Hopfenkönigin - Nicole Joens - E-Book

Hopfenkönigin E-Book

Nicole Joens

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Beschreibung

»Schon mal richtig zugedröhnt gewesen?« »Du etwa nicht?« Bei einer Bestattung in dem fränkischen Touristenstädtchen Spalt wird das Skelett der verschwundenen Hopfenkönigin Sandy Baker entdeckt. Die Tochter ­eines US-Offiziers und einer Lehrerin erregte einst als skandalumwitterte Geliebte der lokalen Bier-Patriarchin Aufsehen. Eine erste Spur führt zu einem vertuschten Mord an einem US-Piloten auf einer exzessiven LSD-Party, die jetzt dreißig Jahre her ist, jedoch in dem beschaulichen Ort offene Wunden hinterlassen hat. Dr. Jens Hauser, seine New Yorker Assistentin Olivia und die Berliner Polizeipsychologin Dr. Lilian Kämmerer stechen bei ihren Ermittlungen in ein Hornissennest. Der Hopfenkönigin-Fall bekommt eine internationale Dimen­sion. Das Team ermittelt in Berlin, New York und im berüchtigten US-Gefängnis ­Guantanamo. Jens bleibt von den Geschehnissen nicht unberührt, vor allem nicht, nachdem seine junge Assistentin Olivia in akute Gefahr gerät.

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Seitenzahl: 419

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Impressum

1. Auflage 2015

Originalausgabe ©CINDIGObook, der Buchverlagder CINDIGOfilm GmbH, München & BerlinUmschlaggestaltung: Christine Paxmann

Umschlagfoto: © Leonhard Rabel

Autorenportrait: © Susanne JellLektorat: Antje SteinhäuserSatz & Gestaltung: Philip Joens

Druck: CPI books GmbH, Leck

Made in Germany978-3-944251-26-4(Broschur)978-3-944251-27-1(eBook)

Mehr über unsere

Filme, Musik, Bücher: http://www.cindigo.de

facebook:CINDIGOverlag

Inhalt

Das Vollmondfest

Mutter, Tante und Sohn

Der Spalt in Spalt

Sex and Drugs & Rock ’n’ Roll

Teufelszeug

Mutterhass

Der Maskenmann

Frauen lieben lebenslänglich

Feindesland

Töte mich schnell

Der rote Mantel

Der Kurier

Hopfenkult

Tod auf Kubanisch

Der Kehlbeißer

Blutspur

Todesstoß

Mein Haus, mein Auto, mein Boot

Both Sides

Dank

LeseprobeGlycinienmord

9. Mai 1969

Vorspiel

Hopfenkönigin

Kriminalroman

Nicole Joens

CINDIGO

Gewidmet der kanadischen Sängerin Joni Mitchell,

deren visionäre Lieder spielerisch den Geist

eines halben Jahrhunderts veredelten.

Weiterhin unseren amerikanischen Besatzern,

die nicht nur unser göttliches Bier tranken.

Das Vollmondfest

Samstag, 11. August 1984

Nicht hinsehen, zumindest nicht zu genau, dachte Jens, als er die drei halb nackten Körper sah, die sich am Rande des Hopfenfeldes zu balgen schienen. Sandy war eine von ihnen, leicht zu erkennen an ihrer dunkleren Hautfarbe. Als sie Jens entdeckte, stand sie auf und grinste ihn verführerisch an. Als er näher kam, war sie bereits dabei, sich ihr bodenlanges Sommerkleid abzustreifen. Nein, die Hopfenkönigin Sandy Baker dachte nicht daran, sich für Jens wieder anzuziehen, sondern grinste ihn frech an. So war Sandy schon immer gewesen. Und dafür konnte man sie auch irgendwie gern haben, vor allem wenn man ebenso berauscht war wie sie. Und Jens Hauser fühlte sich so breit wie ein Kuhfladen nach der Begegnung mit einem Traktorreifen.

Die beiden Männer, US-Soldaten, wie Jens wusste, seit er Sandy mit ihnen am Bierausschank hatte flirten sehen, streichelten ihr die Beine. Sie kicherte und ermutigte die Männer mit ihren braungebrannten Muskelarmen weiterzumachen. Das rhythmische Stöhnen gestählter Lungen unter schwitzenden Brustkörben verriet rückhaltlose Begeisterung. Hatten auch die US-Soldaten von dem Teufelszeug genommen, so wie viele andere Partygäste auf dem Vollmondfest in Spalt?

Das sonst beschauliche fränkische Hopfenstädtchen Spalt hatte sich in einen Hexenkessel verwandelt. Wie die Heuschrecken waren die Feierhungrigen auf den Hopfenhängen knapp hinter dem Ortsschild eingefallen, bestimmt an die tausend, wenn man die ganzen US-Soldaten mitzählte. Kreuz und quer standen Autos, Motorräder und Busse auf einer abgesperrten Weide, die sonst den Kühen gehörte.

Auch ein kleiner Hubschrauberlandeplatz war vorhanden, abgeriegelt von amerikanischen Militärfahrzeugen.

Jens lächelte. Die beiden Muskelkerle vor ihm gehörten zu einer Eliteeinheit, frisch eingetroffen aus Missouri. Oder war es Minnesota? Er wusste es nicht mehr genau und es war auch nicht wichtig. Die Soldaten, die heute zum ersten Mal hier waren, konnten ihr Glück kaum fassen. Sandy war nicht nur die diesjährige Hopfenkönigin, sondern die schönste Frau weit und breit. Es machte ihr sichtlich Freude, mit den Männern zu spielen. Vorhin hatten die noch Jens’ Nähe gesucht, ihm bereitwillig eine Zigarette angeboten. Natürlich konnten sie nur ein paar Brocken Deutsch, so wie die meisten, die in der Gegend stationiert waren. Mit ihm zu scherzen, sich zu versichern, dass sie die offensive Kontaktaufnahme der jungen Schönen erwidern durften, war bei solchen Gelegenheiten Usus. Sie hielten Jens für Sandys Freund, was er nicht war. Eigentlich war er noch nicht einmal ein Freund, nicht wirklich. Sie spielte seit zwei Jahren in einer anderen Liga, unerreichbar für die Jungs. Auch jetzt war er lediglich Laufbursche und Überbringer einer nicht willkommenen Nachricht.

»Artega sucht dich.«

»Sie kann mich mal. Lass mich in Ruhe!«

Jens bewegte sich nicht vom Fleck. Selbst wenn er es gewollt hätte, war es keine gute Idee, sich Artegas Wünschen zu widersetzen. Es war ihr Fest, und Sandy war ihre Geliebte. Sandy gehörte zu Artega Schaber, der reichsten Frau von Spalt, die man in der Gegend auch die Hopfenpatriarchin nannte, seit sie nach dem Tod ihres Mannes die Geschäfte so überaus geschickt weiterführte, dass ganz Spalt davon profitierte.

Die Stirn wütend gerunzelt und mit zuckenden Pupillen sah Sandy ihn an. Jens musste grinsen. Sie war mindestens ebenso breit wie er. Was war das nur für ein Zeug gewesen? Er lächelte ihr zu.

»Mach kein Theater, sondern komm einfach mit. Du weißt, wie sie reagieren wird …«

Sie wussten es beide. Gegen Artega rebellieren zu wollen, war zwecklos. Sandy schüttelte die Hände der Soldaten ab, indem sie in ihren goldenen Riemchensandalen einen souveränen Schritt über einen Erdhaufen am Rand des Feldes machte. Dann stand sie vor ihm, bis auf ihren opulenten Goldschmuck und einen schwarz glänzenden Tanga nackt, und streckte ihm trotzig ihr Kinn entgegen.

»Und wenn ich ihr dieses Mal nicht gehorche? Würdest du dann zu mir stehen?«

Sie sah ihn herausfordernd an, wusste sie doch, in welche Nöte sie ihn bringen würde, wenn sie sich tatsächlich weigerte. Jens schwieg, die Augen gesenkt. In Sandy lebte etwas, das er nur schwer ertrug, vor allem, wenn sie high war.

