Horizont der Dunkelheit - Silas Breuer - E-Book

Horizont der Dunkelheit E-Book

Silas Breuer

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Beschreibung

Es geht in dem Buch um eine Gruppe von Jugendlichen, die aus Abenteuerlust ein altes deutsches Kriegsgefangenenlager in deutsch französischem Grenzgebiet besuchen. Dort treffen sie auf dunkle Mächte aus der Vergangenheit und müssen um ihr Überleben kämpfen.

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Seitenzahl: 379

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Horizont der Dunkelheit

Horizont der Dunkelheit

Silas Breuer

Prolog

23. November 1943; Stalag XIIG (Ban-Saint-Jean)

Unteroffizier Rudolf Schmidt rührte lustlos in seinem Morgenkaffee herum. Der Blick durch das Kantinenfenster auf den Kasernenhof und die Baracken der Gefangenen ließ einen trüben Novembertag erwarten.

Dennoch war es bestimmt tausendmal besser als alles, was ihm gedroht hätte, wenn er am Russlandfeldzug hätte teilnehmen müssen. Dort im Osten, wo schon so viele Kameraden gefallen waren und noch fallen würden, während er hier in relativer Sicherheit seinen Dienst verrichten konnte. Und das ausgerechnet an russischen oder, um genauer zu sein, ukrainischen Gefangenen.

Also, konnte er sich beschweren, nur weil es etwas kalt und neblig war, wenn er wusste, wie es hätte sein können, wenn er sich nicht freiwillig als Dolmetscher gemeldet hätte? Eigentlich stand ihm das nicht zu!

Doch heute war etwas anders als sonst. Eine einmalige Aktion, bei der er anwesend sein sollte. Bei der er mitmachen musste. Deshalb war er so unruhig, deshalb hasste er diesen Tag. Von den über 4.500 Insassen im Lager waren 3.000 krank. 400 davon so schwer, dass sie wahrscheinlich in den nächsten Tagen sterben würden.

Der Mangel an Nahrungsmitteln und das Fehlen von Medikamenten zur Behandlung der Tuberkulose, die sich wie eine Seuche ausbreitete, stellte die Lagerverwaltung vor schier unlösbare Probleme. Ihre Aufgabe bestand darin, die Arbeitskraft der Gefangenen sicherzustellen, aber das konnte sie bei den 400 Schwerstkranken nicht mehr erreichen.

Also hatte man kurzerhand beschlossen, einige Betten freizumachen, wie es im offiziellen Bericht hieß. Tatsächlich ging es um nichts anderes als um eine Massenerschießung. Bei 400 Leuten würde das Stunden dauern. Bis zum Abend. Möglicherweise gab es sogar noch nach Sonnenuntergang Tötungen. Schmidt stand mit dem Gewehr in der Hand auf dem Kasernenhof, neben ihm seine bewaffneten Kameraden, und vor ihnen die nutzlosen Gefangenen. Sie sahen erbärmlich aus. Der ein oder andere hustete Blut, ihre Augen glänzten im Fieber. War ihre bevorstehende Exekution nicht eine Gnade? Eine höchst zweifelhafte Gnade.

„Legt an!“, kam das Kommando vor der Hinrichtung.

Schmidt gehorchte automatisch. Er dachte nicht nach. Das konnte er nicht. Wenn er den Befehl ausführen sollte, war ein Nachdenken darüber unmöglich. Sobald ihm voll bewusst wurde, was er hier eigentlich tat, wusste er, er könnte nicht abdrücken. Egal ob Befehl oder nicht.

„Feuer!“

Sein Finger betätigte den Abzug. Die Schüsse hörte er kaum.

Die ersten Leichen waren noch nicht einmal weggeräumt, da standen schon die nächsten Todeskandidaten vor ihm.

Legt an, Feuer. Stundenlang. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit. Jeder Tote brachte ihn der Hölle näher. Der Hölle, der er versucht hatte zu entfliehen. In einem Lager nahe der französischen Kleinstadt Boulay.

Es waren beileibe nicht die ersten Toten in diesem Lager, aber die ersten, die so erschossen wurden. Weil sie nichts wert waren. Sie konnten nicht arbeiten und würden es auch nicht in absehbarer Zeit können, also hieß die Devise, sie zu entsorgen.

Es waren keine Menschen, die er erschoss. Es waren noch nicht einmal Ziele. Es war ärgerlicher Ballast. Also weg damit.

Wäre es ihm bewusst geworden, dass es sich um Menschen handelte, hätte er sich der Realität gestellt, er hätte diesen verfluchten Tag nicht überlebt. Den Tag, der hoffentlich bald im Dunkel des Vergessens für immer verschwinden würde. Doch das Vergessen kam nicht. Zumindest nicht für Unteroffizier Schmidt. Auch nach dem Krieg hörte er jede Nacht drei Worte. Immer und immer wieder. Und immer die gleichen: „Legt an! Feuer!“

1. Teil: Das vergessene Lager

I.

Samstag, 15. November 2003, Völklingen/Saar

Der 17-jährige Lars und seine Freundin Marie waren beim Surfen im Internet eher zufällig auf Berichte über das alte Lager Stalag XII G in der Nähe von Boulay gestoßen.

Für Lars begann der Tag mit dem Klingeln des Weckers um 6.00 Uhr früh. Orientierungslos schlug er nach ihm. Es war noch mitten in der Nacht. Draußen war es dunkel, aber als Schüler musste man sich damit abfinden. Der Gedanke, dass es sein letztes Schuljahr war, beruhigte ihn etwas. Nach der mittleren Reife sollte Schluss sein. Ohnehin hatte er schon ein Jahr wegen einer Wiederholung verplempert. Schlimm genug, aber davon ging die Welt auch nicht unter.

Er schälte sich gerade aus dem Bett, als ihm einfiel, dass das völlig unnötig war. Heute war ja Samstag. Er musste vergessen haben, den Wecker abzustellen. Damit war das unsanfte Aufwachen doppelt ärgerlich. Er legte sich noch mal hin und machte die Augen zu. Erst am Nachmittag hatten er und einige seiner Freunde noch etwas vor. Die Geisterstadt Ban-Saint-Jean wartete auf sie. Außer Martin, der eine Schwäche für alles Paranormale hatte und sich mit Okkultismus auskannte, glaubte kaum einer von ihnen ernsthaft an Spukgeschichten oder Poltergeister. Den Besuch machten sie auch nicht aus Interesse an deutscher Geschichte zu der Zeit des Zweiten Weltkrieges, sondern aus Abenteuerlust. Das alte, verfallene Kasernengelände galt unter vielen saarländischen Gruseltouristen als die Geisterstadt schlechthin.

Die Tatsache, dass es verboten war, das Sperrgebiet um das Strafgefangenenlager zu betreten, machte die Sache spannend. Dass die Gendarmerie öfter Kontrollgänge durchführte, um genau solche Leute wie sie abzuschrecken, war ihnen herzlich egal. Auch die Gefahr einer Geldstrafe wollten sie in Kauf nehmen.

