Hôtel Atlantique - Valerie Jakob - E-Book + Hörbuch

Hôtel Atlantique E-Book

Valerie Jakob

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Beschreibung

Die französische Biskaya – zum Sterben schön Delphine Gueron ist nach ihrem Abschied von der Pariser Polizei zurückgekehrt in ihre alte Heimat, St. Julien de la mer in der Nähe von Biarritz. Hier trifft sie sich einmal die Woche mit ihrer betagten Freundin Aurélie im noblen Hôtel Atlantique zum Tee. Doch eines Tages erscheint Aurélie nicht. Sie ist umgekommen. Ein Unfall, sagt die Polizei. Aber Delphines sechster Sinn sagt etwas anderes, und sie beginnt zu ermitteln. An nervtötende Vorschriften muss sie sich dabei nicht mehr halten. Unterstützung bekommt sie von dem fünfzehnjährigen Karim, der so dumm war, bei der ehemaligen commissaire einzubrechen. Zur Strafe erledigt der Junge bei ihr lästige Haus- und Gartenarbeiten. Mit der Zeit werden die beiden so etwas wie Freunde. Die Nachforschungen schweißen sie weiter zusammen. Und führen sie bis weit in die deutsch-französische Vergangenheit.

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Valerie Jakob

Hôtel Atlantique

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Über dieses Buch

Die französische Biskaya – zum Sterben schön

Über Valerie Jakob

Als Valerie Jakob schreibt eine der erfolgreichsten Übersetzerinnen für Romane aus dem Angloamerikanischen und dem französischen Sprachraum. Sie kann sich für ihr Debüt auf eigene Erfahrungen stützen, denn der französische Sud-Ouest ist ihre zweite Heimat. Heute lebt und arbeitet sie in Berlin, verbringt ihre Urlaube aber noch immer am liebsten an der südfranzösischen Atlantikküste.

1

«Umdrehen, und versuch keine Spielchen!»

Der Jugendliche wirbelte herum. «Bloß keine Angst, Alte, ich bin schon weg.»

«Erstens habe ich keine Angst. Ich habe eine Pistole. Und zweitens heiße ich nicht ‹Alte›, sondern Madame Delphine, klar? Drittens bist du nicht gleich weg, sondern wirst von der Gendarmerie abgeholt, die ich jetzt anrufe.»

Delphine hielt ihre Walther auf den Halbwüchsigen gerichtet, der in ihren Schuppen eingebrochen war und dessen Gesichtsausdruck bei ihren letzten Worten und angesichts der Waffe von herausfordernd auf ziemlich entsetzt wechselte. Die schlanke Frau mit dem braunen, welligen Haar, die der Junge vor sich hatte, trug einen geraden, blauen Rock mit einem schmalen Ledergürtel und eine passende blaue Jacke. Und so richtig alt war sie wirklich nicht. Sie erinnerte ihn mit ihrer sprungbereiten Haltung an seine Sportlehrerin, doch diese Frau hielt eine Pistole auf ihn gerichtet, und die sah ziemlich echt aus.

«Was ist los? Machst du dir auf einmal ins Hemd? Hast doch eben noch so große Töne gespuckt.»

Der schlaksige Junge war etwa fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, soweit Delphine das in dem dämmrigen Schuppen beurteilen konnte. Er trug die bei Jugendlichen unvermeidliche Kapuzenjacke aus Sweatshirtstoff, eine ausgewaschene Jeans und leichte graue Sneakers. Dass er flüchten wollte wie ein in die Enge getriebenes Tier, konnte man an seinen riesigen, braunen Augen ablesen.

«Glaub bloß nicht, dass ich dich einfach so gehen lasse, damit du übermorgen wiederkommst, um mir die Bude auszuräumen. Diesmal bist du an die Falsche geraten, mein Kleiner: an eine commissaire. Da staunst du, was?» Delphine hielt inne, doch der Junge sagte nichts. «Und jetzt rufe ich meine Kollegen an, dann bist du erst mal weg vom Fenster und kannst in deiner Freizeit im Keller vom Altersheim die Bettpfannen auswaschen. Auch mal eine Erfahrung, was für andere zu tun, statt bei irgendwelchen Leuten einzubrechen!»

Delphine fixierte den Halbwüchsigen mit ihrem Blick. Wieder so einer, der am Beginn seiner Straftäterkarriere stand, die ihn unweigerlich ins Gefängnis und immer wieder ins Gefängnis führen würde.

Die Augen des Jungen füllten sich mit Tränen. «Aber, Madame …»

«Willst du mir jetzt mit der Mitleidstour kommen?», fragte Delphine spöttisch. «Das zieht bei mir nicht. Und so ein bisschen gemeinnützige Arbeit wird dir sicher guttun!»

«Aber, Madame …» Der Junge ließ die Schultern hängen.

«Was, Madame?»

«Die Polizei … meine Mutter …»

«Die Polizei, meine Mutter – was soll dieses Gestotter? Entweder drückst du dich klar aus, oder unser Gespräch ist beendet.»

Der Junge schluckte. Die graue Kapuzenjacke war ihm viel zu groß, er schien darin unterzugehen wie in einem Sumpfloch. «Die Polizei», sagte er leise, «hat mich schon öfter drangekriegt.» Erneut schluckte er. «Wenn ich noch mal erwischt werde, komme ich in den Knast. Und meine Mutter …» Wieder beendete er den Satz nicht.

«Was ist mit deiner Mutter?»

«Das würde sie wahrscheinlich nicht mehr verkraften.» Diesen Satz hatte er nur noch geflüstert.

«Jetzt fällt dir auf einmal deine Mutter ein, was?» Es ist wirklich immer das Gleiche, dachte Delphine. «Wieso hast du nicht an sie gedacht, bevor du beschlossen hast, hier irgendwas aus dem Schuppen oder einen DVD-Recorder aus dem Haus zu holen, den du für zehn Euro verscheuern kannst?»

Hilfloses Schulterzucken.

«Wie heißt du überhaupt?»

«Karim.»

«Karim und weiter?»

«Karim Amandier.»

«Karim Amandier? Was ist das denn für ein Name?»

«Meine Mutter kommt aus dem Elsass und mein Vater aus Algerien.»

Delphine dachte an die unendlichen Verwicklungen, die dieser Name bedeuten konnte. Ein Halbelsässer mit einem maghrebinischen Vornamen im Südwesten Frankreichs … Auch wenn das bei einem Einbruch zunächst einmal unwichtig war. Der Junge tat ihr leid, aber was sollte sie machen?

«Also, Karim, ich rufe jetzt die Polizei.»

Er senkte den Kopf. Es schien, als hätte er sich in sein Schicksal ergeben. Er war genauso groß wie Delphine, dunkle Locken lugten unter der Kapuze hervor, und an den Schultern der Jacke zeichneten sich die Knochen ab, wie bei einem mageren Vögelchen.

So weit ist es also mit mir gekommen, dachte Delphine, dass ich mich vor einem Einbrecher fühle wie Oger vor dem kleinen Däumling.

«Oder …», sagte sie. Er hob den Kopf. «Oder wir machen das unter uns aus.»

«Unter uns?», fragte er verständnislos.