»Feigling! Du bist so ein erbärmlicher Wicht. Du und Klaus, ihr seid einfach nur peinlich. Wichsende Leisetreter …«

Sandy lachte plötzlich und warf den Kopf in den Nacken. Ein neues Musikstück dröhnte von dem Festplatz zu ihnen herüber. Gespielt wurde Joni Mitchell, eine von Jens’ Lieblingssängerinnen. Auch Sandy sang gerne Joni Mitchell-Lieder. Oder welche von Carol King. Mit der gurrenden Tiefe ihrer geübten Stimme flüsterte sie ihm jetzt ins Ohr: »Richte Artega aus, dass sie hierher kommen soll. Ich kann sehr viel Spaß haben, auch ohne sie. Ich komme nicht zu ihr, nicht bevor sie sich nicht entschuldigt. Ihr Schoßhündchen kommt nicht angekrochen, egal, wie viel Schmuck sie mir schenkt. Sag ihr das!«

Jens nickte. Er sah weiterhin zu Boden. Natürlich würde er Artega Sandys Worte nicht ausrichten. Er war nicht lebensmüde. Und er würde Sandy zu Artega bringen, nur wollte er sie nicht unbedingt an ihren widerspenstigen Haaren über die trockene Erde schleifen. Oder wollte er das doch? Wollte er Sandy zu Boden schlagen? Er konnte fühlen, wie seine Faust sich ballte. Doch als er zu seiner Hand hinsah, hing sie leblos und schlaff neben der Naht seiner Jeans. Irgendetwas war anders als sonst. Er wollte auf Sandys Worte etwas erwidern, vielleicht sogar eine Beschwichtigung, garniert mit einem Lächeln. Aber es war ihm unmöglich. Sein Gesicht fühlte sich nicht mehr wie seins an, sondern wie die fellige Schnauze eines Hundes. Eines Hundes? Nein, eher die eines Wolfes war es, eines Wolfes, dessen Zunge Jens zwischen seinen Zähnen spürte. Ein hungriger Wolf, der auf Beutefang war. Nein, keine Worte wollte er verlieren, sondern seine Kraft aufheben für den einen starken Biss, der ihn zum Sieger krönen würde.

»Mann, ist das ein starkes Zeug. Spürst du es auch? Wie viel hast du genommen? Eins oder zwei?«

Sandy sah ihn prüfend an, doch Jens schüttelte den Kopf. Seine Zunge gehorchte ihm nicht. Es hatte zwei genommen, oder besser gesagt hatte Klaus, ältester Sohn von Artega und seit Jahren Jens’ Sommerfreund, ihm zwei Stücke eines gelartigen Papiers zwischen die Lippen geschoben.

AmberLupusWindowpanes hieß dieses Teufelszeug, so viel wusste Jens, weil er mit Klaus darüber gesprochen hatte. Klaus studierte Chemie im ersten Semester und interessierte sich für die Herstellung von Drogen. Bernsteinfarbene Wolfsfensterscheiben. Was für ein alberner Name für eine coole Droge, die angeblich im Körper nicht nachweisbar war, egal was die Bullen für Tests dabeihaben sollten, falls sie überhaupt auftauchen würden, was Jens bezweifelte. Artega Schaber hatte gute Beziehungen zur Regierung. Der bayerische Ministerpräsident persönlich wurde zu diesem Vollmondfest erwartet, oder zumindest einer seiner engsten Vertrauten. Sollten die Bullen kommen, dann bestimmt nicht wegen der Drogen. Halluzinogene waren schließlich schwer im Kommen. Der alte Schaber hatte noch ein Patent auf ein Bier-Halluzinogen angemeldet, in dem der Humulus Lupulus, der berühmte Spalter Aromahopfen, in veredelter, jedoch nicht in flüssiger Form zu einem milden Rausch voller Glück und Zufriedenheit verhelfen sollte. Nein, das Zeug, das sein Freund ihm verpasst hatte, konnte man wahrlich nicht mild nennen.

Diese brandneue Variante des LSD hatten die Amerikaner sich ausgedacht. Gefiel es ihm? Jens schluckte. Reden konnte er nicht, nicht solange seine Zunge pelzig und trocken seine Mundhöhle okkupierte und er sich bereits jetzt wie ein fremdes, hungriges Tier fühlte. Nein, bis jetzt gefielen ihm diese bernsteinfarbenen Wolfsfensterscheiben so gar nicht. Sandy sah ihn lauernd an, zumindest empfand er ihren Blick wie den eines gierigen Raubtieres. Ihre Stimme kam tief aus ihrer Kehle und erinnerte ihn an das grollende Schnurren einer Raubkatze.

»Na, Großer, was ist los? Du weißt längst, wie ich nackt aussehe. Mit Klaus schaust du doch gerne durchs Schlüsselloch, wenn ich dusche …«

Sie legte ihren Finger unter sein Kinn und hob es an, sodass er sich gezwungen sah, ihren spöttischen Blick zu erwidern. Sie lächelte seltsam. Jens war gute zehn Zentimeter größer und sie waren fast gleich alt, zwanzig Jahre. Dennoch fühlte er sich neben Sandy oft wie ein Kind. Spöttisch verzogen sich ihre Lippen.

»Willst du mitspielen, Jensi-Maus? Willst du mich anfassen?«

Ihre Augen waren eine Einladung in eine beunruhigend animalische Welt, doch erregt war Jens nicht. Er hatte Sandys penetranten Geruch noch nie leiden können. Patschuliöl war ihm zuwider. Bei ihm tat sich nichts.

»Jens? Erde an Marsmännchen?«

Ihr herablassender Ton nervte und er schüttelte verneinend den Kopf, was zu unguten Sensationen in seinen Gehörgängen führte. Waren die Glöckchen Teil der Musik? Und was war das für ein Echo, das Sandys Stimme verzerrte? Normalerweise liebte er Joni Mitchells Lied Woodstock. Jetzt , in seinem Zustand, waren Stimme und Liedtext die reine Folter.

I‘m going to camp out on the land

I‘m going to try an‘ get my soul free

We are stardust

We are golden

And we‘ve got to get ourselves

Back to the garden

Inzwischen verfluchte Jens sich innerlich dafür, dass er sich hatte losschicken lassen, um Sandy zu holen. Mit einer neuen Droge gingen Klaus und er für gewöhnlich achtsamer um. Jetzt hatte er den Salat. Irgendwie musste er Sandy zum Mitkommen überreden. Auch ohne Worte. Er packte sie am Arm. Sie verzog das Gesicht. Hatte er zu fest zugegriffen? Er hatte kein Gefühl mehr dafür. Sein Körper war zu einem felligen Regenbogen aus vielen kleinen Wattebällchen geworden. Oder eher zu einem Panzer aus Eiswürfeln? War er ein Nordwolf? Eine Kreatur aus dem ewigen Eis? Nein, er verwandelte sich in einen Wolf aus Stahl, unverwundbar.

»Bist breit, oder? Volle Kanne? Zu viel erwischt?«

Sandy löste seine Hand von ihrem Arm und nickte, nachdem sie ihm noch einmal prüfend in die Augen gesehen hatte. Sandy kannte sich aus mit Drogen, so wie auch Artega sich auskannte.

Erneut öffnete sich ihr Mund zu einem Wort. Doch entweder war die Musik, die von der Tanzfläche zu ihnen herüberschallte, lauter geworden, oder aber Jens’ Ohren gehorchten ihm nicht mehr. Verfluchtes Zeug! Hatte sie gerade »Komm einfach mit!« gesagt? War das die Bedeutung ihrer Lockgeste mit den silbrig schimmernden Fingernägeln?

Oh, nein, ganz bestimmt würde Jens sich nicht auf die Knie fallen lassen und mit den beiden Soldaten, die sich inzwischen aus ihren Jeans schälten, der wilden Wüstenschönheit huldigen. Ganz bestimmt nicht. Artega war nicht nur die Mutter seines Freundes, sondern auch noch ein ehemaliger Schützling seiner eigenen Mutter. Seit gut vier Jahren, seit sie Witwe geworden war, hatte Artega als reichste Frau in Spalt viel verändern können und saß inzwischen mit den Reichen und Mächtigen am Tisch. Auch deutsche Politiker suchten ihren Rat. Wenn eine Brauerei deutschen Hopfen und damit unser Bier in den USA nach vorne bringen konnte, so war es die innovative Brauerei der eleganten und weltgewandten Artega Schaber. Sie hatte in den letzten Jahren allen amerikanischen Stützpunkten in Deutschland ihr Bier verkaufen können, sie war die richtige Repräsentantin. Doch legte man sich mit ihr besser nicht an. Und vor allem war es keine gute Idee, ihre Geliebte zu betatschen.