Laut dem Wetterbericht von gestern Abend sollte es nicht besonders gut werden. Bedeckt und gerade mal ein paar Grad über null. Die Temperaturen und der leichte Regen von letzter Nacht würden wahrscheinlich zu einigen schlammigen Passagen führen, aber das konnte sie nicht aufhalten. Und vielleicht – nur vielleicht – wurde ihr Ausflug in das Lager aufregend. Lars glaubte zwar nicht an Gespenster, aber dass so viele Leute Mysteriöses darüber geschrieben hatten, versprach zumindest etwas Gänsehauterfahrung, und sei es nur wegen der unheimlichen Atmosphäre, die dort angeblich herrschte.

Die ursprüngliche Idee, nachts hinzugehen, hatten sie schnell verworfen. Das alte Gelände war in der Dunkelheit zu unsicher. Schon öfter hatten selbst ernannte Geisterspezialisten das Gelände nachts besucht und sich schwer verletzt, was zu einem Krankenhausaufenthalt und einer saftigen Geldstrafe geführt hatte. Die Peinlichkeit eines solchen Unfalls wollten sie sich ersparen. Als neuer Termin war heute Nachmittag ins Auge gefasst worden und die Wetterbedingungen schienen so schlecht zu sein.

Nach ausgiebigem Herumlungern im Bett beschloss er, aufzustehen. Einschlafen konnte er ohnehin nicht mehr. Wenigstens war es jetzt hell. Die Uhr neben seinem Bett zeigte 8.15 Uhr an. Das war immer noch zu früh für einen Samstag, aber nicht so grausam wie 6.00 Uhr.

Seine Eltern waren nicht zu Hause. Die befanden sich seit Donnerstag auf einem Wellness-Kurztrip im Süden Frankreichs. Solche Urlaube könnten die beiden dauernd machen, wenn es nach Lars ging. Sein Vater und seine Mutter schienen nicht ganz normal zu sein – zumindest empfand Lars das so.

Was sollte er schon von einer Mutter halten, die anscheinend der Meinung war, er wäre erst vier, und ihm gleichzeitig damit in den Ohren lag, dass er endlich Verantwortung übernehmen müsste. Würde er gern machen, wenn sie ihn nur lassen würde. Ein paar Tage ohne ihr Geschwätz waren jedes Mal die pure Erholung.

Was seinen Vater betraf, wusste er oft nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Der stand dermaßen unter der Fuchtel seiner Frau, dass er sich manchmal nicht mal traute, den Mund aufzumachen. Sein Vater war genau die Art Mann, die Lars niemals werden wollte. Wenn er schon eine Beziehung hatte, wollte er auch der dominante Part sein. Absolute Kontrolle des Partners. Nicht aus Eifersucht. Eifersucht war etwas für Waschlappen, die sich zu sehr an einen anderen Menschen banden.

Seine Freundin Marie war genau das, was er sich wünschte: blond, hübsch, naiv und eine echt versaute Bombe im Bett. Die perfekte Mischung eben.

Auch sie würde heute dabei sein. Da Marie ansatzweise an Spukgeschichten glaubte, konnte sie eine lustige Bereicherung für die Gruppe werden.

Er musste seine Freundin ohnehin noch anrufen, um ihr zu sagen, wann es losging. Genau wusste er es selber noch nicht. Letztendlich was es Stefans Entscheidung. Er war als Einziger ihrer Gruppe über 18 und somit auch der Einzige mit einem Führerschein. Glücklicherweise war es ihm gelungen, seinen Eltern ihren VW-Bus für heute abzuschwatzen, sonst würde es schwer werden, acht Leute nach Boulay zu schaffen.

Neben dem Gespräch mit Marie stand also vorher noch eines mit Stefan an. Aber nicht jetzt. Bestimmt lagen alle noch im Bett und schliefen. Sie taten genau das, was er eigentlich tun sollte. Wäre er bloß nicht so bescheuert gewesen, den Wecker zu vergessen.

Während er sich noch über das unnötig frühe Aufstehen ärgerte, schleppte er sich ins Bad. Ein Blick in den Spiegel machte deutlich, dass er dringend eine Dusche brauchte, um die Müdigkeit zu vertreiben. Im Moment sah er nicht aus wie der Womanizer, als den er sich gerne betrachtete, sondern eher wie ein Gespenst.

Es war geradezu belebend, wie das warme Wasser über ihn lief. Genau so was hatte er jetzt gebraucht. Die Müdigkeit verschwand, und als er anschließend erneut in den Spiegel sah, gefiel er sich viel besser. Die Wassertropfen glänzten auf seinem athletischen Körper und seine dunkelbraunen Augen machten einen wacheren Eindruck als noch vor ein paar Minuten.

Er trocknete sich ab, kämmte seine dunkelbraunen Haare, ging in die Küche und bereitete sich sein Frühstück zu: Müsli mit Milch, dasselbe wie jeden Morgen. Das sprach zwar nicht gerade für eine besonders ausgeprägte Fantasie, aber es schmeckte ihm. Warum sollte man also etwas ändern?

Gut gestärkt konnte der Tag eigentlich losgehen. Die Frage war nur, was er mit diesem Vormittag anfangen sollte. Die beiden Telefonanrufe konnten noch warten. Vor 11.00 Uhr hatte er nicht vor, irgendeinen der beiden zu stören. Bei Stefan konnte man ohnehin nicht sicher sein, ob er um 11.00 Uhr schon auf war. Sein Freund war tatsächlich in der Lage, den ganzen Tag im Bett zu verbringen, wenn es nicht unbedingt nötig war, aufzustehen. Lars schlief zwar auch gern mal länger, aber man musste es ja nicht gleich übertreiben.

Inzwischen war es kurz vor 9.00 Uhr und ihm war noch immer nicht eingefallen, was er tun sollte. Da klingelte es an der Tür.

Wer zum Geier störte um diese Zeit?

Er ging zu Sprechanlage. „Hallo?“

Wehe, es war nicht wichtig!

„Die Post“, kam die Antwort von draußen. „Ein Paket für Herr Becker.“

Aha, wieder so ein Schrott für seinen Vater. Der ersteigerte bei eBay wirklich alles, was man nicht brauchen konnte. Etwas Nützliches war noch nie dabei gewesen. Das wäre allerdings nicht so schlimm, wenn Geld dafür da wäre. Diese Kaufsucht jedoch schränkte die Familie finanziell immer mehr ein. Und diese Wochenendtrips seiner Eltern finanzierten sie grundsätzlich auf Pump. Auch deshalb herrschte in der Familienkasse chronische Ebbe.

Lars wollte gerade öffnen, als ihm einfiel, dass er nur ein Handtuch um die Hüften trug. Anziehen wollte er sich erst, wenn er wusste, was er heute Vormittag machen würde.

Aber eigentlich war’s auch egal, in welchem Aufzug er dem Postboten aufmachte. Der hatte bestimmt schon Schlimmeres gesehen.

Er ging zur Haustür und öffnete. Der Briefträger wirkte tatsächlich überrascht, dass Lars fast nackt vor ihm stand, verbiss sich jedoch jeglichen Kommentar. Lars nahm das Paket entgegen, unterschrieb die Empfangsbestätigung und schloss wortlos die Tür.