«Ja, unter uns.» Delphine steckte die Waffe weg. «Du kannst dich entscheiden. Entweder rufe ich die Polizei, du wanderst in den Bau, und deine Mutter verliert jeden Glauben an dich … oder wir ersetzen diese offizielle Strafe durch ein paar Wochen Hilfsdienste für mich, ohne dass jemand bei der Polizei davon erfährt. Sagen wir, vier Wochen. Aber ich warne dich: Eine Dummheit, und du bist fällig. Haben wir uns verstanden?»

Der Junge nickte. «Ja, Madame.»

«Und außerdem lernst du für die Schule, statt irgendwo einzusteigen, und machst deiner Mutter keine Sorgen mehr, verstanden?» Ein Lacher.

«Ja, Madame.»

«Alors, dann kannst du schon mal meine Einkäufe aus dem Auto ins Haus bringen. Und am Mittwochnachmittag mähst du meinen Rasen, klar?»

«Ja, Madame.»

«Wann kommst du aus der Schule?»

«Um eins.»

«Also pünktlich um drei Uhr klingelst du hier, kapiert?»

«Ja, Madame.»

«Versprochen?»

«Ja, Madame.»

 

Karim hatte noch die Einkäufe ins Haus gebracht, danach hatte Delphine ihn nach Hause geschickt. Sie wusste, dass sie das nicht hätte tun sollen. Es war statistisch nachgewiesen, dass beinahe vierzig Prozent der jugendlichen Straftäter rückfällig wurden, und es war praktisch sicher, dass Karim am übernächsten Tag nicht um drei Uhr bei ihr zum Rasenmähen antreten würde. Aber der Junge hatte so verzweifelt gewirkt – außerdem sah die Statistik für minderjährige Wiederholungstäter noch sehr viel schlechter aus. Delphine kannte die Zahlen. Sie schalt sich für ihre Sentimentalität. Wenn sie das nächste Mal nach Hause käme, hätte sie keinen Fernseher und keinen Computer mehr. Karim Amandier würde sich in irgendeiner dunklen Ecke mit Drogen zudröhnen, und seine Mutter würde in ihrer Küche sitzen und Taschentücher nass heulen.

«Ach, verdammt», murmelte Delphine. Sie ging in die Küche, um die Einkäufe wegzuräumen. Seit sie eingezogen war, hatte sie an der Einrichtung einiges verändert. Der neue Kühlschrank mit den drei Gefrierschubladen war eindeutig eine Verbesserung, ebenso wie der neue Gasherd, das bestätigten all ihre Gäste. Die Gaszufuhr des alten hatte nämlich schon seit Ewigkeiten etwa so zuverlässig funktioniert wie der samstägliche Tipp bei France Loto, weshalb so manches Soufflé unter betrübten Blicken als kläglicher Fladen sein Ende gefunden hatte. Die elektrische Zündung des neuen Herdes, die vom Verkäufer in den höchsten Tönen gepriesen worden war, hatte zwar pünktlich nach Ablauf der Garantiezeit ihren Geist aufgegeben, sodass Delphine wieder auf Streichhölzer zurückgreifen musste, sonst aber lief er einwandfrei.

Den langen, dunklen Holztisch und die Stühle mit den Spuren dreier Generationen hatte sie stehenlassen. Er sorgte zusammen mit der altmodischen Kommode, die noch ein eigenes Baguettefach hatte, dem Kamin aus angestoßenen Backsteinen und den angelaufenen, selten benutzten Kupfertöpfen an der Wand dafür, dass die Küche zu dem Raum wurde, in dem sich Delphine und auch ihre Gäste mit Vorliebe aufhielten.

Es war richtig gewesen hierherzukommen, dachte Delphine. Als sie noch in Paris gearbeitet hatte, in dieser Metropole mit den unendlich vielen kulturellen Angeboten, den Theatern, den Kinos, den Menschen aus aller Herren Länder, hätte sie sich niemals vorstellen können, in die Provinz zurückzukehren. Auch wenn diese Provinz an einer wilden, schönen Küste lag und zudem ihre Heimat war. Doch dann, als sie zwei Jahre vor dem Ende ihrer Berufstätigkeit entscheiden musste, ob sie das Haus ihrer Eltern verkaufen, vermieten oder behalten sollte, hatte sie beschlossen, es selbst zu übernehmen. Auf Probe sozusagen, denn wenn sie sich in St. Julien de la mer nicht mehr einleben würde, konnte sie es immer noch problemlos verkaufen. Es war eine alte, baskische ferme, in der schon ihre Großeltern gelebt hatten. Delphine erinnerte sich an die Hühner, die frei auf dem staubigen Hof hinter der Küche herumgelaufen waren, der jetzt ein Garten war, und an das dunkel und melodiös über die Weiden ziehende Heóheóheó, mit dem ihr Großvater in der Abenddämmerung die Kühe nach Hause getrieben hatte. Das Haus stand etwa zehn Autominuten von der Küste entfernt in den hügeligen Ausläufern der Pyrenäen.

Wie in vielen anderen europäischen Ländern wurde auch in Frankreich das Rentenalter schrittweise heraufgesetzt, aber Delphine hatte gerade noch zu den Begünstigten der alten Regelung gehört. Als das Ende ihrer Dienstzeit näher rückte, hatte die Personalabteilung sämtliche offenen Urlaubs- und Überstundenansprüche aufgelistet, und das Ergebnis war, dass Delphine faktisch mit neunundfünfzig Jahren aufhören konnte zu arbeiten. Sie hatte darüber nachgedacht, wie es mit ihrem Leben weitergehen sollte. Die Beziehung mit Hervé, die immerhin beinahe zwanzig Jahre gewährt hatte, war Vergangenheit. Sie besaß Freunde in Paris, aber auch anderswo und fühlte sich nicht unbedingt an die Hauptstadt gebunden. Also war sie vier Wochen am Stück nach St. Julien gefahren und hatte festgestellt, wie sehr es sie entspannte, morgens aus der Küchentür in den Garten gehen zu können – ohne Verkehrslärm, ohne festes Vorhaben und sogar ohne sich ordentlich anziehen zu müssen. Am Ende dieser Zeit hatte sie ihre Entscheidung getroffen. Am meisten hatte darunter Flaubert gelitten, ihr inspecteur, und zwar der beste, den sie in ihrer gesamten beruflichen Laufbahn in ihrem Team gehabt hatte. Dessen neuer Vorgesetzter nämlich wurde Jean-Luc Dropont, ein Paragraphenreiter erster Güte. «Chef», hatte Flaubert schon zwei Wochen später am Telefon geklagt, «dieser pinailleur treibt mich noch in den Wahnsinn. So kann kein Mensch arbeiten!»

«Halten Sie durch, Flaubert», hatte sie ihm geraten, obwohl er ihr sehr leidtat, «bald steigen Sie auf und sind den Erbsenzähler los.» Und so war es gekommen.

