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Edgar Allan Poe

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Beschreibung

Eine Auswahl gruseliger Geschichten Das rote Haus – Friedrich Gerstäcker Das schwatzende Herz – Edgar Allan Poe Das weiße Tier – Georg von der Gabelentz Der Vampir – John William Polidori Die Geschichte von dem Gespensterschiff – Wilhelm Hauff Die Geschichte von der abgehauenen Hand – Wilhelm Hauff Die Pflanzen des Dr. Cinderella – Gustav Meyrink Die schöne Abigail – Paul Heyse Die tote Schwadron – Don François de Nion Eine Stimme aus dem Jenseits – Lothar Schmidt Frühlingsnacht im Seziersaal – Arthur Schnitzler Geschichte des Mädchens von Orlach – Justinus Kerner Klabauterman – Alexander von Ungern-Sternberg Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen – Brüder Grimm Schuß in der Nacht – Jakob Julius David Wer weiß! – Von Guy de Maupassant Der Sandmann – E.T.A. Hoffmann Der Spuk im Pfarrhaus zu Cleversulzbach – Eduard Mörike Der Untergang der Carnatic – A. J. Mordtmann Die Nacht in Brczwezmcisl – Heinrich Zschokke Eine Gespenstergeschichte – Johann Wolfgang von Goethe Pommersche Gespenster – Willibald Alexis Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 572

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Horror

Ausgesuchte Geschichten

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Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-954189-77-9

null-papier.de/451

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ti­tel­bild

Das rote Haus – Fried­rich Ger­stä­cker

Das schwat­zen­de Herz – Ed­gar Al­lan Poe

Das wei­ße Tier – Ge­org von der Ga­bel­entz

Der Vam­pir – John Wil­liam Po­li­do­ri

Die Ge­schich­te von dem Ge­s­pens­ter­schiff – Wil­helm Hauff

Die Ge­schich­te von der ab­ge­haue­nen Hand – Wil­helm Hauff

Die Pflan­zen des Dr. Cin­de­rel­la – Gu­stav Mey­rink

Die schö­ne Abi­gail – Paul Hey­se

Die tote Schwa­dron – Don François de Nion

Eine Stim­me aus dem Jen­seits – Lo­thar Schmidt

Früh­lings­nacht im Se­zier­saal – Ar­thur Schnitz­ler

Ge­schich­te des Mäd­chens von Or­lach – Jus­ti­nus Ker­ner

Kla­bau­ter­man – Alex­an­der von Un­gern-Stern­berg

Mär­chen von ei­nem, der aus­zog, das Fürch­ten zu ler­nen – Brü­der Grimm

Schuß in der Nacht – Ja­kob Ju­li­us Da­vid

Wer weiß! – Guy de Mau­passant

Der Sand­mann – E.T.A. Hoff­mann

Der Spuk im Pfarr­haus zu Cle­ver­sulz­bach – Eduard Mö­ri­ke

Der Un­ter­gang der Car­na­tic – A. J. Mordt­mann

Die Nacht in Brczwezm­cisl – Hein­rich Zschok­ke

Eine Ge­s­pens­ter­ge­schich­te – Jo­hann Wolf­gang von Goe­the

Pom­mer­sche Ge­s­pens­ter – Wil­li­bald Ale­xis

In­dex

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Titelbild

Das Ti­tel­bild zeigt den be­rüch­tig­ten Arzt Guil­lau­me-Ben­ja­min Amand Du­chen­ne de Bou­lo­gne bei ei­nem sei­ner Ex­pe­ri­men­te. Er reiz­te mit elek­tri­schem Strom durch Elek­tro­den auf dem Ge­sicht ver­schie­de­ne Ge­sichts­mus­keln und schrieb über die­se»„elek­tro­phy­sio­lo­gi­sche Ana­ly­se von Ge­fühls­aus­druck(en)« in der mensch­li­chen Phy­sio­gno­mie.

Das rote Haus – Friedrich Gerstäcker

1

Es war im Herbst des Jah­res 1851, als ein dich­ter Rei­se­wa­gen durch das Tor der al­ten Stadt M– ras­sel­te und in die zum Markt füh­ren­de Stra­ße ein­bog. Zwei jun­ge Män­ner sa­ßen dar­in, die eben von ei­nem Aus­flug in die nicht weit ent­fern­ten Ge­bir­ge zu­rück­kehr­ten, und bei­de schau­ten, mit ih­ren Ge­dan­ken be­schäf­tigt, auf das Le­ben und Trei­ben um sich her. Es wa­ren zwei Ma­ler, die ihre Map­pen mit Skiz­zen ge­füllt hat­ten, um im Win­ter aus­zu­ar­bei­ten, was ih­nen der Som­mer mit frei­ge­bi­ger Pracht ge­bo­ten.

»Sieh dort, Ger­hard«, sag­te jetzt plötz­lich der eine, ein jun­ger, schlan­ker Mann mit schwar­zem Haar und leich­tem, ge­kraus­tem Bart, mit dun­keln, spre­chen­den Au­gen und et­was blei­chen, aber be­leb­ten Zü­gen. »Wahr­haf­tig, da ist sie wie­der! Merk­wür­dig: so­oft ich nun auch in das alte M– hin­ein­ge­gan­gen oder ge­fah­ren bin, je­des­mal, wenn ich von ei­nem län­ge­ren Aus­flu­ge zu­rück­kehr­te, ist mir je­nes schö­ne Mäd­chen­bild da drü­ben zu­erst be­geg­net. Ich habe in mei­nem Le­ben kei­ne tiefe­ren Au­gen ge­se­hen«, fuhr Wer­ner fort, als die Frem­de ih­ren Bli­cken ent­zo­gen war, »mir ist je­des­mal, als ob sie mir Feu­er ins Hirn hin­ein­brenn­ten.«

»Dann nimm dein Herz vor der Glut in acht«, lach­te Ger­hard, »aber wer ist sie? Hast du es nie er­fah­ren?«

»Nie, und son­der­ba­rer­wei­se habe ich sie auch sonst nie ge­trof­fen. Nur wenn ich eine Zeit­lang ent­fernt ge­we­sen, traf ich sie re­gel­mä­ßig bei mei­nem ers­ten Ein­fah­ren in die Stadt.«

»Du machst mich neu­gie­rig«, lä­chel­te Ger­hard. »Ich möch­te dei­ne rät­sel­haf­te Schö­ne eben­falls von An­ge­sicht zu An­ge­sicht ken­nen­ler­nen. Los denn, je eher, de­sto bes­ser! Halt, Kut­scher!– Wir wol­len hier aus­stei­gen«, rief er rasch, in­dem er die Schul­ter des Füh­rers auf dem Bock be­rühr­te, »fah­re lang­sam zum Grü­nen Baum und war­te auf uns, wir kom­men gleich nach.«

»Was willst du tun?«, frag­te Wer­ner er­staunt.

»Was ich tun will?«, lach­te Ger­hard, in­dem er aus dem Wa­gen sprang. »Dei­ner ge­heim­nis­vol­len Dame, wenn ir­gend mög­lich, be­geg­nen, da man ih­rer sonst, wie es scheint, doch nicht hab­haft wird.«

Wer­ner folg­te, ohne ein Wort wei­ter zu er­wi­dern, und die bei­den jun­gen Män­ner schrit­ten Arm in Arm rasch den Weg zu­rück, den sie eben ge­kom­men wa­ren. Ob­gleich sie aber bei­de ihre for­schen­den Bli­cke nach rechts und links schwei­fen lie­ßen, war die Frem­de nir­gends mehr zu er­ken­nen. Sie muß­te ir­gend­wo in ein Haus ge­tre­ten sein. So schrit­ten sie end­lich lang­sam dem Gast­hof zu, vor dem ihr Kut­scher sie er­war­ten soll­te.

»Dei­ne schwar­ze Dame scheint durch eine Ver­sen­kung ab­ge­gan­gen zu sein«, sag­te Ger­hard.

»Mög­lich, daß sie in der Nähe wohnt«, er­wi­der­te Wer­ner, »aber was hät­te uns auch ein zwei­tes Be­geg­nen ge­hol­fen? Wir durf­ten sie doch nicht an­re­den.«

»Für mich wäre es je­den­falls ein ers­tes Be­geg­nen ge­we­sen«, lach­te der Freund, »denn trotz dei­ner Be­schrei­bung habe ich vor­her auf dem gan­zen Trot­toir kei­ne ähn­li­che Ge­stalt er­ken­nen kön­nen. Nun – viel­leicht ein an­der­mal.« – – –

Der Win­ter ver­ging, und trotz­dem Wer­ner man­chen Ball be­such­te und in den ver­schie­dens­ten Ge­sell­schaf­ten ein oft und gern ge­se­he­ner Gast war, traf er un­ter al­len den jun­gen Mäd­chen nicht ein ein­zi­ges Mal sei­ne un­be­kann­te Schö­ne. Das rege Trei­ben in der le­bens­fro­hen Stadt brach­te für ihn auch zu­viel des Neu­en und In­ter­essan­ten, um ei­ner flüch­ti­gen Er­schei­nung aus frü­he­rer Zeit län­ger als dann und wann ein­mal mit ei­nem eben­so flüch­ti­gen Ge­dan­ken nach­zu­hän­gen.

So kam das Früh­jahr her­an und mit ihm die Zeit, da Wer­ner M– wie­der ver­las­sen woll­te. Er hat­te ei­nes Ta­ges schon ei­ni­ge Ab­schieds­be­su­che ge­macht und den Abend in an­ge­neh­mer Ge­sell­schaft zu­ge­bracht, aus der er ziem­lich spät nach Hau­se zu­rück­kehr­te. Die Stra­ßen wa­ren still und öde, die Lam­pen schon längst aus­ge­löscht, und nur der Mond, der hell und voll am Him­mel stand, warf sei­nen lich­ten Schein auf die eine Sei­te, so daß die an­de­re in de­sto tiefe­rem Dun­kel lag. Wer­ner wohn­te in ei­nem ziem­lich ent­le­ge­nen Tei­le der Stadt, und der Nacht­wäch­ter war die letz­te Per­son, der er be­geg­ne­te, als er plötz­lich vor sich, in dem vom Mon­de nicht be­schie­ne­nen Tei­le der Stra­ße, eine weib­li­che Ge­stalt be­merk­te, die mit ra­schen Schrit­ten den­sel­ben Weg zu ver­fol­gen schi­en wie er.

Mit sei­nen ei­ge­nen Ge­dan­ken be­schäf­tigt, ach­te­te er we­nig dar­auf und hat­te eine ziem­li­che Stre­cke etwa glei­che Ent­fer­nung mit ihr ge­hal­ten, als vom an­de­ren Ende der Stra­ße her ih­nen lau­tes La­chen und Sin­gen ent­ge­gen­schall­te und ein Trupp et­was an­ge­trun­ke­ner Wirts­h­aus­gäs­te den Weg her­un­ter­kam.

Die Ge­stalt vor ihm blieb zö­gernd ste­hen, als ob sie sich fürch­te, dem Schwarm al­lein zu be­geg­nen. Wäh­rend sie noch in Un­ge­wiß­heit ver­harr­te, hat­te Wer­ner sie ein­ge­holt.

Wenn es ihm auch auf­fiel, eine Dame zu so spä­ter Stun­de noch al­lein auf der Stra­ße zu tref­fen, ließ es sei­ne Rit­ter­lich­keit doch nicht zu, sie in Ver­le­gen­heit zu las­sen, und er sag­te ar­tig:

»Sie schei­nen die lus­ti­ge Schar zu fürch­ten. Wenn Sie er­lau­ben, wer­de ich Sie hin­durch­ge­lei­ten.«

Die Frem­de wand­te ihm ihr Ant­litz zu, das der Mond in die­sem Au­gen­bli­cke hell und klar be­schi­en, und wie ein Schlag durch­zuck­te es Wer­ner, als er sich den dun­keln, rät­sel­haf­ten Au­gen sei­ner Un­be­kann­ten dicht ge­gen­über­sah.

»Ich dan­ke Ih­nen«, sag­te die Frem­de mit lei­ser, wei­cher Stim­me, die alle Fi­bern sei­nes Her­zens er­be­ben mach­te, »ich fürch­te al­ler­dings je­nen Leu­ten zu be­geg­nen und neh­me Ihre Beglei­tung an.«

Wer­ner brach­te kei­ne Sil­be mehr über die Lip­pen. Kaum wis­send, was er tat, bot er der schö­nen Un­be­kann­ten sei­nen Arm. Die­se aber wich der Berüh­rung aus, wi­ckel­te sich fes­ter in ihre Man­tis­se und schritt still und schwei­gend ne­ben ihm her.