Zumindest wusste er jetzt, wie er die nächsten Minuten verbringen würde: mit Anziehen!

In Anbetracht ihres geplanten Ausfluges in das Lager wählte er eine etwas ältere Jeans, ein warmes Hemd und ausgetretene Schuhe. Wenn die dreckig wurden, war das nicht so schlimm.. Immerhin hatte es letzte Nacht geregnet. Zwar nur leicht, aber genug, um den Boden aufzuweichen. Heute sollte es jedoch trocken bleiben.

Nach einem Blick in die Fernsehzeitung, ob vielleicht etwas gesendet wurde, womit er die Zeit totschlagen konnte, stellte er fest, dass das Programm an Körperverletzung grenzte. Seine Gedanken sprangen unerwartet und abrupt zu noch unerledigten Hausaufgaben für Montag, aber solche Arbeiten erledigte er grundsätzlich am Sonntagabend oder gar nicht. Das kam bei den Lehrern weniger gut an. Nur manchmal konnte er die Hausaufgaben von einem Mitschüler abschreiben, wobei der Lernerfolg natürlich auf der Strecke blieb.

Schulischer Erfolg gehörte nicht zu seinen Prioritäten. Er hielt sich in den meisten Fächern mühsam auf der Note vier und streute hier und da mal eine Fünf ein. Seine Eins in Sport fiel auf dem Zeugnis regelmäßig aus dem Rahmen. Wenigstens gab es damit ein Fach, in dem er wirklich gut war und das ihm Spaß machte. Doch letztendlich empfand er die Schule eher als eine Strafe. Eigentlich keines Gedankens wert.

Vor zwei Jahren hatte ihm das nicht geholfen. Er musste das Schuljahr wiederholen und lernte dadurch seine jetzige Freundin kennen, die er allerdings für unterbelichtet gehalten hatte. Sein Urteil musste er zwar im Nachhinein revidieren, aber was Durchsetzungsvermögen ihm gegenüber anbelangte, war sie bis heute weit unterlegen. Genau so wollte er es ja.

Seine alten Freunde, die den Wechsel in die nächste Klassenstufe geschafft hatten, hatte er behalten, und genau mit denen würde man auch heute losziehen.

Plötzlich klingelte sein Handy. Eine Telefonnummer wurde nicht übertragen.

Lars hob ab: „Lars Becker.“

„Hallo, Lars, hier ist Stefan.“

Das konnte nicht sein. Stefan? Um diese Uhrzeit? Eigentlich hatte Lars keinen Anruf erwartet, zumal sie gestern ausgemacht hatten, dass Lars Stefan anrief und nicht umgekehrt. Aber er würde sich nicht beschweren.

„Hör mal, wann wollen wir heute Mittag starten?“, fragte Stefan.

„Ist mir eigentlich egal. Sobald du den Wagen deiner Eltern benutzen kannst.“

„Das kann ich jederzeit. Wie wär’s mit 14.00 Uhr?“

„Kein Problem, ich sag den anderen Bescheid. Falls sich was ändern sollte, würde ich dich noch mal anrufen. Und warum steht auf meinem Handy eigentlich anonym, wenn du anrufst? Kannst du deine Nummer nicht übertragen?“, fragte Lars.

„Ich rufe dich gerade vom Festnetz an. Mein Akku ist leer und unser Telefon überträgt keine Nummern, weil meine Mutter das nicht wollte. Also dann, bis nachher. Wir sehen uns.“

„O.K. Ciao. Bis später.“

Also um 14.00 Uhr. Eine gute Uhrzeit. Lars konnte sich nicht vorstellen, dass jemand da etwas anderes vorhatte.

Er würde mit dem ersten Anruf dennoch etwas warten. Zumindest bis 10.00 Uhr, sonst würde er noch jemanden aus dem Schlaf reißen. Das wollte er vermeiden.

Für Stefan hatte der Tag später begonnen. Das Aufstehen war ihm schwergefallen. Nicht nur, dass er gerne länger geschlafen hätte, auch der Weckruf seiner Mutter war nicht gerade angenehm gewesen.

Wenn jemand unerwartet die Tür aufriss und: „Stefaaaaaaan, aufstehen!“, brüllte, weckte das nicht gerade gute Laune bei ihm. Sein kleiner Bruder durfte länger schlafen.

Nur mühsam hatte er sich aus dem Bett geschält und sich angezogen. Ihm war von vornherein klar gewesen, dass es bestimmt nichts Angenehmes bedeutete, wenn seine Mutter ihn so weckte. Dass das etwas mit der Bitte zu tun hatte, ihm den Kleinbus zu geben, hatte er sich schon gedacht.

Sie bat ihn, zum Supermarkt zu fahren. Es war deutlich harmloser als das, was Stefan befürchtet hatte. Er hatte Schlimmeres erwartet, etwas, das mehr Arbeit verursachte, als einzukaufen, wie beispielsweise die ganze Wohnung zu putzen oder noch unangenehmer: Bügeln. Insofern war die Forderung seiner Mutter machbar.

Als er nach dem Aufstehen und Anziehen die Küche betrat, stand das Frühstück fertig auf dem Tisch. Seine Mutter hatte das weniger aus Nettigkeit gemacht, sondern vielmehr deshalb, damit er möglichst schnell zum Supermarkt kam. Der Grund war ihm jedoch egal, Hauptsache, er brauchte sich nur noch hinzusetzen und zu essen.

Seine Mutter gesellte sich zu ihm. Er wusste schon, was kommen würde.

„Sag mal, Schatz, wo wollt ihr heute noch mal hin?“, säuselte sie.

Es war schlimm genug, dass sie ihn das schon wieder fragte, aber Schatz? Allein diese Formulierung ließ ihn schaudern. Normalerweise nannte sie ihn nie so. Nun musste er sich seine Antwort gut überlegen. Bisher hatte er bei dem Thema immer gelogen. Um seine Mutter nicht noch misstrauischer zu machen, als sie ohnehin schon war, durfte er sich jetzt nicht in Widersprüche verstricken.

„Ich hab dir doch erzählt, dass wir auf ein Dorffest in der Nähe von Überherrn fahren.“

Diese Lüge war dermaßen dämlich, dass sie ihm beinahe wehtat. Aber als sie ihn das erste Mal gefragt hatte, war ihm auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen. Da es so ein Dorffest überhaupt nicht gab, wunderte er sich, dass er nicht schon längst aufgeflogen war.

„Ach wirklich?“, sagte seine Mutter, wie nur sie es sagen konnte.

Im Klartext bedeutete das so viel wie: Ich glaube dir kein Wort. Für wie dumm hältst du mich, du unverschämter Lümmel? Trotzdem gebe ich dir den Wagen. Fahr damit, wohin du willst, aber bring ihn vollgetankt und unbeschädigt zurück, sonst dreh ich dir den Hals um. Das alles hatte sie in nur zwei Worte gepackt.

„Wirklich“, antwortete er, frühstückte fertig und war sogar froh, gleich einkaufen zu gehen. So konnte er schnell das Haus verlassen und diesem furchtbaren Gespräch entgehen.