Als Karim nach Hause kam, war es kurz nach acht. Im Treppenhaus schlugen ihm die üblichen abgestandenen Kochgerüche entgegen, weil die Mieter parterre links lieber über die Wohnungstür lüfteten, statt das Küchenfenster aufzumachen. Er ging an den angerosteten Briefkästen vorbei und stapfte langsam die Treppe in den dritten Stock hinauf. Warum hatte diese Madame Delphine nicht fünf Minuten später zurückkommen können? Dann wäre er längst weg gewesen, und wenn er in diesem Schuppen überhaupt etwas Verkäufliches gefunden hätte, wäre es ihr garantiert nie aufgefallen. Oder jedenfalls nicht gleich. Überhaupt Schuppen, war das eigentlich Einbruch? Wo doch nicht mal abgeschlossen war? Aber wie üblich hatte er Pech gehabt. Urplötzlich hatte sie mit ihrer Pistole hinter ihm gestanden. Ob es stimmte, dass sie eine commissaire war? Wieso hatte sie ihn dann nicht gleich verhaftet? Das hätte sie tun müssen, wo sie doch garantiert einen Amtseid abgelegt hatte oder so was. Vielleicht hatte sie ihn auch einfach angelogen, um ihn zu schocken. Er verzog das Gesicht. In dem Fall hätte sie einen echten Volltreffer gelandet.

Er schob sich um den letzten Treppenabsatz. Das Treppenhaus war fahlgelb gestrichen, und von den Fensterrahmen blätterte die Farbe ab. Sollte er wirklich noch mal bei dieser Frau aufkreuzen? Oder sich einfach nicht mehr blicken lassen? Aber was würde passieren, wenn sie wirklich bei den Flics war?

Karim schloss die Wohnungstür auf. Der Flur war eng und wirkte durch die vollgehängte Garderobe noch enger. Vorsichtig drückte er die Tür ins Schloss und ging so lautlos wie möglich durch den Flur zu seinem Zimmer.

«Karim!»

Er war nicht leise genug gewesen. «Ich gehe in mein Zimmer!»

«Zuerst kommst du zu mir in die Küche!»

Polternd ließ er seine Tasche fallen und ging in die Küche. Seine Mutter saß am Tisch. Sie hatte ihr glattes, blondes Haar hinten zusammengenommen und trug eine blaue Bluse, die inzwischen so verwaschen war, dass der graublaue Farbton genau ihrer Augenfarbe entsprach. Vor ihr lagen mehrere Rechnungen. An Karims Platz stand ein leeres Gedeck, anscheinend hatten Noni und sie schon gegessen.

«Wo kommst du jetzt her?»

«Hab noch Freunde getroffen.»

Sie sah ihn prüfend an. «Gab’s wieder Ärger?»

«Nein, wieso denn?» Er klang aggressiv.

«Weil es nicht das erste Mal wäre. Und weil du weißt, was passiert, wenn so was noch mal vorkommt.»

«Ja, ja, schon gut.»

Seufzend legte sie den Stift weg, mit dem sie Beträge addiert hatte. «Nein, es ist nicht gut. Wir hatten etwas besprochen, Karim.»

Er bohrte die Hände in die Taschen seiner Kapuzenjacke. «Hat eben nicht geklappt heute.»

«Wir hatten besprochen, dass du dich mehr um die Schule kümmerst.»

«Es waren Ferien.»

«Seit heute ist wieder Schule! Der Übergang aufs lycée ist wichtig, das habe ich dir lang und breit erklärt. Wer dabei durchs Raster fällt, ist raus.» Ihre Stimme war lauter geworden.

Karim fuhr auf. «Fang doch nicht schon wieder damit an. Ich habe keine Lust auf diese ewige Diskussion. Das nervt echt.» Er wusste nicht mehr, wie oft ihm seine Mutter schon mit diesem Thema in den Ohren gelegen hatte. «Und überhaupt, wer sagt denn, dass ich unbedingt studieren muss?» Wütend sah er sie an.

«Das sagt überhaupt niemand.» Karims Mutter klang erschöpft, als hätte sie das alles schon viel zu oft wiederholt. «Aber ich will, dass du dir alle Möglichkeiten offenhältst, und das kannst du auch, wenn du deinen Verstand benutzt.»

«Meinen Verstand!», sagte er höhnisch. «Damit es mir so geht wie dir? Mit deinem bac général, deinen prépas und deiner Zulassung zur ENS? Und wohin hat dich das alles gebracht? An eine Kasse bei Carrefour!»

Schlagartig herrschte vollkommene Stille. Er war zu weit gegangen, und er wusste es. Seine Mutter sah ihn nur an. Dann begannen ihre Augen zu glänzen, und schließlich rollte eine Träne über ihre Wange, tropfte auf eine der Rechnungen und bildete auf dem weißen Papier einen kreisartigen grauen Fleck, der sich ein wenig nach allen Richtungen ausweitete.

«Maman …», setzte Karim an.

Doch sie hob nur die Hand und schüttelte den Kopf. Türenschlagend verschwand Karim in seinem Zimmer.

Delphine zog sicherheitshalber die Handbremse an. Sie hatte in der abschüssigen Rue Emmanuelle geparkt. Jetzt im März einen Parkplatz zu finden, war unproblematisch, in der Urlaubssaison aber, wenn schwitzende, sonnenverbrannte Touristen die Einwohnerzahl von St. Julien de la mer verdoppelten, durchaus ein Grund zum Jubel. Vor allem, wenn sich dieser Parkplatz in einer zentrumsnahen Straße befinden sollte, die der städtischen Parkraumbewirtschaftung noch nicht als lohnendes Areal für unverschämte Beutelschneiderei aufgefallen war. Es hieß zwar, dass die Knöllchenverteiler bei Autos mit einheimischen Kennzeichen ein Auge zudrückten, aber verlassen konnte man sich darauf nicht.

Die linke Schulter zu Hilfe nehmend, drückte Delphine die ständig klemmende Fahrertür auf. Vielleicht sollte sie sich doch mal ein neueres Auto kaufen. Der Renault Twingo begleitete sie inzwischen seit beinahe 15 Jahren durchs Leben – wenn er nicht von einem seiner Altersleiden zur Strecke gebracht wurde. Dann musste Delphine wieder einmal Pierre von der Garage Marius Verdier & fils anrufen, um sich abschleppen zu lassen, weil sie irgendwo liegengeblieben war, was vorzugsweise auf belebten Kreuzungen oder in abgelegenen Pyrenäentälern geschah.

Für den kurzen Fußweg zum Hôtel Atlantique nahm Delphine die Strandpromenade. So würde sie zwar später zum Hoteleingang um das Gebäude herumgehen müssen, dessen Terrasse und beste Zimmer zum Meer hin ausgerichtet waren, aber der Blick auf das Wasser lohnte diesen kleinen Umweg allemal. Die Promenade folgte dem beinahe perfekten Halbkreis der Bucht, die von drei langen Wellenbrechern geschützt wurde, weil der Seegang an diesem Abschnitt der Atlantikküste zwar aufregend spektakulär, aber auch sehr schnell lebensgefährlich werden konnte.

In der Mitte der Promenade erhob sich das Casino aus den 20er Jahren wie ein vor Anker liegender Ozeandampfer. Ansonsten hatte sich der Ort, abgesehen von ein paar Bausünden der 60er und 70er Jahre, den altmodischen Charme eines ehemaligen Fischerstädtchens und Badeortes der ersten Stunde bewahrt.

An den Häusern konnte man die jüngeren Entwicklungsphasen der Gemeinde ablesen. Auf der östlichen Seite der Bucht standen einige hohe Apartmentblocks aus der Nachkriegszeit, die von außen Nistkastenmoderne im 007-Stil, von ihren Balkons aber eine atemberaubende Aussicht boten. Dann folgten traditionelle Bürgerhäuser im style régional mit rot, blau oder grün gestrichenem Fachwerk, Stadtvillen im phantasievollen historisierenden Stil des späten 19. Jahrhunderts und einige Häuser in dem reduzierten Stil, der in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts modern gewesen war.