Vielleicht wussten die Soldaten das nicht. Und vielleicht wäre es Jens’ Aufgabe gewesen, sie zu warnen, ganz bestimmt sogar.

Doch Jens blieb stumm. Er rührte sich nicht, sondern schaute nur. Seine Wahrnehmung war ausgerichtet auf feinste Nuancen und wenn er sich bemühte, so konnte er Joni jetzt ertragen. Er mochte die letzte Strophe ihres Liedes, ja, er liebte sie sogar und einzelne Worte sprangen ihn förmlich an.

Caught in the devil‘s bargain

And we‘ve got to get ourselves – back to the garden

Waren sie nicht gemeinsam in Jonis Garden? Waren diese berauschten Vollmondfeste, die Artega initiiert hatte, nicht ihr kleines eigenes Stück Sommer-Woodstock in Franken, auch wenn die heimischen Bands nicht halb so gut waren?

Sandy hatte sich den Männern zugewandt. Ihr Patschuliduft wurde erträglicher und mischte sich mit dem herben Duft der verrottenden Dolden, die zwischen den Hopfenstangen auf den Boden gefallen waren. Einer der Soldaten hatte sich eine Hopfenranke um den Kopf gewunden. Der andere schleckte mit herausgestreckter Zunge an der Innenseite von Sandys milchschokoladenfarbigem Oberschenkel entlang. Jens wurde leicht übel. War es seine eigene Zunge, die wie eine Schnecke auf der Patschulihaut entlangkroch? Inhalierten auch seine Nasenlöcher den süßlichen Moschusduft? Und warum kribbelten seine Fingerspitzen, so als würde er ihre dunklen Brustwarzen zwirbeln? Es war ein echtes Teufelszeug, das Klaus nicht nur Jens, sondern vielen gegeben hatte, die an diesem Samstag auf Artegas Ruf hin von nah und fern zusammengekommen waren, um ihr letztes Vollmondfest zu zelebrieren. Die Droge war gratis, war diese Nacht doch ein Experiment für den weiteren Gebrauch und natürlich die Vermarktbarkeit. Es war ein Bestandteil vom Hopfen darin. Das wusste Jens. Der Rest der Rezeptur war ein Geheimnis.

Sie wussten damals alle noch nicht, dass dieses Vollmondfest die letzte der berühmt berüchtigten Partys von Artega Schaber werden sollte, zumindest in Spalt. Denn der Tod feierte bereits mit.

Sandy lag jetzt auf dem Boden, ihre Augenlider geschlossen, ihre Haut den Soldaten hingegeben, deren weiße Körper in der untergehenden Abendsonne leuchteten. Einer von ihnen war inzwischen ganz nackt, seine Erregung weithin sichtbar. Der zweite, der mit der Hopfenkrone, trug immer noch seine Jeans und schien zögerlicher. Jens wusste, dass er der Hubschrauberpilot war, der vor einer Stunde General Walker, einen Freund von Artega, auf dem Sportplatz abgesetzt hatte. Wahrscheinlich hatte er kein LSD genommen.

»Jens? Sandy?«

Die Musik des DJs hatte aufgehört. Eine lokale Band aus Nürnberg wurde angekündigt. Dazwischen immer wieder von Ferne die Rufe. Jens hatte die Stimme von Klaus sofort erkannt, nur wollte er nicht, dass der Freund Sandy entdeckte. Das würde Ärger geben.

Unruhig sah Jens sich um. Ihr Versteck war durch den Hopfenvorhang sichtgeschützt. Solange die Band auf der Bühne für die untergehende Sonne lautstark ihr Bestes gab, waren die Tanzenden anderweitig beschäftigt. Man konnte auch das Stöhnen der drei nicht hören. Dazu war es zu laut. Jens würde Klaus entgegengehen und einfach behaupten, er hätte Sandy leider nicht gefunden. Nur konnte er sich nicht rühren. Auch war es schwer, sich loszureißen. Stöhnend rollten sich die drei im Rhythmus der wummernden Bässe. Die Band war nicht schlecht. Das Schlagzeug sogar mehr als passabel. Jens konnte spüren, wie jetzt auch seine Erregung stieg. Der breite Männerrücken und das zuckende muskulöse Männerhinterteil bewegten sich wie im Takt. Die starken Hände, die Sandys Körper gegen die Erde drückten, erregten ihn. Jens gefielen die panischen Bewegungen ihrer Beine und ihre Ohnmacht unter dem stärkeren Mann. Das machte ihn an.

Doch Sandy hatte augenscheinlich genug von Händen und Zungen, schubste die Kerle weg und sprach ein paar schnelle Worte in geübtem Amerikanisch. Durch ihren Vater, der in der US-Armee diente, hatte sie Übung. Ihre Worte zeigten Wirkung. Die Soldaten nahmen ihre Kleidung und verschwanden.

»Was glotzt du so blöd?«

Sandy berührte Jens an seiner Schulter, um ihn aus seiner Starre zu erlösen. Dann setzte sie sich neben ihn, das weiße Kleid wie ein Cape um sich geschlungen, sodass ihre Blöße bedeckt war. Sie lächelte ihn an und klopfte auf den festgetretenen Boden neben sich.

»Komm her. Ich beiße erst um Mitternacht, wenn ich zum Vampir werde.«

Jens folgte ihrer Aufforderung, während Sandy zu kichern begonnen hatte. Er spürte seine eigene Erregung überdeutlich. Seine ohnehin enge Jeans spannte. Am liebsten hätte er sich ausgezogen und auf sie gelegt. Er hätte ihr endlich seine Kraft demonstriert, denn längst war er kein Jungmann mehr, sondern hatte schon in frühen Jahren durch seine Freundin Gisela viele sexuelle Erfahrungen sammeln dürfen, die ihn hatten süchtig werden lassen. Nur war Gisela ein weißes Mädchen in seiner Heimatstadt Kelheim, der er eigentlich auch treu bleiben wollte.

Sandy lachte. Sie kannte seine Geliebte. Doch bevor er sich versah, strich sie mit ihren Fingern über die verräterische Beule unter seinem Reißverschluss. Als er ihre Hand sanft von der gefährlichen Stelle entfernte und sich räusperte, hoffte er sehr, dass seine Stimme ihm gehorchen würde, zumindest für einen kurzen Moment.

»Lass das! Du bist völlig zu.«

»Du etwa nicht?«

Starke, weiße Zähne, die ebenmäßig ihre hellrosa Zunge umrahmten, lachten ihn an. Die unschuldigen Grübchen in ihren weichen Wangen waren ein Geschenk ihrer fränkischen Mutter, die in Spalt als Volksschullehrerin arbeitete. Nur war Sandy trotz ihrer Jugend alles andere als unschuldig, sondern ein Machtmensch durch und durch, genau wie Artega.

»Gefällt sie dir?«

Kokett hielt sie ihm ihre schwere Goldkette entgegen, die sie an diesem Morgen zu ihrem zwanzigsten Geburtstag von ihrer reichen Geliebten überreicht bekommen hatte.

Jens nickte. Das Schmuckstück war Teil eines dreiteiligen Sets aus goldenen Hopfendolden, das aus Ohrringen, Armband und Collier bestand. Kleine Diamanten hingen an den Doldenspitzen. Artega hatte den Schmuck nach Sandys eigenem Entwurf von einem begabten Goldschmied in Spalt anfertigen lassen. Es war eine bewundernswerte Arbeit. Allein das Gold und die Diamanten hatten ein Vermögen gekostet, wie Jens von Klaus wusste. Sandy nahm die mittlere und größte Hopfendolde an ihrem Collier zwischen ihre Lippen und ließ sie ein paar Mal in ihrem Mund verschwinden und wieder auftauchen. Dann strahlte sie Jens an.

»Tiffany wird mein Design kaufen. Artega wird dafür sorgen, dass ich ganz groß rauskomme. Eine Schmuckgalerie in SoHo will sie mir kaufen. Kennst du SoHo überhaupt? Weißt du, wo das ist? Manhattan, Mann … der tollste Ort der Welt! Im nächsten Sommer bin ich schon dort und ganz bestimmt nicht mehr in diesem spießigen Dreckskaff hier. Kommst du mich dann besuchen?«

Jens nickte. Er wollte nicht erneut sprechen. Sein Mund war zu trocken.

