eine der nur zwei Tattoos, die er trägt; es ist ein handtellergroßer Kranich unterhalb des rechten Schlüsselbeins.
Isatai ist nackt. Er braucht keine Kleidung, um sich zu wärmen, denn er hat ständig einen Überschuss an Hitze. Seine Zähne sind scharf, haben gerade Schneiden, man sieht ihnen nicht an, wie gefährlich sie sind, und sie wachsen nach, wenn sie beschädigt werden.
Um sich zu schmücken, legt er einen gewebten Gürtel um seine Hüften und zieht ein langes Tuch durch den Schritt und vorn und hinten von innen durch den Gürtel. Es ist vielfarbig gestreift und reicht vorn und hinten bis zur halben Wade. Der Rand ist mit passenden Saatperlen geschmückt, das gibt dem Tuch einen schönen Fall.
Er schiebt es noch ein wenig zusammen, damit man den Wolf, das Tattoo auf seiner linken Hinterbacke, sehen kann. Der Kranich zeigt die Familie seiner Mutter an, der Wolf ist das Zeichen eines befreundeten Stammes. Zu Gürtel und Tuch trägt er nichts als knöchelhohe Stiefeletten aus weichem Wildleder.
Isatai befindet sich in einem Zimmer, in dem er sich ausruht und auch zeichnet, manchmal auch malt. Allerdings nicht, wenn er Ölfarben benutzt; die Gerüche würden seinen ohnehin schlechten Schlaf noch mehr stören. Homsarecs dösen nur vier Stunden mit halb geöffneten Augen. Sie verlieren kaum jemals das Bewusstsein, auch nicht bei schweren Verletzungen.
Heute ist Isatai vierzig Jahre alt geworden, und das heißt, der Zeitpunkt seines Todes rückt näher. Kein männlicher Homsarec wird älter als 43 Jahre, soweit er weiß.
Sein Vater, ein Arzt, hat mit dieser Zahl einen Rekord aufgestellt, denn er forschte nach den Ursachen, und manches schien zu wirken, was er versuchte. »Schlafen müßt ihr, nervöses Pack!« sagte er und gab allen einen Beruhigungstee. Vergeblich, nichts stellt diese wachen Naturen ruhig. Sie kennen nicht die Gnade der Ohnmacht.
Isatai ist verliebt. Und so lange hat er darauf gewartet, Kontakt mit dem Geliebten aufzunehmen der nichts davon weiß. »Lass ihn in Ruhe, bis er selber zu dir kommt!« hat Isatais Mutter ihn angefunkelt, »oder ich schlage dich, bis du nicht mehr sitzen kannst!«
Oh ja, Mama hat auf ihn aufgepasst. Auf den 'bezaubernden Iván.'
Das heißt: Auf mich, und ich hatte es nie gemerkt.
Aber jetzt hat Isatai keine Zeit mehr zu warten.
Er wird etwas unternehmen.
Und davon werde ich euch erzählen.
Im Korridor schlug eine Tür zu, jemand kam in die Wohnung, ich hatte den Schlüssel nicht gehört. Ich sprang auf, fing gerade noch den Stuhl im Kippen, riss mir die Ohrhörer raus und warf das Radio und die Strippen in den Schuhkarton vor meinem Bett, gab dem Karton einen kleinen Tritt, und er verschwand unter dem Bett. Dann setzte ich mich rasch, und als Tante Elena eintrat, begrüßte ich sie erleichtert. Denn ihr muss ich nichts vormachen.
Tante Elena ist eigentlich eine gute Nachbarin, sie hat auf mich aufgepasst, seit ich klein war. Heute kocht sie wieder für uns. Meine Mutter ist nach der Arbeit noch bei einer Parteiversammlung. Ihr ist es nicht recht, dass Tante Elena für uns kocht; mein Vater hat Tante Elena aber darum gebeten. Schon komisch.
Sie brachte einen Korb Gemüse in die Küche und begann, es zu waschen. Eigentlich war es hoffnungslos altmodisch, selber zu kochen. Wozu gab es überall staatliche Kantinen?
Sie fing an, Lauch in kleine Stücke zu schneiden. Ich sah ihr zu. Sie schob mir ein Brettchen und ein Messer hin und die Möhren. Statt die zu schneiden, spielte ich mit ihnen.
»Iván, hast du Hunger?«
Ja, den hatte ich praktisch immer. Die Speisen in den Kantinen machten mich nicht satt.
»Dann hilf.«
Ich schnitt — wohl wissend, dass sie ovale Stücke bevorzugte — kreisrunde Rädchen aus den Möhren und erfreute mich daran, dass sie wegrollten. Sie sah mich tadelnd an, sagte aber nichts.
»Tante Elena«, probierte ich eine Ablenkung, »hast du heute wieder Homsarecs gesehen?«
»Um die sollst du dich nicht kümmern, Iván!«
»Hast du?«
Sie hielt inne und sah mir gerade in die Augen.
»Ja. Und wenn?«
Unter unserem Fenster marschierte gerade die Rottengruppe unseres Häuserblocks vorbei. Sie sangen irgend ein schwachsinniges Lied. Ich schaute runter. Meine Schwester marschierte in der Mädelgruppe hinter den Jungen. Die blöde Kuh.
»Haben die Rotten schon Interesse an dir geäußert?« fragte Tante Elena.
»Nein, und ich würde auch nicht gehen.«
»Brav.«
»Mama will, dass ich mich bewerbe.«
»Das könnte ihr so passen. Was sagt dein Papa?«
»Der ist total dagegen.«
»Gut so. Und wo hast du den ganzen Nachmittag gesteckt?«
Ich war auf dem Schwarzmarkt.
Geld hatte ich, weil ich meine Jahreskarte für den Bus verkauft habe. Auch schwarz. Dafür laufe ich mir die Hacken ab. Bargeld bekomme ich ja nicht. Eigentlich sollen wir den Bus nehmen — schon aus Sicherheitsgründen. Meine Essenskarte kann ich aber nicht verkaufen, denn die ist mit dem Schülerausweis verbunden. Aber ich brauchte einen Bausatz für ein kleines Radio, eins, auf dem ich verbotene Sender hören kann. Solche, die nicht aus der Wand kommen. Manche wissen nicht mal, dass es das gibt.
Es gibt einen Piratensender, das weiß ich. Baue das Radio zusammen, meine leichteste Übung.
Und es ist verboten, mit den Leuten Kontakt aufzunehmen, die den Sender betreiben. Die Homsarecs! Sie sind gefährlich. Geh auf die andere Straßenseite. Sie sind schamlos, sie... Was würden sie mir tun? Was?
Keine Antwort. Geh ihnen aus dem Weg.
Ja, die Gebetsmühle kenne ich jetzt langsam.
Aber den Sender zu hören ist ja noch kein Kontakt! Dadurch wissen sie ja noch nichts von mir.
Ich erinnerte mich an verbotenes Radiohören. Ich muss noch sehr klein gewesen sein, es war, bevor mein Vater für lange Zeit verschwand. Dann kam er wieder, resigniert und irgendwie geduckt, und als ich zwölf war, verschwand er noch einmal für mehrere Monate. Er sah danach sogar anders aus, sie hatten ihm die Nase gebrochen. Nach seiner Rückkehr organisierte er ein illegales Radio. Es zu hören geschah unter großer Angst und Heimlichkeit. Papa und Tante Elena hörten Nachrichten, wenn Mama nicht zu Hause war.
Meine Fragen blieben ohne Antwort. Wir wussten, wo diese Leute lebten, diese schamlosen, die sich entweder bunt kleideten oder fast nackt herumliefen. Selbst bei kaltem Wetter. Sie haben eigene Häuser in unserer Stadt, aber sie werden geduldet. Wieso, wenn sie so gefährlich sind?
Die Rotten können nichts gegen sie ausrichten. Mir ist das recht. — Ha! Da ist der Sender.
»Hoshvenudos cares Tohörers entra cultura un estra cultura al programma in Lingo Real, de Lingo del Kung. Datem Novosti internationali: Novos waterporten de Lagunas de Sukent sun fa proben suxessfol, promes dat dux al grote fiesta de invisning.«
Aber wie sollte ich das verstehen, was da gesagt wurde? Keine Chance. Keine Möglichkeit, mehr zu erfahren, und wenn ich auch einen von ihnen auf der Straße gefragt hätte.
Sie lachen nur und schweigen.
Unser Volkshaus war ein einfaches Mietshaus am Rande der Stadt. Verputzt und grau gestrichen, sechs Stockwerke mit quadratischen Fenstern, sechs in jeder Reihe, drei Parteien auf jedem Stock, siebzehn Familien, denn eine der Wohnungen in jedem Haus ist zu Gemeinschaftsräumen gemacht worden, ein Saal mit Teeküche, daneben die Schreibstube des Hausvorstands. Die hat ein kleines Fenster zum Treppenhaus bekommen, so kann alles Kommen und Gehen vom Hausvorstand überwacht werden. Auch die Flure sind grau, der Lichtschalter knallt beim Drücken, und das Licht reicht auch bei sehr flottem Schritt nicht für die ganze Treppe. Auf dem Treppenabsatz gibt es einen Schaukasten mit den verdienten Hausbewohnern, die sich durch freiwillige Arbeitseinsätze hervorgetan haben, darunter eine Reihe mit den weniger Eifrigen, eine für alle sichtbare Aufforderung zu größeren Bemühungen, und da in der untersten Reihe, bei denen, die dazu ermahnt werden, bin ich meistens dabei.