Delphine stellte sich gern vor, wie es hier früher zugegangen war. Das Hôtel Atlantique war um 1900 während der Belle Époque erbaut worden. Das verblasste Rot seiner herrschaftlichen Fassade kontrastierte mit den weiß gemauerten Fensterumrahmungen und erinnerte in seinem alten Glanz an die ersten Gäste, die hier abgestiegen waren. Adelige, Künstler und Fabrikanten: eine mondäne, internationale Gesellschaft, deren Damen aufwendige weiße Batistkleider mit Spitzen und großartige Sonnenhüte trugen und in den Holzpavillons am Strand züchtige langbeinige Badekostüme und pludrige Badehauben anlegten, um sich unter dem Kopfschütteln der Fischer, die mit groben Pullovern und klobigen Stiefeln auf ihren Booten standen, am äußersten Wellensaum ein wenig zu erfrischen.

So elegant wie in Biarritz, das etwa zwanzig Kilometer entfernt lag, war es in St. Julien allerdings nicht zugegangen. Dafür war dieser Ort zu stark von seiner langen Tradition als Fischerhafen geprägt. Seit die Damen mit den Batistkleidern da gewesen waren, hatte sich vieles verändert, vieles aber auch nicht. Noch immer roch es hier für jeden, der sich beim Schwimmen einmal am Wasser des Atlantiks verschluckte, intensiv nach Salz, obwohl es in Wahrheit die jodhaltige Luft war, die einem in die Nase stieg. Noch immer konnte man in der Saison Umkleidekabinen mieten, die mittlerweile aus gestreiftem Segeltuch waren, und sich in transats legen, Klappliegestühle aus Holz und Leinen, die ihren Namen von den Liegestühlen an Deck der ersten Transatlantikdampfer hatten. Und noch immer sah man am westlichen Horizont hinter der Bucht die Berge, darunter einen langgestreckten Hügel mit drei Spitzen, an den sich wellige Erhebungen anschlossen. Auch heute noch glaubten etliche Betrachter, in dieser Formation einen auf dem Rücken liegenden Riesen zu erkennen. Das war den ersten Sommerfrischlern in St. Julien de la mer sicher auch schon so gegangen.

Delphine bog von der Promenade links ab in die kurze Rue Vasarin und nahm dann gleich wieder rechts die Rue Théophile Sarrault, um zum Eingang des Hotels zu kommen.

Das war ihr Dienstagsritual, seit sie vor mehr als einem Jahr fest nach St. Julien zurückgezogen war. Sie liebte diese Verabredung. Dienstags traf sie sich um vier Uhr nachmittags mit Aurélie de Montvignon, die sie aus Pariser Zeiten kannte. Aurélie hatte inzwischen beinahe ein Alter erreicht, nach dem man wieder fragen konnte, und noch immer blitzte der Schalk aus ihren Augen. Dazu kam ihre großartige Eleganz: in der Kleidung – nie übertrieben, aber immer mit erlesenem Geschmack, und in ihrer Art, sich auszudrücken – nie indiskret, aber immer pointiert. Sie waren schon vor langen Jahren Freundinnen geworden, gegen alle Wahrscheinlichkeit. Delphine Gueron, die commissaire, die sich zwischen all den männlichen Kollegen bei der Polizei hochgekämpft hatte, und die wesentlich ältere Aurélie de Montvignon, die mit einem Adeligen verheiratet und mit ihm nach St. Julien in das unglaubliche Anwesen La Pointe des Balaines hoch über der Corniche und den tosenden Brechern der Steilküste gezogen war. Trotz all dieser Unterschiede fühlten sich die beiden Frauen einander eng verbunden.

Ernest de Montvignon, Aurélies Ehemann, war im Jahr zuvor gestorben, und Aurélie hatte seitdem allein mit den Problemen zu kämpfen, die in Les Balaines, das aus dem 19. Jahrhundert stammte, an der Tagesordnung waren. Mal fiel der Strom aus, und es dauerte ewig, bis ein Elektriker den Grund für den Kurzschluss in dem riesigen, verschachtelten, schlossartigen Gemäuer fand. Mal stieg das Abwasser aus den Abläufen der mäandernden Leitungen empor, sodass sowohl der Geruchssinn als auch die Erledigung primitivster menschlicher Bedürfnisse empfindlich gestört wurden.

«Wissen Sie, Delphine», hatte Aurélie einmal gesagt, «die Leute sehen immer nur dieses Märchenschloss, und sie wissen, dass ich einen Gärtner beschäftige und Madame Sèvres, die für mich einkauft, kocht und ein paar Räume in Les Balaines putzt. Also denken sie, Madame de Montvignon hat keine Probleme. Aber dass die Instandsetzung der Elektrik, der Wasserversorgung, ganz zu schweigen von der maroden Heizung ein Vermögen kostet, sehen sie nicht.»

Aurélie war schon seit längerem dazu übergegangen, in solchen Problemzeiten in eine kleine Suite im Hôtel Atlantique auszuweichen, die sie und Ernest dauerhaft gemietet hatten.

Gelegentlich hatte Delphine versucht, ihrer Freundin bei langwierigen Instandsetzungen in Les Balaines beizustehen. Zu zweit hatten sie nicht besonders kundig mit Klempnern und Elektrikern verhandelt. Delphine grinste bei der Erinnerung an eine dieser Gelegenheiten.

«Betrachten Sie diese Reparatur als Ihr Lebenswerk?», hatte Aurélie den heftig widersprechenden Installateur gefragt, dessen Lehrling sich klug im Hintergrund hielt. «Man könnte meinen, Sie wären der leitende Brunnentechniker bei den Wasserspielen im Park von Versailles!»

Delphine ging durch die Lobby des Hotels. Flüchtig nickte sie Monsieur Drouet zu, dem Ortsbürgermeister. Im Atlantique verabredeten sich die Amtsträger gern mit ihren Gewährsleuten, wenn es etwas einzufädeln galt. Als Delphine die Tür zum Salon de thé aufschob, sah sie, dass Aurélie wie üblich schon an ihrem Stammplatz vor den hohen Sprossenfenstern saß. Der kleine Tisch war bereits gedeckt: eine Teekanne unter einer bestickten Wärmehaube, zwei Gedecke mit kleinen Tellern und Teetassen und die Etagere mit den köstlichen Petits Fours aus der Patisserie Dauphinois, die Aurélie und Delphine zum Tee aßen.

«Bonjour, Madame.» François begrüßte sie formvollendet. In seinem weißen Kellnerjackett und den schwarzen Hosen wirkte er etwas aus der Zeit gefallen. Die Bezeichnung garçon wäre ohnehin viel zu banal für ihn gewesen, beinahe eine Beleidigung. Aufopfernd und diskret kümmerte er sich um Aurélie und Delphine, die ihm mit der Zeit ans Herz gewachsen waren.

Außer ihnen war der Salon um diese Jahreszeit nur von wenigen weiteren Stammgästen besucht. Manchmal stellte sich Delphine vor, diese dames et messieurs würden sich in Wahrheit auch über Nacht keinen Millimeter von ihrem mit rotem Samt bespannten Polstermobiliar vor den niedrigen Tischen wegrühren, so vertraut war ihr der Anblick. Andererseits wirkten Aurélie und sie selbst womöglich ebenfalls schon wie altgedientes Inventar in diesem ehrwürdigen Teesalon.