Er mochte seine Mutter, aber bei jedem Thema war es eine nervliche Belastung für ihn, sich mit ihr zu unterhalten. Die vielen Untertöne konnte er oft nur schwer ertragen. Seinem Vater ging es ähnlich. Doch der wehrte sich im Gegensatz zu Stefan. Ein lautes Wort und die Androhung von Schlägen ließen seine Mutter meist verstummen. Ob sein Vater tatsächlich zugeschlagen hätte, wagte er zu bezweifeln, zumindest hatte er gegen Stefan und dassen jüngeren Bruder Johannes noch nie die Hand erhoben. Seine Mutter schien die Drohung aber ernst zu nehmen und gehorchte ihrem Mann.

Für den kurzen Weg zum Discounter nahm er seinen eigenen VW Golf. Der Tank war fast leer. Für die Fahrt am Montag zur Schule musste er auf jeden Fall noch tanken. Unglücklicherweise ging es dem Kleinbus seiner Eltern nicht anders. Da würde er sogar zweimal tanken müssen, wodurch die ganze Aktion bei den momentanen Preisen ins Geld ging.

Bei Aldi angekommen, arbeitete er so schnell wie möglich den Einkaufszettel ab. Obwohl zwei Kassen geöffnet waren, musste er lange warten. Samstags war immer ein Heidenbetrieb. Kein Wunder, dass seine Mutter nicht selbst hatte gehen wollen, sondern ihn schickte.

Sobald er zurück zu Hause war, stellte er den vollen Einkaufskorb auf dem Küchentisch ab und räumte ihn als Zeichen des guten Willens aus.

„Danke, Stefan“, sagte seine Mutter, „hier ist er.“

Sie drückte ihm den Schlüssel für den Bus in die Hand und zog sich ins Wohnzimmer zurück, wo der Fernseher lief. Welchen Schrott sah sich seine Mutter am Samstagmorgen nur an?!

Wahrscheinlich irgendeine Wiederholung einer Seifenoper wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Hauptsache, er hatte endlich den Schlüssel. Damit war die kleine Tour mit seinen Freunden gerettet. Jetzt konnte er Lars anrufen, um die genaue Startzeit abzusprechen. Zuvor musste er noch seinen kleinen Bruder abwimmeln, der schon die ganze Zeit fragte, ob er Stefan nicht heute Nachmittag begleiten dürfte. Mal abgesehen davon, das auch seinen Eltern etwas dagegen hatten, war auch Stefan strikt dagegen. Der Kleine würde nur stören.

Für Martin war heute ein besonders spannender Tag. Schon nach dem Aufwachen war er so nervös, dass er sofort aufstand und sich anzog. Er konnte nicht tatenlos im Bett liegen bleiben.

Endlich, er würde heute mit Freunden eine echte Geisterstadt besuchen. Zwar fuhren sie tagsüber hin, aber das war immer noch besser als gar nicht.

Als der Plan gefasst worden war, war er der Verfechter des Nachtbesuchs gewesen, letztlich aber überstimmt worden. Inzwischen war Martin davon überzeugt, auch am Tag Spukerscheinungen erleben zu können – und wenn es nur leise Schreie waren.

Die Frage, ob es Geister gab oder nicht, stellte sich für ihn nicht. Für ihn waren Geister eine unumstößliche Tatsache.

Seit seiner Kindheit beschäftigte er sich mit Okkultismus und war davon begeistert. Von Teufelssekten, deren Mitglieder in schwarzen Kleidern herumliefen, hielt er wenig. Für ihn ging es vielmehr um die Erforschung der übersinnlichen Welt. Es tat ihm leid, dass seine Freunde seine Einstellung nicht teilten. Einzig und allein Said, sein arabischer Kamerad, lehnte nicht alles Geisterhafte ab.

Möglicherweise bot der heutige Ausflug die Gelegenheit, die anderen von der Existenz des Übersinnlichen zu überzeugen. Wenn sie in dem alten Lager tatsächlich mit Phänomenen konfrontiert wurden, die eindeutig Geistern zuzuschreiben waren, würde er bestimmt ernst genommen werden. Das wünschte er sich schon lange.

Vor allem Lars und dessen bester Freund Nils ließen kaum eine Gelegenheit aus, um ihn wegen seiner Ansichten aufzuziehen. Meist war es nicht böse gemeint, aber es verletzte ihn trotzdem. Warum er dennoch mit ihnen befreundet war, hing mit seiner sozialen Stellung zusammen.

Lars und Nils gehörten in der Schule zur dominierenden Gruppe. Als Martin vor zwei Jahren neu in die Klasse gekommen war, gab es für ihn nur eine Möglichkeit: Er musste sehr schnell herausfinden, wer hier der Boss war und wer gemobbt wurde. Schon am ersten Tag wurden die Verhältnisse in seiner neuen Klasse offensichtlich: Lars und Nils hatten sich vor allem auf einen unscheinbaren Jungen eingeschossen. Zwar übten sie keinerlei körperliche Gewalt aus, aber ihre Bemerkungen und Beschimpfungen waren extrem demütigend. Ihr Opfer bemühte sich nach Kräften, sich nichts anmerken zu lassen, was aber nur dazu führte, dass die Hänseleien weiter zunahmen, bis sie schließlich die Grenze der Belastbarkeit überschritten. So wie er es an seiner vorherigen Schule erlebt hatte.

Um einer solchen Situation vorzubeugen und nicht das nächste Opfer zu werden, hatte Martin sich so schnell wie möglich mit den beiden anfreunden müssen. Die Namen der anderen Kameraden, mit denen er auch heute Nachmittag losziehen würde, lernte er damals recht schnell kennen. Seine Vorliebe für das Paranormale hatte er am Anfang sicherheitshalber verschwiegen. Erst nach und nach hatte er sich offenbart, als er sich sicher sein konnte, nicht in die untere Stufe der Klassen-Hierarchie zu fallen.

Zwei Jahre war das nun schon her und in der Zwischenzeit war seine Begeisterung für Geister und Spuk gestiegen. Er interessierte sich besonders für Geisterbeschwörungen und Bannzauber. Er sehnte sich danach, sich mit anderen Jungmagiern auszutauschen, aber das war ihm bis jetzt nur über das Internet möglich gewesen, was ja schon mal besser war als vor 30 Jahren oder so. Ihm war klar, dass er die Rituale allein ausführen musste, aber er hoffte, durch persönlichen Kontakt mit einem Gleichgesinnten seine Fähigkeiten zu vergrößern. Letztlich hing alles von seinem Glauben an Magie ab. Je fanatischer der Gaube, desto größer die Wahrscheinlichkeit einmal ein mächtiger Magier zu werden.

Jemand wie Lars, der so etwas ablehnte, würde auch die Macht von Zauberei nie erleben können. Das fand Martin schade, denn oft half ihm sein Glaube, mit schwierigen Lebenssituationen fertig zu werden.

Bevor er mit seiner Familie nach Völklingen gezogen war, hatte er Freunde, mit denen er des Öfteren Gläserrücken gespielt hatte. Damals war es tatsächlich nur ein Spiel gewesen. Jetzt erschienen ihm solche infantilen Sachen lächerlich.