»Aber vorher brauche ich deine Hilfe. Artega hat mächtige Feinde. Und jetzt habe auch ich Feinde. Könntest du meinen Schmuck für mich für eine Weile an einem sicheren Ort aufbewahren? Vielleicht in Kelheim, bei deinen Eltern? Würdest du das für mich tun, Jens? Gibst du mir die Hand darauf?«

Ihre Stimme klang plötzlich ängstlich. Jens nickte und ergriff die ihm hingehaltene Hand. Sie fühlte sich kalt und trocken an. Als sie ihren Kopf einen Moment an seine Schulter legte, gefiel es ihm. Töne, Farben und unter dem Patschuli ein Mädchengeruch, wie er verlockender nicht sein konnte.

»Da seid ihr ja. Mutter sucht dich!«

Klaus funkelte Jens wütend an. Der intime Moment war vorüber. Sandy stand schwankend auf. Als würde sie Klaus provozieren wollen, stand sie einen Moment lang nackt vor ihnen, streckte in der Abenddämmerung ihre Arme in die Luft und gähnte herzzerreißend.

»Man wird doch wohl ein kleines Nickerchen machen dürfen. Jens hat mich gerade erst gefunden.«

Kurz darauf folgten Jens und Klaus Sandys sanft schwingenden Hüften. Die dröhnenden Bässe aus den massiven Lautsprechern rechts und links der Bühne sendeten vibrierende Wellen in Jens’ Fußsohlen. Ihm kam es so vor, nein, er war sich ganz sicher, dass Sandy begonnen hatte zu glühen. Sah Klaus das auch? Farben, Licht und Lust umfingen Jens und zogen ihn mit sich. Der Wolf in ihm wollte Sandy in diesem Moment, mehr als alles andere.

Als Artegas Freund, der US-General, um Mitternacht aufbrechen wollte, war sein Hubschrauberpilot verschwunden. Es begann eine großangelegte Suchaktion. Doch fand man Brian Glazer erst am folgenden Sonntagmorgen gegen zehn Uhr. Ein Spaziergänger und sein Hund entdeckten ihn im nahegelegenen Wäldchen mit zerbissener Kehle. Er war gefesselt mit einem Hopfendraht. Obwohl die US-Armee und die deutschen Behörden über Monate an der Aufklärung des Falles arbeiteten, führten die Ermittlungen nie zu einem befriedigenden Ergebnis. Der Fall wurde schließlich zu den Akten gelegt.

Im selben Winter starb Artega Schaber. Sie beging am Tag nach Weihnachten Selbstmord in der heißen Badewanne mit Hilfe einer Rasierklinge, während das Lied Both Sides, Now von Joni Mitchell endlos spielte und es in der Dunkelheit vor ihrem Fenster endlich zu schneien begann. Ihre Tochter Lotti fand sie im Morgengrauen. Das Badewasser war rot und kalt, das Lied spielte immer noch. Der Tod der Mutter war keine Überraschung und dennoch traf er Lotti und Klaus hart. Beide Kinder wussten, dass die Mutter trotz ihrer Krankheit hätte länger leben können, wäre sie damals nicht erpresst worden. Ihr freiwilliger Tod war Flucht und Gnade gleichzeitig. Das Erbe und der Ruf der Kinder waren gesichert.

Nur wenige enge Freunde, unter ihnen Jens’ Mutter Anna Hauser, die von Artegas tödlicher Erkrankung bereits seit einem Jahr wusste, wurden zwischen den Jahren zu der Beerdigung eingeladen. Die Unausweichlichkeit ihres Endes war neben ihrem Vermögen der Grund dafür, dass man in Spalt Artegas sexuelle Ausschweifungen nach dem Tod ihres älteren Mannes ohne allzu viel Stirnrunzeln hingenommen hatte.

Überhaupt regierten in der traditionellen und ehrwürdig katholischen Kleinstadt im Winter 1984 die Toleranz und die Gnade. Der Pfarrer war ein enger Freund von Artegas Mann gewesen. Außerdem hatte im Herbst die historische Orgel für einen beachtlichen Betrag überholt werden müssen. Traditionell gehörte die Familie Schaber zu den großzügigsten Spendern des Ortes.

Artega wurde in ihrem weißen Satinsmoking, in dem ihr schlanker und immer noch mädchenhaft anmutiger Leichnam aussah wie frisch einer Musicalproduktion am Broadway entsprungen, für wenige Stunden in der Kirche aufgebahrt. Ihr edles Gesicht war von Sandy selbst geschminkt worden und um ihre von Schmerz gezeichneten Augen herum leuchteten silberne Sternchen. Ihre eingefallenen Lippen glänzten in frischem Chanel-Rot und auf ihre Stirn hatte Sandy trotz Lottis Einwänden ein drittes Auge gemalt.

Als die Hopfenpatriarchin im kleinen Kreis der Vertrauten unter dem Geläut der Totenglocke aus der Kirche getragen und schließlich über ihrem Mann in einem schneeweißen Sarg zur ewigen Ruhe gebettet wurde, brach ihre junge Geliebte am Familiengrab zusammen. Eine Ohnmacht ließ die sonst eher robuste Sandy Baker den Boden unter den Füßen verlieren und sie landete hart auf dem gefrorenen Schnee.

Das Ende der Trauerfeier erlebte sie nicht mehr mit und Both Sides, Now von Joni Mitchell konnte sie ihrer Geliebten auch kein letztes Mal mehr vorsingen, stattdessen wurde sie im Bett ihrer Mutter mit Holundertee und Wärmflasche hochgepäppelt.

Der frühe Tod der Hopfenpatriarchin wurde deutschlandweit betrauert. Ganzseitige Anzeigen in großen Tageszeitungen bewiesen die wirtschaftliche Bedeutung der wohl bekanntesten Spalterin der Welt.

Jens’ Mutter Anna und ihre Zwillingsschwester Hildegard trauerten im Stillen und auf ihre Weise. Sie hatten die Kriegswaise Artega einst auf der Flucht von Breslau nach Bayern wie ihr eigenes Kind beschützt und waren jedes Jahr von Kelheim nach Spalt gefahren, um Artegas wachsende Familie zu besuchen. In Jens’ Familie wurden ihr früher Tod, aber auch die tödliche Erbkrankheit, die bei Artega ausgebrochen war, als großes Unglück und noch größere Ungerechtigkeit betrachtet.

Obwohl ihre beiden Kinder Klaus und Charlotte, genannt Lotti, bereits volljährig waren, konnte man sie keinesfalls als reif bezeichnen. Und so sollte mit Artegas Tod viel von dem verschwinden, was das Ehepaar Schaber in Spalt aufgebaut hatte. Zudem legte sich ein dunkler Schatten über die Hinterbliebenen. Sobald sich herausstellte, dass Klaus, Charlotte und Sandy zu gleichen Teilen in Artegas detailliertem Testament bedacht waren, suchte man in ganz Spalt nach Sandy. Die Halbamerikanerin erbte nicht nur einen Teil des Vermögens, sondern auch Ländereien. Nur konnte Sandy ihr Erbe nie antreten, da sie am Tag nach Artegas Beerdigung spurlos verschwand.

Mutter, Tante und Sohn

September 2014, Kelheim an der Donau

Anna Hauser konnte es nicht leiden, wenn ihr Sohn sie warten ließ, vor allem nicht in seinem Büro. Ein halbes Jahr arbeitete Dr. Jens Hauser nun wieder in Deutschland an Spezialfällen, nachdem er viele Jahre lang in den USA als Profiler und Spezialist für Psychopathen ermittelt hatte. Annas Sohn hatte nach einem Unglück bei der bayerischen Polizei, das ihn als jungen Mann dazu zwang, Deutschland zu verlassen, in Amerika eine Bilderbuchkarriere hingelegt. Mehrere Jahre bei einer geheimen Spezialeinheit hatten den jungen Deutschen reifen lassen. Als er im Anschluss als Stipendiat studierte und gleich in zwei Fächern promovierte, konnte er sich vor Angeboten kaum retten. New York blieb die Metropole seiner Wahl, und bevor Jens Hauser dem Ruf seiner Heimat folgte, ermittelte er nicht nur, sondern unterrichtete er bereits seit Jahren an einem renommierten Institut für Kriminalistik in Manhattan.