Delphine durchquerte den Raum mit dem nahezu unmerklichen Nicken in Richtung der anderen Gäste, das hier als nicht allzu penetrante Begrüßung durchging. Dann trat sie zu ihrer Freundin an den Fenstertisch.

«Aurélie, warten Sie schon lange?» Dass sie sich nach wie vor siezten, hatte sich so ergeben, und sie waren dabeigeblieben.

Wie immer war Delphines Freundin dezent geschminkt. Aurélie de Montvignon trug ein elegantes blaugrau gemustertes Bouclékostüm, mit wollartigen Bordierungen an den Jackenkanten und Taschenaufschlägen, das sehr nach Chanel aussah. Sie lächelte, und wie jedes Mal entfaltete sich dabei ihr ganzer Zauber. Delphine wusste nicht genau, was diese Wirkung auslöste – jedenfalls war es nicht Aurélies unbestreitbare Altersweisheit. Auch wenn sie Falten hatte, ihr etwas über kinnlanges Haar so weiß war wie der Schaum auf den Wellenkronen und aus ihrem Blick die Lebenserfahrung sprach. Denn wenn Aurélie mit einem Lächeln ihre strahlend blauen Augen auf ein Gegenüber richtete, war ihr Äußeres vergessen, und es stellte sich das Gefühl vollkommener Aufmerksamkeit und Akzeptanz ein. Eine Wirkung, dachte Delphine, die ihr früher sicher sehr zugutegekommen war.

«Mais non, ich habe mich von Birru früher abholen lassen und bin vom Hafen aus über die Promenade spaziert.» Sie klopfte auf den schmalen Gehstock, der an ihrem Sessel lehnte.

Wie Delphine und ganz St. Julien wussten, war Birru ein Frührentner, der mit seinem Privatauto eine Art Taxiunternehmen betrieb, auch wenn er sich, falls es einmal eine Nachfrage von der Steuerbehörde gäbe, darauf herausreden würde, dass er nur Bekannte mitnahm, wenn er ohnehin irgendwohin fuhr.

Kaum hatte sich Delphine gesetzt, trat François an den Tisch und erkundigte sich nach ihrem Wohlergehen, schenkte den Tee ein und platzierte mit vollendeten Bewegungen und einer versilberten Zange je ein Petit Four auf ihre Teller. Anschließend erkundigte er sich nach weiteren Wünschen und entfernte sich diskret.

«Man könnte annehmen, er wüsste inzwischen, dass wir mit unserem Teetischchen alles haben, was wir möchten», sagte Delphine.

Aurélie trank den ersten Schluck Tee. «Aber nein, das ist doch gerade das Beste an François. Er gibt einem das Gefühl, dass sich in unserem Leben jederzeit eine Sensation ereignet haben könnte, die wir mit einem Gläschen Bollinger begießen wollen.»

«Wenn man Napoleon glauben will», sagte Delphine, «verdient man Champagner nach einem Sieg, und nach einer Niederlage braucht man ihn.» Sie zog zweifelnd die Augenbrauen in die Höhe. «Mal sehen, was morgen Nachmittag bei mir der Fall sein wird.»

Aurélie lachte. «Sehen Sie, François hat ganz recht, es kann jederzeit etwas Unerwartetes geschehen.» Sie stellte ihre Tasse ab. «Und in welche Schlacht wollen Sie morgen ziehen?»

«Ach was, Schlacht. Zeitverschwendung ist es, das ahne ich jetzt schon.» Delphine seufzte. «Als ich gestern vom Einkaufen nach Hause kam, habe ich einen Roller an der Hecke stehen sehen. Sie wissen ja, dass bei mir da oben außerhalb der Saison kaum ein fremdes Fahrzeug vorbeikommt. Ich dachte mir gleich, dass da was nicht stimmt.»

«Delphine», sagte Aurélie kopfschüttelnd, «ich glaube beinahe, Sie haben so etwas wie eine déformation professionelle. Man kann doch nicht auf jedes Fahrzeug achten, das irgendwo parkt.»

Über diese Folgeschäden ihres Berufslebens bei der police judiciaire hatten sie schon öfter gesprochen, und Delphine war bewusst, dass sie mit anderen Augen durch die Welt ging als die meisten Menschen. Doch es fiel ihr schwer, diese lang trainierten Gewohnheiten abzulegen.

«Aber dieses Mal hat etwas dahintergesteckt», sagte sie, wie um sich zu verteidigen. «Ich bin durchs Haus gegangen, um meine Pistole zu holen. Dann habe ich einen Jugendlichen entdeckt, der auf mein Grundstück eingedrungen war und sich schon mal im Schuppen umsah. Als Nächstes wäre er ins Haus eingebrochen.»

«Oh!», sagte Aurélie erschrocken. «Und was haben Sie getan?»

«Ich habe ihn gestellt.»

«Das klingt ziemlich gefährlich», sagte Aurélie. «Was hat denn die Polizei gesagt?»

Delphine setzte sich etwas bequemer zurecht. «Nichts», sagte sie und schenkte Aurélie Tee nach, obwohl es nicht nötig war. «Ich habe mir von dem Jungen versprechen lassen, dass er mir zur Strafe den Rasen mäht und solche Sachen.» Sie griff nach ihrer Teetasse. «Und wie gesagt, ob das ein Sieg oder eine Niederlage wird, erfahre ich erst morgen, wenn er bei mir klingelt … oder eben nicht.»

«Sie haben nicht die Polizei gerufen?», fragte Aurélie in einem Ton zwischen Erstaunen und Bewunderung. Und als Delphine den Kopf schüttelte, fügte sie hinzu: «Ich wusste schon immer, dass Sie ein gutes Herz haben.»

«Ach was, gutes Herz», erwiderte Delphine temperamentvoll. «Ich wollte mir nur den ganzen Ärger sparen. Wissen Sie, was das für Zeit kostet? Anzeige erstatten, Hergang schildern, Protokoll aufnehmen, womöglich vor Gericht aussagen …»

Aurélie nickte mitfühlend, aber Delphine sah das Zucken um ihre Mundwinkel.

«Zwischen mein und dein kann schließlich jeder unterscheiden, selbst wenn er aus schwierigen häuslichen Verhältnissen stammt.» Delphine trank einen Schluck Tee und stellte mit einer nachdrücklichen Bewegung ihre Tasse ab. «Und überhaupt sind mir diese minderjährigen Kleinkriminellen schon immer auf die Nerven gegangen.»

«Ach, so ist das», sagte Aurélie und unterdrückte ein Lächeln. «Ich verstehe.»

«Ja, genau so ist das.» Mit verschränkten Armen lehnte sich Delphine in ihrem Sessel zurück.

Aurélie nahm ihren Teller mit dem Petit Four, stach mit der Kuchengabel in das apricotfarbene Kleinkunstwerk und begann zu essen. Delphine folgte ihrem Beispiel.

Das Meer vor dem hohen Fenster war an diesem Tag sehr ruhig, niedrige Brandungswellen kräuselten sich am Strand, und der mittlere Wellenbrecher lag wie ein dunkelgrauer Strich im glatten Wasser. Trotz der geschlossenen Fenster drang das schrille Kreischen von Möwen herein und untermalte die gedämpften Gespräche und das leise Klirren des Porzellans mit einem wilden, ungezähmten Ton.