Niemand von uns hat ein Zimmer für sich! Das wäre Vergeudung von Wohnraum. Meine jüngere Schwester, Mina, die Petze, sieht alles, was ich tu. Erzählt alles — nein, nicht etwa meinen Eltern, Papa würde ihr ja den Mund verbieten. Sie läuft damit gleich zur Hausverwaltung und bekommt dafür ein Bonbon aus dem großen Glas. Was für ein Luxus. Ich kann mich kaum noch erinnern, wie die schmecken. Aber ich laufe nicht wegen jedem Furz zum Bergenschein, dem Hausvorsteher. »Schergenbein« nennt ihn die sarkastische Tante Elena. Es passt.
Wenn ich von meinem Papa und der Tante Elena nicht so viele 'Fremd'-wörter gelernt hätte, würde ich im Sender der Homsarecs gar nichts verstehen. Und sogar ganz passabel Russisch hat sie mich gelehrt, aber das weiß Mama nicht. Sie und Papa waren oft abends weg. Zwei Abende die Woche auf politische Schulung, und mich bei Elena gelassen, der 'guten Seele'. Und die spionierte mir niemals nach.
Ich kannte niemanden sonst mit so einem kritischen Verstand. Ja, das kann im Kopf Türen öffnen! Von ihr erfuhr ich die Wahrheit über die Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Sie hatte alte Heimfilme mit historischen Aufnahmen, hergestellt vor zwanzig Jahren, die wunderbarerweise noch funktionierten. Mein Papa hätte früher auch solche gedreht, verriet sie mir, und das veranlasste mich wenige Tage später, bei uns eine Haussuchung zu machen. Darüber gleich mehr.
Natürlich hörte ich diesen Sender wegen der Musik.
Die Bands hatten seltsame Namen und machten zum Teil Geräusche, die ich kaum als Musik erkannte. Aber etwas anderes gab es da noch, eine Musik der Gruppe »Kozodoi«, die mir mit feinen, traurigen Melodien Gänsehaut über den Rücken jagte. Wer solche Musik liebt oder gar schreibt und spielt, kann nicht so schlimm sein.
Zwischendurch findet der staatliche Sender die Frequenz und stört. Mit einem Ton oder mit Verlautbarungen über unsere Volks- und Rechtsgemeinschaft und den unvergleichlichen weisen Schutz, den die Gerechtigkeitspartei über die Menschen deutschen Blutes ausübt.
Aus irgend einem Grund haben sie Angst vor den Homsarecs. Sie dulden dieses bunte Volk doch nicht aus Nettigkeit! Wenn sie so gefährlich sind, müsste ein Staat doch reinen Tisch machen! Denn die Waffen, die sie tragen, sind ein Witz. Bogen und Pfeile, Wurfäxte, Peitschen, Schlagstöcke. Wie können sie damit unseren Ordnungsmächten trotzen? Gut, mir war's recht, dass es nicht passierte, sonst wäre mein Radio gleich wieder nutzlos, dann hätten sie mit den Homsarecs genauso aufgeräumt wie mit dem Sender, bei dem vor Jahren mein Vater gearbeitet hat. Da war es kein Problem reinzugehen und ihn auszuheben. Und Papa einzubuchten, ihn nach Monaten mit Überwachungsband wieder rauszulassen.
Als er wiederkam, musste ich ihn erst neu kennenlernen.
Er sprach nicht über seine Haft. Wo war sein Schneid, wo sein lustiger, übermütiger Ton? Nur Sarkasmus und unerklärte Ängste waren ihm geblieben.
Ich ging zwar ins Bett, aber an Schlaf war nicht zu denken. Meine Eltern wollte ich nicht stören. Zum Glück war meine Schwester nicht da. Sonst hätte ich mein Radio gut verstecken müssen.
In jener Nacht wachte ich wieder auf. Und mir fiel dieser kleine, etwas staubige Schrank ein, in dem wir unsere Heimfilme aufbewahrten.
Ja, wir nannten sie so, später lernte ich die Bezeichnung — 'Video'. Ich schlich mich also ins Wohnzimmer, schloss die Tür und räumte das Schränkchen aus. Mein Papa war ja nicht nur von Beruf Fernseh- und Rundfunk-Berichterstatter, sondern er hatte auch einiges privat gefilmt.
'Sommerurlaub in Svinemünde.' Ja, dieses Band zog ich hervor, denn irgendwas war daran komisch, es war nicht bei den anderen, sondern ganz hinten verstaut. Ich legte es ein.
Von wegen 'Sommerurlaub'! Ich sah eine Szenerie, es mochte Berlin sein. Es war eine breite Straße mit Altbauten auf beiden Seiten. Der Film sprang unvermittelt in eine kurze Kampfszene: Eine Konfrontation von Rottensoldaten und zwei Homsarecs. Der eine Homsarec trug nur einen breiten Stoffstreifen, der von einem Gürtel vorn und hinten knielang herabhing. Auf der Brust hatte er ein handtellergroßes Bild eines Vogels, und sein Gesicht war mit schwarzen Streifen bemalt, der andere Mann hatte lange rote Haare und trug ein schwarzes Hemd mit Fransen und ein ähnliches Tuch wie der andere.
Ein bewaffneter Soldat oder Rotten-Angehöriger bedrohte einen Homsarec mit einer Pistole, aber die Homsarecs blieben nicht stehen wie jeder vernünftige Mensch, hoben auch nicht die Hände, sondern gingen weiter auf den Gegner zu. Der Soldat, in der Hoffnung, seine Drohung werde wirken, wich sogar zurück, aber da stieß der Homsarec einen schrillen Schrei aus. Man sah, wie der Soldat erschrak, vielleicht die Nerven verlor, er drückte ab. Er traf den Angreifer in die Stirn. Der Homsarec aber, dem das Blut über das Gesicht lief, brach keineswegs zusammen, sondern machte einen Sprung auf den Gegner zu. Auch der Kameramann lief nun, und das Bild bestand nur aus schwankenden, zufälligen Aufnahmen der Straße und der Häuser rundum oder auch des Himmels.
Der Lauf endete damit, dass der Kameramann aus einer Toreinfahrt filmte. Der Soldat lag auf dem Boden, bewegte sich nicht mehr, und der Homsarec hetzte mit langen Schritten hinter einem anderen Mann her, der anscheinend in den Kampf hatte eingreifen wollen. Der andere folgte mit etwas Abstand. Dann waren sie außer Sicht. Mit einem Rückschwenk zu dem Leblosen endete die Aufnahme.
Der Kameramann schien keine Angst zu haben, ganz nah ranzugehen. Hatte gar mein Papa selber diesen Film gedreht?
Ich hatte mir die Aufnahme mehrmals angesehen, denn mir fiel auf: Der verletzte Homsarec bewegte sich nicht nur mit verstärkter Entschlossenheit, sondern mit einer Art überirdischer Schnelligkeit. Ich hatte noch nie einen Menschen so schnell laufen sehen. Offenbar war er in einem Rausch, er fletschte die Zähne. Seine Bewegungen erinnerten an Tiere. Klar, es ist nicht möglich, die Homsarecs mit einer Waffe in Schach zu halten. Ich verstand. Seltsamerweise fühlte ich trotzdem keine Angst, sondern eher Bewunderung. Angst hatte ich nur davor, ertappt zu werden.
Ein Datum stand auf der Cassette. Etwa zu der Zeit, als er das gedreht hatte, wurde mein Vater wieder verhaftet, und jetzt kam mir der Verdacht, dass dieser Heimfilm damit zu tun hatte. Ich legte ihn wieder auf seinen Platz. Am nächsten Tag war er nicht mehr da.
Anderntags war Mina, meine Schwester wieder zu Hause, zurück von der 'Freizeit' — diese Zeiten waren alles andere als frei — der 'Völkischen Jugend'. Also musste ich mich auf einen geheimen Platz zurückziehen, wenn ich mein Radio hören wollte, nämlich auf meinen Baum, und die Nacht wird warm sein.
Hinter dem Haus, in dem meine Familie lebt, gibt es einen Gemeinschaftsgarten, einen Rasen und einen kleinen Spielplatz, einige Bäume. Wenn auch die Hausverwaltung eifrig dabei ist, alles, was wächst, bis zur Unkenntlichkeit zu beschneiden, so kann man diese Dinge doch noch Bäume nennen. Damit die Kinder nicht davon runterfallen, werden auch die unteren Äste entfernt. Dieser Staat ist zum Kotzen fürsorglich.