Natürlich gab es auch richtige Beschwörungen – sowohl von Geistern als auch von dem gehörnten Gott und der großen Göttin, der beiden mächtigsten Wesen in der Magie. Fast jeden Tag betete er zu ihnen. Dafür hatte er sich extra einen kleinen Altar geschaffen. Der bestand jedoch nur aus einem mit okkulten Zeichen bedruckten Tuch, was den Vorteil hatte, dass er jede Fläche zum Altar umwandeln konnte.

Seine Eltern konnten ihn bis heute nicht verstehen. Seine Mutter überlegte schon seit langer Zeit, ob sie einen Erziehungsfehler gemacht hatte, aus dem Martins Begeisterung für Magie herrührte.

Alle Erklärungsversuche, dass das wirklich nichts mit Satanismus und schwarzen Messen zu tun hatte, waren sinnlos. Martin selbst glaubte noch nicht mal an Satan oder den christlichen Gott, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass ihm vorgeworfen wurde, er wäre ein Teufelsanbeter. Zumindest waren seine Eltern dieser Meinung und konnten sich nur schwer mit der Neigung ihres Sohnes abfinden.

Seine Freunde sahen das weniger kritisch, konnten seinen Glauben aber ebenso wenig nachvollziehen.

Was erwartete er schon von einer Welt, die mehrheitlich die Existenz von Magie bestritt? Er war daran gewöhnt, zumindest in dieser Beziehung nicht ernst genommen zu werden.

Wenn sie heute das Lager besuchten, würden all seine Fähigkeiten notwendig werden, um Geister heraufzubeschwören. Während er beim Frühstück saß, wuchs seine Unsicherheit. Die Geschichten über ihr Ausflugsziel waren nicht gerade positiv, und wenn sie wahr wären, fragte er sich, ob er es riskieren sollte, irgendwelche Mächte herbeizurufen, mit denen er es vielleicht nicht aufnehmen konnte. Doch dieser Besuch könnte eine einmalige Gelegenheit sein, seine wahren magischen Fähigkeiten zu testen.

Jetzt frühstückte er erst einmal fertig und dann war es Zeit für das samstägliche Gebet. Vielleicht fand er dort die Antwort, wie er sich später verhalten sollte.

Er breitete seine Altardecke auf dem Boden seines Zimmers aus und begann mit den Vorbereitungen. Einfach hinsetzen und vor sich hinmurmeln, wie er das manchmal im Fernsehen sah, entsprach nicht der Realität. Die meisten Magier waren erstaunt, welch lächerliches Zerrbild in den Medien von ihnen entworfen wurde. Vor diesem Hintergrund konnte die Öffentlichkeit ihnen nur mit Misstrauen begegnen. Entweder man galt als verrückter Spinner oder gefährlicher Satansjünger. Beides war gleich weit von der Wirklichkeit entfernt.

Gerade als Martin mit seinem Gebet beginnen wollte, überlegte er es sich anders und beschloss, ein richtiges Ritual abzuhalten. Wenn er die Götter direkt anrief, war bestimmt mehr über das Lager bei Boulay in Erfahrung zu bringen.

Als Erstes legte Martin sich alles zurecht, was er brauchte, und visualisierte den Ablauf genau im Kopf. Ein Blick in sein Zimmer zeigte ihm, dass eine kleine Aufräumaktion nicht schaden konnte. Er lud schließlich die Götter ein und die sollten keinen Saustall vorfinden. Es musste nicht gleich eine stundenlange Putzaktion sein, aber eine gewisse Ordnung wäre wünschenswert. Er wischte alle Oberflächen mit einem Tuch ab und saugte den Boden, nachdem er seine dreckigen Sachen eingesammelt hatte. Er ging nicht ganz so sorgfältig wie sonst vor, da er den Kontakt mit den Göttern kaum erwarten konnte. Die Informationen über Boulay mussten atemberaubend sein – oder wenigstens hilfreich.

Nach der kleinen Säuberung begann er, die zurechtgelegten Dinge auf seinem Altartuch zu drapieren. Wichtig war das Athame – ein zweischneidiges Ritualmesser. Es war dem obersten Gott geweiht, verkörperte das Element Luft und wurde bei der Anrufung der vier Elemente benutzt. Als Zweites legte er den Stab bereit, ebenfalls dem Gott geweiht. Er repräsentierte das Element Feuer.

Zur besseren Leitung seiner magischen Energie hatte Martin einen Kristall am oberen Ende seines Holzstabes angebracht. Einen solchen Stab zu bekommen, war nicht einfach gewesen. Als seine Suche in verschiedenen Esoterikgeschäften erfolglos verlaufen war, hatte er beschlossen, sich selbst einen zu fertigen. Er war in den Wald gegangen und hatte sich dort einen geraden Ast gesucht, der ihn ansprach. Schon war das Stabproblem gelöst. Den Kristall am oberen Ende fand er erst nach langem Suchen bei einem Juwelier.

Kessel und Scheibe, die beide der Göttin geweiht waren und dem Element Erde angehörten, sollten die nächsten beiden Dinge sein, die er aufstellte. Die Scheibe, meist aus Ton gefertigt und mit einem Pentagramm versehen, diente zu seinem Schutz und durfte nie fehlen.

Der Kelch, der das Element Wasser vertrat, war ebenfalls der Göttin geweiht. Da solche Kelche sehr teuer waren, hatte er ein schönes Weinglas seiner Mutter umfunktioniert. Der kleine Schluck Wein zum Ende des Rituals war schon eingefüllt.

Um wirklich ungestört zu sein, schloss er sein Zimmer ab und schaltete das Handy aus.

Ein Ritualgewand, wie es viele benutzten, besaß er nicht. Es kam ihm auch überflüssig vor. Bequeme Kleidung, die man nur zu einem Ritual anzog, reichte völlig.

Bevor die Anrufung der Götter beginnen konnte, musste er noch einen Schutzkreis bilden. Jedes Ritual konnte Türen öffnen, durch die auch negative Energien fließen konnten. Nur ein Schutzkreis bot genügend Sicherheit. Darauf zu verzichten, galt bei Magiern als grob fahrlässig.

Die schnellste Methode, um einen Schutzkreis zu errichten, war, ihn zu visualisieren. Martin stellte sich eine weiß leuchtende Wand vor, die immer kompakter wurde, und legte sie um sein ganzes Zimmer. So konnte er sicher sein, den Kreis nicht aus Versehen zu unterbrechen. Die Visualisierung hörte sich zwar einfach an, erforderte aber mentale Disziplin. Der kleinste Zweifel an der Wirkung eines solchen Kreises machte ihn unwirksam. Für Anfänger war so etwas nicht geeignet. Aber Martin sah sich als Fortgeschrittener.

Die Wächter der vier Himmelsrichtungen und der Elemente anzurufen, sparte er sich diesmal. Zu groß war seine Ungeduld. Da er Gott und Göttin höflich um ihr Erscheinen bitten musste, empfahl es sich, immer beide anzurufen. Welche Worte man dabei verwendete, war egal, wichtig war nur, die korrekten Namen zu kennen.

Im November musste der Gott mit Mabon und die Göttin mit dem Namen Aradia angerufen werden. Je nach Monat konnten sich diese Namen verändern.