Anna war also stolz auf ihren tüchtigen Sohn. Dennoch wollte sie zu Hause das Abendessen zubereiten, bevor Jakob und ihre Schwester Hildegard von ihrem Ausflug zurückkommen würden. Außerdem fühlte sie sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass ausgerechnet sie Jens die schlechte Nachricht überbringen musste. Schon wieder eine Beerdigung. Erneut war ein Freund von Jens gestorben. Diesmal war es allerdings nicht der Krebs gewesen, wie bei Gisela Martin. Außerdem hatten Klaus Schaber und Jens sich nur einige Sommer sehr nahe gestanden. Anna hatte noch nicht einmal gewusst, dass Klaus krank gewesen war. Es war zwar kein Wunder, dass er mit derselben Erbkrankheit, die auch Annas Schützling Artega aus dem Leben gerissen hatte, geschlagen war, doch hatte Klaus sein Unglück nie an die große Glocke gehängt.

Anna hatte die Nachricht dennoch betrübt. Mit fünfzig Jahren sollte ein Mann normalerweise in Saft und Kraft stehen, sich an seiner Familie und den flügge werdenden Kindern erfreuen dürfen. Doch weder Annas eigener Sohn noch die beiden Schaber-Geschwister Klaus und Lotti hatten Familien gegründet. Jens begründete dies mit seinem Arbeitsplatz in den USA, der über Jahre zu gefährlich und danach zu anspruchsvoll für ein Familienleben war, wie er es sich erträumt hatte. Und dann waren da natürlich die Frauen in Jens’ Leben, die nie lange blieben.

Vielleicht waren Artegas Kinder beide ohne Nachwuchs geblieben, weil sie die Erbkrankheit nicht weitergeben wollten. Vielleicht hatte Artegas Sohn den Makel mit Absicht verborgen, um nicht gezwungen zu werden, sein Leiden länger als unbedingt notwendig zu ertragen. Wer wusste schon, was in den Köpfen dieser seltsamen Generation vor sich ging, die sich die Babyboomer nannten, was Anna albern fand. Als ob Kinder je eine Modeerscheinung sein konnten. Und wie wenig diese in Friedenszeiten geborene Generation es zu schätzen wusste, dass sie so viele Möglichkeiten hatte. Wie oft hatte sie sich mit ihrem einzigen Sohn darüber auseinandergesetzt, dass sie seine Kinder nicht mehr betreuen würde, sollte sie selber schon über siebzig Jahre alt sein. Das war inzwischen über zehn Jahre her.

Anna seufzte. Nun hatte Klaus Schaber sich das Leben genommen, bevor die grausame Krankheit, die mit der Zeit alle Muskelpartien des Körpers außer Gefecht setzte, schließlich seine Lungenmuskulatur erreichte. Der qualvolle Erstickungstod war ihm erspart geblieben, nicht aber das einsame Sterben. Anna hatte es an diesem Vormittag erfahren, als Lotti Schaber aus heiterem Himmel angerufen hatte. Von Artegas einst so liebreizender und ein wenig schüchternen Tochter hatten sie seit Jahrzehnten nichts mehr gehört. Vorhin hatte das Kind, das mittlerweile schon lange keines mehr war ‒ Lotti musste inzwischen auch fast fünfzig Jahre alt sein ‒ erbärmlich geschluchzt.

Warum hatten sich die reichen Geschwister nach dem Tod ihrer Mutter nie wieder bei ihr gemeldet? Hatten sie vielleicht Angst, dass Anna sie um Geld bitten würde, nur weil sie der Mutter einst das Leben gerettet hatte?

Beunruhigende Gedanken bedrängten die alte Dame, als Jens endlich die Tür öffnete. Wie immer freute er sich sichtlich, seine Mutter zu sehen. Er summte fröhlich vor sich hin und rief ihr dann, während er ihr entgegenging, zu: »Und, meine Holde, womit kann ich dienen? Ich bin sogleich bei Ihnen, werteste Kräuterfee …«

»Lass den Quatsch, Wichtigtuer! Ich warte hier schon seit Stunden. Es ist etwas passiert …«

»Es waren genau achtzehn Minuten, Mutter. Und es tut mir leid, aber wenn du unangemeldet in mein Büro kommst und Olivia und ich eine Konferenzschaltung nach USA bespielen …«

Anna schnaubte, was in ihrem fortgeschrittenen Alter leicht beunruhigend klang, und machte Anstalten aufzustehen. Seit sie einmal die Woche Kräuterführungen anbot, die in der Donau-Apotheke als Kräuterfee-Führungen angeschlagen waren, nahm ihr Sohn sie gerne auf die Schippe.

Jens hielt ihr seine Hand entgegen, sodass sie sich leichter vom Stuhl erheben konnte. Kaum stand die zierliche Alte, sah sie ihren Sohn prüfend an, wie öfter in letzter Zeit.

»Du siehst müde aus. Liegt an den Amis, oder? Die lassen dich nicht in Ruhe. Und das mit der Zeitverschiebung kriegen die da drüben auch nicht auf die Reihe. Solltest du bleiben lassen. Wir haben hier genug zu tun. Hast du das mit der Chefin der Staatskanzlei mitverfolgt? Ich meine, da haben doch sicher auch wieder irgendwelche Amerikaner ihre Finger im Spiel. Wer sonst kauft überteuerte Spielzeugautos … Vergiss die Amis, Junge!«

Seit Jens neben seiner Ermittlertätigkeit für die bayerische Regierung an ungelösten Mordfällen der Nachkriegszeit wieder mehr für die amerikanische Regierung tätig war, hatten er und seine Mutter sich mehrfach in die Haare bekommen. So auch jetzt. Jens versuchte, sie zu beschwichtigen.

»Im Moment läuft es eher spielerisch. Olivia und ich lassen einen Versuchsballon steigen. Wir testen die Zusammenarbeit in einer Art Spiel.«

»Ein Spiel? Was soll das? Willst du mich provozieren? Wieso sprichst du von Spielen, wenn es um Tote geht, Mord, illegale Überwachung und all den anderen Kram, der aus dem Reich der Dunkelheit über den großen Teich zu uns herüberschwappt. Das passt alles nicht mehr zu dir. Du bist wieder bei uns. Das bringt nur Ärger. Olivia soll lieber hier bleiben, bei uns.«

Jens hatte in weiser Voraussicht die Bürotür hinter sich zugezogen, wollte er doch auf keinen Fall, dass Olivia sich aus dem Konzept bringen ließ. Seine begabte ehemalige New Yorker Studentin, die ihm primär aus Liebe gefolgt war, versuchte sich an einer tragfähigen geheimen Ermittlungsbasis zwischen ihren Ländern. Das hatte vor allem mit den ungelösten Kriminalfällen zu tun, die sich im Laufe der amerikanischen Besatzung angehäuft hatten. In siebenundzwanzig Fällen erhofften sie sich durch eine gezielte forensische Zusammenarbeit zumindest Fortschritte. Und ja, die Ermittlung auf zwei Kontinenten war mühselig, noch dazu, weil die US-Armee viele Akten aus der Besatzungszeit nach wie vor unter Verschluss hielt. Das galt besonders für Tötungsdelikte.

Nachdem Mutter und Sohn sich liebevoll umarmt hatten und die kleine Anna Hauser mit seligem Seufzer fast vollständig in den Armen ihres großen Sohnes verschwunden war und sich an seine starke Brust gelehnt hatte, lächelten beide wie Verschwörer.

»Ich hab dich lieb.«

Anna flüsterte es nur, denn ein wenig schämte sie sich immer noch für ihr kindliches Gefühl ihrem Sohn gegenüber. Jens grinste.

»Und ich dich erst. Einmal bis zum Mond und wieder zurück. Aber auf die amerikanische Seite.«

Sie boxte ihn in die Seite. Das Glück war in Annas und Hildegards Leben eingezogen, seit Jens wieder in Deutschland arbeitete und immer seltener davon sprach, in die USA zurückzukehren. Und dann gab es noch Olivia, von Anna »das Mädchen« oder auch zärtlich »Liebes« genannt. In den Augen seiner Mutter war Jens’ Assistentin die perfekte Schwiegertochter. Nur hatte sie einen klitzekleinen Schönheitsfehler: Olivia war New Yorkerin mit Haut und Haar und würde eines Tages dorthin zurückkehren, mit oder ohne Annas Sohn. Und deshalb war Anna froh, dass die beiden nach wie vor kein Paar waren, obwohl sie ganz genau wusste, dass sein Sohn die um einiges jüngere Olivia irgendwie liebte.