Dennoch habe ich ein Verfahren entwickelt, wie ich auf den Baum raufkomme, ein Seil mit einem Haken hilft mir auf den ersten Metern und wieder runter. Ich wickle es mir um die Mitte, damit es nicht auffällt, wenn ich auf den Hof gehe.
Das Seil habe ich gefunden, jemand hat es weggeworfen. Es lag unter einem Haufen Papier in der Nähe eines Hauses, das ich mag. Es ist ein schönes Haus. Ich habe mich über die Unordnung gewundert; und bevor mir klar wurde, dass es ein Haus der Homsarecs ist, meinte ich, sicher haben sie einen völlig unfähigen Hauswart, und der würde wohl in kürzester Zeit durch den Stadtrat entlassen werden.
Ich ließ das Seil, das ich natürlich wieder eingerollt hatte, durch meine Hände gleiten. Es war innen fest, drumherum aber merkwürdig weich und schmiegte sich liebevoll um meine Gelenke. Es fühlte sich gut an, sich drin einzuwickeln, mehr, als würde etwas mich schützen, als sei dies ein Angebot, mich fest zu umarmen.
Ich machte es mir noch ein wenig bequemer, setzte mich rittlings in die Astgabel und lehnte mich an den Stamm. So konnte ich in den Himmel schauen. Ich betrachtete die Sterne, eine Gruppe nach der anderen. Ich fand den Großen Wagen, den Polarstern und sogar das Reiterlein. Ich zog mein Radio aus der Tasche und setzte mir die Ohrstöpsel ins Ohr. Ja, sowas Feines gab es nicht einfach zu kaufen! Und ich hörte so wunderbare Musik, dass ich dachte, mein Herz sprengt meine Rippen. Eine Gänsehaut nach der anderen überlief mich.
Und wurde schlagartig vertrieben.
»Was machst du da?«
Ich stand starr.
»Du weißt, dass es verboten ist, auf die Bäume zu klettern?«
Es war schwer, das abzustreiten. Und da stand der Hausdirektor, der Aufpasser, Schergenbein. Er bewachte unsere moralische Festigkeit und politische Zuverlässigkeit.
Ich ließ mich auf seinen Befehl hin vom Baum herunter, kein bisschen schneller als unbedingt nötig. Mein Radio hatte ich schon in der Tasche versenkt.
Schergenbeins Stimme ließ keine Ausreden zu.
»Wir wollen ja nur Schaden von euch wenden«, wurde er dann versöhnlicher. Dann kam der übliche Schmus von der sowieso schon belasteten Familie, und ob ich denn vorhätte, die anderen alle reinzureißen?
Während er sprach, wickelte ich das Seil so beiläufig wie möglich auf, hielt es dann mit einer Hand hinter meinem Rücken und versuchte ich, mich langsam rückwärts von ihm zu entfernen.
»Ich geh dann mal ins Bett. Gehab' dich wohl«, sagte ich hastig, als er seinen Satz beendet hatte.
»Moooment! Was ist das für ein Seil?«
Dummstellen half nun nicht.
Woher das kam? Gefunden. Wo?
»Bei einem Haus, weiß nicht, wem das gehört.«
»Eine altes Wohnhaus in der Tischbeinstraße? Verglaste Veranda? Große Blutbuche im Vorgarten?«
Mein 'Nein' klang zaghaft und unglaubwürdig.
Er wurde sehr ernst und drehte das aufgerollte Seil in seiner Hand. Das war ja nun beschlagnahmt.
»Du gehst da auf keinen Fall mehr hin«, sagte er, »denk an Peter Lenbach! Der fiel auch auf, und eines Tages hatten sie ihn.«
»Aber Peter...«
»Wir wissen noch nicht, wo er ist, das ist der springende Punkt, man kann ja nicht so auf Verdacht in eines der vielen Häuser...«
Ach. Der Staat hat ein Problem. Sie sind viele.
»Warum steigst du nicht mal einem Mädchen nach wie die anderen aus deiner Klasse?« — Ach ja, das musste ja kommen.
»Such dir doch mal eine nette Freundin! «
Ja, wie, bitte schön? Ich sollte sie blöd anquatschen, wie die anderen es taten? Das konnte ich nicht. Da wäre mir schon gleich die Lust vergangen. Es musste eine kommen, die mich einfach nahm, sanft und bestimmt, eine, die ich gewählt hätte, aber stumm, und die mir dann keine Wahl mehr ließ.
Ich wusste nicht, warum es bei mir nur so funktioniert hätte. Ich konnte nicht einfach auf eine zugehen und sie etwas Banales fragen: »Wollen wir zusammen einen Tee trinken?« Oder die offizielle Anmache: »Gehen wir zusammen in die Schulung heute abend?«
Das hätte alles kaputtgemacht. Das konnte man mit dem blonden Gehopse machen. Mit solchen wie meiner Schwester.
Ich wollte eine Göttin. Solche gab es. Rosa war eine Göttin, Rosa mit dem schlechten Ruf. Man erfuhr aber nie, warum sie den hatte. Und eine Göttin sprach man nicht an. Man wartete, bis sie einen beachtete. Aber dafür konnte ich nichts tun, als mir die Haare wachsen lassen. Ich wusste nicht genau, was ich mir wünschte. Nur, dass es ein sehr bestimmendes und starkes Wesen sein sollte.
Wenn nun ein Mann dieses Wesen wäre...
Hilf Himmel, das geht doch gar nicht.
Aber wenn...
AB 5 UHR 45 WIRD ZURÜCKGESCHNITTEN
Das Ministerium für Jugend, Familie und Sexualität ist allgemein als 'Jufasex' bekannt oder als Ministerium für alles, was in dieser Gesellschaft nicht vorkommt. Von diesem war ein Grußtelegramm an alle Schulen ergangen. Lange Haare der Jungen sind bis zum I. September abzuschneiden. Verfall der Sitten wie im Ausland ist nicht zu dulden. Auffallende Kleidung und Haartrachten sind gefährlich, eine Herausforderung für unsere Widersacher, ein Zeichen, auf das sie warten.
— Um was zu tun? —
Das Ultimatum läuft heute Abend ab. Ab dann wird ein ordentlicher Haarschnitt erzwungen.
Die Stimme meines Lehrers schreckte mich auf.
»Potozki!«
»Hier!«
»Warum ist unsere Gesellschaftsform der Gerechtigkeit die Endstufe der gesellschaftlichen Entwicklung?«
»Weil die Menschen noch nicht reif sind für die Anarchie.«
Autsch. Falsche Antwort.
»Ja, was bildest! Du! Dir! Ein??«
Die Worte fielen wie Hammerschläge.
Ja, was bilde ich mir ein?
Die üblichen Tiraden über den Sieg des Volkes und wie sie auf unser Wohl aufpassten, ließ ich an mir vorbeirauschen.
Ich fing an, meinen Beobachtungen zu misstrauen, vor allem den Schlussfolgerungen, die ich daraus zog. Alles kann anders sein als es scheint. Und ich konnte nicht aufhören, an diese wilden Kerle zu denken, die ich in dem Film gesehen hatte. Mir wurde auch immer klarer, dass diese Szene meinen Papa in den Knast gebracht hatte. Das hieß, er hat sie ausgestrahlt, als er noch in dem Sender arbeitete. Jetzt sortierte er Metallteile auf einem Schrottplatz.
Ich sortierte meine Welt neu.
Also ins Klo, und die Wände angestarrt.
Jemand rüttelte an der Tür: »He, bist du am Wichsen oder malst du die Wände voll?« Nun ja, ich hatte die Weisheit des Tages in Stein gemeißelt: »Man darf nicht alles glauben, was stimmt.«
Den Anfang der nächsten Stunde hatte ich auch schon verpasst. Hatte keine Hausaufgaben vorzuweisen und kriegte noch mehr Tadel an diesem Tag, in dem wirklich der Wurm war.
Nach der Schule trieb ich mich in der Stadt herum, so lange es ging. Es wurde wirklich langsam Zeit, nach Hause zurückzukehren.
Mein Todesurteil! Ich blieb vor dem Haarschneiderladen stehen und hielt mir die Haare im Nacken fest. Das ging ja noch. Kurz sehen sie bestimmt richtig beknackt aus. Sie waren eigentlich ein ausgewachsener Kurzhaarschnitt, eher ungleichmäßig, aber Längenrekord der Schule. Ich bin stolz drauf.
Nach wenigen Metern fiel mir auf, dass jemand hinter mir herging. Er trug Arbeitskleidung, eine blaue Latzhose und eine Maurerjacke. Dazu eine Schirmmütze. Er schob eine Karre vor sich her, auf der sich ein paar Baumaterialien und Werkzeuge befanden. Das Quietschen des Rades sagte mir, auch wenn ich mich nicht umsah, dass er noch hinter mir war.