«Es ist so ein anderes Leben hier», sagte Delphine, nachdem François Tee nachgeschenkt und umsonst weitere Köstlichkeiten von der Etagere angeboten hatte, «und beinahe ein Wunder, dass wir hier zusammensitzen.»

«Da haben Sie recht», gab Aurélie zurück. «Aber von allen Unwahrscheinlichkeiten abgesehen, könnte man sagen, dass wir uns beide in unterschiedlichen Männerdomänen behauptet haben. Das schweißt zusammen.»

Delphine lachte. «Ja, so kann man es auch sehen.» Einen Moment danach fügte sie nachdenklich hinzu: «Aber das ist es nicht allein.»

«Nein, das ist es nicht.» Aurélie sah aufs Meer hinaus, über dem zarte Schleierwolken hingen, dann wandte sie sich wieder Delphine zu. «Ich würde Sie gern um einen Gefallen bitten», sagte sie.

Delphine blickte sie auffordernd an.

«Ich werde in nächster Zeit einige Dinge regeln, die Les Balaines und meinen Nachlass betreffen. Ernest und ich haben ja seit Urzeiten einen Anwalt in Bayonne, ich glaube, das habe ich Ihnen irgendwann schon einmal erzählt. Das meiste ist schon lange mit maître Villon festgelegt. Zum Beispiel, dass unsere Angestellten nach unserem Tod nicht gleich ihre Stelle verlieren, und vieles andere. Aber jetzt, wo Ernest nicht mehr da ist», sie wandte ihren Blick erneut für einen Moment hinaus aufs Meer, «möchte ich noch zusätzliche Bestimmungen treffen, und zwar vor allem für die erste Zeit, wenn ich mal nicht mehr bin.»

Sie klang vollkommen gelassen.

«Und es wäre mir sehr recht, Delphine», fuhr sie fort, «wenn Sie dann alle paar Tage in Les Balaines kurz nach dem Rechten sehen würden, bis der Verwalter seinen Posten antritt. Richard ist ja häufig nicht da.» Aurélie sah Delphine fragend an. «Könnten Sie sich das vorstellen? Es wird bestimmt nichts Besonderes sein, aber ich hätte ein besseres Gefühl.» Sie lachte leise. «Eh bien, dieses bessere Gefühl hätte ich natürlich nur zu meinen Lebzeiten.» Sie hielt inne und fügte wieder etwas ernster hinzu: «Also nur, wenn es Ihnen nicht zu viel ist, évidemment.»

Delphine musste nicht überlegen. «Mais non, das ist mir nicht zu viel.» Trotzdem fühlte sie sich mit einem Mal beklommen, auch wenn sie Aurélie diesen Gefallen gern tat und ihre Freundin diese Regelungen nur vorsorglich traf. Denn Delphine war klar, welchen Verlust der Fall für sie bedeuten würde, auf den sich Aurélie da vorbereitete. Oder gab es einen bestimmten Grund? Hatte Aurélie von einer tödlichen Krankheit erfahren? Nein, es war wohl am wahrscheinlichsten, dass sie durch Ernests Tod dazu gebracht worden war, für ihren eigenen Nachlass alle Regelungen zu treffen.

«Danke. Das ist mir wirklich sehr lieb», sprach Aurélie inzwischen weiter. «Ich denke, wir machen in der nächsten Zeit einen Termin bei maître Villon, bei dem ich Sie namentlich eintragen lasse und Ihnen noch ein paar weitere Details erkläre.» Aurélie grinste. «Jemand Besseren als Sie hätte ich dafür nicht finden können, oder? Vermutlich sind Sie grenzenlos überqualifiziert.»

«Zur Kontrolle von Staubschichten auf Möbelstücken müsste es gerade noch reichen.» Delphine rettete sich in ihren Sarkasmus.

Aurélie lachte. «Das sollten Sie aber nicht Madame Sèvres hören lassen, Delphine. Ich glaube, ich habe noch nie in einem so staubfreien Haus gelebt wie Les Balaines. Jedenfalls wenn man von den Räumen ausgeht, die wir bewohnen.»

Delphine spürte, wie gern sie sich von der Frage ablenken ließ, die sie sich gerade noch gestellt hatte. «Madame Sèvres muss einen Pakt mit irgendeiner unheimlichen Macht abgeschlossen haben», sagte sie. Die schimmernden Möbeloberflächen in Les Balaines waren ihr schon oft aufgefallen. «Könnte es sein, dass diese Hausdame ihre Seele an den Putzteufel verkauft hat?» Delphine stellte sich vor, wie Madame Sèvres mit einem magischen Staubwedel durch Les Balaines irrlichterte.

«Ganz bestimmt nicht! Sie hat sich nur auf ihrem Gebiet spezialisiert», erklärte Aurélie entschieden. «So wie sich andere auf Teilchenphysik oder den Liebestanz des Wüstenskorpions spezialisieren. Aber ich wette, sie gehört in ihrem Metier zur Weltspitze.» Ihre Augen blitzten vor Erheiterung. Dann wurde sie wieder ernst. «Wir telefonieren also demnächst wegen eines Termins. Ich kläre zuerst, wann maître Villon Zeit hat. Ab morgen kommt Richard wieder für eine Woche, aber das spricht ja nicht dagegen. Und so schnell wird es ohnehin nicht gehen. Der maître ist ein äußerst vielbeschäftigter Mann.»

«Gibt es eigentlich einen konkreten Anlass dafür, dass Sie das gerade jetzt regeln möchten?», fragte Delphine nun doch.

Aurélie lachte. «Mein Anlass ist mein fortgeschrittenes Alter. Niemand lebt ewig.» Sie trank einen Schluck Tee und setzte spöttisch hinzu: «Es heißt immer, man soll sich rechtzeitig darum kümmern, aber wenn man es dann tut, ist es auch wieder nicht recht.»

2

Wenigstens war er schon seit längerem komplett grau geworden. Die Haare hatten mit zum Schlimmsten gehört. Er hatte ihren Anblick gehasst. Eine tägliche Erinnerung, bei jedem Blick in den Spiegel. Natürlich hatte er sie stets so kurz wie möglich getragen. Aber sie hatte sich doch gezeigt. Die leicht gewellte Struktur. Und dann diese Farbe. Noch immer konnte er deshalb keinen Honig essen.

Er rasierte sich über dem Handwaschbecken. Notgedrungen betrachtete er sich, während er mit dem Rasierapparat über Wangen und Kinn fuhr. Auch mit dem Gesicht war es mit zunehmendem Alter besser geworden. Die Kopfform hatte durch die leicht abgesackten Wangen an Kontur verloren, tiefe Falten hatten sich nicht nur zwischen Nase und Mundwinkeln in seine Haut gekerbt, und seine Augen wirkten etwas eingesunken.

Er legte den Kopf leicht zurück und drehte sich mehr ins Licht, um sich den Halsansatz zu rasieren. Das Badezimmer hatte kein Fenster, und die elektrische Beleuchtung war schlecht. Auch in die anderen Zimmer fiel kaum Sonnenlicht, denn sämtliche Fenster gingen auf die Brandmauer des Nebengebäudes hinaus. Aber er hatte die Wohnung damals unbedingt haben wollen, weil sie im obersten Stockwerk lag, was bedeutete, dass niemand an seiner Tür vorbeikam, und weil ihm niemand aus einem Nachbarhaus in die Wohnung schauen konnte. Außerdem hatte er auf dem Innenhof, in dem ständig ein muffiger Geruch hing, weil es durch die verwinkelte Bauweise dort nur im Hochsommer richtig trocken wurde, einen Parkplatz dazumieten können. Der Makler, der damals schon zu einer Rede über die Bausünden der sechziger Jahre und einen gewissen Spielraum beim Mietpreis ansetzen wollte, hatte mit fliegenden Fingern den Vertrag ausgefüllt.