Kein Wort wur­de zwi­schen ih­nen ge­wech­selt, bis sie die Trun­ke­nen lan­ge hin­ter sich hat­ten. Nur manch­mal warf Wer­ner einen scheu­en, for­schen­den Blick auf sei­ne Beglei­te­rin, die mit laut­lo­sem Schritt ne­ben ihm ging. Plötz­lich wand­te sie sich wie­der ge­gen ihn und sag­te freund­lich:

»Ich dan­ke Ih­nen herz­lich; ich habe nichts mehr zu fürch­ten. Die Stra­ßen sind still und leer, und ich möch­te Sie nicht wei­ter be­mü­hen, denn mei­ne Woh­nung liegt noch fern.«

»Um so­viel mehr Grund für mich, Sie noch nicht zu ver­las­sen«, sag­te Wer­ner, mit Ge­walt das Ge­fühl nie­der­kämp­fend, das ihn bis da­hin be­fan­gen ge­macht hat­te. »Ein Spa­zier­gang in die­ser wun­der­bar schö­nen mond­hel­len Nacht ist an und für sich ein Ge­nuß. Wie­viel mehr, wenn –« Er stock­te plötz­lich, denn die Au­gen des Mäd­chens haf­te­ten so ernst auf den sei­nen, daß er fast er­schreckt in­ne­hielt, und schwei­gend wan­der­ten bei­de wie­der eine Stre­cke ne­ben­ein­an­der hin. Dies Schwei­gen wur­de zu­letzt Wer­ner so pein­lich, daß er es zu bre­chen such­te.

»Wahr­schein­lich«, be­gann er, »bin ich Ih­nen, mein Fräu­lein, ein Frem­der, den Sie im Le­ben nicht ge­se­hen zu ha­ben glau­ben, und doch muß ich Sie fast wie eine alte Be­kann­te be­grü­ßen. Oft bin ich schon nach M– ge­kom­men, aber je­des­mal, durch wel­ches Tor auch im­mer ich ein­fuhr, be­geg­ne­te ich Ih­nen, frei­lich ohne spä­ter, selbst bei dem längs­ten Auf­ent­halt in der Stadt, auch nur noch ein ein­zi­ges Mal Sie wie­der an­zu­tref­fen. Heu­te abend ist es das ers­te­mal, daß mir dies Glück zu­teil wird.«

»Das Glück?«, wie­der­hol­te leicht und fast schmerz­lich das jun­ge Mäd­chen.

»Dür­fen wir das nicht ein Glück nen­nen, wenn uns ein Lieb­lings­wunsch end­lich er­füllt wird, und noch dazu auf so an­ge­neh­me Art? Ich gebe Ih­nen mein Wort, daß mir nichts in der Welt ein grö­ße­re Freu­de ma­chen wür­de, als Ih­nen wirk­lich ein­mal einen Dienst zu leis­ten.«

»Und wenn ich Sie beim Wort näh­me«, sag­te die Frem­de mit trau­ri­gem Kopf­schüt­teln, »Sie wür­den Ihr leicht­sin­ni­ges Ver­spre­chen si­cher be­reu­en.«

»Stel­len Sie mich auf die Pro­be!«, rief Wer­ner rasch, und wie­der schrak er zu­sam­men, denn wie­der­um traf ihn je­ner un­sag­ba­re, fast un­heim­li­che Blick.

»Ihr Men­schen seid euch doch alle gleich!«, sag­te sie ru­hig, in­dem sie wie­der mit ge­senk­tem Haup­te ne­ben ihm her­schritt. »Plä­ne, Hoff­nun­gen, Träu­me fül­len euer Herz, und ihr wißt nie, wie weit eure Kräf­te rei­chen.«

»Und doch«, rief Wer­ner be­geis­tert, »ge­lingt dem fes­ten Wil­len des Man­nes vie­les, was beim ers­ten An­blick sei­ne Kräf­te zu über­stei­gen scheint.«

Sei­ne Beglei­te­rin ant­wor­te­te nicht. Sie streck­te nur die Hand ge­gen ein Ge­bäu­de auch an dem sie hin­schrit­ten, und sag­te lei­se:

»Wir sind am Zie­le!« Zu­gleich er­griff sie einen ei­ser­nen Ring, der ziem­lich tief ne­ben der ge­wölb­ten Tür hing, und zog dar­an. Im In­nern tön­te eine laut­dröh­nen­de, lang nach­hal­len­de Glo­cke. Die Tür flog wie durch einen Fe­der­druck auf und ge­stat­te­te einen Blick in den düs­te­ren Vor­saal, in den der Mond, viel­leicht durch ein hin­te­res Fens­ter, sein mat­tes, un­ge­wis­ses Licht warf.

»Ich dan­ke Ih­nen«, sag­te die jun­ge Dame freund­lich ge­gen Wer­ner.

»Und darf ich Sie nicht wie­der­se­hen?«, frag­te der jun­ge Mann, dem ein ei­ge­nes, schmerz­li­ches Ge­fühl das Herz durch­zuck­te.

»Vi­el­leicht, wenn Sie wie­der nach M– kom­men«, lä­chel­te sie und ver­schwand in der Tür, die sich so rasch hin­ter ihr schloß, als ob sie nie ge­öff­net ge­we­sen wäre.

Wer­ner stand al­lein vor dem Haus, wie ein Traum war das Gan­ze an ihm vor­über­ge­gan­gen. Er hat­te die Frem­de nach ih­rem Na­men fra­gen, er hat­te ihr sa­gen wol­len, daß er mor­gen schon die Stadt ver­las­se, viel­leicht erst nach lan­ger Zeit da­hin zu­rück­keh­re, al­les hat­te er in ih­rer Nähe ver­ges­sen.

Auch die Ge­gend der Stadt, in der er sich be­fand, war ihm fremd. Er muß­te sich an der äu­ßers­ten Gren­ze be­fin­den, wo schon die Gär­ten be­gan­nen; nie­de­re Mau­ern zo­gen sich an der an­de­ren Sei­te der Stra­ße hin, und das Haus, vor dem er stand, – was für ein al­tes wun­der­li­ches Ge­bäu­de war es doch!

Oben der Gie­bel muß­te ganz un­be­wohnt sein, denn der Mond­strahl fiel durch Dach und of­fe­ne Fens­ter, und die wet­ter­graue Wand sah in dem düs­te­ren Schat­ten, wo das Mond­licht sie nicht er­reich­te, schwarz und dro­hend aus. Die un­te­ren Fens­ter wa­ren mit höl­zer­nen Lä­den ge­schlos­sen, zwei aus­ge­nom­men, die star­ke Ei­sen­stä­be schütz­ten, und nur der ers­te Stock schi­en be­wohnt zu sein oder we­nigs­tens be­wohn­bar, so­weit sich das in der Nacht und Dun­kel­heit er­ken­nen ließ. Da, im ers­ten Stock, zeig­te sich plötz­lich hin­ter den dicht­ver­han­ge­nen Fens­tern Licht. Ein klei­ner Bal­kon führ­te auf die Stra­ße hin­aus. Jetzt ver­schwand das Licht wie­der, und nun blieb al­les dun­kel.

Der Platz er­schi­en dem jun­gen Ma­ler noch ein­mal so öde als zu­vor. Kopf­schüt­telnd und die Arme ver­schränkt blieb er noch ei­ni­ge Mi­nu­ten aus der Stel­le ste­hen, wo ihn die Frem­de ver­las­sen hat­te, als sein Auge plötz­lich auf einen blin­ken­den Ge­gen­stand vor ihm auf dem Trot­toir fiel. Er bück­te sich, hob ihn auf und fand, daß es ein schma­ler gol­de­ner Reif sei, den nie­mand an­de­res als sei­ne Un­be­kann­te ver­lo­ren ha­ben konn­te. Schon streck­te er den Arm nach dem Klin­gel­zu­ge aus, einen Die­ner her­bei­zu­ru­fen und ihm das Ge­fun­de­ne ein­zu­hän­di­gen, als ihn der Ge­dan­ke durch­zuck­te, da­durch mor­gen einen An­knüp­fungs­punkt mit der Frem­den zu ha­ben. Rasch schob er den schma­len Reif in sei­ne Brust­ta­sche, als plötz­lich, nur we­ni­ge Schrit­te von ihm ent­fernt, aus ei­nem der dun­keln ver­git­ter­ten Fens­ter ein hei­se­res La­chen her­au­s­tön­te und ihn, so we­nig er sonst Furcht kann­te, wie mit ei­si­gem Schau­er durch­rie­sel­te.

Er­schreckt sah er sich nach den un­heim­li­chen Tö­nen um; es war ihm fast, als ob er hin­ter dem Git­ter die ver­zerr­ten Züge ei­nes mensch­li­chen An­ge­sichts ge­wahr­te. Mehr sah er nicht, denn von ei­nem son­der­ba­ren Grau­en ge­trie­ben floh er im nächs­ten Au­gen­blick die Stra­ße, die er vor­her ge­kom­men, zu­rück. Als er den be­leb­te­ren Teil der Stadt wie­der er­reich­te, schlug es vom na­hen Tur­me eins, und Wer­ner merk­te sich jetzt die Rich­tung, aus der er ge­kom­men, um die Ge­gend am nächs­ten Mor­gen wie­der­zu­fin­den. Er dach­te nicht mehr an sei­ne Abrei­se, bis er das Rät­sel die­ses Abends, das ihm Kopf und Herz er­füll­te, ge­löst hät­te.

2

Ver­ge­bens such­te Wer­ner die Ruhe auf sei­nem La­ger. Wil­de Träu­me pei­nig­ten ihn. Wie­der und wie­der schritt er mit dem schö­nen Mäd­chen durch die stil­len mond­be­schie­ne­nen Stra­ßen. Hör­te aufs neue das hei­se­re La­chen aus dem ver­git­ter­ten dun­keln Rau­me her­aus. Auch das Haus sel­ber be­trat er und schritt an der Hand sei­ner schö­nen Beglei­te­rin durch hohe, ge­wölb­te Zim­mer und wei­te Säle über wei­che Tep­pi­che, auf de­nen er ih­ren leich­ten Gang so we­nig hör­te, wie drau­ßen auf dem har­ten Trot­toir. Aber im Mon­den­lich­te drau­ßen, wie un­ter den strah­len­den Kron­leuch­tern hier, konn­te er kei­nen Schat­ten der Ge­lieb­ten er­ken­nen, und über­all grins­te ihm ein Frat­zen­ge­sicht mit schie­len­dem Bli­cke, nar­ben­zer­ris­se­nen Zü­gen und wil­den, strup­pi­gen Haa­ren ent­ge­gen.

Mit po­chen­den Schlä­fen und hef­ti­gem Kopf­schmerz er­wach­te er end­lich und war schon ver­sucht, das Gan­ze für einen tol­len Traum zu hal­ten, als sein Blick auf das auf dem Ti­sche lie­gen­de gol­de­ne Arm­band fiel. Rasch sprang er von sei­nem La­ger auf und klei­de­te sich an, fest ent­schlos­sen, noch an die­sem Mor­gen die ge­heim­nis­vol­le Frem­de auf­zu­su­chen.

Wäh­rend er eben sei­ne Toi­let­te be­en­de­te, öff­ne­te Ger­hard die Tür und blieb er­staunt auf der Schwel­le ste­hen, als er den of­fe­nen Kof­fer und die ord­nungs­los um­her­ge­streu­ten Klei­dungs­stücke er­blick­te.

»Was?«, rief er aus. »Noch nicht fer­tig mit Pa­cken? Und in ei­ner hal­b­en Stun­de fährt der Zug ab!«

»Ich rei­se nicht, Ger­hard«, ant­wor­te­te Wer­ner und sah dem Freun­de fest ins Auge, »ich – ich habe sie ge­se­hen!«

»Sie? – Wen?«, frag­te die­ser er­staunt.

»Erin­nerst du dich nicht mehr je­ner frem­den Dame, die uns be­geg­ne­te, als wir hier ein­fuh­ren, und die wir da­mals nicht wie­der­fin­den konn­ten?«

»Dei­ne schwar­ze Dame?«, lach­te Ger­hard. »Und des­halb rei­sest du nicht?– Wo hast du sie denn ge­trof­fen, und wann? Wir wa­ren doch bis ge­gen zwölf Uhr ges­tern abend zu­sam­men.«

»Ges­tern abend traf ich sie auf dem Heim­we­ge.«

»Um Mit­ter­nacht?«, lach­te Ger­hard.