Durch die geschlossene Tür zu Jens’ Büro konnten Mutter und Sohn hören, wie Olivia laut und fröhlich amerikanisch redete. Anna wollte gerade zu einer Frage ansetzen, als Jens den Kopf schüttelte. Anna lächelte säuerlich.

»Geheim. Na, klar!«

»Nein. Es ist Olivias Vater. Jetzt, da sie sich dazu entschlossen hat, länger in Deutschland zu bleiben und an der Uni in Erlangen einen Studiengang zu belegen, will er seine Tochter besuchen.«

»Dieser New Yorker Snob will sich vergewissern, dass bei uns hier nicht nur Neonazis rumlaufen, richtig? Zauberst du deiner alten Mutter einen Kaffee mit eurer Dampfmaschine?«

Auf dem Weg zur Teeküche ließ Anna Jens nicht merken, wie sie sich über den angekündigten Besuch von Olivias Vater freute. In der Küche angekommen, ließ Anna sich auf einem der beiden alten Korbstühle mit den Armlehnen und den bunten Kissen nieder, den Jens extra ihr und Hildegard zuliebe angeschafft hatte. Umständlich setzte sie ihre Lesebrille auf und sah auf ihre alte Taschenuhr, die mit einem Schnürsenkel an ihrer Handtasche festgeknotet war.

»Fast fünf. Na gut. Einen Tee und ein paar Bissen. Ist noch etwas von Hildis Apfelkuchen da oder haben die Mädchen alles aufgegessen?«

Mit den Mädchen war außer Olivia Dr. Lilian Kämmerer gemeint, die Berliner Polizeipsychologin, die Jens seit geraumer Zeit unterstützte und seine ehemalige Geliebte war. Jens klopfte heftig an die verschlossene Tür nebenan und erhob seine Stimme.

»Lilian! Trinkst du einen Tee mit uns?«

»Jetzt schrei doch nicht so laut, Junge! Denk an die Hunde!«

Lilian öffnete ihre Bürotür ein Stück weit. Auf ihren Ohren trug sie massive Kopfhörer, wie meistens, wenn sie einen Tag lang Recherchearbeit leistete. Zu ihren Knien tummelten sich vier Hundeschnauzen, die fiepten und Anna begrüßen wollten. Außer den stolzen Windspiel-Eltern Bo und Derek mussten inzwischen Grace und Jones gehütet werden. Die beiden Halbwüchsigen liebten Annas Garten.

Kaum hatte Lilian Anna entdeckt, verzog sich ihr Gesicht. »Oh, ich habe ein ganz schlechtes Gewissen. Ich habe es total vergessen!«

»Was haben Sie vergessen? Die Hundeschule? Oder Ihr Versprechen an Hildegard, sich letztes Wochenende wegen der Apfelernte zu melden?«

»Ich … ich kümmere mich um die Hunde. Bin gleich da.«

Damit ging die Tür wieder zu.

Als Nächstes kam Olivia in die Küche. Wie immer, wenn Jens’ Mutter die junge Amerikanerin sah, die stets tadellos gekleidet war und ihr erdbeerblondes Haar seit Kurzem elegant hochgesteckt trug, ging ihr das Herz auf. Neben Lilian, die fünfzehn Jahre älter und als kettenrauchende Berlinerin immer zu einem Scherz bereit war, wirkte Olivia wie ein Unschuldsengel. Immer noch konnte Anna kaum fassen, dass die beiden Frauen vor einigen Monaten tatsächlich gemeinsam in ein Haus gezogen waren. Mit Lilian würde Anna nie wirklich warm werden, das wusste sie. Olivia hingegen hatte Anna von der ersten Sekunde an bedingungslos vertraut. Ohne von ihrem Stuhl aufzustehen, was auch viel zu anstrengend gewesen wäre, breitete Anna ihre Arme aus.

»Komm her, mein Liebes! Lass dich drücken.«

Keine zehn Minuten später brummte die Kaffeemaschine, und sie saßen zu viert in der Kaffeeküche und aßen den Rest des Apfelkuchens. Jens sah abwesend aus dem Fenster, während die Frauen sich über den alltäglichen Klatsch im Städtchen unterhielten. Seitdem Olivia und Lilian in einer Wohngemeinschaft lebten, sodass sie sich gemeinsam um die Hunde kümmern konnten, verband Jens’ Mitarbeiterinnen ein vertrauter Tonfall; manchmal schienen sich die Frauen nun fast zu nahe, wie Jens befand. Gleichzeitig lachten sie über Scherze, die er schlicht und ergreifend nicht verstand. Frauenbeziehungen hatten Jens schon immer vor Rätsel gestellt, so auch jetzt, als seine Mutter ihm von Lotti Schabers dramatischem Anruf erzählt hatte. Sein einstiger Freund Klaus Schaber war als Fünfzigjähriger nie in voller Lebenskraft gewesen, auch nicht mit vierzig oder mit dreißig. Denn bereits mit Mitte zwanzig war er mit der tückischen Erbkrankheit konfrontiert und inzwischen seit zwei Jahrzehnten im Rollstuhl von seiner Schwester Lotti betreut worden. Nun wurde er in drei Tagen beerdigt, wohlgemerkt mit akademischen Weihen. Professor Schaber hatte es nicht nur in der Chemie, sondern auch in der medizinischen Forschung weit gebracht.

»Wir fahren alle zusammen. Hildegard will mit und Jakob auch, das weiß ich. Artegas Sohn bringen wir sauber unter die Erde, so wie es sich für uns Schlesier gehört. Nicht so wie damals, als diese Sandy meine Kleine wie einen Clown angemalt hat! Das war doch völlig würdelos. Und jetzt hat Lotti mich extra gebeten zu kommen. Wir bekommen in Spalt ein ganzes Haus für uns …«

»Was meinst du damit, Mutter?«

Lotti hat gesagt, dass sie uns für eine ganze Woche nach Spalt einladen will. Sie will etwas mit uns, aber vor allem auch mit dir besprechen, Jens. Es sei sehr wichtig, hat sie gesagt.«

Die bevorstehende Einladung von Lotti Schaber zur Trauerfeier ihres Bruders und vor allem die Erzählungen über das abenteuerliche Leben ihrer Mutter Artega sollten zum abendfüllenden Thema werden.

Nicht nur Anna und Hildegard, die Jens gemeinsam großgezogen hatten, sondern auch sein Patenonkel Jakob, ehemaliger Polizist aus Kelheim, hatten einiges beizutragen, während Olivia und Lilian gespannt zuhörten. Beide waren fasziniert von den abenteuerlichen Geschichten über die Flucht aus den Ostgebieten und über Artega gab es viel zu erzählen. Vor allem Jakob hatte der Kleinen das Leben gerettet, darüber waren sich die drei Alten fast einig. Er hatte das hungrige Kleinkind, das bettelnd neben ihnen herlief, bis es nicht mehr konnte, schließlich aus lauter Mitleid Huckepack genommen.

»Hinter uns kamen die Russen. Die Kleine sprach nur Deutsch. Natürlich haben deine Mutter und Hildegard das elternlose Würmchen durchgefüttert und ihr das steinharte Brot und die alten Steckrüben vorgekaut. Und auf unserem Rücken haben wir sie damals getragen, dein Vater und ich abwechselnd. Leicht wie eine Feder war sie. Kaum konnte sie auf meinem Buckel durch ein wenig Schlaf wieder Kraft schöpfen, hat die kleine Artega immer gesungen mit ihrem feinen Stimmchen und später wie ein aufgezogenes Äffchen getanzt und damit an den Bauernhöfen um Essen gebettelt. Weißt du noch, Hildi? Und einmal, das werde ich nie vergessen, kam sie mit einem ganzen Laib warmem Brot wieder. Mann, haben wir uns gefreut!«

Hildegard nickte mit Tränen in den Augen. In den letzten Jahren, seit sie wegen ihres Bluthochdrucks und den häufiger auftretenden Herzbeschwerden Medikamente nehmen musste, war sie sensibel geworden, bisweilen auch desorientiert. Vielleicht deshalb verbrachte Jakob fast täglich Zeit mit seiner alten Freundin. Einst hatte er Hildegard heiraten wollen. Nur hatte Annas Schwester den Weg in den Westen nicht unbeschadet überstanden. Einmal war sie einer wilden Horde in die Hände gefallen. Und dieses eine Mal hatte gereicht, um sie Männern gegenüber zeitlebens misstrauisch zu machen. Was ihre gemeinsame Flucht anging, war Annas Zwillingsschwester diejenige, die sich am besten erinnern konnte. Jetzt lächelte sie.