„Mabon, Aradia, ich rufe euch an. Erweist eurem Diener die Ehre, zu erscheinen. Ich verneige mich vor eurer Majestät“, flüsterte Martin, wobei er auf den Knien saß und den Blick auf den Boden richtete. Fast fürchtete er sich, aufzusehen. Was würde geschehen, wenn er die Götter plötzlich sehen konnte? Bisher war ihm nur ihr Wirken bei bestimmten Ritualen aufgefallen.

Er zündete ein Räucherstäbchen an und ließ es in der dafür vorgesehenen Schale langsam verglühen. Der Raum füllte sich mit süßlich nach Lavendel riechendem Rauch, der ihm die Sinne vernebelte. Martin verfiel in eine tiefe Meditation.

„Lasst mich, euren unwürdigen Diener, die Geheimnisse von Ban-Saint-Jean schauen und verstehen. Lasst mir eure unendliche Weisheit zuteilwerden“, hauchte er hingebungsvoll.

Es war eine ungewöhnliche Bitte. Eine, die er so nicht stellen sollte. Aber wenn sich die Götter erbarmten, mit ihm in Kontakt zu treten und seinem Wunsch Folge zu leisten, wäre das einer der glücklichsten Tage seines Lebens. Die bevorstehende Fahrt ins Lager und ein gelungenes Ritual am selben Tag? Das wäre phänomenal. Konnte es etwas Besseres geben?

Doch noch spürte Martin nichts. Noch gab es keinen Kontakt zu den angerufenen Mächten. Das war enttäuschend.

Plötzlich fühlte er jedoch die Anwesenheit einer Macht. Einer großen Macht. Zumindest glaubte er, sie zu fühlen. Und es war überwältigend. Eine Flut von Endorphinen drohte ihn zu verschlingen. Seine Erwartungen waren extrem hoch. Eine solche Nähe, ein solch intensiver Kontakt zu seinen Gottheiten passierte nur selten. Nur ein oder zweimal war es ihm bisher gelungen, ihnen so nahe zu kommen. Jedes Mal war er voll Euphorie und Freude. Denn welche Religion konnte einem eine so enge Beziehung zu den Erschaffern der Welt bieten? Kein Christentum oder Islam war dazu in der Lage. Dort basierte alles auf Glauben. Das hier aber war unwiderlegbare Realität. Er konnte nicht verstehen, warum sich so viele Menschen der realen Magie verschlossen. Sie verpassten eine Menge, verschwendeten ihr Leben. Oft hatte Martin gehört, dass die Leute unzufrieden waren und irgendwann anfangen wollten richtig zu leben. Er sagte sich immer, wenn du leben willst irgendwann, doch wenn nicht heute wann denn dann. Martin lebte schon jetzt richtig mit der Hilfe der Götter.

Nach etwa 20 Minuten war alles vorbei. Er beendete sein Ritual mit zwiespältigen Gefühlen: Einerseits war er überzeugt davon, mit den Göttern gesprochen zu haben, andererseits wusste er nicht mehr als vorher. Die Geheimnisse des alten Lagers – wenn es überhaupt welche gab – hatten sich ihm nicht erschlossen.

Trotzdem bedankte er sich bei den Göttern und verabschiedete sich.

Inzwischen fragte er sich ernsthaft, ob diese Art Ritual der richtige Weg gewesen war, um etwas in Erfahrung zu bringen, was es möglicherweise nicht gab.

Sein Glaube an Geister war unerschütterlich, aber nach dieser Erfahrung begann er, daran zu zweifeln, ob in dem Lager wirklich übersinnliche Kräfte am Werk waren. Hätte er dann nicht Neues von den höchsten Göttern seiner Religion erfahren?

Mit etwas Glück würde er heute Abend mehr wissen.

Er visualisierte, wie sein Schutzkreis schrumpfte, und packte die Ritualgegenstände sorgfältig in den Schrank weg. Trotz der niedrigen Temperaturen draußen öffnete er das Fenster, damit der Räuchergeruch verschwand. Seine Mutter würde einen Anfall bekommen, wenn sie herausbekam, dass er wieder ein Ritual durchgeführt hatte. Es war besser, alle Spuren zu verwischen.

Das Einzige, was noch zu tun war, hatte mit dem Buch der Schatten zu tun. Dort sollten alle Ergebnisse und Vorgehensweisen einer Magierhandlung aufgeschrieben werden. So entstand nach und nach eine Art Magiertagebuch: individuell und einzigartig.

Kurz nach zehn klingelte Martins Handy, das er direkt nach dem Ritual wieder eingeschaltet hatte. Es war Lars, der ihm mitteilte, dass sie um 14.00 Uhr starten wollten.

„Wir holen dich zu Hause ab“, sagte Lars.

„Gut, ich freu mich.“

Nils gähnte, während er sich im Bett streckte. Es war Wochenende. Gott sei Dank. Er hasste es, früh aufzustehen, und fieberte deshalb schon montags dem darauffolgenden Samstag entgegen.

Noch etwas steif stand Nils auf und schleppte sich ins Bad. Im hellen Neonlicht der Deckenlampe wirkte seine Haut wie weißer Marmor. Das dunkelblonde Haar hing ihm fast bis zu den Schultern. Er musste dringend zum Frisör, sonst sah er demnächst aus wie ein Mädchen. Wenn er morgens nicht ausgiebig geduscht hatte, konnte man mit ihm kaum ein Wort wechseln. Erst das warme Wasser, das auf ihn herabprasselte, weckte seine Lebensgeister. Während er duschte, dachte er an den anstehenden Ausflug in ein verlassenes Strafgefangenenlager aus dem Zweiten Weltkrieg. Das könnte ganz interessant werden, wenn er bedachte, dass im Internet allerhand Schauergeschichten und mit unheimlicher Musik unterlegte Videos kursierten.

Natürlich glaubte er nicht an Geister, die gehörten ins Reich des Aberglaubens, aber geheimnisvoll war es dennoch. Es hatte sich als schwierig erwiesen, verlässliche Informationen über diesen Ort zu finden. Die Verschwörungstheoretiker wurden nicht müde, in verschiedenen Internetforen zu verbreiten, dass dort Kriegsverbrechen begangen und vertuscht worden waren. Den Grund für eine Vertuschungsaktion konnten die meisten aber nicht nennen – oder er war derart abenteuerlich, dass niemand mit klarem Verstand daran glaubte.

Seine Eltern waren im Moment nicht zu Hause. Jeden Samstag gingen die beiden gemeinsam einkaufen. Das konnte den ganzen Vormittag dauern.

Während des Frühstücks blätterte er die Zeitung durch und stieß im Sportteil auf eine Abbildung des Inhabers eines ansässigen Sportstudios. Der hatte bei einem Bodybuilder-Wettbewerb mitgemacht und eine hohe Platzierung erreicht.