»Ich kann dir dei­ne Hei­ter­keit nicht übel­neh­men«, sag­te Wer­ner. »So un­er­klär­lich, wie es dir scheint, ist mir das Gan­ze sel­ber noch, ob­gleich al­les mit sehr na­tür­li­chen Din­gen zu­ging. Aber höre:«

Und nun gab er jetzt dem Freun­de Be­richt über die Vor­gän­ge des letz­ten Abends. Ger­hard horch­te mit ge­spann­ter Auf­merk­sam­keit, ihm ent­ging die Auf­re­gung nicht, in der sich Wer­ner be­fand. Als er aber auf das Arm­band kam, das noch im­mer auf dem Ti­sche lag, sprang Ger­hard auf und sag­te:

»Gott sei Dank! Geis­ter ha­ben kei­ne gol­de­nen Arm­bän­der, dein Ide­al scheint also doch von Fleisch und Blut zu sein. – Hm, ein ganz ein­fa­cher alt­mo­di­scher Reif, ohne das ge­rings­te Zei­chen dar­an, ohne Chif­fre oder Na­mens­zug. – Doch – da ist et­was, das ei­nem Buch­sta­ben ähn­lich sieht – ein A, wenn ich nicht irre. Sieh – hier gleich ne­ben dem Schlos­se. Das frei­lich kann vie­les hei­ßen.«

»Es ver­steht sich von selbst, daß ich ihr heu­te mor­gen mei­nen Be­such ma­che und das ver­lo­re­ne Arm­band wie­der­brin­ge.«

»Ich be­glei­te dich«, rief Ger­hard ent­schlos­sen, »und pro­me­nie­re in­des­sen in der Stra­ße auf und ab. Nach­her habe ich we­nigs­tens den Vor­teil, dei­ne Schil­de­rung gleich aus ers­ter Quel­le zu er­hal­ten.«

Zehn Mi­nu­ten spä­ter etwa wa­ren die bei­den Freun­de un­ter­wegs. Die Stra­ße, wo er sich ges­tern abend zu­erst nach der ei­gent­li­chen Rich­tung um­ge­se­hen und bei ei­nem Nacht­wäch­ter er­kun­digt hat­te, er­reich­ten sie ohne Schwie­rig­keit. Hier aber muß­te Wer­ner sich erst ori­en­tie­ren, und es war schon längst elf Uhr vor­bei, als sie end­lich den ziem­lich brei­ten, nur mit ein­zel­nen Häu­sern be­setz­ten und an der einen Sei­te von nie­de­ren Gar­ten­mau­ern be­grenz­ten Weg er­reich­ten, den er als den rich­ti­gen wie­der­er­kann­te.

Wer­ner ver­folg­te mit ra­sche­ren Schrit­ten die Rich­tung, in der er das Ziel wuß­te. Nach we­ni­gen hun­dert Schrit­ten ka­men sie an eine Mau­er, die sich in ei­nem wei­ten Bo­gen nach rechts hin­über­zog. Da er­kann­te Wer­ner in der Fer­ne das alte düs­te­re Ge­bäu­de und mach­te sei­nen Beglei­ter dar­auf auf­merk­sam.

»In dem al­ten Stein­hau­fen wohnt dei­ne Schö­ne?«, lach­te die­ser. »Das muß ich sa­gen, im In­nern mag es recht hübsch und wohn­lich ein­ge­rich­tet sein, aber von au­ßen sieht es aus, als war­te es nur auf eine güns­ti­ge Ge­le­gen­heit, sei­nen In­sas­sen ohne wei­te­re War­nung über dem Kop­fe zu­sam­men­zu­bre­chen.«

Wer­ner er­wi­der­te nichts. Ihm sel­ber kam das alte Ge­bäu­de gar wüst und ver­fal­len vor.

»Das kann der Ort nicht sein«, nahm Ger­hard das Ge­spräch wie­der auf. »Du mußt dich in der Ge­gend ir­ren.«

»Und ich bin doch recht«, rief Wer­ner, in­dem er nach vorn deu­te­te. »Ich er­ken­ne jetzt das klei­ne, vier­e­cki­ge Türm­chen wie­der; auch der wet­ter­mor­sche Gie­bel stimmt und der klei­ne Bal­kon –«

Er brach plötz­lich ab, und Ger­hard fühl­te, wie er an sei­nem Arme zu­sam­men­schrak. In dem­sel­ben Au­gen­bli­cke riß er sei­nen Hut ab und grüß­te nach dem Hau­se hin­auf. Ger­hard tat das­sel­be; aber ob­gleich er mit ra­schem Bli­cke sämt­li­che Fens­ter der ers­ten Eta­ge über­flog, konn­te er kein ein­zi­ges le­ben­des We­sen dar­in er­ken­nen.

»Hast du sie jetzt ge­se­hen?«

»Hast du sie ge­se­hen?«, frag­te Ger­hard.

»Sie stand ja am Fens­ter.«

»Dann bin ich mit Blind­heit ge­schla­gen; ich habe nicht das Min­des­te ent­deckt. Aber wo willst du denn hin? Ich den­ke, du woll­test ihr das Arm­band zu­rück­ge­ben?«

»Laß uns doch bis zur nächs­ten Ecke ge­hen – mir schlägt das Herz wie ein Ham­mer.«

Schwei­gend gin­gen die bei­den Freun­de noch eine kur­ze Stre­cke wei­ter, kehr­ten dann um und hat­ten nun, sich jetzt dicht an die Mau­er hal­tend, das in der Tat ent­setz­lich ver­fal­le­ne Ge­bäu­de wie­der er­reicht. Wer­ner er­faß­te ohne Zö­gern, nur mit ei­nem scheu­en Blick nach den ver­git­ter­ten Fens­tern, den Klin­gel­griff, den er noch von ges­tern abend im Ge­dächt­nis be­hal­ten hat­te, und zog dar­an – aber der Draht war in der Hül­se ein­ge­ros­tet und reg­te sich nicht, und als er mehr Kraft an­wand­te, riß das mor­sche Ei­sen, und der Ring sel­ber fiel klir­rend zu Bo­den.

Ger­hard lach­te. »Sieh nur, wie die Tür in ih­ren An­geln hängt, und in dem Nes­te soll­te je­mand woh­nen?«

»Aber ich habe sie doch vor­hin ge­se­hen! Sie muß hier woh­nen«, rief Wer­ner und poch­te, fest ent­schlos­sen, an die Tür. Der Schall klang hohl im In­nern wie­der, aber nichts reg­te sich.

Ein Vor­über­ge­hen­der blieb ste­hen.

»Sie ma­chen sich ver­ge­be­ne Ar­beit«, sag­te er. »In dem Hau­se wohnt nie­mand mehr, schon seit sechs oder sie­ben Jah­ren, und es soll jetzt, wenn sich ein Käu­fer fin­det, auf Ab­bruch ver­kauft wer­den.«

»Es wohnt nie­mand hier?«, frag­te Wer­ner un­gläu­big. »Ich habe noch vor we­nig Mi­nu­ten eine Dame dort am Fens­ter ge­se­hen.«

»Mög­lich«, er­wi­der­te der Mann, »die ist dann durch die Hin­ter­tür und vom Kirch­hof her­auf­ge­kom­men!«

»Vom Kirch­hof?«, rie­fen bei­de Freun­de.

»Dies Haus stößt mit sei­nem Hofe an den Got­tesa­cker«, er­klär­te der Mann, »und man er­zählt sich auch wun­der­li­che Ge­schich­ten dar­über; aber die Leu­te spre­chen oft mehr, als sie ver­ant­wor­ten kön­nen. Üb­ri­gens sind die letz­ten Mie­ter, arme Leu­te, die den Zins fast um­sonst hat­ten, wirk­lich nur aus­ge­zo­gen, weil es ih­nen zu un­heim­lich tu dem al­ten Nes­te wur­de. Üb­ri­gens«, setz­te er hin­zu, »kön­nen Sie das Nä­he­re am bes­ten von dem To­ten­grä­ber er­fah­ren, der den Schlüs­sel zu der Hin­ter­tür hat.«

Ger­hard dank­te dem Man­ne für sei­ne Aus­kunft und mach­te dem Freun­de den Vor­schlag, erst den Kirch­hof zu be­su­chen, ob sie der Frem­den viel­leicht dort be­geg­ne­ten, oder, wenn nicht, den To­ten­grä­ber an­zu­spre­chen. Von ihm konn­ten sie dann Nä­he­res er­fra­gen, sich auch viel­leicht sel­ber in dem Hau­se her­um­füh­ren las­sen. Sie brauch­ten ja nur vor­zu­ge­ben, daß sie die Ab­sicht hät­ten, das alte Ge­mäu­er zu kau­fen.

Wer­ner stimm­te zu, und mit ei­nem Um­weg be­tra­ten sie den stil­len Wohn­ort der To­ten, der, mit tau­send Blu­men ge­schmückt, wohl den Na­men ei­nes Got­tes­gar­tens ver­dien­te. Ver­ge­bens aber durch­wan­der­ten sie alle Gän­ge. Sie fan­den wohl hier und da ein­zel­ne Da­men, die der letz­ten Ru­he­stät­te lie­ber Men­schen die ers­ten Len­zes­kin­der brach­ten, aber die Ge­such­te war nicht un­ter ih­nen.

Ger­hard er­bot sich schließ­lich, den To­ten­grä­ber her­bei­zu­ho­len, wäh­rend Wer­ner sei­ne For­schung zwi­schen den Grä­bern noch nicht auf­gab, und eil­te mit ra­schen Schrit­ten der klei­nen, trau­lich ge­le­ge­nen Woh­nung des Al­ten zu.

Die­ser war gern er­bö­tig, dem Wun­sche des Frem­den zu will­fah­ren, nahm sei­nen Schlüs­sel­bund und ging mit ihm den brei­ten Haupt­weg hin­auf.

»Sie sind heu­te mor­gen wohl schon ein­mal in An­spruch ge­nom­men wor­den?«, sag­te Ger­hard, der die Ge­le­gen­heit be­nut­zen woll­te, et­was zu er­fah­ren.

»Heu­te? Nein«, sag­te der Mann, »die Leu­te rei­ßen sich ge­ra­de nicht um den Platz; er liegt weit ab von der ei­gent­li­chen Stadt, und dann baut sich auch nie­mand gern ein Haus dicht an ei­nem Kirch­hof.«

»Aber eine Dame hat doch heu­te mor­gen den Platz be­sucht, nicht wahr?«

»Heu­te? Nein. – Vor acht Ta­gen war ein­mal ein Herr mit ei­ner Dame da; die sind aber nicht wie­der­ge­kom­men.«

»Mir war es fast, als ob ich im Vor­über­ge­hen eine Dame im Fens­ter ge­se­hen hät­te«, sag­te Ger­hard gleich­gül­tig. Aber der Alte schüt­tel­te den Kopf.

»Wenn Sie Spuk­ge­schich­ten über das ›ro­te Haus‹ zu hö­ren wün­schen, müs­sen Sie sich an je­mand an­ders wen­den.«

»Ich kann sie nir­gends fin­den«, sag­te Wer­ner, der in die­sem Au­gen­bli­cke zu ih­nen trat. »War sie im Haus?«

»Nein«, er­wi­der­te ihm Ger­hard. »Ein Freund von mir«, stell­te er ihn dann dem al­ten Mann vor, »er ist Bau­meis­ter, ich bat ihn, sein Gut­ach­ten ab­zu­ge­ben.«

Der Alte lach­te.

»Dazu hät­ten Sie kei­nen Bau­meis­ter ge­braucht«, sag­te er, den freund­li­chen Gruß Wer­ners er­wi­dernd.

Er schloß eine klei­ne ge­wölb­te Tür auf, die ne­ben ei­nem der Gr­ab­ge­wöl­be hin, als ob sie mit zu die­sem ge­hör­te, durch die Mau­er führ­te. Gleich dar­auf be­tra­ten sie den en­gen Ho­fraum, der von den bei­den Flü­geln des ›ro­ten Hau­ses‹ ein­ge­schlos­sen wur­de.