Mir gefiel nicht, dass der so hinter mir herlief. Irgendwie starrte er mich immer wieder an. Ich drehte mich eben doch hier und da mal um. Er kam mir auch bekannt vor, ich hatte ihn schon gesehen, aber ich erinnerte mich nicht, wo und wann. Noch einmal begegnete ich diesem Blick, pechschwarze Augen, die mich an Tante Elena erinnerten, und irgendwie lag etwas in seinem Blick, auch das war vertraut — es lag Liebe drin!
Ich ergriff die Flucht.
Der Blick verwirrte mich so, dass ich nicht wusste, wohin ich gehen sollte. Ich folgte einfach meiner Nase und erkannte, dass ich wieder einmal meine Lieblingsstraßen entlang ging, die mit den hohen Bäumen, die weniger ordentlichen, die mit den großen Villen. Und hier stand ich auch wieder vor dem Haus, bei dem ich das Seil gefunden hatte.
Offenbar wurde weiter entrümpelt und renoviert; und hier bog auch der Mann mit der Karre ein. Ich war ihm also vorausgelaufen, er musste sowieso hierher. Er hatte mich sehr wohl bemerkt, und war da nicht ein ganz kleines Zwinkern? Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, und drehte bei. Am Ende dieser Straße kamen nur noch Gärten, dort gab es kein Ziel für mich; ich marschierte also zur Stadt zurück.
Hundert Meter weiter hörte ich aber schon wieder das Quietschen der Schubkarre. Offenbar hatte er seine Fracht abgeladen und folgte mir von neuem. Da half nur eine Kantine. Hier konnte ich essen und ihn zwingen, mich aus den Augen zu verlieren; denn die ganze Zeit vor dem Eingang zu warten würde ihm zu auffällig sein.
Ich marschierte mit flottem Schritt zur Kreuzung zurück, überquerte die Straße, trat an den Tresen, zog meinen Schülerausweis, ließ das Essen im Lesegerät abbuchen und nahm ein Speisebrett mit dem 'Vollkostmahl Nr. 4' entgegen, das am heutigen Tag auf der Karte stand, eins der sieben ernährungswissenschaftlich ausgewogenen Essen aus der staatlichen Lebensmittelherstellung 'Volkstafel', tiefgekühlt und dann aufgetaut und heißgemacht im Schwingungsofen. Die Mütter müssen nicht mehr kochen. Sehr fortschrittlich. Die Speisen sind sorgfältig zusammengestellt, wenig Brennwert, viel Eiweiß aus Soja, großer Anteil von Laststoffen, umweltfreundlich angebaut von 'Landkorn' und schmecken scheiße. Sie sind so eingestellt, dass man nicht zunimmt; aber was macht einer, der nicht mehr abnehmen sollte? Für ein dünnes Hähnchen wie mich sind sie nicht das Richtige. Wenn nicht Tante Elena tagsüber für mich mitkochen würde, könnte mich die Rettung vor Schwäche vom Pflaster kratzen. Der Staat lädt unsere Essenskarte jeden Monat mit 30 warmen Mahlzeiten auf. Das war die große völkische Wohltat! Dafür haben sie uns vermittels der Chipkarte überall auf dem Schirm.
Ich war doch so hungrig gewesen, aber jetzt verging mir der Appetit, vor allem, wenn ich an das Ultimatum dachte. Außerdem fiel mir ein, dass ich jetzt eine Spur hinterlassen hatte, indem ich meine Karte einlesen ließ. Das kam bei Bergenschein an, und ich würde Auskunft geben müssen, was ich eigentlich in dieser Gegend zu suchen hatte.
Ich aß noch nicht einmal ein Viertel von dem Zeug, dann ließ ich es liegen. Ich nahm dann noch einen Tee, heimische Kräuter, natürlich aus kontrolliertem Anbau, eine eher muffige Mischung, besser als nichts.
Auch die Kantinenfrau konnte sich nicht verkneifen, mich darauf hinzuweisen, dass die Haarschneider um sechs schließen. Ach, Lasst mich doch in Ruhe! Jeder mischt sich in alles ein. Ich hasse es.
Es war Viertel vor Sechs, als ich die Kantine wieder verließ, und ich hatte das Gefühl, dass alle mich anstarrten. Denn alle wussten von dem Ultimatum des Ministeriums, ich hatte meine Kappe zu Hause vergessen, und meine Haare wehten wie die Mähne eines Rassepferdes im Abendwind.
Was ist denn schon dabei? Es sind doch nur Haare. Die wachsen nach.
Guter Versuch, Iván. Aber dich selbst zu belügen hat noch nie geklappt.
SAG MIR ENDLICH, WAS LOS IST
Ich musste mit einem anderen Verrückten reden, sonst werde ich es noch wirklich. Und ich beschloss, meinen Vater aufzusuchen, und marschierte mit flottem Schritt zum Verwertungszentrum. Was für ein hochtrabender Name für einen Schrottplatz.
Der Wachhund bellte laut, wedelte aber, als ich mich näherte; ich begrüßte ihn mit einem kleinen Hundekuchen aus meiner Latztasche. Dann sah ich meinen Vater. Er machte eine kleine, unauffällige Handbewegung als Begrüßung.
Er nahm den Besuch zum Anlass, eine Pause zu machen.
Wir setzten uns auf einen besonnten Palettenstapel. Er nahm seinen Helm ab und legte die Arbeitshandschuhe daneben, zog einen Tabaksbeutel aus seiner Jackentasche und drehte sich und mir eine Zigarette. Ich gab uns Feuer, und wir rauchten.
»Es wird früh Herbst«, bemerkte er, »und heute kriegen wir noch Regen.«
Nichts deutete darauf hin, aber meistens hatte er recht mit solchen Ansagen. Unmittelbar ging ich zu meinem Thema.
»Wer sind die Homsarecs, und wo findet man sie?« fragte ich ihn.
Er schwieg lange.
»Du erwartest, dass ich dir das erkläre?«
Ich dachte, ich hätte wohl lieber den Mund halten sollen, aber er fuhr fort: »Es ist besser für dich, wenn du das nicht weißt.«
»Ich will es nicht besser haben, ich will es wissen.«
»Denkst du nicht, dein Vater hat genug gelitten?«
»Kann ich nicht, du redest ja nicht drüber.«
Er lachte. »Du bist ein schlauer Fuchs, Iván. Gut, aber versprich mir, dich von ihnen fernzuhalten, wenn du nicht die größten Probleme in der Schule und im Haus kriegen willst...«
Ich dachte nach, drehte den Satz in sein Gegenteil.
»Das kann ich dir gern versprechen, denn die Schule und der Hauswart sind mir egal. «
Er verschluckte sich, hustete, lachte und sagte, ich sollte wohl Anwalt werden.
»Und?«
»Was: Und?«
»Wer sind sie, Papa?
»Die Homsarecs? Sie sind anders. Sie sind gefährlich — für uns. Für die Gesellschaft. Für die Hausgemeinschaft. Lass die Finger von ihnen.« Er sagt mir nicht alles!
»Papa, es wird Zeit, dass du dein Kind mit den Tatsachen des Lebens vertraut machst.«
Er lachte, wurde dann wieder ernst.
»Sie sind gewalttätig. Sie locken Jugendliche in ihre Häuser und missbrauchen sie. Sie halten sich Sklaven. Sie schlagen sie. Es gibt sogar Menschenfresser unter ihnen.«
So ein Gerücht hatte ich auch schon gehört.
»Bleib weg von ihnen!« schloss er seine Warnung.
»Was ist denn so schlimm an ihnen?«
»Du hast mir nicht zugehört.«
»Doch. Habe ich, Papa. Sklavenhalter und Menschenfresser. Wer's glaubt.«
Mir fällt Papas Narbe ein. Eine handtellergroße, flache, nicht sehr auffällige Narbe auf seiner rechten Brustseite. Was war das?
Ich frage ihn. Er schaut mich mit einem tiefen, verwundeten Blick an, bläst den Rauch aus den Lungen, drückt seine Zigarette aus, wühlt sie mit dem Stiefelabsatz in den Sand und schaut mich noch einmal an.
»Eine Tätowierung«, sagt er, »eine Jugendsünde. Ich habe sie wegmachen lassen. Deiner Mutter zuliebe. «
»Pa, du kennst sie, richtig?«
Er hustete.
»Ich weiß, was ich wissen muss.«
»Du hast mit ihnen gelebt, oder?«
»Das ist nicht wahr.«
Ich verstand. Oft sagen die Alten im Scherz: »Es ist so lange her, es ist schon nicht mehr wahr«, und hier stimmt der Spruch mal. Sie haben es ihm ausgetrieben, er versucht, damit zu leben. Warum ist er nicht zu ihnen gegangen? Ist es die Liebe zu meiner Mutter? Schließlich habe ich von ihr noch nie kritische Worte über die politische Führung gehört.
Wahrscheinlich hat sie nicht mitgehen wollen. Ich könnte mir denken, dass ihr die zu aufregend sind. Und Mama glaubt schließlich an die herrschende Ideologie. Sie ist mit ganzem Herzen Parteimitglied.