»Weißt du noch, wie die Kleine im Rosinenregen der Amis tanzte? Sie war immer so tapfer damals, unsere Artega. Und im Nachhinein wünschte ich mir, wir hätten sie im Auffanglager nicht dem Roten Kreuz übergeben. Aber wir waren ja nicht verwandt. Und wir wussten nicht, was mit den Kindern geschehen würde, die abgegeben wurden. Die vielen Waisen.«

»Was meint ihr damit? Ihr musstet ein Kind abgeben?«

Für Olivia war immer noch einiges neu, was mit dem zweiten Weltkrieg zusammenhing. Zwar stammte ihre Familie väterlicherseits aus Osteuropa, doch auch Olivias jüdischer Familienzweig war früh genug unbeschadet aus Europa ausgewandert und in Amerika sogar zu einigem Wohlstand gekommen. Der internationale Kunsthandel hatte ihnen ein sorgenfreies Leben ermöglicht. Die heikle Tatsache, dass einige der wertvolleren Bilder aus dem kriegsgebeutelten Europa in amerikanischen Besitz übergegangen waren, war eines von Olivias Lieblingsthemen. Auch sonst war sie mit ihren Mitte zwanzig neugierig und brennend an allem interessiert, was die beiden großen Weltkriege betraf.

Hildegard wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

»Je älter ich werde, desto mehr muss ich über diesen Wahnsinn damals nachdenken. Wir kannten die kleine Artega nicht wirklich, sondern sagten auf der Flucht einfach immer, dass sie zu uns gehört, zu unseren Familien. Das war aber nicht so.«

»Na, doch, sie gehörte schon zu uns. Ihr Mädchen habt ihr die Mutter ersetzt und wir die Väter.«

»Sie war ein jüdisches Kind. Und später ohne Papiere. Wir haben gelogen, nur nicht lange genug. Das Rote Kreuz, das war irgendwie ehrenhaft und respektiert … wir wussten nicht, was sie mit den Kriegswaisen alles machten.«

Anna blickte in die Runde. Jakob sah zu Boden. Dann nickte er traurig und begann zu erzählen.

»Als wir abends den Stern an ihrer Kleidung entdeckten, begriffen wir sofort, dass wir sie retten mussten. Die Kleine war aus einem Kohlenkeller gekrochen, als wir die letzten Ausläufer von Breslau verließen, und lief uns völlig verrußt und um Essen bettelnd nach, bis sie nicht mehr konnte. Sie trug einen zerlöcherten Männerpulli über ihrer eigentlichen Kleidung, weshalb wir den Stern nicht gleich sahen. Sie war vielleicht drei oder vier Jahre alt. Die versteckten Kinder waren damals halb verhungert und oft klein für ihr Alter. Sie konnte mehrere Lieder, doch waren es deutsche, englische und sogar französische einfache Kinderlieder. Bestimmt stammte sie aus einem guten, einem zivilisierten und sogar gelehrten Haus. Sie erzählte von Reitstunden und Pferden. Vielleicht war sie auch schon fünf Jahre alt. Ich weiß es nicht … Später wollte Artega nie wieder über die Flucht sprechen. Sie hatte alles verdrängt, nachdem sie bedauerlicherweise zunächst Pech mit ihren Pflegeeltern hatte …«

Anna sah mit traurigem Lächeln in die jüngeren Gesichter, die den drei Alten an den Lippen hingen, dann fuhr sie an Jakobs Stelle fort.

»Artega war ein tapferes Mädchen, schon damals. Als ich sie am ersten Abend an unserem Rastplatz auszog, um sie am Feuer ein wenig zu waschen, entdeckte ich die ungewöhnlich feine Kleidung. Unter einem zerlöcherten Männerpullover trug das Kind ein blaues, mit Kaninchenfell gefüttertes Samtmäntelchen mit dem gelben Stern. Es war zwar schon ein Wintermantel, jedoch höchstens geeignet für eine Fahrt unter Decken in einer Kutsche oder einem Auto. Natürlich habe ich den Mantel nicht verbrannt, zunächst noch nicht, weil das Kind ihn brauchte. Wir haben den Stern abgetrennt und eine neue Passe über beide Seiten genäht, sobald wir geeigneten Stoff hatten. Es war so kalt damals. Und auch wenn es nicht schön war, so haben wir den Sterbenden oder den Toten das eine oder andere Kleidungsstück abgenommen.«

Hildegard nickte, dann übernahm sie das Erzählen.

»Ich hatte das Nähen gelernt und sogar an Ledernadeln für unsere Schuhe gedacht. Am zweiten Abend war der Mantel sicher. Doch hatte das Kind auch Goldschmuck um … Unter anderem einen kleinen Davidstern als Anhänger. Weiterhin eine Hopfendolde und ein kleines Herz. Den Davidstern haben wir vergraben. Wir hatten solche Angst, entdeckt zu werden …«

Jens nickte leicht ungeduldig, denn natürlich kannte er einen Teil von Artegas Geschichte bereits. Doch auch er wusste nicht alles. So war ihm zum Beispiel nicht bewusst, dass sie Jüdin gewesen war.

»Dann war Artega nicht ihr richtiger Name?«

»Doch, sie hieß so oder hat sich zumindest so genannt. Wir wussten nicht, woher dieser ungewöhnliche Name kam, und dein Vater versuchte anfangs, die Kleine an Annemarie zu gewöhnen. Doch sie bestand auf Artega. Wir schrieben es ihrer Aussprache gemäß, doch könnte ihr Name natürlich auch Atega oder Ateka gewesen sein. Wie Kinder eben ihre eigenen Namen aussprechen. Und mehr hat sie nicht gesagt, oder Hildchen?«

Hildegard seufzte, verdrehte ihre Augen und sah ihre Schwester kopfschüttelnd an.

»Hast du es denn vergessen? Artega war einer ihrer Namen, doch nicht ihr einziger Name. Wir haben die anderen Namen später nur nicht gesagt, weil wir nicht wollten, dass unsere Kleine aus Deutschland weggebracht wird, so wie all die anderen jüdischen Kinder, die keine Eltern mehr hatten und nach Israel oder Amerika mussten. Sie trug auch noch den Namen Sarah, so wie viele in dieser Zeit geborenen jüdischen Mädchen. Der Name wurde zwangsweise in ihre Papiere eingetragen.«

Erneut stellte Olivia eine neugierige Zwischenfrage über das Chaos nach dem Krieg, als es kaum Recherchemöglichkeiten gab. Die wenigen Informationen, die man über elternlose kleine Kinder in Erfahrung bringen konnte, waren die Herkunftsregion und bisweilen eingenähte Namensschilder in der Leibwäsche, wie Hildegard erzählte. Auch Anna und sie halfen nach ihrer Ankunft in Bayern eine Zeit in einer Auffangstation für Kinder mit.

»Das Rote Kreuz war nicht unumstritten. Man hörte immer wieder Geschichten von besonders hübschen Waisenkindern, die gegen Geld verkauft wurden. Wir waren misstrauisch. Daher erfanden wir eine Geschichte über Eltern, die kommen würden, um Artega abzuholen. So kam sie in ein Heim und dann zunächst zu vorübergehenden Pflegeeltern. Sie war in unserer Nähe und wir konnten auf sie aufpassen. Das war uns wichtig, damals. Kinder verschwanden einfach …«

Hildegard verstummte. Sie wollte die Geschichte nicht unbedingt weitererzählen und zuckte hilflos mit den Schultern. Anna sah in die Runde. Vielleicht hatten alle bereits genug gehört? Erneut war es Olivia, die mehr erfahren wollte. Von ihrem Vater wusste sie, dass nach Kriegsende über das Rote Kreuz oft noch jahrelang nach verschollenen Verwandten gesucht wurde. Konnte Artega sich an ihren Namen erinnern? Anna nickte.