Schon hier sah es ziem­lich wild aus. An den klei­nen Ge­bäu­den, die frü­her zu Stäl­len und Wasch­häu­sern ge­dient hat­ten, wa­ren fast alle Tü­ren, wie das Holz­werk, aus­ge­bro­chen, ein Werk, wie der Alte mein­te, des letz­ten Ge­sin­dels, das hier ge­haust hat­te.

»Und wem ge­hört das Ge­bäu­de jetzt?«

Ei­nem Ad­vo­ka­ten ir­gend­wo in Preu­ßen, lau­te­te die Ant­wort. Er, der alte To­ten­grä­ber, war zum Kas­tel­lan die­ser Haus­lei­che be­stellt wor­den.

Der Alte hat­te, wäh­rend er die­se Aus­kunft gab, die mor­sche Hin­ter­tür auf­ge­schlos­sen, und die bei­den Freun­de be­tra­ten mit ei­nem ei­ge­nen Ge­fühl des Grau­ens den düs­te­ren öden Raum.

Der Alte schritt lang­sam die Trep­pe vor­an; er warn­te, nicht zu fest auf­zu­tre­ten, und bald er­reich­ten sie den nicht hoch­lie­gen­den ers­ten Stock.

Die Un­mög­lich­keit, daß die­ser Platz in den letz­ten Jah­ren be­wohnt sein konn­te, lag auf der Hand. Um so rät­sel­haf­ter war Wer­ner die Sze­ne des vo­ri­gen Abends, fast wie ein Traum, hät­te nicht das Arm­band die Wirk­lich­keit im­mer wie­der frisch und warm ins Ge­dächt­nis zu­rück­ge­ru­fen.

Sie be­tra­ten jetzt die Zim­mer, die einen trau­ri­gen An­blick bo­ten. Schmutz und Ge­rüm­pel über­all. Kei­ne Spur von Wohn­lich­keit. Selbst der mitt­le­re Saal, des­sen zer­fal­le­ne Glas­tür auf den Bal­kon führ­te, glich eher ei­ner aus­ge­räum­ten Rum­pel­kam­mer, als dem Haupt­sa­lon ei­ner ers­ten Eta­ge. Und doch ver­rie­ten ein­zel­ne Spu­ren, daß in die­sen Räu­men einst Glanz und Pracht ge­herrscht und der Reich­tum sie be­wohnt habe. Ein Zim­mer schi­en frü­her mit ei­ner ge­mal­ten Ta­pe­te be­klei­det ge­we­sen, und Wer­ner konn­te kaum einen Auf­schrei un­ter­drücken, als er aus den wei­ßen Ta­pe­ten­strei­fen her­aus ein hal­b­es Men­schen­ge­sicht auf sich her­nie­der­schau­en sah. Je­nes strup­pi­ge Haar, das schie­len­de Auge hat­te er schon ein­mal ge­se­hen; krampf­haft faß­te er den Arm des Freun­des und deu­te­te hin­auf.

Der alte To­ten­grä­ber folg­te eben­falls der an­ge­deu­te­ten Rich­tung und sag­te lang­sam, mit dem Kop­fe ni­ckend:

»Ja, frü­her muß es ein­mal präch­tig hier ge­we­sen sein. Die Ta­pe­te stell­te ein großes Tur­nier vor, und das da oben war wohl eine von den Fi­gu­ren, die vom Bal­kon her­nie­der­schau­ten. Wol­len Sie viel­leicht auch noch den obers­ten Teil des Hau­ses an­se­hen? Dort schaut es aber wo­mög­lich noch wüs­ter aus.«

»Ich dan­ke Ih­nen«, sag­te Ger­hard, der zu sei­nem Schre­cken be­merk­te, daß Wer­ner to­ten­bleich ge­wor­den war.

»Das ist der­sel­be Kopf, den ich im Trau­me ge­se­hen«, flüs­ter­te er dem Freun­de zu, in­dem er den Blick nicht von den kaum noch er­kenn­ba­ren Zü­gen des al­ten Ta­pe­ten­bil­des ab­wen­den konn­te.

»Un­sinn!«, sag­te Ger­hard, dem die Sa­che an­fing un­heim­lich zu wer­den, in­dem er den Arm des Freun­des er­griff und ihn der Tür zu­zog. »Komm fort aus dem al­ten ver­fal­le­nen Ge­mäu­er.«

Un­ten im Hau­se ver­lang­te Wer­ner noch je­nen Raum auf­ge­schlos­sen zu ha­ben, der links von der Haus­tür lag. Es war der­sel­be, aus dem her­aus er das La­chen ge­hört zu ha­ben glaub­te.

Der Alte will­fahr­te ihm au­gen­blick­lich und schloß die Tür auf. Knar­rend dreh­te sie sich in ih­ren An­geln, konn­te aber nur mit Mühe auf­ge­scho­ben wer­den, da ein Teil der De­cke ein­ge­stürzt war und sich vor den Ein­gang ge­legt hat­te. Kei­ner von ih­nen be­trat den dun­keln Raum, aus dem ein feuch­ter Mo­der­duft her­aus­quoll.

Wer­ner, mit sei­nen Ge­dan­ken be­schäf­tigt, sprach kein Wort wei­ter, und da der Alte eben­falls glaub­te, sei­ner Pf­licht ge­nügt zu ha­ben, schloß er die Tür wie­der zu und trat den Rück­weg an.

»Gott sei Dank!«, sag­te Ger­hard und hol­te tief Atem, als sie aus den düs­te­ren Räu­men wie­der hin­aus in das freie, gol­de­ne Son­nen­licht tra­ten.

»Wie son­der­bar dies Gr­ab­ge­wöl­be hier mit der Tür zu­sam­men­ge­baut ist«, be­merk­te Wer­ner, als sie den Got­tesa­cker wie­der be­tra­ten und der Pfört­ner die klei­ne Tür in ihr Schloß zu­rück­drück­te. »Ge­hör­te dies viel­leicht mit zu je­nem Ge­bäu­de?«

»Al­ler­dings«, sag­te der Alte. »Frü­her lag der Kirch­hof weit drau­ßen vor der Stadt, und da­mals soll ein al­ter Mal­te­ser­rit­ter dies Haus hier­her ge­baut ha­ben, ein Ge­lüb­de zu er­fül­len. Wie er starb, zog sei­ne Schwes­ter hier ein, und meh­re­re Ge­ne­ra­tio­nen herrsch­te Glanz und Reich­tum in den jetzt ver­fal­le­nen Räu­men. Nach­her ge­riet die Fa­mi­lie in Ver­fall, und vor etwa hun­dert Jah­ren ist der letz­te Nach­kom­me in der Gruft bei­ge­setzt wor­den.«

»Wer war das?«, frag­te Ger­hard.

»Ein jun­ges Fräu­lein«, sag­te der Alte, »die in der Blü­te ih­rer Jah­re starb. Hier gleich an der Mar­mor­plat­te kön­nen Sie die In­schrift noch le­sen.«

Auch Wer­ner war rasch zu dem Git­ter ge­tre­ten und las auf dem be­zeich­ne­ten Stei­ne die Wor­te:

Ag­nes von Hochs­tet­ten, geb. den 29. Fe­bru­ar 1728 gest. den 29. Fe­bru­ar 1744.

»War sie denn die Letz­te ih­res Stam­mes?«, frag­te Ger­hard. »Das arme Kind hat früh die Erde wie­der ver­las­sen müs­sen.«

»Ich glau­be, ja«, er­wi­der­te der Füh­rer. »Von der Zeit an soll we­nigs­tens das ›ro­te Haus‹ in an­de­ren Hän­den ge­we­sen sein, und ein al­ter wun­der­li­cher Kauz, ein weit­läu­fi­ger Ver­wand­ter der Hochs­tet­ten – ei­ni­ge sa­gen der dem Fräu­lein be­stimmt ge­we­se­ne Bräu­ti­gam – soll hier ge­haust ha­ben.«

Wer­ner stand noch im­mer an dem Git­ter und starr­te auf die alte Mar­mor­plat­te mit ih­rer ein­fa­chen und doch so rüh­ren­den In­schrift, bis Ger­hard dem al­ten Mann für sei­ne Be­mü­hung ein Geld­stück in die Hand drück­te und des Freun­des Arm nahm.

»Wun­der­bar – wun­der­bar!«, flüs­ter­te die­ser und schi­en sich nur ge­walt­sam von dem al­ten Gr­ab­ge­wöl­be los­zu­rei­ßen, auf das er wie ge­bannt den Blick ge­hef­tet hielt.

Wer­ner folg­te, wo­hin der Freund ihn führ­te, war aber auf­fal­lend still und schweig­sam ge­wor­den, und Ger­hard wuß­te am Ende sel­ber nicht mehr, was er von der gan­zen Sa­che den­ken soll­te.

»Gut!«, sag­te er end­lich. »Ein Mit­tel hast du im­mer noch in der Hand. Laß dein ge­fun­de­nes Arm­band in das Mor­gen­blatt rücken und sieh zu, wer sich mel­det. Mög­lich ist’s, daß du da­durch auf die rech­te Spur kommst.«

3

Wer­ner ließ die An­zei­ge über das ge­fun­de­ne Arm­band in das Blatt ein­rücken und er­war­te­te mit Un­ge­duld den Au­gen­blick, in dem sich die Ei­gen­tü­me­rin mel­den wür­de.

In­zwi­schen konn­te es sei­nen Freun­den nicht ver­bor­gen blei­ben, daß mit ihm eine auf­fal­len­de Ver­än­de­rung vor­ge­gan­gen war. Er sah bleich und über­wacht aus; die Au­gen la­gen ihm tief in den Höh­len und hat­ten et­was Scheu­es, Wil­des be­kom­men; sein sonst so elas­ti­scher Gang war un­si­cher ge­wor­den, und Ger­hard be­son­ders riet ihm, einen Arzt zu fra­gen. Wer­ner da­ge­gen ver­si­cher­te, daß er sich voll­kom­men wohl und nur in der Stadt et­was be­engt füh­le.

Doch ihn pei­nig­te die Erin­ne­rung den gan­zen Tag, wäh­rend in der Nacht wil­de Träu­me sei­ne Ruhe stör­ten. Eine furcht­ba­re Macht hat­te Ge­walt über sei­ne Phan­ta­sie ge­won­nen und zehr­te an sei­nem Le­bens­mark. Wenn der Abend kam, trieb es ihn mit ge­heim­nis­vol­ler Kraft je­nem Hau­se zu, als wenn er von dort ein neu­es Zei­chen er­war­te. Dann kehr­te er nach Hau­se zu­rück, im Trau­me mit sei­nen un­heim­li­chen Be­woh­nern sich wei­ter ab­zu­quä­len.

So hat­te er eine vol­le Wo­che ver­bracht und auch wie­der erst ge­gen Mor­gen sein La­ger auf­ge­sucht. Schon schi­en die Son­ne in sein Schlaf­ge­mach, als er sich noch im Schlaf be­un­ru­higt fühl­te. Ihm kam das Ge­fühl, als ob ihn je­mand starr an­sä­he. Lang­sam end­lich und fast ge­walt­sam die noch mü­den Au­gen­li­der öff­nend, fuhr er mit ei­nem Schrei im Bett em­por, denn am Fu­ßen­de ent­deck­te er die auf ei­nem Stuh­le kau­ern­de Ge­stalt ei­nes frem­den Man­nes, der ihn lau­ernd be­trach­te­te.

So­bald Wer­ners Au­gen auf ihm haf­te­ten, ver­zog sich sein Ge­sicht zu ei­nem freund­li­chen, fast sü­ßen Lä­cheln.

»Ich muß tau­send­mal um Ver­zei­hung bit­ten, mein hoch­ver­ehr­tes­ter Herr, Sie zu so frü­her Mor­gen­stun­de zu stö­ren.

Ich kom­me nur mit ei­ner ein­fa­chen Fra­ge. Sie ha­ben eine An­non­ce in die Zei­tung rücken las­sen, nach der Sie in der Gar­ten­stra­ße ein gol­de­nes Arm­band ge­fun­den ha­ben. Ich bin von der Ei­gen­tü­me­rin ab­ge­sandt, es an­zu­se­hen und, wenn Sie eine Be­loh­nung be­an­spru­chen, ge­gen Zah­lung zu re­kla­mie­ren.«

Wer­ner hat­te sich un­will­kür­lich im Bett em­por­ge­rich­tet.

»Wie heißt die Dame?«, frag­te er rasch und er­rö­te­te da­bei zu­gleich, als er den wie spöt­tisch lä­cheln­den Blick des Frem­den fest auf sich haf­ten sah.