Nach der Rasur ging er in die Küche, spülte den Glaskolben der Kaffeemaschine aus und legte die Tüte mit den restlichen Aufbackcroissants aus dem Supermarkt in den Kühlschrank. Sie hielten sich erfahrungsgemäß ewig.

Auf dem Tisch lag der Hefter mit den Unterlagen zu der aktuellen Anfrage, die er am Abend zuvor noch einmal auf der Suche nach einem versteckten Hinweis durchgelesen hatte. Er ging mit dem Hefter in den Salon, nahm einen weiteren aus der Hängeregistratur rechts vom Schreibtisch und steckte beide zusammen mit seinem Laptop in eine Schultertasche.

Wie in den übrigen Räumen folgte auch die Einrichtung des Salons rein praktischen Erwägungen. Ein graues Sofa, auf dem er gelegentlich vor dem Fernseher einschlief, ein Couchtisch, ein Sessel und in der Nische am Fenster der Schreibtisch mit ein paar Bücherregalen. An den Wänden hing kein einziges Bild, und auf dem Schreibtisch herrschte die Ordnung derjenigen, die erst gar nichts an den falschen Platz legen, um es später nicht wieder aufräumen zu müssen.

Seine Reisetasche hatte er schon gepackt. Sie stand an der Garderobe. Er ging ins Schlafzimmer, zog das Bettzeug glatt und kehrte in die Küche zurück, um die kleine Tüte mit den Abfällen zu holen, die er auf dem Weg zum Auto in die Mülltonne werfen wollte.

Dann ging er wieder in den Salon, nahm das Telefon auf dem Schreibtisch ab und wählte aus dem Kopf eine Nummer. Er hatte ein sehr gutes Gedächtnis, aber diese Nummer war mehr oder weniger die einzige, die er regelmäßig anrief, also war es nicht allzu erstaunlich, dass er sie auswendig wusste. Während es klingelte, bemerkte er stirnrunzelnd, dass die drei Stifte nicht gerade ausgerichtet neben dem Notizblock lagen, und rückte sie zurecht. Dann sah er abwartend durchs Fenster auf die Brandwand hinaus.

«Allô?»

«Aurélie, ich bin’s.»

«Ah, mein Richard, mon chéri! Wie geht es dir?»

«Gut, danke.» Keinem Menschen außer Aurélie würde es in den Sinn kommen, ihn mon chéri zu nennen. Diese Worte hatten für ihn einen beinahe irrealen Klang, so wie der Goldkessel am Ende des Regenbogens. Richard Lebrun glaubte nicht an menschliche Zuneigung, oder jedenfalls nicht an die Verlässlichkeit menschlicher Zuneigung. Als er noch berufstätig gewesen war, hatte sich seine jüngere Kollegin Estelle sehr viel Mühe gegeben, um das zu ändern, und beinahe hätte er sich von ihr überzeugen lassen. Das musste nach etwa zwei Jahren gewesen sein, aber dann hatte sie aufgegeben – und ein weiteres Jahr später Pierre Demas aus der Buchhaltung geheiratet.

Seither hatte sich Richard eine noch härtere Schale aus korrektem Umgang und einer merkwürdig schroffen Höflichkeit zugelegt. Niemand konnte wissen, ob sich hinter diesem Panzer tatsächlich der sprichwörtliche weiche Kern verbarg. Möglicherweise war da auch gar nichts. Nicht einmal ein Stein.

Aurélie aber setzte sich über all das hinweg. Obwohl er sich nahezu immer zurückzog, sobald Gäste in Les Balaines waren, und sich auch sonst für keinerlei Smalltalk zur Verfügung stellte, war und blieb er für Aurélie mon Richard und mon chéri. Und daran konnte, das glaubte sogar er selbst, nichts und niemand etwas ändern. Er besuchte sie regelmäßig für jeweils einige Tage, das hatte er auch schon vor seiner Pensionierung getan. Seit Ernest gestorben war, kam er noch öfter. Auch jetzt hatte er sich wieder bei ihr angemeldet.

«Um wie viel Uhr kommst du an, mon chéri? Reicht es für ein gemeinsames Mittagessen irgendwo?», fragte Aurélie.

«Nein, ich komme erst nachmittags», sagte Richard. «Ich mache noch einen Abstecher nach Pau. Aber abends geht es, was meinst du?»

«Ja, wunderbar. Sollen wir zu Hause essen? Ich würde dann mal nachsehen, was es in meiner Küche so gibt.» Für Aurélie hieß das, dass sie Madame Sèvres bitten würde, ein Abendessen vorzubereiten.

Richard wusste, dass ihm Aurélie diesen Vorschlag machte, weil er lieber zu Hause aß.

«Ist sonst noch jemand da?», erkundigte er sich, um einer Essenstafel mit den quirligen Künstlerfreunden oder sonstigen Bekannten zu entgehen, die Aurélie auch nach Ernests Tod treu geblieben waren.

«Nein, es ist sonst niemand hier. Damien wollte zwar schon wieder kommen, aber ich habe ihm gesagt, dass mein Bedarf noch von seinem letzten Besuch gedeckt ist.»

Richard war erleichtert.

«Er fällt dir auf die Nerven, seit Ernest nicht mehr da ist, oder?», fragte er.

Aurélie schnalzte geringschätzig mit der Zunge. «Unter anderem.»

Richard gab einen unbestimmten Brummton von sich. Dann sagte er: «Ich komme so gegen vier Uhr, denke ich.»

«Gut, ich freue mich schon. Bis später, mon chéri.»

In der Kurve an einem steilen Straßenstück rutschte Karim das Hinterrad des Rollers weg. Es hatte zwar aufgehört zu regnen, aber die schmale Straße war noch nass, und es tropfte von den Bäumen auf die üppig mit Farnen und Hecken bestandenen Böschungen. Er fuhr kurz langsamer, bis er aus der Kurve war, und wischte sich ein paar Tropfen vom Helmvisier. Als Erstes hatte er die peinliche Windschutzscheibe von dem Roller abmontiert.

Das Gefährt hatte sich Karims Mutter gebraucht gekauft, als sie nach St. Julien gezogen waren, aber sie hatte in dem verregneten Herbst damals schnell festgestellt, dass sie ein Auto brauchte, um zur Arbeit zu kommen. Karim hatte ihr ständig in den Ohren gelegen, bis sie ihm an seinem fünfzehnten Geburtstag schließlich gestattete, die Fahrerlaubnis zu machen und den Roller zu benutzen. Es war ein roter Peugeot Vivacity, und Karim wusste noch ganz genau, was für ein Gefühl von Freiheit er gehabt hatte, als er das erste Mal aufgestiegen war.