»Papa, du hast da eine kleine rote Lampe auf der Stirn, die leuchtet immer auf, wenn du lügst. Was ist mit dem Heimfllm aus Svinemünde? Der ist aber doch in Berlin gedreht, oder?«
Jetzt wurde er langsam zornig.
»Wie bist du denn auf den gekommen? Lösch ihn!«
»Nix, Papa, der ist großes Kino.«
»Willst du uns alle zugrunde richten? Lösch ihn, um Gotteswillen! «
»Der ist schon weg.«
»Ah, dann hat Mama sich erbarmt. Gut so.«
Er steht auf und setzt den Helm auf. »Ich muss weitermachen.«
Ja. Das muss ich auch.
Ich dachte damals nicht darüber nach, dass er nun auch wieder Schwierigkeiten bekäme, wenn ich Verbotenes tat. Wir wurden immer für einander verantwortlich gemacht, aber ich dachte, sie würden ihn in Ruhe lassen. Das war naiv.
Tatsächlich zogen Wolken auf, aber das veranlasste mich nicht, nach Hause zu gehen. Statt dessen lenkte mich eine innere Macht in die Straße mit der weißen Villa und der Blutbuche im Garten. Und da war er auch noch, mein Verfolger. Inzwischen hatte er die Jacke abgelegt und schlug den Putz vom unteren Teil der Fassade unterhalb der großen Glasveranda. Der Veranda vorgelagert war eine überdachte Terrasse; hier war das Dach mit Glasscheiben bedeckt, eine Gruppe von Korbstühlen stand um einen kleinen Tisch. Oben auf dem Dach der Veranda kletterte einer völlig nackt herum und reparierte die Dachpappe. Ich sah, dass er eine Tätowierung auf der rechten Brustseite trug, da, wo mein Vater die Narbe hatte, und mir fiel der Kinnladen runter.
Er war dabei! Er war ein Homsarec gewesen und in die normale Gesellschaft zurückgekehrt! Was erzählt er mir da? Gefährlich? Gewalttätig? Er war doch bei bester Gesundheit!
Aber ehe ich noch zu weiteren Schlussfolgerungen kam, fing es zu regnen an. Auf die ersten dicken Tropfen folgte binnen Sekunden ein schwerer Guss. Und ohne nachzudenken, nahm ich den Wink des Mannes wahr: Unters Glasdach! Also sprang ich mit ein paar Schritten zur Terrasse hinauf und erreichte den Wetterschutz, und er folgte mir mit ein paar Sätzen. Der andere, den man verschwommen durch die Scheibe sah, sammelte in aller Ruhe sein Werkzeug ein, legte es in eine Kiste und hob die durch ein offenes Fenster oberhalb des Daches. Er selber machte keine Anstalten, das Dach zu verlassen; er drehte nur die Haare zu einem Knoten, schob irgendwas hinein, damit er hielt — ich sah später, dass es ein Inbusschlüssel war — und blieb seelenruhig auf dem Dach sitzen.
»Er mag den Regen«, sagte mein Verfolger.
Er streckte mir die Hand hin. »Ich bin Isatai. Wie heißt du?«
» Ivän«, sagte ich ohne Überlegen und schüttelte ihm die Hand. Wie warm die war!
Einen Nachnamen würde ich ihm nicht nennen; er fragte auch gar nicht danach.
»Das da oben ist Ainu«, stellte er mir den anderen vor.
»Hallo, Iván«, sprach's vom Dach. Ich hätte nicht gedacht, dass er das gehört hatte.
Eine Sekunde lang blitzte ein Gedanke auf: Sie kennen mich! Es ist kein Zufall, dass ich hier bin! Aber ich verwarf das.
Isatai setzte sich auf einen mit Farbe bekleckerten Gartenstuhl und bot mir einen der Korbsessel an. Zögernd setzte ich mich. Isatai ließ die Träger seiner Latzhose fallen und zog sein Hemd aus. Sehr ungezwungen! Dann streifte er die Träger wieder auf seine Schultern hinauf. In diesem Moment sah ich auch seine Tätowierung: Sie befand sich an just derselben Stelle wie die Narbe meines Vaters. Es war ein fliegender Vogel, ein Reiher oder sowas. Mein Herz schlug heftig. Aber ich nahm mich zusammen. Ich würde Isatai nicht alle meine Fragen stellen. Es gab Antworten. Ich konnte mich gedulden.
Er war recht muskulös; die Hose war ihm zu weit, man sah seine mageren Hüften darin. Ich sah ihn nicht ohne Faszination. Er bewegt sich gelöst. Hat wache schwarzbraune Augen, ein schmales Gesicht mit ziemlich mächtigem Unterkiefer. Er nahm die Schirmkappe ab und löste den Knoten, ihm fielen die Haare über Brust und Rücken.
Vorsichtig wie ich war, hatte ich mich gleich mit dem Rücken zur Straße gesetzt. Die Zeit verging, sicher vermissten sie mich schon. Wollte ich mit hinein? Oh ja, verdammt, ja, aber ich konnte doch nichts sagen! Er muss mich einladen, wenn schon. Aber Isatai machte bislang noch keinen Versuch, mich ins Haus zu locken.
Es wurde kühler. Ich zog meine Überjacke eng zusammen. Isatai schien dergleichen nicht zu brauchen. Er saß entspannt auf dem Gartenstuhl, inzwischen hatte er auch die Stiefel abgelegt.
Er stand auf. »Zeit, nach drinnen zu gehen«, sagte er, »was ist mit dir?«
»War das eine Einladung?«
»Ihr denkt, wir entführen euch gewaltsam, aber das ist nicht so.«
»Schade«, entfuhr es mir.
Er lächelte schlau.
»Aha. Man ist bange?«
Ich schwieg. Er streckte die Hand in meine Richtung aus. Ich sah sie einen Moment in der Luft verharren, dann ergriff ich sie.
Mich überlief ein Schauer.
»Kann ich euch trauen?« fragte ich leise.
»Natürlich nicht! Wir sind Homsarecs «, antwortete er sanft.
Seine Hand zog kaum merklich an mir. Ich folgte ein kleines Stück. Er ließ locker. Ich fasste seine Hand fester, da zog er wieder ein klein wenig in Richtung Tür.
Meine Muskeln wurden weich, er spürte es. Wieder gab ich einen winzigen Impuls. Es war ein Spiel, er grinste, ich grinste. Und so bewegte ich mich in winzigen Schritten, immer nur seinem Zug folgend, zur offenen Tür, bis ich im Türrahmen stand; hier zögerte ich.
Ich drehte mich um, schaute auf die Terrasse zurück. Der Regen wollte nicht nachlassen. Ich sah wieder Isatai an.
Er kannte mein Problem.
»Niemand wird dich hier festhalten«, sagte er, »die Tür bleibt offen.«
Nun folgte ich ihm. Der Wintergarten enthielt eine Anzahl grüner Pflanzen, war sonst leer. Von dort betrat man einen großen Raum mit einem Kamin, der ebenfalls ohne Möbel war, an der Wand stapelten sich kleine Tische und dicke Kissen mannshoch. Und schon schritten wir durch einen kleineren Raum mit weißen Schränken bis zur Decke, Spülbecken und einem verglasten Schrank, in dem ich Gläser und Becher sah. Von hier kam man in die Küche.
Für die Größe des Hauses schien sie mir gewaltig. In der Mitte überspannte ein kupferner Abzug einen Herd, an dem mindestens vier Personen zugleich arbeiten konnten; jetzt waren es drei, zwei junge Männer und eine junge Frau, die mir Isatai als seine Frau Tabi vorstellte. Es war so warm, dass es mich nicht wunderte, dass sie nichts als die Schürze trugen. Es gab da wirkliches Feuer im Herd, etwas, was es in keinem Volkshaus gab. Der eine der Küchenjungen bewegte einen Topf vom Feuer, da schlugen die Flammen durch die Eisenringe. Die am Herd Arbeitenden trugen allerdings Trikothemden mit langen Ärmeln, wohl, um die Arme vor Feuer und Fettspritzern zu schützen. Zusammen mit den nackten Ärschen sah das recht komisch aus. Der eine hatte lange Haare, der andere kurze. Beide trugen kleine goldene Ohrringe. Tabi nahm die Dinge, die sie fertigstellten, entgegen, trug sie auf die Anrichte und brachte ihnen Stapel von Tellern und Schüsseln. Ein überwältigend herrlicher Duft erfüllte den Raum. Neben der Küche gab es einen Vorratsraum. Ein Helfer knetete eine riesige Masse von Hefeteig, und er walkte das Zeug routiniert durch, wischte mit lockerer Hand ein wenig Mehl drüber und stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Teigball.
»Wirst du mit uns essen?« fragte einer der Jungen am Herd.
»Ja, will er«, antwortete Isatai an meiner Stelle.
Oho, das ging ja gut los. Aber irgendwie war es mir auch recht, wenn ich nicht 'schuld' war, dass ich blieb.