»Der Name tut wohl nichts zur Sa­che«, mein­te die­ser mit ei­ner ver­bind­li­chen Ver­beu­gung, die aber eben­so­gut wie Hohn als wie Höf­lich­keit aus­sah. »Zu­erst möcht’ ich den Schmuck se­hen, um zu wis­sen, ob es der rich­ti­ge ist.«

»Dann bit­te ich Sie, sich einen Au­gen­blick in das Ne­ben­zim­mer zu ver­fü­gen«, sag­te Wer­ner, »ich will mich rasch an­klei­den und ste­he au­gen­blick­lich zu Ihren Diens­ten.«

Der Frem­de stand von sei­nem Stuhl auf und hin­k­te dem be­schrie­be­nen Zim­mer zu.

Der jun­ge Mann be­en­de­te rasch sei­ne Toi­let­te; gleich dar­auf be­trat er sein klei­nes Ate­lier.

Der Frem­de hat­te in­des­sen ein noch un­voll­en­de­tes Bild von ei­ner Staf­fe­lei ge­nom­men und be­trach­te­te es mit dem größ­ten In­ter­es­se.

»Mein Herr«, rief Wer­ner, kei­nes­wegs er­freut, »die­ses Bild –«

»Ist aus­ge­zeich­net«, ent­geg­ne­te der an­de­re, ohne im min­des­ten das Un­schick­li­che sei­nes Be­neh­mens zu füh­len; »ganz aus­ge­zeich­net, sage ich Ih­nen.«

»Die­ses Bild«, sag­te Wer­ner, »war kei­nes­wegs be­stimmt, von ir­gend –«

»Kann es mir den­ken« lach­te das klei­ne Un­ge­heu­er, in­dem er das Bild vor sich auf die Staf­fe­lei stell­te und sich ver­gnügt da­bei die Hän­de rieb. »Soll­te je­den­falls eine Über­ra­schung für mich von mei­ner Braut wer­den.«

»Von Ih­rer Braut?«, rief der Ma­ler er­schreckt, und es war ihm, als ob eine To­ten­hand an sein Herz grif­fe.

»Ver­steht sich, ver­steht sich!«, schmun­zel­te der Alte, und sein Ge­sicht ver­zerr­te sich, wie es dem jun­gen Man­ne vor­kam, fast zur Frat­ze. »Unend­lich zar­te Auf­merk­sam­keit das.«

Wer­ner muß­te sich an die Stuhl­leh­ne hal­ten, um nicht um­zu­sin­ken. Der Frem­de muß­te die Fra­ge nach dem Arm­band wie­der­ho­len, ehe Wer­ner nur hör­te, was je­ner sag­te. Mecha­nisch wi­ckel­te er dann den Gold­reif aus dem Pa­pier und hielt ihn dem has­tig da­nach Lan­gen­den ent­ge­gen.

Aber die­se Hast des un­heim­li­chen Men­schen brach­te ihn wie­der zu sich sel­ber. Es war ihm, als ob er in die­se Hän­de das Hei­lig­tum nicht über­lie­fern dürf­te, er zog den Schmuck zu­rück und sag­te:

»Ehe ich Ih­nen das Arm­band über­ge­be, muß ich wis­sen, ob Sie be­voll­mäch­tigt sind. Es ge­hört je­den­falls ei­ner Dame, und ich hat­te mir vor­ge­nom­men, es nur de­ren ei­ge­nen Hän­den wie­der zu über­ge­ben.«

»Un­sinn, ver­ehr­ter Herr, ba­rer Un­sinn!«, ent­geg­ne­te der klei­ne Mann und tat einen ver­geb­li­chen Griff nach dem gol­de­nen Ban­de. Wer­ner wur­de im­mer zu­rück­hal­ten­der.

»Den­noch er­lau­ben Sie mir«, sag­te er ent­schie­den, »daß ich bei mei­nem Vor­sat­ze be­har­re, ihn der Ei­gen­tü­me­rin ei­gen­hän­dig aus­zu­lie­fern.«

»Wür­de das mit Ver­gnü­gen tun«, er­wi­der­te der Frem­de, in­dem sich sein Ge­sicht zu ei­nem süß­li­chen Lä­cheln ver­zog, »aber – die Dame ist ge­ra­de ver­reist und hat mich be­auf­tragt, den Schmuck für sie in Empfang zu neh­men.«

Wer­ner zuck­te die Ach­seln. »Dann be­hal­te ich den Schmuck, bis sich eine Ge­le­gen­heit bie­tet. Sie wis­sen jetzt, in wes­sen Hän­den er ist.«

»Sehr wohl«, sag­te mit ei­nem bö­sen Blick der Lah­me. »Ew. Wohl­ge­bo­ren wer­den dann schon heut abend dazu Ge­le­gen­heit be­kom­men, da die Dame bis da­hin, frei­lich et­was spät, zu­rück­kehrt. Ich wer­de sie am Bahn­hof er­war­ten und mir dann das Ver­gnü­gen ma­chen, Sie ab­zu­ho­len. Sind Sie ein­ver­stan­den?«

»Gern«, sag­te Wer­ner. »Zu wel­cher Stun­de darf ich Sie er­war­ten?«

»Weiß ich noch nichts mein Bes­ter«, er­wi­der­te der Frem­de.

»Sie sol­len mich be­reit fin­den.«

»Sehr schön – aber – was ich noch fra­gen woll­te, wann, in al­ler Welt, hat Ih­nen denn die jun­ge Dame zu dem Bil­de ge­ses­sen? Ich weiß mich doch kei­ner Zeit zu er­in­nern – aber halt – ant­wor­ten Sie mir nicht«, un­ter­brach er sich plötz­lich wie­der mit dem näm­li­chen sü­ßen, wi­der­li­chen Lä­cheln, »die Fra­ge wäre un­ter den jet­zi­gen Ver­hält­nis­sen in­dis­kret. Ich habe die Ehre, mich Ih­nen ganz ge­hor­samst zu emp­feh­len. Bit­te, ich fin­de mei­nen Weg schon al­lein, bin hier be­kannt im Hau­se.«

Er öff­ne­te die Tür und eil­te hin­aus. Wer­ner ging ihm nach, um ihn an die Trep­pe zu ge­lei­ten, sah ihn aber nicht mehr. Der Bur­sche, der mor­gens Wer­ners Klei­der rei­nig­te, kam eben die Trep­pe her­auf und muß­te ihm be­geg­net sein.

»Hast du den Herrn ge­se­hen, der in die­sem Au­gen­blick die Trep­pe hin­un­ter­ging?«

»Den Herrn?«, frag­te der Bur­sche und sah erst rück­wärts und dann Wer­ner an. »Mir ist nie­mand be­geg­net.«

Wer­ner stand be­trof­fen. Dann kehr­te er wie im Trau­me in sein Zim­mer zu­rück. Hier schloß er sich ein und nahm sei­ne Ar­beit wie­der vor, das Bild der hol­den, ge­heim­nis­vol­len Un­be­kann­ten aus dem Ge­dächt­nis zu vollen­den.

Er ar­bei­te­te mit re­gem Ei­fer, und das Bild wuchs ihm un­ter den Hän­den, er wuß­te selbst nicht wie.

So ver­ging ihm der Tag, er wuß­te sel­ber kaum wie rasch. Ver­schie­de­ne Male klopf­ten Freun­de an sei­ne Tür, er ant­wor­te­te ih­nen nicht. Aber wie nun das Bild in grö­ße­rer Le­bens­fri­sche aus der Lein­wand sprang, fühl­te er, daß sich ihm sel­ber neue Lust und Freu­de durch die Adern goß. Im­mer ra­scher schlu­gen sei­ne Pul­se, sei­ne Stirn brann­te, sei­ne Au­gen glüh­ten, und fri­scher und le­ben­di­ger trat da­bei das Ide­al vor sei­ne Phan­ta­sie. Zug um Zug konn­te er er­ken­nen: den fei­nen Ro­sen­schim­mer der zar­ten Haut, den feuch­ten Glanz des Au­ges, das sanf­te Wo­gen selbst ih­rer Brust, und jetzt – ent­setzt trat er einen Schritt zu­rück, denn vor ihm, le­bend, at­mend, stand – nicht mehr nur das Bild sei­ner er­reg­ten Ein­bil­dungs­kraft, nicht mehr ein Schat­ten, den sich die auf­ge­rühr­ten Sin­ne aus dunk­ler Nacht her­auf­be­schwo­ren, stand die Ge­lieb­te sel­ber in all der zau­ber­haf­ten Schön­heit vor ihm da, und leb­los brach er an der Staf­fe­lei zu­sam­men.

Wie lan­ge er so ge­le­gen, er wuß­te es nicht. Als er wie­der zu sich kam, däm­mer­te schon der Abend, und vor ihm, auf der Staf­fe­lei, stand das vollen­de­te Bild der Frem­den in fast schre­cken­er­re­gen­der Wahr­heit und Treue.

Wer­ner konn­te sich nicht los­rei­ßen von den lie­ben Zü­gen, und mit je­dem Au­gen­bli­cke sog er das süße Gift tiefer ein in sei­ne See­le. So rück­te der Abend mehr und mehr her­auf.

Um neun Uhr end­lich klopf­te es an die Tür, und als er die­se rasch öff­ne­te, stand Ger­hard vor ihm, der ihn ver­wun­dert vom Kopf bis zu den Fü­ßen be­trach­te­te.

»Du bist es?«, frag­te Wer­ner.

»Hast du je­mand an­der­s er­war­tet?«, lach­te der Freund, »wes­halb so an­ge­zo­gen? – Willst du in Ge­sell­schaft? Aber – um Got­tes wil­len, Wer­ner, du siehst to­ten­bleich aus! Ich will bei dir blei­ben.«

»Ich dan­ke dir herz­lich«, sag­te Wer­ner, ver­le­gen lä­chelnd. »Nur ein we­nig an­ge­strengt ge­ar­bei­tet habe ich die letz­ten Tage. Ein paar Tage Zer­streu­ung in den Ber­gen macht al­les wie­der gut.«

»Aber dann geh auch in die Ber­ge«, dräng­te Ger­hard mit herz­li­cher Bit­te. »Du mußt Zer­streu­ung ha­ben. Ich gehe mit dir.«

Er hielt ihm die Hand hin. Wer­ner leg­te zö­gernd die sei­ne hin­ein.

»Fest kann ich es nicht ver­spre­chen«, sag­te er, »bald aber, viel­leicht schon heu­te, wird es sich ent­schei­den, ob ich fort kann, und dann ge­hen wir zu­sam­men. Ist dir das recht?«

»Es muß ja wohl sein«, sag­te der Freund, »mir ist al­les recht, wenn ich dich nur fort­brin­gen kann.«

Ger­hard blieb noch zö­gernd ste­hen. Es war ihm nicht ent­gan­gen, daß sich Wer­ner in ei­ner Art Auf­re­gung be­fand und, wäh­rend er mit ihm sprach, oft nach ei­nem Geräusch drau­ßen auf­horch­te.

»Hast du noch et­was vor heut abend«, frag­te er end­lich, »oder Lust, mich noch ein Stünd­chen zu be­glei­ten? Wir tref­fen uns in Beh­lers Kel­ler drau­ßen, nicht sehr weit von der Gar­ten­stra­ße, mit meh­re­ren Be­kann­ten.«

»Heu­te kann ich nicht«, sag­te Wer­ner rasch, »we­nigs­tens jetzt noch nicht. Vi­el­leicht kom­me ich spä­ter nach, ehe ihr aus­ein­an­der geht.«

»Du er­war­test Be­such?«

»Eine Ge­schäftssa­che.«

»So will ich dich nicht län­ger stö­ren. Bis elf oder halb zwölf triffst du uns dort. Gu­ten Abend, Wer­ner!«

»Gu­ten Abend, Ger­hard!«

4

Ger­hard ging, und Wer­ner schritt in im­mer pein­li­che­rer Un­ge­duld in sei­nem Zim­mer auf und ab. Es schlug zehn Uhr, nie­mand kam, ihn ab­zu­ho­len. Es schlug elf, er hör­te nur die Haus­tür un­ten zu­schla­gen und ver­schlie­ßen; der er­war­te­te Frem­de kam nicht, und Wer­ner griff schon nach Hut und Stock, als er drau­ßen Schrit­te auf der Trep­pe hör­te. Er horch­te – die Schrit­te hiel­ten vor sei­ner Tür, es klopf­te bei ihm an. Wer­ners Herz stand fast still. Er war nicht im­stan­de, »He­rein« zu ru­fen, als sich die Tür lang­sam öff­ne­te und auf der Schwel­le, den Hut in der Hand, mit dem­sel­ben wi­der­li­chen Lä­cheln, der Frem­de stand.