»Eines Tages rief uns ihre Betreuerin aufgeregt an. Artega hatte gesagt, dass sie Annemarie Schmidt hieße und ihre Eltern eine Metzgerei in Breslau gehabt hätten. Natürlich stimmte das nicht, doch was hätten wir tun sollen? Man fand diese Eltern nicht, jedoch wurde unsere Kleine zu diesen furchtbaren Nürnberger Pflegeeltern gegeben, die eine Metzgerei betrieben und Artega im Alter von sechs Jahren zu Arbeiten in ihrem Schlachtbetrieb zwangen, obwohl sie zart war und Fleisch nie anrührte. Es war die Hölle …«

»Und was habt ihr gemacht? Konntet ihr Artega nicht adoptieren?«

»Im Jahr 1951 erfüllten wir die Anforderungen der bayerischen Behörden noch nicht. Wir waren mittellose Ostflüchtlinge und lebten in den Baracken von Kelheim. Wir gingen natürlich zum Amt und bettelten bei den Behörden. Nur waren wir nun einmal nicht verwandt mit dem Kind und hatten keine Handhabe. Erst als unsere Kleine ins Krankenhaus eingeliefert wurde, weil sie sich weigerte zu essen, und dann wegrannte und sich auf abenteuerliche Weise per Anhalter zu uns durchschlug. Weißt du noch? Da war sie schon acht Jahre alt und bis auf die Knochen abgemagert. Wir konnten nicht fassen, was sie erzählte. Damals haben wir sie versteckt und Jakob erstattete Anzeige gegen das Metzgerehepaar aus Nürnberg.«

Hildegards Stimme war leise und schuldbewusst sah sie zu Boden, als sie weitersprach.

»Es war nicht richtig damals, wegen ihres Namens zu lügen … vielleicht wäre es ihr woanders besser ergangen. Vielleicht hätte man Verwandte von ihr finden können. Vielleicht … Was meinst du, Anna?«

»Blödsinn! Natürlich war es richtig. Wer weiß, was mit ihr geschehen wäre. Es gab keine jüdischen Eltern oder Verwandte, die überlebt haben, nicht in Schlesien, nicht in unserer Gegend. Und unsere Kleine sprach doch nur Deutsch. Und was wäre wohl mit ihr geschehen, hätte man sie auf eines der Schiffe verfrachtet oder wieder in irgendwelche Lager. Wer hätte sie beschützt? Vielleicht hätte sie es gar nicht überlebt, hätte sich ins Meer gestürzt zu den Haien. Oder sie wäre einem Unhold zum Opfer gefallen, dessen Sprache sie noch nicht einmal verstanden hätte, während er ihren Kinderkörper geschändet hätte …«

Jens unterbrach seine Mutter mit einem warnenden Räuspern. Bisweilen, wenn Anna Hauser über die Grauen des Kriegs sprach, verlor sie das Maß. Jens hatte das Gefühl, Olivia eine weitere Erklärung schuldig zu sein.

»Es war eine andere Zeit. Artega hat überlebt und sogar zwei wundervolle Kinder bekommen, auch wenn Klaus seiner Mutter zu früh ins Grab gefolgt ist. Ihr habt das ganz großartig gemacht, damals. Mein Vater und ihr drei, ihr habt Artega auf der Flucht das Leben gerettet.«

Anna versuchte ein Lächeln. Sie hatte sich wieder halbwegs gefangen und drückte Jens’ Hand.

»Und immerhin gibt es noch Artegas Tochter. Lotti braucht uns jetzt. Deswegen werden wir am Wochenende nach Spalt fahren ‒ übrigens ein Ort, nach dem ich nie die geringste Sehnsucht verspürte. Ein echtes Drecksnest!«

Jens sah seine Mutter erstaunt an.

»Wir waren jeden Sommer dort. Seit ich denken kann, habe ich an dem See mit Klaus und Lotti gezeltet. Ihr wolltet es damals so.«

»Nein, ich wollte es nicht, zumindest nicht, nachdem ich gesehen habe, was für einen Spaß Artega sich daraus gemacht hat, euch als junge Leute zu verderben. Drogen, wilder Sex und dann diese Horden von Amis, die den deutschen Mädchen an die Wäsche wollten. Das war doch ekelhaft! Und diese Sandy, angeblich Artegas große Liebe, die war eine gemeingefährliche Verführerin. Sogar deinem Vater wollte sie an die Hose! Und übrigens hat Lotti nie wieder etwas von ihr gehört. Wenn du mich fragst, war sie mit dem Teufel im Bunde.«

»Mutter!«

»Ist doch wahr! Sodom und Gomorrha … Vollmondfeste!«

Jakob räusperte sich lautstark, bevor Jens etwas erwidern oder Olivia und Lilian nachfragen konnten. Die Stimmung war merklich gekippt. Wie Jens seine Mutter kannte, hätte sie gut und gerne noch eine Stunde weiterwettern können.

»Wie wäre es mit einem kleinen Muntermacher?«

Jakob hatte die Flasche mit dem dunklen Rum schnell gefunden, den er jedes Jahr aus Havanna mitbrachte, wo seine zweite Familie lebte. Nachdem er sich mit leichtem Stöhnen wieder auf der durchgesessenen Couch zwischen den Zwillingen niedergelassen hatte, schenkte er eine Runde kleine Gläschen ein, ohne auch nur einen einzigen Tropfen zu verschütten.

»Trinkt aus! Sonst werden wir noch trübsinnig von den ganzen alten Geschichten, die davon auch nicht besser werden. Jeder Krieg ist schnell begonnen, doch erst nach einem halben Jahrhundert halb verdaut. Salud, compañeros!«

Der Spalt in Spalt

Es war Jens’ Mutter tatsächlich gelungen, nicht nur Jakob und Hildegard, die ohnehin zu der Trauerfeier von Klaus Schaber wollten, sondern auch Olivia und Lilian zu der Fahrt nach Spalt zu überreden. Die Abwechslung, der schöne See, der auch im September noch warm genug zum Schwimmen sein würde, falls das Wetter sich weiterhin von seiner milden Seite zeigte, das waren Argumente, die bei Lilian zogen. Olivia interessierte vor allem der Ort, an dem auch noch nach dreißig Jahren die berühmt-berüchtigten Vollmondfeste mit den amerikanischen Besatzern für betretenes Schweigen sorgen konnten.

Diese Befindlichkeit lag zum einen an den oft unehelich gezeugten Kindern der Besatzer, die zum Teil durch schwierige Lebenswege geprüft wurden. Ein weiterer Stein des Anstoßes waren die vielen ungelösten Kriminalfälle ‒ von Drogendelikten über Waffenschmuggel und Spionage, bis hin zu den mysteriösen Todesfällen, wie der des ermordeten Hubschrauberpiloten Brian Glazer, dem die Kehle durchgebissen worden war.

Sie fuhren mit drei Autos. Lilian fuhr der Hunde wegen allein. Jakob chauffierte die Damen in dem alten Familien-Benz von Jens’ Vater.

Das junge Paar, wie Anna die beiden gerne nannte, fuhr in Olivias elegantem Flitzer. Die junge Frau saß am Steuer. Sie peitschte bei jeder Kurve die Gänge mit einem Vergnügen, das Jens amüsierte. Amerikaner empfanden bisweilen auf deutschen Straßen ein Glück, das in Deutschland selbstverständlich war. Allein der Gedanke daran, dass man auf gewissen Strecken ohne Geschwindigkeitsbegrenzung unterwegs sein durfte, wann immer man wollte, hatte Olivia von Anfang an beglückt und Jens gönnte ihr den Spaß, denn sie hatte hart gearbeitet.

In den vergangenen Tagen hatte Olivia alles recherchiert, was sie über den Fall des 1984 in Spalt ermordeten Soldaten finden konnte. Es war erstaunlich wenig aufzutreiben gewesen, weswegen sie sich auf die Suche nach möglichen Verwandten begeben hatte. In Kalifornien hatte sie eine Schwester gefunden, eine gewisse Jennifer Glazer, die einst im Filmgeschäft gearbeitet hatte und sich inzwischen auf ihren Millionen ausruhte. Eventuell würde sie zu einem Gespräch bereit sein, doch zeichnete sich bereits ab, dass sie nicht allzu viel zu wissen schien. Ihr Bruder sei sehr verschwiegen gewesen. Olivias Nachforschungen über die verschwundene Sandy Baker waren ergiebiger.