Ohne dass Nils es verhindern konnte, spürte er, wie er beim Betrachten des Bildes des halb nackten Mannes eine Erektion bekam. Schon vor einigen Jahren war ihm aufgefallen, dass er nicht nur auf Mädchen, sondern auch auf Jungen stand. Eine für ihn inakzeptable Tatsache. Sein familiäres Umfeld war nicht ganz unschuldig an dieser Einschätzung. Er wusste von einem homosexuellen Verwandten, zu dem seine Familie jeglichen Kontakt abgebrochen hatte und den sie totschwieg. Wenn sein Onkel überhaupt erwähnt wurde, dann nur als seelisch Kranker.

Das und seine eigene Vorstellung von Normalität belasteten Nils enorm. Er hatte zwar noch nie Sex mit einem anderen Jungen gehabt, aber allein die Tatsache, dass andere Männer ihn sexuell erregten, widerte ihn an. Als er seine Neigung bemerkt hatte, hatte er begonnen, gegen sich selbst eine Barriere aufzubauen. Er hasste seinen Körper, verleugnete seine Identität und versuchte, seine Gefühle vor der Öffentlichkeit und vor allem seinen Freunden zu verbergen. Das wurde so extrem, dass er bald jegliche Emotionen zurückhielt. Die Leere, die sich dadurch in ihm ausbreitete, war fast noch schlimmer.

Dieser Stress führte schließlich dazu, dass er Autoaggressionen entwickelte. Es hatte vor drei Jahren mit kleinen Ritzen in der Haut begonnen, war aber schnell schlimmer geworden.

Auch jetzt, wo er fühlte, wie ihn das Foto eines halb nackten Mannes geil machte, wusste er, was zu tun war. Es war ein Zwang. Gnadenlos und unkontrollierbar. Er musste es tun, obwohl ihm jedes Mal davor graute.

Er aß schnell die letzten beiden Bissen seines Brotes und verschwand in sein Zimmer, wo er ungestört war. Sein Körper zitterte schon vor Anspannung und schüttete Unmengen an Adrenalin aus.

Nils machte seinen linken Unterarm frei und nahm die Schere zur Hand. Er wusste nicht, wie oft die Klinge in den letzten Jahren schon in seine Haut gefahren war.

Der Schmerz und der Anblick des Blutes jagten Energieströme durch seinen Körper. Mit dem Blut liefen alle schwulen Gedanken aus ihm heraus. In dieser Hinsicht galt die Verletzung als Bestrafung und gleichzeitig Befreiung. Der Schmerz dagegen war eine Belohnung, da er den Mut hatte, sich selber wehzutun. Was blieb ihm sonst? Wenn er nichts fühlte, war der Schmerz das Einzige, was ihn von seiner abnormen Sexualität heilen konnte.

Anfangs hatte er sich nur oberflächliche Kratzer zugefügt. Inzwischen sah die Sache anders aus. Über die Jahre der Selbstverletzungen war eine Art Gewöhnung eingetreten. Immer tiefere Schnitte, immer stärkere Verbrennungen im Bereich seiner linken Hand waren nötig, um den Effekt der Befriedigung zu erreichen. Auf seinem linken Unterarm, an dem sich die Narben konzentrierten, gab es kaum noch einen unverletzten Millimeter Haut.

Er hatte nicht die Kraft, sich dagegen zu wehren. Der Zwang war übermächtig, kontrollierte ihn vollends. Während er immer tiefer schnitt, fühlte er sich besser. Seine Befriedigung war nur von kurzer Dauer, aber für ihn absolut notwendig.

Seine Eltern hatten davon bisher nichts gemerkt, da sie nie etwas bemerkten. Er hätte in Flammen stehen können, es wäre ihnen nicht aufgefallen.

Schließlich zog er die Schere aus seinem Fleisch. Wie es ihn befreite, zu sehen, wenn das rote Blut aus der tiefen Wunde floss. Es nahm alles Schlechte mit, reinigte seinen Geist und Körper. Später musste er die Wunde verbinden – dafür hatte er in seinem Zimmer Mullbinden gehortet –, aber so lange wie möglich sollte Blut fließen, damit die Reinigung komplett war.

Die Seelenqual würde jedoch wiederkommen. Das wusste er mit Bestimmtheit. Sie würde nicht lang auf sich warten lassen. Und dann würde er sich wieder für seine sexuelle Orientierung bestrafen und wieder wäre der Schmerz das einzige Gefühl, was ihm blieb.

Zufällig fiel sein Blick auf die Uhr: 10.35 Uhr. Gleich musste Lars anrufen. Nils hatte ihm gestern noch gesagt, er solle nicht vor halb elf stören.

Tatsächlich klingelte in diesem Moment sein Handy, das er neben seinem Bett auf den Nachttisch gelegt hatte. Wie erwartet war es Lars.

„Hallo, na, wie geht’s dir?“, fragte Nils seufzend.

„Danke, gut, und dir? Du klingst etwas abgehetzt.“

„Beschissen und hoffnungslos wie immer“, sagte er im Scherz und kam damit der Wahrheit erschreckend nahe.

„Ich wollte dir nur sagen, dass wir vorhaben, um 14.00 Uhr loszufahren. Stefan holt uns ab. Passt dir das?“

„Klar, kein Problem. Ich dachte, ich komm so 30 Minuten vorher bei dir vorbei, da muss Stefan nicht zu jedem fahren und wir sparen Zeit“; schlug Nils vor.

„Tu das, ist eine gute Idee.“

„Dann bis heut Mittag.“

„Bis nachher.“

Nils legte auf. Ein paar Minuten wartete er noch, bis der Blutfluss nachließ, und verband anschließend die Wunde. Jetzt musste er nur den Hemdsärmel über den Verband schieben und schon sah man nichts mehr. Wenn er die paar Blutstropfen auf seinem Nachttisch wegwischte, erinnerte nichts mehr an seine Selbstverletzung. Alle Spuren waren beseitigt.

Nach Lars’ Anruf und dem Zufügen der Wunde konnte der Tag richtig beginnen. Und vielleicht, nur vielleicht, lenkte ihn der geplante Ausflug von seinem albtraumhaften Alltag ab. Er hoffte es.

Noch drei ruckartige Bewegungen durch die geschlossene Faust und Said bekam einen raschen und wilden Orgasmus. Zuckend spritze er sein Sperma in die Dusche. Das Wasser spülte es den Abfluss hinunter. Nach diesem allmorgendlichen Ritual begann er, sich zu waschen. Er onanierte mehr aus Gewohnheit als aus Geilheit unter der Dusche. Es war der gelungene Start in den Tag. Sozusagen der erste Höhepunkt.

Der zweite würde zweifellos ihr kleiner Ausflug in das alte Lager sein, falls die Sache überhaupt stattfand. Er wartete noch auf Lars‘ Anruf. Als er kurz vorm Anziehen einen Blick in den Badezimmerspiegel warf, gefiel ihm nicht, was er dort sah. Er sollte mal wieder Sport treiben. Beim Verlassen des Bades versuchte er, möglichst nicht seinem Vater in die Arme zu laufen. Schon heute früh um 7.00 Uhr hatte Said ihn herumschreien hören. Einen Grund gab es für diese Tobsuchtsanfälle meist nicht, aber wenn sein Vater so drauf war, sollte man ihm aus dem Weg gehen. Er wollte nicht wieder geschlagen werden. Das passierte schon, seit er ein kleiner Junge gewesen war. Seine Blutergüsse hatte er aus Scham vor seinen Kameraden versteckt und wenn das nicht ging, irgendeine Geschichte erfunden. Er sei gestürzt oder Ähnliches. Seine Verschüchterung war teilweise auf reine Schläge, teils auf die dauernden sexuellen Übergriffe seines Vaters zurückzuführen. Anfangs war Said nicht bewusst gewesen, was ihm widerfuhr. Er wusste nur eins: Es tat weh, obwohl sein Vater ihm immer versicherte, dass alles seine Ordnung hätte. Wenn der Sohn seinen Vater lieb hatte, machte man das eben so.