»Ich muß in­stän­digst um Ent­schul­di­gung bit­ten«, sag­te der Lah­me, in­dem er ins Zim­mer glitt, »aber mei­ne ver­ehr­te Braut hat­te den ers­ten Zug ver­säumt und ist erst vor etwa ei­ner hal­b­en Stun­de ein­ge­trof­fen. Wenn es Ih­nen jetzt noch be­liebt, mein Bes­ter.«

»Aber wer­den wir die Dame so spät noch stö­ren dür­fen?«, frag­te Wer­ner. »Sie wird von der Rei­se an­ge­grif­fen sein.«

»O be­wah­re! Frisch wie ein Fisch im Was­ser«, lach­te der Klei­ne. »Sie ha­ben doch das Arm­band bei sich?«

»Ge­wiß«, er­wi­der­te Wer­ner und fühl­te nach der Ta­sche, in der er es trug.

Der klei­ne Mann folg­te der Be­we­gung mit dem einen Auge und rieb sich ver­gnügt die Hän­de: »Vor­treff­lich, vor­treff­lich, mein Bes­ter!«

Rasch stieg er die Trep­pe hin­un­ter, so daß ihm Wer­ner kaum zu fol­gen ver­moch­te, und erst an der Haus­tür mach­te er Halt, die er ver­schlos­sen fand.

»Aha«, lach­te er, »der wür­di­ge Bür­ger hat sei­ne Zug­brücke schon auf­ge­zo­gen und sein Schloß für die Nacht ver­bar­ri­ka­diert.«

Wer­ner öff­ne­te schwei­gend die Tür, die er wie­der hin­ter sich schloß, und laut­los schrit­ten bei­de die stil­len Stra­ßen ent­lang. End­lich er­reich­ten sie die Gar­ten­stra­ße und folg­ten der Mau­er, die dem ›ro­ten Hau­se‹ un­mit­tel­bar zu­führ­te. Die ein­zi­ge Per­son, die sie noch auf der Stra­ße tra­fen, war der Nacht­wäch­ter; der eben, als es vom Tur­me zwölf schlug, die Stun­de ab­rief.

»Und wohnt die Dame wirk­lich in dem ›ro­ten Hau­se‹?«, brach Wer­ner zum ers­ten­mal das Schwei­gen.

»Im ›ro­ten Hau­se‹?«, frag­te der Frem­de. »Wir stei­gen je­des­mal hier ab, wenn wir nach M– kom­men. Aber da sind wir schon an Ort und Stel­le. Ich wer­de gleich« – er such­te ver­ge­bens nach dem Klin­gel­zu­ge und stampf­te är­ger­lich mit dem Fuße: »Da hat die ver­wünsch­te Stra­ßen­brut wie­der den Glo­cken­zug ab­ge­dreht. Ich wer­de auch mor­gen An­zei­ge bei der Po­li­zei ma­chen und mich be­schwe­ren.«

Zu­gleich klopf­te er zwei­mal lang­sam an die Haus­tür, wäh­rend Wer­ner ein paar Schrit­te von dem Ge­bäu­de ab­trat, um zu den Fens­tern hin­auf­zu­se­hen. Oben war al­les to­ten­still und öde; kein Licht­strahl aus den lee­ren Fens­tern ver­riet ein le­ben­des We­sen, und in der ster­nen­hel­len, aber von kei­nem Mond­strahl er­leuch­te­ten Nacht lag das alte Ge­bäu­de fins­ter und un­heim­lich da.

Wie­der knack­te das Schloß der Tür wie an je­nem ers­ten Abend, und der Frem­de sag­te:

»So, mein Bes­ter! Jetzt sind wir am Zie­le, und nun möch­te ich Sie freund­lichst er­su­chen nä­her­zu­tre­ten. Die Da­men wer­den uns wahr­schein­lich schon er­war­ten.«

»Aber ich be­grei­fe nicht«, sag­te Wer­ner, »dies öde Ge­bäu­de kann doch nicht be­wohnt sein?«

»Öde Ge­bäu­de?«, lach­te der Frem­de, wäh­rend er die Tür hin­ter dem Ein­ge­tre­te­nen wie­der ins Schloß warf. »Nicht übel! Mei­nen wohl, mein Ver­ehr­tes­ter, weil es noch so dun­kel ist? – Wer­den gleich Licht ma­chen.«

Kaum hat­te er dies ge­sagt, als er auf täu­schen­de Wei­se den Ruf der klei­nen Eule, ge­wöhn­lich der To­ten­vo­gel ge­nannt, nach­ahm­te. In dem­sel­ben Au­gen­bli­cke wur­den oben an der Trep­pe Schrit­te laut, La­kai­en eil­ten mit bren­nen­den Tra­ge­leuch­tern her­ab, und rechts und links ent­zün­de­ten sich zu glei­cher Zeit weit­ar­mi­ge Wand­leuch­ter, die ein war­mes, fast blen­den­des Licht durch den wei­ten Raum ström­ten.

Wer­ner trau­te sei­nen Au­gen kaum, so hat­te sich der Platz ver­wan­delt. Von Licht und Glanz durch­flos­sen, fie­len die blen­den­den Strah­len nicht mehr auf kah­le Wän­de und fau­le Trüm­mer, son­dern zier­li­che, mit sel­te­ner Kunst aus­ge­schmück­te Re­liefs, hier und da von Fres­ko­ma­le­rei­en un­ter­bro­chen, schmück­ten die Wän­de, und wei­che Tep­pi­che deck­ten den Bo­den.

Sein Füh­rer aber ließ ihm kei­ne Zeit, sich zu be­sin­nen, son­dern flüs­ter­te mit dem fa­ta­len, süß­li­chen Lä­cheln, in­dem er sich an ihn dräng­te:

»Kom­men Sie, Lieb­wer­tes­ter, kom­men Sie! Wir ver­säu­men hier die kost­ba­re Zeit, die uns nur sehr knapp zu­ge­mes­sen ist. Mei­ne Braut er­war­tet uns in pein­lichs­ter Un­ge­duld.«

Da­bei hin­k­te er, so rasch es ihm der lah­me Fuß ge­stat­te­te, der Trep­pe zu. Wil­len­los folg­te ihm Wer­ner. Wie auf wei­chem Moos stieg er die be­leg­ten Stu­fen hin­an, in im­mer neu­en Glanz, in neue Pracht hin­ein.

Über­all stan­den La­kai­en in glän­zen­den Li­vreen, und oben an der Trep­pe, wäh­rend die Flü­gel­tü­ren des Sa­lons auf­ge­wor­fen wa­ren und ein wah­res Feu­er­meer von Glanz und Licht aus­ström­ten, spru­del­ten klei­ne Fon­tä­nen wohl­rie­chen­de Was­ser aus.

Wer­ner stand wie ge­bannt. Sein wi­der­li­cher Beglei­ter flüs­ter­te ihm et­was ins Ohr, da ward eine an­de­re Tür plötz­lich auf­ge­wor­fen, und eine gan­ze Ge­sell­schaft glän­zend ge­klei­de­ter Da­men und Ka­va­lie­re wur­de sicht­bar. Aber Wer­ner hat­te nur Sinn für die eine; vor ihm, mit al­lem Zau­ber über­gos­sen, und da­bei von Dia­man­ten über­deckt, stand in vollen­de­ter Schö­ne die Ge­lieb­te.

Er woll­te spre­chen, brach­te aber kein Wort über die Lip­pen. Stumm schau­te er der Dame in die freund­li­chen Au­gen.

»Es ist schön von Ih­nen«, sag­te die­se, und ihre Stim­me klang me­lo­disch und lei­se, »daß Sie mich gleich bei mei­ner An­kunft hier be­grü­ßen. Ich hat­te im­mer ge­hofft«, setz­te sie dann lang­sa­mer und mit leich­tem Er­rö­ten hin­zu, »Sie in der lan­gen Zwi­schen­zeit wie­der ein­mal bei mir zu se­hen, aber um­sonst, und mei­ne klei­ne Rei­se ließ sich auch nicht auf­schie­ben.«

»Mein sü­ßes Le­ben«, nahm hier plötz­lich der Lah­me das Wort, in­dem er sich mit selt­sa­men Ver­beu­gun­gen zwi­schen die bei­den jun­gen Leu­te dräng­te, »ich habe hier das un­schätz­ba­re Ver­gnü­gen, Ih­nen den au­ßer­or­dent­lich ge­schick­ten Por­trät­ma­ler Wer­ner vor­zu­stel­len. Herr Wer­ner, mit Stolz und Freu­de stel­le ich Ih­nen Fräu­lein Ag­nes von Hochs­tet­ten vor, mei­ne ver­ehr­te und ge­lieb­te Braut, die –«

»Halt! – Nicht so rasch!«, rief fast zor­nig die jun­ge Dame da­zwi­schen, »den Ti­tel ver­die­ne ich noch nicht, Herr Graf.«

»Aber, mei­ne Al­ler­ver­ehr­tes­te –«

»Ge­nug«, lau­te­te der erns­te Be­scheid, »und nun, mein Freund«, wand­te sie sich wie­der mit ge­win­nen­dem Lä­cheln an den jun­gen Mann, in­dem sie ihm, ohne den Gra­fen wei­ter zu be­ach­ten, die Hand reich­te, »tre­ten Sie ein bei uns und las­ten Sie uns ein Stünd­chen froh ver­plau­dern.«

»Ag­nes von Hochs­tet­ten?«, wie­der­hol­te Wer­ner wie träu­mend. »War das nicht der Name je­ner sech­zehn­jäh­ri­gen Jung­frau, die drau­ßen auf dem Kirch­hof in ih­rem stei­ner­nen Sar­ge schon ein Jahr­hun­dert lang be­gra­ben liegt?«

Ag­nes sah ihm starr und ernst in die Au­gen, dann aber leg­te sich wie­der das lie­be Lä­cheln um die zar­ten Lip­pen, und sie sag­te freund­lich:

»Pfui doch, lie­ber Freund, wer wird von dem Gra­be spre­chen! Uns al­len steht es be­vor, doch wes­halb vor der Zeit die­se trau­ri­gen Bil­der her­auf­be­schwö­ren? Lie­ber will ich Sie jetzt ein­füh­ren.«

»Und je­ner Graf?«, frag­te Wer­ner mit angst­be­klemm­ter Stim­me. »Ist es wahr – daß er – daß er ein Recht be­an­sprucht auf die­se schö­ne Hand?«

Die Jung­frau warf ver­ächt­lich den Kopf zu­rück und sag­te fins­ter:

»Daß er es be­an­sprucht, glaub’ ich wohl, und durch einen un­glück­li­chen Zu­fall wäre ich auch fast in sei­ne Ge­walt ge­ge­ben. Doch da­von nach­her! – Hier kom­men schon die edeln Her­ren und Frau­en, die sich im Tur­nier­saal ver­sam­melt ha­ben und uns er­war­ten.«

Zu­gleich be­trat sie mit ihm das wei­te Ge­mach, das Wer­ner jetzt, dem Üb­ri­gen ent­spre­chend, mit fa­bel­haf­tem Glanz ge­schmückt fand. Aber über die Grup­pen statt­li­cher und reich ge­putz­ter Her­ren und Da­men hin, die über­all aus und ein ström­ten, flog sein Auge un­will­kür­lich nach den bun­ten, reich ge­stick­ten sei­de­nen Ta­pe­ten, die die Wän­de deck­ten und in de­ren Bil­dern er auf den ers­ten Blick das von dem al­ten To­ten­grä­ber be­schrie­be­ne Tur­nier er­kann­te. Auf dem sich rings um­her­zie­hen­den Bal­kon aber sa­ßen in wei­ter ge­schmück­ter Rei­he edle Frau­en, und dort – un­ter Tau­sen­den hät­te er die hol­den Züge wie­der er­kannt, – war auch ihr lie­bes En­gel­san­ge­sicht, wäh­rend dicht hin­ter ihr die bos­haft schie­len­den Au­gen, das strup­pi­ge Haar je­ner Teu­fels­frat­ze nie­der­starr­te, in der Wer­ner ent­setzt das ver­zerr­te Bild des Gra­fen er­kann­te.