Und jetzt sah ich auch, dass einer bei der Arbeit war, den ich kannte. Auch er trug eine Schürze.
»Peter!« murmelte ich überrascht, durfte ich seinen Namen überhaupt nennen? Es war Peter Lenbach, der spurlos verschwunden war.
»Kennst du mich noch?« wisperte ich ihm zu.
»Klar«, entgegnete er, »ich wusste nur eben nicht, ob du willst, dass ich dich kenne. Du bist Iván Potozki. Ich bin jetzt Ashante.«
Er sah viel besser aus als früher, selbst seine Haut war besser, wie das auch zugehen mochte, die Narben von der Akne, an der er früher gelitten hatte, waren auch weg.
»Bist du ihr Gefangener?« fragte ich leise, als Isatai sich mit Tabi unterhielt.
Er lachte. »Nein. Ich könnte jederzeit gehen.«
»Warst du denn hier die ganze Zeit?«
Er schüttelte den Kopf. Und erzählte mir von der Hauptstadt und dass er dort als Schüler des Arztes Kunkamanito gelebt hatte. Jetzt wollte er aber ein paar Monate in Deutschland sein.
»Zuhause glauben sie, die hätten dich umgebracht«, murmelte ich mit Seitenblick auf Isatai.
»Warum sollten sie das tun?« war seine erstaunte Antwort.
»Ich hörte, sie wären Menschenfresser«, raunte ich, immer leiser werdend.
Er schüttelte mit einem amüsierten Lächeln den Kopf.
»In diesem Haus kommt sowas nicht vor, dafür lege ich die Hand ins Feuer.«
DAS BANKETT
»Nun zeige ich dir das Kaminzimmer«, kündigte Isatai an und steuerte auf eine offene Tür zu. Wir durchquerten einen großen dunklen Flur mit Holztäfelung und Schnitzereien und Stuck an der Decke. Alles war liebevoll und farbenfroh dekoriert, als hätte hier jemand nichts Wichtigeres zu tun, als allerlei Tiere auf die Wände und die Möbel zu malen.
Ich folgte rasch Isatai, alles andere konnte ich mir später ansehen. Der Raum, den ich eben schon flüchtig gesehen hatte, besaß zwei Fenster rechts und links vom Kamin, in dem schon ein Feuer brannte. Vor dem Kamin waren zwei weitere Mädchen in Schürzen dabei, die Lacktischchen vom Stapel zu heben und in zwei Reihen aufzustellen und Reihen von Sitzkissen auszulegen. Auch Peter — Ashante — half nun dabei.
Mir schwirrte der Kopf von all der Pracht. Rund um den Raum gab es Wandleuchter mit Kerzen. Die Wände waren rot! Wie kühn! Die Tische waren bemalt, rot, türkis, schwarz und golden. Hier sprengte eine Herde Pferde über eine blaue Steppe, da kauerte sich ein Leopard auf einen Felsen; goldene Fledermäuse schwirrten über ein schwarzes Tischchen, Schildkröten paddelten durch Tangwälder, Kraniche zogen in Formation vor einer großen Sonne dahin. Und die Kissen dazu waren in den gleichen Farben gewebt, waren gestreift und mit Zackenlinien und Punktreihen verziert. Auch hier Rot und Gold, Blau, Türkis, Oliv, Ocker und Schwarz. Die Sitzkissen auf der einen Seite der Tische waren höher als auf der anderen. Ein Teil der Gäste würde höher sitzen als die ihnen gegenüber.
Isatai ließ die Hüllen fallen.
Ja, das tat er so einfach, wie ich es hier schreibe. Und schon war Ashante da und hob die Hose auf und verschwand damit. Er kam mit einem seidigen Stoff zurück zu Isatai, der mit in die Seite gestemmten Händen darauf wartete, wand ihm einen bunten Gürtel um die Hüften und legte dem Hausherrn diesen Stoff an, indem er ihn mit sanfter Routine zwischen die Beine schob und vorn und hinten durch den Gürtel zog, so dass er wie eine Fahne herabhing, bis zur halben Wade reichte und Hüften und die Außenseite der Beine freiließ. Mit welcher Selbstverständlichkeit er diesen intimen Dienst an sich tun ließ, verschlug mir den Atem.
Es war ein prächtiges Material, schimmerte in zwei verschiedenen Farben, je nach Lichteinfall mal rötlich, mal grün. So gekleidet, ließ Isatai sich auf eins der dicken Kissen sinken. Und er war wunderschön, fand ich.
Erwartete er nun auch von mir, dass ich mich auszog? Aber wer sollte meine Sachen aufsammeln? Würde Peter mir dann auch so in den Schritt greifen? Das war mir peinlich!
»Setz dich doch«, forderte Isatai mich auf und zeigte mir einen Platz in der niedrigeren Reihe. Ich zog meine Jacke aus. Ashante nahm sie mir ab und auch meine Schultasche und sagte: »Ich hänge deine Sachen in die Flurgarderobe«, merklich mit Rücksicht darauf, dass ich noch ein bisschen bange war. Darum behielt ich auch Hosen und Hemd an. Aber arg warm war's schon.
Ich schielte auf Isatais Tätowierung. Und noch eine zweite hatte ich entdeckt, sie befand sich auf seiner linken Hinterbacke und zeigte einen Hund oder sowas. Er hatte Ohrringe und einigen weiteren Schmuck an den Handgelenken, Ketten um den Hals und Ringe an den Fingern, die vorher von den Arbeitshandschuhen verdeckt waren. Jetzt kam ein Mädchen und flocht ihm einen Zopf am Hinterkopf und drehte ihn zu einem Knoten, den sie mit einem roten Band umwand. Diesen Dienst bot sie auch mir an. Ich lächelte und ließ sie gewähren.
Und da überlief mich eine Gänsehaut, als sie mir die Haare zum Pferdeschwanz band. Ich fiel in eine Art Wohlstarre, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Ich vergaß alles, mein Zuhause, meine Pflichten, die Schule morgen.
Nun hantierte sie wieder an Isatai herum, und ich sah interessiert zu. Sie malte ihm mit einem feinen Stäbchen eine schwarze Linie auf dem Innenrand des Augenlids — ja, innen! Das hatte ich noch nie gesehen.
Er schloss und öffnete, als sie fertig war, ein paarmal die Augen, da verteilte es sich auf den oberen Lidrand. »Du auch?« fragte sie. Ich lachte verlegen und schüttelte den Kopf. Isatai schaute mich mit gerollten Augen an: »Sieht wild aus, nicht?«
Stimmt, sieht wild aus. Weiblich wirkte es nicht; als sich das Mädchen eben schon erheben wollte, murmelte ich: »Doch, mach mal.«
Unseren Mädchen untersagte man immer wieder das Schminken. Von uns Jungen war keine Rede, haha, auf die Idee kam keiner.
Es kitzelte, und ich musste mich konzentrieren, um nicht die Augen zuzukneifen, wie es mich ankam. Dann hatte sie einen Spiegel für mich — und ich... erlebte eine Offenbarung.
Ich sah den Iván, der ich schon lange sein wollte. Ja, ich sah in diesem Moment einen neuen Iván, einen mutigen, wilden und freien.
Und wie sich so der Raum füllte mit Leuten, die zum Teil ihre Kleider ablegten, verlor ich mich im Beobachten. Nicht alle zogen sich aus. Wenn sie bekleidet waren, übertrafen sie einander im Reichtum von Farben und Mustern. Weite Gewänder, Saris, afrikanische Hemdgewänder mit reicher Stickerei am Halsausschnitt; nun sah ich auch, dass die Nackten in der niedrigeren Reihe Platz nahmen. In den erhöhten Reihen mischten sich Kleider und nackte Haut. Auf meiner freien Seite ließ sich eine Frau nieder. Sie schaute mich interessiert an: »Neu bei uns?«
Isatai drehte sich zu ihr. »Nur zu Gast. Das ist Iván. Iván, das ist meine Schwester Rangus, sie ist zu Besuch aus der Hauptstadt.«
Sie trug einen Webstoff in Weinrot, Orangegelb und Grün. Sie mochte ein wenig jünger sein als er. Sie sah ihm, von der Fülligkeit abgesehen, recht ähnlich. Auch sie hatte ein Tattoo, soweit sichtbar, das gleiche wie ihr Bruder.
Nun kam auch Ainu, der anscheinend bis eben auf dem Dach gesessen hatte. Er war ein vergnügter Junge in meinem Alter, nicht eigentlich schön, aber überaus anziehend. Er rieb sich mit einem Handtuch trocken, was er wegen der interessanten Gesellschaft offenbar hier drin erledigen musste. Nun öffnete er seinen Haarknoten. Er hatte lange aschblonde Haare, die verfilzte Zöpfe bildeten. Ich überlegte mir, was in der Hausgemeinschaft los wäre, wenn einer von uns sowas mit seinen Haaren machen wollte.