Viele Jahre hatte Said ihm geglaubt, doch je älter er wurde, desto deutlicher wurde ihm bewusst, was für ein perverses Schwein sein Vater eigentlich war. Mit 14 hörten die Übergriffe auf. Wahrscheinlich war Said zu alt geworden. Die brutalen Schläge und Tritte gab es weiterhin. Bis jetzt hatte sich daran nichts geändert. Aber lange würde das Martyrium nicht mehr dauern. Nächstes Jahr war sein 18. Geburtstag und an diesem Tag würde er von zu Hause weggehen. Dann hatte er endlich Ruhe vor seinem Vater.

Seine Mutter war ihm nicht weniger verhasst gewesen. Seit seiner Kindheit hatte sie tatenlos zugeschaut und nie etwas unternommen. Auch sie litt unter der Brutalität ihres Mannes, aber eine gute islamische Frau kam nicht im Traum auf die Idee, ihrem Mann zu widersprechen oder ihn zu verlassen. An diesem Glauben hielt sie unumstößlich fest. Nur weil die Familie schon vor Saids Geburt aus Saudi-Arabien nach Deutschland emigriert war, warf seine Mutter nicht ihre Lebensgrundsätze über Bord..

Erst gestern Abend musste sein Vater wieder völlig ausgerastet sein. Said war zu dem Zeitpunkt mit seinen Freunden in der Stadt gewesen. Beim Heimkommen hatte seine Mutter blutüberströmt und schluchzend im Wohnzimmersessel gekauert. Besonders berührt hatte ihn das nicht. Sie verweigerte ihm schließlich auch ihre Hilfe und beendete den Albtraum nicht. Welcher Religion man auch immer angehörte, so etwas verurteilten alle Glaubensrichtungen; auch der Koran.

Es gab keine Entschuldigung für ihre Untätigkeit.

Also war er an ihr vorübergegangen und in seinem Zimmer verschwunden. Lange konnte er aber nicht dort bleiben. Der Anblick seiner zerschundenen Mutter löste in ihm mehr Mitleid aus, als er sich eingestehen wollte. Sie war zwar nie für ihn da gewesen, aber sie war immer noch seine Mutter.

Obwohl es ihn Überwindung kostete, hatte er beschlossen, sie zu trösten. Wenn er es nicht tat, war er nicht besser als sie.

Sie sah furchtbar aus. Aus einer Platzwunde am Kopf lief ihr Blut in die Augen. „Mama, ich bin da“, versuchte er, ein Gespräch zu beginnen, als er vor ihr stand.

Sie blickte ihn an und die Leere in ihren Augen zog ihm die Kehle zusammen. Jahre der Demütigung und Gewalt hatten aus ihr ein seelisches Wrack gemacht. Was war nur los mit ihm? Diese Frau hasste er doch.

Aber nicht heute Abend. Nicht jetzt in dieser Situation, wo sie so hilflos vor ihm saß.

Sein Vater war nicht zu Hause. Nachdem er seine Frau zusammengeschlagen hatte, war er vermutlich in die nächste Kneipe gegangen, um sich zu besaufen.

„Said?“, fragte sie, als ob sie ihren eigenen Sohn nicht erkennen würde.

„Ja, Mama, ich bin’s.“

„Said, mein Junge, es tut mir so leid.“

Diese Entschuldigung kam Jahre zu spät und war wahrscheinlich nicht ernst gemeint, aber darum ging es im Moment nicht. Es war überhaupt das erste Mal, dass sie sich entschuldigte und zeigte, dass es ihr doch nicht ganz egal war.

„Schon in Ordnung. Es wird alles wieder gut, Mama“, sagte Said besänftigend.

„Komm her, lass dich umarmen.“

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und streichelte ihm über sein kurzes schwarzes Haar.

„Ich ruf den Krankenwagen. Du brauchst einen Arzt, der sich deine Wunden ansieht und um dich kümmert.“

„Bitte nicht. Wenn dein Vater das erfährt, schlägt er dich tot. Meine Verletzungen heilen auch so.“ Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und fing an, leise zu weinen.

Die körperlichen Wunden vielleicht, aber die seelischen waren so tief, dass sie niemals heilen würden – weder bei ihr noch bei ihm.

Said gab dennoch nach. Ein Krankenwagen wurde nicht gerufen und sein Vater war erst spät in der Nacht von einer seiner Sauftouren heimgekommen.

Wie würde seine Mutter heute Morgen wohl aussehen? Er fürchtete sich vor dem Anblick. Würde er genauso emotional reagieren wie gestern Abend? Oder wäre es ihm egal, wie es eigentlich sein sollte? Möglicherweise schlummerte unter der Oberfläche aber eine tiefere Zuneigung zu seiner Mutter, als er sich eingestehen wollte. Warum sonst hatte er sie getröstet? Er konnte diese Frage jetzt nicht beantworten – und wollte es auch nicht.

Nachdem er sich angezogen hatte, verließ er sein Zimmer und traf auf seinen Vater.

„Morgen, Papa“, presste er ängstlich heraus.

Als Antwort bekam Said nur einen bösen Blick, aber wenigstens keine Schläge. Das war ein vergleichsweise guter Beginn, vor allem wenn er bedachte, wie sein Vater erst vor wenigen Minuten herumgebrüllt hatte. Im Moment schien er seine latente Wut nicht auf seinen Sohn entladen zu wollen. Umso besser. Mit ein wenig Glück kam er ohne Prügel durch den heutigen Tag. Inschallah.

Als Said die Küche betrat, um zu frühstücken, saß seine Mutter zusammengesunken am Tisch. Heute hatte sie zudem ein furchtbar geschwollenes Gesicht.

„Hallo, wie geht’s dir?“, fragte er.

„Es geht schon wieder.“ Über ihre ungewohnte Annäherung von gestern Abend verlor sie kein Wort. Das war ihm ganz recht. Zurzeit war er sich über seine Gefühle ihr gegenüber nicht mehr sicher. Neben dem Hass über ihre unterlassene Hilfe schien sich eine Art Mitleid aufgebaut zu haben.

Eine Viertelstunde später klingelte Saids Handy. Lars teilte ihm mit, wann der Ausflug zum alten Lager starten sollte. Damit war zumindest der halbe Tag gerettet. Jede Stunde von seiner Familie entfernt war eine gute Stunde.

Nachdem Lars Marie die Einzelheiten des heutigen Ausflugs mitgeteilt hatte, legte er abrupt auf. Die meisten Telefongespräche liefen so ab. Es war wohl ihr Schicksal. Lars meinte es bestimmt nicht so.