Fast er­schreckt schau­te er sich im Saa­le um. Da be­geg­ne­te er nicht weit ent­fernt zwi­schen zwei der dicht ver­han­ge­nen Fens­ter dem­sel­ben bos­haft zu ihm her­über­blit­zen­den Auge, das auch aus dem Bil­de der Ta­pe­te nie­der­grins­te.

Noch starr­te Wer­ner, wie von dem Auge ge­bannt, hin­über, als plötz­lich eine leich­te Hand sei­nen Arm be­rühr­te und Ag­nes flüs­ter­te:

»So ernst, mein Freund? Licht und Glanz scheint dich nicht auf­zu­hei­tern – viel­leicht ver­mag es die Mu­sik.«

Sie klatsch­te zwei­mal in die Hän­de, und ein un­sicht­ba­res Or­che­s­ter mit ge­dämpf­ten In­stru­men­ten be­gann eine sanf­te, wun­der­schö­ne Sym­pho­nie. Sie selbst aber führ­te den jun­gen Mann, der sich an ih­rer Hand der Erde ent­rückt wähn­te, in ein klei­nes, nur von ei­ner düs­te­ren Am­pel er­hell­tes Ne­ben­ge­mach und wink­te ihm auf ei­nem Ses­sel ne­ben ihr Platz zu neh­men.

Wer­ner such­te ge­walt­sam den Zau­ber zu ban­nen, der ihn um­dräng­te. »Ich fas­se nicht«, rief er, »ich be­grei­fe nicht, was um mich her vor­geht und wo ich bin. – Atme und lebe ich über­haupt?«

Die Jung­frau schau­te ihm lä­chelnd und fest ins Auge. »Hast du nie ge­lernt, den Au­gen­blick zu ge­nie­ßen? Muß denn im­mer ein Schre­ckens­ge­spenst die fro­he Stun­de des Glückes trü­ben?«

»Kann es denn an­ders sein?«, rief Wer­ner in lei­den­schaft­li­cher, schmerz­li­cher Auf­re­gung. »Du hol­des Bild lebst hier in all dem Glanz, ich bin ein ar­mer hei­mat­lo­ser Wan­ders­mann. Wa­rum ward mir er­laubt, die Hand nach ei­ner Frucht aus­zu­stre­cken, die dem ar­men Ma­ler un­er­reich­bar fern liegt?«

Er barg sein Ant­litz in den Hän­den, und die hei­ßen Trä­nen perl­ten ihm zwi­schen den krampf­haft ge­spann­ten Fin­gern durch.

»So un­er­reich­bar?«, sag­te sie mit lei­ser Stim­me, die aber zu den in­ners­ten Fa­sern sei­nes Her­zens drang. Rasch und fast er­schreckt schau­te er zu ihr auf.

»Und wäre es nicht?«, rief er, von sei­nem Ses­sel auf­sprin­gend, und sank, wäh­rend er des Mäd­chens Hand er­griff, in schwin­deln­dem Ent­zücken zu ih­ren Fü­ßen nie­der.

»Nicht so, mein teu­res Herz«, sag­te das wun­der­schö­ne Weib. »Ich kann dich nicht vor mir im Stau­be se­hen, wenn ich durch dich sel­ber Licht und Frei­heit wie­der­er­hal­ten soll.«

»Durch mich?«, rief Wer­ner und sah er­staunt zu ihr auf.

»So höre denn«, flüs­ter­te die Jung­frau, wäh­rend sie ihn mit lei­ser Ge­walt vom Bo­den hob und es wil­lig ge­sche­hen ließ, daß er ihre Hand be­hielt und mit hei­ßen Küs­sen be­deck­te. »Ich bin nicht frei und glück­lich; eine frem­de Macht hat Ge­walt über mich. Nur ein Ge­schenk aus rei­ne­rer Hand ent­hob mich ih­rem Ein­flüs­se, ein ein­fach gol­de­ner Reif, den ich bis jetzt an mei­nem Arme trug, von Feen­kraft ge­weiht. So­gar die Eule, die dir dort als Graf er­schi­en, muß­te sich dem mäch­ti­gen Schut­ze beu­gen. Da woll­te es mein bö­ses Ge­schick, daß ich an je­nem Aben­de das Klein­od von mei­nem Arme ver­lor.«

»Die Eu­le? – Der Graf?«, wie­der­hol­te Wer­ner in un­be­grenz­tem Er­stau­nen. »Von Feen­kraft ge­weiht? Ist denn al­les, was mich hier um­gibt, nur tol­les Blend­werk mei­ner Sin­ne?«

»Blend­werk?«, sag­te die Jung­frau lä­chelnd und schüt­tel­te mit dem Kop­fe. »Wirk­lich­keit? – Wer von al­len Sterb­li­chen wäre im­stan­de, das zu un­ter­schei­den?«

»Oh«, sprach Wer­ner und streck­te ihr in To­des­angst die Arme ent­ge­gen, »der Ge­dan­ke schon ist Wahn­sinn, daß auch du, Himm­li­sche, ein Blend­werk sein und mir ent­schwin­den könn­test.«

»Still – still – die Eule naht!«, sag­te Ag­nes plötz­lich, in­dem sie war­nend den Fin­ger hob. »Das Arm­band jetzt, ich muß es ha­ben!«

Wer­ner griff in die Ta­sche, in der er in Pa­pier ein­ge­schla­gen das Arm­band trug, als plötz­lich der Lah­me, das wi­der­wär­ti­ge Ge­sicht zu ei­nem bos­haf­ten Lä­cheln ver­zerrt, in der Tür er­schi­en, auf Ag­nes zu­ging, sich tief vor ihr ver­beug­te und dann, ohne ein Wort zu sa­gen, die bei­den lan­gen Arme in die Höhe warf. In dem­sel­ben Au­gen­blick flo­gen rechts und links die schwer­sei­de­nen Gar­di­nen zu­rück, und da­hin­ter, Rei­he an Rei­he ge­drängt, stan­den die Gäs­te, im Halb­kreis um ein klei­nes al­tar­ar­ti­ges Ge­stell, auf dem ein mit schwe­rem Ei­sen ver­schlos­se­nes rot und schwar­zes Buch und ein blan­ker Dolch la­gen.

»Sehr ver­ehr­te Da­men und Her­ren«, rief der Graf mit schar­fer, gel­len­der Stim­me, »ich habe Sie heut abend zu uns ein­ge­la­den, Zeu­gen ei­ner fei­er­li­chen Hand­lung zu sein, die mich zu dem glück­lichs­ten We­sen über und un­ter der Erde, Ag­nes von Hochs­tet­ten aber zu mei­nem ehr­ba­ren Wei­be ma­chen wird.«

»Halt ein, Un­glück­se­li­ger!«, un­ter­brach ihn die Jung­frau und schleu­der­te die nach ihr aus­ge­streck­te Hand des Wi­der­li­chen in Zorn und Ab­scheu zu­rück. »Noch bin ich nicht in dei­ner Macht, noch hab’ ich mei­ne Frei­heit, und ich will sie wah­ren bis zur letz­ten Stun­de des Ge­richts. Du ver­ga­ßest das Arm­band, das du sel­ber mir wie­der in die Hän­de lie­fern muß­test. – Her zu mir jetzt, Hel­fer in der Not!«, rief sie, streck­te ihre Arme dem wie in Ver­zückung ste­hen­den Wer­ner ent­ge­gen, »gib mir das Band, mein Ret­ter aus mehr als To­des­qual – das Band – das gol­de­ne Band.«

Der Lah­me sprach kein Wort, reg­te kein Glied, nur das höh­ni­sche Lä­cheln zuck­te über sei­ne Züge, als Wer­ner den gol­de­nen Rei­fen, den er in der Hand hielt, rasch und mit fie­ber­haf­ter Angst aus der Pa­pier­hül­le be­frei­te.

»Hier«, sag­te er, »hier nimm, Ge­lieb­te.«

»Was ist das?«, un­ter­brach ihn Ag­nes, in­dem sie to­ten­bleich zu­rück­trat und die aus­ge­streck­ten Arme jetzt wie ab­weh­rend ihm ent­ge­gen­hielt. »Un­glück­li­cher – ich bin ver­lo­ren!«

»Haha!«, lach­te der Graf, »was ha­ben wir da, Ver­ehr­tes­te, ein gol­de­nes Arm­band? Das ist ja der Ring von der Stra­ßenklin­gel, den Ew. Wohl­ge­bo­ren aus Ver­se­hen ein­ge­steckt ha­ben.«

Wer­ner stand wie zu Stein er­starrt.

»Was ist das?«, rief er mit vor in­ne­rer Angst fast er­stick­ter Stim­me. »Wie kommt der Ring in mei­ne Ta­sche und wo ist der Schmuck, den ich –«

»Der Schmuck?«, kreisch­te der Lah­me, »hier ist das Arm­band – hier in mei­ner Hand. Ich habe den Schatz, das ech­te Band, das dich, mein hol­des Lieb­chen, an mich fes­selt für die Ewig­keit.«

»Wir gra­tu­lie­ren, wir gra­tu­lie­ren!«, rie­fen die An­we­sen­den und beug­ten sich und knicks­ten und weh­ten mit den Tü­chern, und das lah­me Un­ge­heu­er hin­k­te auf die wie zu Mar­mor er­starr­te Schö­ne zu, die wie ein ge­scheuch­tes Reh dem Ti­sche zu floh, auf dem das Buch und der Dolch la­gen.

»Ret­te mich vor ihm«, rief sie und brach vor dem Tisch ohn­mäch­tig nie­der. Wie elek­trisch Feu­er schoß der Hil­fe­ruf durch Wer­ners Adern.

»Teu­fel!«, schrie er, in­dem er in we­ni­gen Sät­zen an dem Tisch war und den blan­ken Dolch vom Buch her­un­ter­riß, »Ta­schen­dieb! Mit dei­nem Le­ben hol’ ich mir mein Ei­gen­tum zu­rück!« Mit den Wor­ten warf er sich, sei­ner Sin­ne kaum noch mäch­tig, auf den Gra­fen, der vor der blan­ken Waf­fe scheu zu­rück­wich. In wil­der Hast folg­te er dem ent­setzt die Trep­pe hin­ab­flie­hen­den Gra­fen. Von al­len Sei­ten stürz­ten die La­kai­en her­bei, alle Tü­ren wur­den ge­öff­net, wil­de, ent­setz­li­che Frat­zen lach­ten ihm höh­nisch über­all ent­ge­gen, aber er sah nur ihn, mit wil­dem Griff krall­te sich sei­ne Hand in die Schul­ter des Flüch­ti­gen und jetzt – jetzt faß­te er das Klein­od, das je­ner eben von sich schleu­dern woll­te.

»Ha­ha­ha«, lach­te da der Graf, in­dem er ihm un­ter den Hän­den ent­schwand und als Eule aus der ge­öff­ne­ten Haus­tür auf die Stra­ße flog. »Was hilft dir der Ring – mein ist sie doch – mein ist sie doch!«

»Nicht dein – nicht dein«, schrie Wer­ner in fast wahn­sin­ni­ger Wut, in­dem er, den Dolch wie­der ge­faßt, hin­ter dem Tücki­schen her­floh, »dein Le­ben ist mir ver­fal­len und ich will – ich muß es ha­ben.« – – –

»Aber, Wer­ner, um Got­tes wil­len, komm zu dir!«, rief ihm eine be­kann­te Stim­me ins Ohr, »du bist ja au­ßer dir. Was hast du? Was ist ge­sche­hen?«

»Ger­hard – dich sen­det mir Gott!«, rief der Un­glück­li­che. »Ihm nach! – Noch ist es Zeit – er will Ag­nes zum Al­ta­re schlep­pen. Laßt mich! – Laßt mich los! – Zu Hil­fe, Ger­hard, zu Hil­fe!«

»Aber so komm doch zu dir!«, bat die­ser in To­des­angst. »Was hast du nur, und wo bist du ge­we­sen?«

»Wo er ge­we­sen ist?«, sag­te da eine tie­fe Stim­me, die ei­nem der her­bei­ge­eil­ten Nacht­wäch­ter ge­hör­te, »drin im ›ro­ten Haus‹, so wahr ich se­lig zu wer­den hof­fe, und das bei fins­te­rer Nacht und zwi­schen zwölf und ein Uhr. Mir könn­te ei­ner das Haus mit Gold pflas­tern, ich soll­te die Stun­de dar­in zu­brin­gen.«

»Im ›ro­ten Haus‹?«, rief der jun­ge Mann er­schreckt.