Die meiste Zeit beobachtete ich nur und schwieg. Zu groß die Furcht, mich zu verplappern. Ich fragte mich, was mich hier hielt außer der Neugier auf gutes Essen. Oh, ich wusste es. Es war der Hunger auf solche Berührung wie beim Flechten meiner Haare und beim Schminken der Augen.
Nun wurden Schalen, Stäbchen und Löffel verteilt. Kleine Tücher in bunten Farben — das waren offenbar Servietten. Zwischen den Tischreihen liefen die Jungen und Mädchen mit den Speisen hin und her. Batterien von Schälchen standen endlich auf den Tischen. Reis wurde verteilt. Isatai, in lebhafte Gespräche vertieft, wandte sich kurz an mich: »Kannst du mit Stäbchen essen? Ja? Fein. Sonst nimm den Löffel.«
Isatai gegenüber saß jetzt das Mädchen, das uns die Haare gekämmt und die Augen geschminkt hatte, und betrachtete Isatai mit strahlenden Augen. Ihre Haare waren irgendwie strubbelig, aber es schien, dass sie es so wollte, denn bisweilen fuhr sie mit der Hand hinein und verwühlte sie noch mehr. Ihr Name war Kirli. Mit ihr unterhielt er sich lebhaft. Auch sie war offenbar neu in dieser Gesellschaft. Mir fiel wieder einmal auf, wie anders ihre Sprache war. Er korrigierte sich, wenn sie ihn nicht verstand, ersetzte das Fremdwort durch ein deutsches.
Merkwürdig, ich fühlte mich schon jetzt bei ihnen wie zu Hause.
Isatai flirtete jetzt offen mit Kirli, rief aber Tabi dazu, auch eine Gattin, wie ich jetzt erfuhr, und eröffnete ihr unverblümt, er wolle Kirli als »kleine« Frau nehmen. Na, das gibt doch sicher Zickenkrieg? Aber nein! Tabi umarmte Kirli von hinten und rief aus: »Ja? Eyh, geil! «
Ich war völlig verblüfft.
Da es mir peinlich war, diesen Liebesverhandlungen aus der Nähe zuzusehen, vertiefte ich mich in meine kulinarischen Genüsse und nippte auch an dem Wein, der mir hingestellt worden war. Bei uns gab es sowas selten, eher Bier. Papa trank das, ich nicht. Isatai ließ sich Wasser geben und sagte mir, Homsarecs würden Alkohol nicht vertragen, der sei nur für ihre 'Cro'-Gäste — also Menschen wie mich.
Rangus erklärte mir die Speisen, indem sie mit den Stäbchen darauf zeigte. Sie nannte mir Gemüsenamen, die ich nie gehört hatte, und es waren Fleischsorten, die ich nie gegessen hatte. Schwein und Huhn war alles, was ich kannte.
»Wo kriegt ihr das her?« wollte ich wissen. »Wir haben Plantagen«, gab Rangus Auskunft, »Farmen auf dem Land, da bauen wir Gemüse an und halten Vieh.« Ich glaubte ihr nicht, denn jeder weiß doch, dass man hier nicht mehr so einfach was pflanzen kann. Bei all den Giften im Boden. Wir bekamen nur Nahrungsmittel aus den staatlichen kontrollierten Anbauflächen, wo die Pflanzen unter Glasdach in sauberen Krautböden wachsen. Fast immer schon verarbeitet. Wer kochte denn noch selber? Nur so Verrückte wie Tante Elena. Aber ich schwieg. Und aß. Ich konnte nicht aufhören.
Das Sitzen auf einem Kissen fiel mir immer schwerer. Ich rotierte mit den Schultern und versuchte, soweit es möglich war, meine Beine zu strecken.
Isatai bemerkte es. »Oh, der junge Mann kann nicht so lange mit untergeschlagenen Beinen sitzen.« Und er bot mir an, meine Schultern zu massieren. Und wenn das noch nicht verführerisch genug war, dann wurde es das durch den sanften Druck, den seine Hand in meinem Nacken ausübte. Wie hypnotisiert erhob ich mich, merkte jetzt, dass ich schon pappsatt war, aber auch, dass ich wohl nie wieder das Vollkostmahl Nr. 4 über die Lippen bringen würde.
Wie wenig ich auch von dem Wein getrunken hatte, so war ich doch recht benommen, als ich ihm die Treppe hinauf folgte. Auf der Galerie reihten sich verschlossene Türen aneinander, dann noch einen Stock höher führte der Gang zu einem Zimmer, in das wir eintraten; es hatte einen Erker mit Blick auf den Garten. Ich sah das Glasdach der Terrasse und den dunkelrot belaubten Baum. Es dämmerte. Musste ich nicht irgendwann nach Hause? Schon, aber jetzt nicht. Ein Blick noch hinaus. Dann wandte ich mich wieder ihm zu.
Das Zimmer war überraschend schlicht eingerichtet. Kleine, schwarz oder rot lackierte Möbel standen an den Wänden, die in einem gelblichen Ockerton gestrichen waren. Er zündete einige Lichte an. In der Mitte des Zimmers befand sich ein niedriges Bett mit einer roten Webdecke, und dorthin sollte ich mich legen. Massage? Ja, gern. Das Hemd zog ich aber nicht aus.
Unterdessen nahm er etwas aus einem schwarzen Schränkchen, ich hörte, wie er die Lade wieder schloss und etwas hinstellte, dann kam ein leichter Duft. Nicht, dass ich noch danach dufte, wenn ich nach Hause gehe, dachte ich. Denn ich werde doch nach Hause gehen.
»Willst du dein Hemd geölt haben?« kam seine Stimme nun.
»Äh, nein...« Ich sprang auf und zog mir mein Hemd über den Kopf. Dann legte ich mich wieder hin.
Zwischen meinen Schultern entstand etwas Kühles, der Duft wurde stärker... Ärger mit der Hausverwaltung, haha. Das ist es wert.
Zwischendurch kam mir der Gedanke, dass ich ja jetzt bei den Homsarecs war, aber was sollte er mir schon tun? Er war einfach nett zu mir!
Er schwang sich rittlings über mich und stützte sich mit leichtem Druck auf meine Oberschenkel. Seine Berührung tat so gut, war so unendlich wunderbar, dieser feste Griff, er stillte einen Durst, nicht allen, aber einen bestimmten. Er packte richtig zu, kniff mich so köstlich, ach, mehr davon! Wieder verfiel ich in diese Starre, die aber nicht verkrampft war, ganz im Gegenteil. Ich wurde so locker, dass ich kaum noch Kontrolle über meine Gliedmaßen hatte. Seine leichten Berührungen lösten pausenlos Schauer aus, die wie Explosionen von goldenen Funken über meine Haut liefen. Und es war zugleich eine Störung und eine Verheißung weiterer Genüsse, als er sich erhob und mich mit Gesten und Berührung aufforderte, ich solle mich auf den Rücken drehen. Er löste die Knöpfe meiner Hosen; ich schloss die Augen. Unter Männern geniert man sich nicht. Wenigstens war das Licht schummrig und nicht so grell wie die Leuchtröhren bei uns in der Hausgemeinschaft, wenn sie nicht wieder ausfielen. Er massierte mit sanften Strichen meine Hüften.
Ich legte die Arme über den Kopf und bog mit einem Seufzer mein Becken leicht vor und wieder zurück. Ich dachte nicht darüber nach, was er darüber dachte; es war ein Reflex. Aber ich glaube, wenn mir bewusst geworden wäre, dass dies erotisch war und nicht nur eine Wohltat gegen verkrampfte Muskeln, ich hätte mich gewehrt.
Aber nun wurde ich hart, und damit hatte ich ein Problem.
Ich war ständig hungrig. Niemals war ich allein, und wenn, dann hieß es schnell machen, im Gartenschuppen, im Klo; im Bett nur, wenn Mina auf Gruppenreise mit ihrem nervtötenden Parteinachwuchs war, denn sonst wachte sie sofort auf und meckerte mich an. Aber über die Schönheit der Einehe zwischen Mann und Frau wurden wir ständig vollgelabert, vom Wert der Jungfräulichkeit, vom Glorienschein der Unberührtheit. Diesem Zustand so bald wie möglich abzuhelfen war mein sehnlichster Wunsch.
Wehren oder nicht? Der Konflikt war so heftig, dass ich in eine Art Totstellen verfiel. Mein Gesicht verdeckte ich mit beiden Armen, und das muss wohl eine deutliche Sprache gesprochen haben. Und da fühlte ich seine sanfte und sehr warme Hand auf meinem steifen Glied unter der verwaschenen Hose.
Widerstand war zwecklos. Nicht weil ich seiner Gewalt ausgeliefert war, sondern er hätte mich sicher gehen lassen, wenn ich den Wunsch geäußert hätte. Zwischen seinen Berührungen lagen lange Pausen, in denen er das Wenige von meinem Gesicht studierte, das ich sehen ließ.
Ich war in einem fürchterlichen Konflikt. Das wilde Tier Geilheit sprang mich an, zugleich dachte ich daran, dass ich ja eigentlich so schnell wie möglich wieder hier rausmüsste, du kannst ihnen nicht trauen, Iván, und da ging es schon los mit der sexuellen Ausbeutung.