»Er ist fort – er ist fort!«, rief Wer­ner, in wil­dem, herz­zer­schnei­den­dem Schmerz laut auf­schrei­end, »ver­lo­ren, ver­lo­ren für im­mer!« Und wäh­rend er sich mit so ge­wal­ti­gen Kräf­ten ge­gen die Arme sträub­te, die ihn hiel­ten, daß ihn die vier star­ken Män­ner kaum noch bän­di­gen konn­ten, lie­ßen plötz­lich sei­ne An­stren­gun­gen nach, sei­ne Arme san­ken, er lehn­te den Kopf zu­rück und lag ohn­mäch­tig an Ger­hards Schul­ter.

Die­ser, der eben erst aus dem Wein­haus kam, in dem er ei­gent­lich nur Wer­ner so lan­ge er­war­tet hat­te und durch den Lärm auf der Stra­ße ge­ru­fen war, such­te das Nä­he­re von den Nacht­wäch­tern her­aus­zu­be­kom­men. Die­se wuß­ten aber selbst sehr we­nig.

Der in die­ser Stra­ße sta­tio­nier­te Wäch­ter er­zähl­te, er habe Lärm und Ge­schrei ge­hört. In der Nähe des ›ro­ten Hau­ses‹ sei er zu sei­nem Er­stau­nen inne ge­wor­den, daß der Lärm von dort her­aus­schal­le, und dann sei plötz­lich der Herr hier in vol­ler Wut und Flucht her­aus­ge­sprun­gen. Wie er da hin­ein­ge­ra­ten, wis­se er frei­lich nichts denn bis jetzt sei die Tür stets ver­schlos­sen ge­we­sen. –

Ger­hard be­stärk­te die Wäch­ter gern in dem Glau­ben, daß der Un­glück­li­che »et­was zu viel ge­trun­ken«. Mit ih­rer Hil­fe klopf­te er aus ei­nem be­nach­bar­ten Ge­bäu­de ein paar Ar­bei­ter her­aus, die den noch im­mer Ohn­mäch­ti­gen ge­gen eine gute Be­loh­nung nach sei­ner Woh­nung tru­gen.

5

Ger­hard blieb, als er Wer­ner wie­der zu sich ge­bracht, die Nacht an sei­nem Bett, und der Kran­ke fiel ge­gen Mor­gen in einen sanf­ten, ru­hi­gen Schlaf, aus dem er erst nach zehn Uhr er­wach­te.

Voll­kom­men ru­hig öff­ne­te er die Au­gen, sah den Freund ei­ni­ge Au­gen­bli­cke an, und schloß sie wie­der. Aber das dau­er­te nicht lan­ge, und Ger­hard glaub­te, daß er ihn fra­gen wür­de, wie er in sein Zim­mer ge­kom­men. Wer­ner da­ge­gen schi­en al­les ge­nau zu wis­sen, dank­te ihm für sei­ne Teil­nah­me, als er in der Stra­ße halb ohn­mäch­tig zu­sam­men­ge­bro­chen, und bat ihn dann, auf sei­nem Ti­sche nach­zu­se­hen, ob das ge­fun­de­ne Arm­band noch dort lie­ge.

Ger­hard be­ru­hig­te ihn dar­über. Er hat­te es ges­tern abend, als sie ihn fan­den, in der Hand ge­hal­ten, und er sel­ber hat­te es an sich ge­nom­men. Es lag jetzt auf dem Tisch­chen ne­ben sei­nem Bett.

Wer­ner ließ es sich ge­ben, be­trach­te­te es einen Au­gen­blick und dann, auf sein Kis­sen zu­rück­sin­kend, sag­te er ru­hig:

»Gott sei Dank, der ver­damm­te Lah­me hat­te es mir un­ter­wegs schlau ent­wandt und mir da­für den ei­ser­nen Klin­gel­ring in die Ta­sche ge­scho­ben – aber es ist doch al­les vor­bei und Ag­nes auf im­mer für mich ver­lo­ren.«

»Aber, Wer­ner«, bat Ger­hard, »nimm dich doch zu­sam­men und sei ein Mann.«

»Glau­be nicht, daß ich mich täu­sche«, sag­te Wer­ner. »Ich weiß al­les, was ge­sche­hen, aber zu­gleich, daß ihr alle mir nie glau­ben wer­det. Jetzt habe ich auch den Schlüs­sel dazu, daß du jene Frem­de, die an uns vor­über­ging, nicht sahst, daß du sie spä­ter nicht am Fens­ter ent­de­cken konn­test. Kein an­de­rer in der Stadt hat sie ge­se­hen, nur mei­nem Auge er­schi­en sie, und – nenn’ es Se­gen oder Fluch – noch im­mer liegt in ih­ren Hän­den mein Ge­schick.«

»Wer­ner«, sag­te Ger­hard un­ru­hig, »daß du so ru­hig über den Un­sinn re­den kannst! Du mußt alle dei­ne Kräf­te zu­sam­men­neh­men, um über die­se tol­len Bil­der Meis­ter zu wer­den.«

»Du hast recht«, sag­te Wer­ner ru­hig, »ich glau­be auch, daß es in mei­ner Macht stän­de. Was aber hül­fe mir ein Le­ben, das sei­nes Zie­les be­raubt ist?«

»Wer­ner«, rief Ger­hard be­sorgt, »rede nicht so Ent­setz­li­ches! Was willst du denn tun?«

»Auf­ste­hen. Es ist zehn Uhr vor­bei, und ich schla­fe sonst nie so lan­ge.«

»Aber du bist krank.«

»Nie ge­sün­der ge­we­sen. Aber ich muß auf­ste­hen, denn ich habe einen Be­such ab­zu­stat­ten.«

»Be­such? – Bei wem?«

»Laß das – du wür­dest mich doch nicht ver­ste­hen. Aber sei ver­si­chert«, setz­te er herz­li­cher hin­zu, »daß ich mei­nen Ver­stan­d noch voll­stän­dig bei­sam­men habe.«

»Was willst du denn tun?«, rief Ger­hard be­sorgt.

»Nichts, was dich be­un­ru­hi­gen könn­te«, lach­te Wer­ner. »Es ist jetzt hel­ler Tag, und ich glau­be nicht, daß ich da et­was von den Geis­tern zu fürch­ten habe. So­bald es däm­mert, bit­te ich dich sel­ber, zu mir zu kom­men und die Nacht bei mir zu blei­ben. Be­ru­higt dich das?«

»In et­was, ja; aber doch noch nicht ganz. Darf ich dich nicht be­glei­ten?«

»Als Wäch­ter?«, lä­chel­te Wer­ner. »Lie­ber Freund, ich bin ein hal­ber Fa­ta­list. Was kom­men soll, das kommt doch.«

Er war in­des­sen auf­ge­stan­den und zum Aus­ge­hen völ­lig ge­rüs­tet.

»Darf ich dich we­nigs­tens eine Stre­cke be­glei­ten?«, frag­te Ger­hard nach ei­ni­gem Zö­gern.

»Und warum nicht? Nur stö­re mich nicht in dem, was ich vor­ha­be.«

»Du willst das ›ro­te Haus‹ be­su­chen?«

»Ja.«

»Und wes­halb?«, bat Ger­hard. »Muß das nicht all dei­ne frü­he­ren Phan­tasi­en nur noch mehr rei­zen?«

»Das Ge­gen­teil«, sag­te Wer­ner ru­hig. »Das hel­le Ta­ges­licht soll mir hel­fen, die to­ten Bil­der zu ver­scheu­chen. Ich muß mich sel­ber über­zeu­gen, daß dort nur Schutt und Zer­stö­rung herr­schen.«

»So laß mich mit dir ge­hen.«

»Bis zu dem Haus, ja – aber nicht hin­ein. Dort muß ich mit mir al­lein sein«, sag­te Wer­ner. »Und noch eins«, setz­te er, wie plötz­lich sich be­sin­nend, hin­zu, »laß mir noch eine hal­be Stun­de Zeit, einen Brief zu schrei­ben. Dann holst du mich hier ab.«

»Du gehst nicht ohne mich?«

»Ich gebe dir mein Wort.«

Ger­hard ging, und als er nach etwa drei Vier­tel­stun­den zu­rück­kehr­te, fand er Wer­ner schon in der Tür, ihn er­war­tend. Lang­sam schrit­ten die bei­den die Stra­ßen ent­lang, und un­auf­ge­for­dert er­zähl­te Wer­ner bis in die kleins­ten Ein­zel­hei­ten hin­ab sei­nen gest­ri­gen Be­such im ›ro­ten Haus‹.

Er sprach so ru­hig, so über­legt und bei vol­lem Be­wußt­sein, und wi­der­leg­te alle Ein­wen­dun­gen des Freun­des in so si­che­rer Wei­se, daß die­sem zu­letzt nichts üb­rig­b­lieb, als sich zu fü­gen.

Um vier Uhr ver­sprach Wer­ner, wenn ir­gend mög­lich, in ei­ner nicht sehr ent­fern­ten Re­stau­ra­ti­on mit Ger­hard wie­der zu­sam­men­zu­tref­fen.

»Und noch eins«, sag­te Wer­ner und hielt des Freun­des Arm, als die­ser, nicht weit vom ›ro­ten Hau­se‹, Ab­schied neh­men woll­te. »Eins habe ich dir bis jetzt noch ver­schwie­gen. Du er­in­nerst dich des Na­mens des jun­gen Mäd­chens, das in der Gruft da­hin­ten bei­ge­setzt ist?«

»Ag­nes von Hochs­tet­ten, wenn ich nicht irre –«

»Ganz recht – auch ich hei­ße Hochs­tet­ten«, sag­te Wer­ner ru­hig.

»Du?«, rief Ger­hard er­staunt. »Da­von hast du mir noch nie ein Wort ge­sagt.«

»Wer­ner ist der Name, den ich als Künst­ler an­ge­nom­men habe«, ent­geg­ne­te die­ser.

»Dann ist dies der un­glück­se­ligs­te Zu­fall«, rief Ger­hard, den Kopf schüt­telnd, »den ich mir den­ken kann.«

»Zu­fall«, sag­te Wer­ner ernst, »ist ein wun­der­li­ches Wort. Doch ge­nug. Auf Wie­der­se­hen, Ger­hard, auf ein fro­hes Wie­der­se­hen!«

Er dreh­te sich mit den Wor­ten ab und schritt al­lein dem ›ro­ten Hau­se‹ zu, wäh­rend Ger­hard trau­rig und wirk­lich ernst­haft um den Freund be­sorgt die an­de­re Rich­tung ein­schlug.

Die Tür des ›ro­ten Hau­ses‹ war ver­schlos­sen, aber ein fes­ter Druck schob das mor­sche Schloß leicht aus­ein­an­der, und der jun­ge Mann be­trat mit ei­nem ei­ge­nen Schau­der den düs­te­ren, dump­fi­gen Raum, der wie­der in sei­ner gan­zen Öde um ihn lag. Nur durch die zer­bro­che­nen und er­blin­de­ten Schei­ben ei­nes Fens­ters über der Hin­ter­tür fie­len die Son­nen­strah­len her­ein und er­hell­ten den Platz hin­läng­lich, ihm die halb­zer­fal­le­ne Trep­pe zu zei­gen, die er jetzt vor­sich­tig, aber mit fes­ten Schrit­ten hin­an­stieg. So be­trat er die wüs­ten Ge­mä­cher, die ihm in letz­ter Nacht ei­nem Feen­pa­last gleich er­schie­nen wa­ren, und su­chend schweif­te sein Blick um­her, als ob der Raum nicht leer sein kön­ne, und die, die er hier su­che, ihm je­den Au­gen­blick ent­ge­gen­tre­ten müs­se. Aber al­les lag still und öde wie das Grab, nur ein paar Rat­ten glit­ten ra­schelnd über um­her­lie­gen­des Ge­rüm­pel. Wer­ner stand auf der Schwel­le des Saa­l­es und lehn­te, die Arme ver­schränkt, am Tür­pfos­ten.

»Und wäre denn al­les – al­les das, was mir mein gan­zes Herz er­füllt, wirk­lich nur ein lee­rer Traum ge­we­sen?«, sprach er mit lei­ser Stim­me vor sich hin. »Dort der Bal­kon, aus dem die Da­men sa­ßen, und da – da, wo das Auge auf mich nie­der­schaut –«