Aber das ist nicht meine Schuld! Hilfe, ich werde vergewaltigt!
Und es fühlt sich verdammt gut an.
Seine Hand fand ganz vorsichtig den Spalt im Stoff, öffnete in aller Ruhe die Knöpfe, drang bis an meine Haut vor und ließ meine Vorhaut ganz vorsichtig über die Eichel gleiten, auf und ab. Zwischendurch machte er Pausen und schaute mich an, ob ich reagierte. Bis auf die kleinen Bewegungen meines Beckens zeigte ich keine Regungen. Sein Griff wurde fester.
Ich war in einem Vakuum. Für diese Situation gab es keine Handlungsanweisung. Was ich mit einem Mädchen hätte tun sollen, das wusste ich seit meiner Kindheit in allen Einzelheiten, dachte sogar auch, dass es mich interessierte, aber jetzt wurde mir klar, dass mich nur interessierte, ob mich etwas mitreißen konnte. So, wie es jetzt gerade mit mit passierte. So, wie ich es wahrscheinlich schon immer haben wollte, wenn ich denn gewusst hätte, dass ein Mann das mit mir tun konnte.
Dass es sein durfte.
Wahrscheinlich nicht.
Hatte ich Angst gehabt?
Wo war sie hin?
Weggefegt von Sehnsucht und Lust.
Mittendrin schwang er sich über mich, und seine muskulösen Oberschenkel waren nun eine Barriere, zwischen der ich lag. Ich zuckte zusammen, wartete aber erst einmal ab, was nun käme, denn das war wiederum zu gut, um es abzubrechen, und meine Befürchtungen lösten sich immer weiter auf. Probehalber versuchte ich dann doch halbherzig, mich aufzurichten, aber ich wurde von seinem Gewicht auf dem Lager festgehalten, und als er meine Handgelenke fasste und sich auf sie stützte, war ich vollkommen fixiert. Sein Gesicht war nah über meinem. Sein Becken senkte sich herab auf meins, und indem er sich fast auf mich legte, drückte sich sein hartes Geschlecht auf meins.
Und er schaute mir in die Augen.
In diesem Moment hatte ich dann doch Angst.
Er lächelte und ließ meine Hände wieder los. Aber diese kurze Gefangensein jagte einen Schauer durch mich, und da er sofort wieder losließ, kam ich nicht dazu, mich zu wehren, so entstand dieser kleine Moment von Bedauern.
Ich reagierte auf diesen Überfall mit einem kleinen Ausbruch von Lust. Ich kam nicht, aber ich erlebte etwas, das ich nicht kannte, ich fühlte es von fern herannahen wie einen Zug, den man in der Ferne pfeifen hört. Es prickelte herein wie Schnee durch ein gekipptes Fenster. Es kam und ging sanft und hinterließ ein »war das jetzt alles?« und Verwirrung.
Ist das immer so mit einem Homsarec?
Er beugte sich über mich und schleifte mit den Lippen sacht über meine Wange. Er sprach ganz leise an meinem Ohr.
» Später machen wir weiter. Wir haben noch viel vor.«
DAS BAD
Er half mir auf. »Komm mit ins Bad.«
Ich sah mich rasch um: Was überziehen? Er öffnete eine Truhe und nahm ein Tuch heraus, das er um mich legte. Wir stiegen die Treppen hinab ins Untergeschoss.
Hier trafen wir Isatais Schwester Rangus, die ebenfalls in einem gestreiften Tuch einherwallte. Isatai legte nun ganz ungeniert sein Lendentuch ab; ein Junge mit einer grünen Schürze nahm es, legte es sorgfältig zusammen und schob es in ein Fach eines Regals. Es gab auch Haken; ich hängte mein Tuch an einen davon und versuchte, dezent meinen Ständer zu verdecken.
»Wot!« entfuhr mir der Laut der Überraschung, den ich von Tante Elena übernommen hatte.
Ich sah mich im Raum um.
Nie gesehener Luxus. Ein Wasserbecken war da, groß genug, dass man zwei, drei Schwimmstöße machen konnte. Es war dunkelgrün gekachelt, und auf den Simsen rundum standen so viele Pflanzen, dass man an einen Dschungelteich glauben konnte. Das Wasser kam aus dem Mund eines steinernen Gesichts mit zornigem Ausdruck. In Nischen an den Wänden des Bades waren Duschen, die einzige Badeform, die ich kannte; ich ging in eine der Nischen und drehte beherzt am Griff.
Rangus riss mich am Arm raus aus der Nische: »Wolltest du dich verbrühen?« Und tatsächlich kam es fast kochend aus der Brause geschossen.
»Alle unsere Neulinge fallen drauf rein! Ihr habt wohl nur lauwarm, hab' ich gehört?« Ja, sie hatte recht, aber ich ärgerte mich, von ihr Neuling genannt zu werden.
»Ich bin hier nur Gast, kein Neuling«, knurrte ich, und sie entschuldigte sich ein wenig spöttisch.
Ja, wir hatten in den Hausgemeinschaften nur lauwarme Duschen, das reicht doch wohl. Inzwischen hatte sie die richtige Temperatur eingestellt, deutlich wärmer als zu Hause. Und wieder lernte ich eine bislang unbekannte Wohltat kennen. Das heiße Wasser belebte mich, mir war, als fülle es leere Stellen in meinem Körper mit einer Art Nahrung.
Ich stand drunter, solange es mir anständig erschien, dann drehte ich es zu und sah mich nach Isatai um. Der hatte ebenfalls geduscht und stieg eben die Stufen ins Becken hinab. Der Junge mit der grünen Schürze schob das auf dem Fußboden stehende Wasser mit Hilfe eines Rakels an langem Stiel zu einem Abfluß. Die Bodenfliesen waren aus rotem Ton, angenehm rauh und warm.
Ich folgte Isatai ins Becken und entspannte mich. Das Wasser war recht warm. An einer Wand gab es drei kleine Becken, aus Stein gehauen; dort sah ich Rangus auf eine Art baden, die ich nicht kannte. Sie seifte sich auf einem kleinen Hocker sitzend ab und übergoss sich dann mit dem Wasser aus dem Steinbecken, das sie mit einem kleinen Holzkübel schöpfte. Das Abwasser verschwand im Boden. Als sie fertig war und aufstand, kam der Junge, stellte den Rakel hin und hüllte die Badende in ein großes Handtuch und rubbelte sie ab. Das war ein weiterer Beweis, dass sich hier höchst unmoralische Dinge abspielten. Niemand darf doch andere zu seinem Diener machen! Und kein Mensch soll sich einem anderen unterwerfen.
Unterdessen stieg ich wieder die Stufen hinauf. Nun hätte mich der Junge bedienen wollen, er bot es mir ohne Worte an.
Nein, ich wollte nicht, dass mir ein Badediener diente. Ich nahm ihm das Handtuch vom Arm, das er mir eben reichen wollte, und wickelte mich selber hinein.
Da er nun sah, dass ich allein zurechtkam, wandte er sich Rangus zu, ging vor ihr nieder, ein Knie setzte er auf den Boden, auf das andere stützte sie ihren Fuß und ließ sich von ihm das Bein und den Fuß abtrocknen, dann das andere Bein, und schließlich geschah etwas ganz und gar Skandalöses: Er beugte sich nieder, wobei sein nackter Hintern aus der Schürze hervorlugte, und küsste ihre Zehen.
»Nein, das tut man nicht, man unterwirft sich nicht so, man küsst niemandem die Füße!« rotierte es in meinem Kopf. Und zugleich bekam ich von neuem einen Steifen.
Rangus war wieder in ihr buntes Tuch gekleidet und half mir, das Gewand anzulegen, das sie mir lieh. Es war ein einfaches blaues Webtuch mit feinen weißen und schwarzen Streifen, sah zum Glück nicht irgendwie weiblich aus. Meine Haare wurden gefönt, was Rangus erledigte, das ging noch in Ordnung, aber ausbürsten wollte ich sie allein.
Dann übernahm mich Isatai wieder, und schon waren wir wieder in seinem Zimmer, und ich war so müde, dass ich kaum wusste, wie ich dahin gekommen war.
»Ich lasse dich ein bisschen schlafen«, sagte er, »und wenn du aufwachst, warte bitte, bis jemand kommt. Geh nicht in irgendwelche Räume, um niemanden zu stören, versprichst du's?«
Ich murmelte irgendwas und wusste Sekunden später nicht mehr, was ich versprochen hatte.
Ich fiel in einen tiefen Schlaf. Nach einiger Zeit, unmöglich zu schätzen, wie lange, wurde ich wach, und mir fiel ein, dass ich im Haus der Homsarecs war, und spontan saß ich senkrecht, als hätte jemand direkt neben mir eine Pauke geschlagen. Mir fiel ein, dass ich längst in meinem Haus überfällig war, das wurde von der Hausverwaltung re