Er beschleunigte wieder. Die 45 Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit waren ihm viel zu langsam, vor allem jetzt, wo er wieder mal zu spät dran war. Eigentlich hatte er überhaupt keine Lust, zu dieser Madame Delphine zu fahren. Wütend dachte er daran, wie sie ihn erwischt hatte. Vor Schreck war ihm mit einem Schlag das Blut aus den Wangen gewichen, noch jetzt bekam er bei dem Gedanken daran ein komisches Gefühl. Diese Frau hatte sich angeschlichen wie eine Katze.

Vergeblich drehte er am Gasgriff des Rollers. Am liebsten hätte er den Motor entdrosselt, aber wenn das jemand feststellen würde, wäre der nächste Ärger fällig. Karim hasste es, überall so unter Druck zu stehen. Seine Mutter erpresste ihn mit dem Roller zu schulischen Leistungen, und wenn sie erst von dieser Madame Delphine erfuhr, würde sie den Roller vermutlich augenblicklich verkaufen. Ständig fehlte ihm Geld für Benzin oder andere Sachen, und nun drohte ihm diese commissaire mit einer Anzeige, wenn er nicht tat, was sie wollte. Die Polizei aber würde in seinem Fall kein Auge mehr zudrücken, das war klar.

Mit so viel Schräglage, wie es der Roller zuließ, ging Karim in die letzte Kurve und fuhr an der dichten, ordentlich beschnittenen Hecke aus Kirschlorbeer entlang, die das Grundstück begrenzte. Dann bog er durch das offenstehende Tor auf den kiesbestreuten Platz vor dem Haus ein.

Zwei in Form gezwungene Platanen bildeten mit ihren Ästen und Blättern ein Dach, unter dem ein zerschrammter Renault Twingo stand. Karim zog den Helm ab und verstaute ihn unter der Sitzbank des Rollers. Außer dem Tor stand auch die Haustür auf. Die reinste Einladung. Oder sollte das so eine Art Test sein?

«Hallo?», rief er zurückhaltend in Richtung Haustür. Wenn sie ihn nicht hörte, konnte er sich darauf herausreden, dass er schließlich da gewesen war, oder? Er streifte sich die Kapuze seiner Jacke über den Kopf und blieb unschlüssig stehen.

«Hast du dich erkältet?», ertönte plötzlich eine Stimme, und Karim zuckte zusammen. Schon wieder hatte ihn diese Madame Delphine erschreckt. Sie stand nicht an der Haustür, sondern war offenbar auf dem Weg seitlich des Hauses aus dem Garten gekommen. In graugrünen Hosen, einem dunkelblauen Pullover, die halblangen braunen Haare mit Klemmen aus dem Gesicht gesteckt, kam sie auf ihn zu. Sie sah ganz anders aus, als die Madame Delphine in Rock und Kostümjacke vom Montag.

«Nein, warum?», fragte er misstrauisch.

«Weil du mit so einem leisen Stimmchen gerufen hast. Man könnte beinahe meinen, du wolltest nicht gehört werden», sagte sie.

«So ein Quatsch.» Er bohrte die Hände in die Taschen seiner Kapuzenjacke.

Sie lächelte ihn an. «Da bin ich aber froh», ließ sie ihn mit aufreizender Betonung wissen.

Er wusste, dass sie ihn durchschaut hatte, und sie wusste, dass er es wusste, aber so schnell würde er sich garantiert nicht von ihr weichkochen lassen.

«Und wo soll ich jetzt Rasen mähen?», fragte er lustlos.

«Mit Rasenmähen ist heute nichts, bei der Feuchtigkeit. Jetzt machen wir erst mal einen Plan für die nächsten Wochen, und dann überlege ich mir was für heute. Komm mit.»

Er trottete ihr nach ins Haus. Hinter der Haustür, die aus einer inneren Sprossenfenstertür und einer äußeren Tür aus Holz bestand, befand sich eine tiefe Garderobennische. Daran schloss sich ein Zimmer an, in dem Karim ein Klavier stehen sah. Der Hausflur führte durch das gesamte Erdgeschoss. Die Tür am anderen Ende vermutlich in den Garten. Die ziegelroten Bodenfliesen in dem breiten Flur waren abgetreten, und an der rechten Seite stand eine tiefe, lange Holzkommode, über der ein alter, rechteckiger Spiegel quer an der Wand hing. Der Rahmen war einmal vergoldet gewesen, jetzt aber war er an vielen Stellen matt oder abgeblättert. Als Karim beim Vorbeigehen einen Blick in den Spiegel warf, mäanderte sein Bild in Wellenbewegungen neben ihm mit, wie er es schon einmal bei einem Schulausflug in ein Loire-Schloss mit lauter altem Zeug gesehen hatte.

Sie betraten die rechts liegende Küche, von der ebenfalls eine Tür in den Garten führte.

«Setz dich», sagte Delphine und deutete auf den langen Küchentisch, «und zieh diese Kapuze ab.»

Karim schob die Kapuze nach hinten weg, setzte sich und verschränkte die Arme.

«Willst du was trinken?», fragte Delphine, während sie einen Schrank öffnete, in dem Geschirr und Gläser standen.

«Weiß nicht.»

«Es gibt Wasser und Orangensaft, Cola nicht, Milch und Tee. Und Eistee, aber selbstgemacht. Oder willst du ein Glas Champagner, um wie Napoleon deinen Sieg oder deine Niederlage zu begießen?»

Karim sah sie verständnislos an.

Sie lachte. «Vergiss es. Also, was willst du trinken?»

«O-Saft», sagte er. Nach kurzer Stille ließ er folgen: «Bitte.»

Sie stellte ihm ein Glas Orangensaft hin, schenkte sich auch eines ein und setzte sich mit einem Stift und einem Notizblock zu ihm an den Tisch. «So, jetzt zähl mir mal auf, was du alles kannst», sagte sie.

«Wie meinen Sie das, was ich alles kann?», fragte er und hielt sich an dem Glas mit Orangensaft fest, ohne daraus zu trinken.

«Wir wollen ja darüber reden, was du in den nächsten vier Wochen so machst. Also wäre es gut zu wissen, was du kannst», erklärte sie und hob die Augenbrauen.

«Weiß nicht.»

«Auf was hättest du denn Lust?»

«Weiß nicht», sagte er wieder. Glaubte sie wirklich, dass er auf irgendwas von dem hier Lust hatte?

«Kannst du denn überhaupt Rasen mähen?»

«Weiß nicht.»

«Mon Dieu! Das wird langsam ein bisschen monoton. Weiß nicht ist auch keine so richtig gute Strategie, mein Kleiner. Wenn du von irgendwas keine Ahnung hast, sagst du besser: Das habe ich noch nie gemacht, aber es wird bestimmt klappen.»

Karim ärgerte sich noch darüber, dass sie ihn ‹mein Kleiner› genannt hatte, als sie mit dem Stift auf ihren Notizblock klopfte und weitersprach. «Das funktioniert mit ein bisschen angepasster Wortwahl bis in die höchsten Spitzen von Wirtschaft und Politik, das kannst du mir glauben.»

Weil darauf anscheinend kein Kommentar erwartet wurde, trank Karim nur einen Schluck Orangensaft.

«Alors», fuhr Delphine fort, «überlegen wir. Zum Rasenmähen ist es ja noch zu feucht … Kannst du Tomaten pikieren?»

Karim öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sie sahen sich an. «Das habe ich noch nie gemacht, aber es wird bestimmt klappen», sagte er schließlich und musste grinsen.

«Dann wird’s Zeit!», rief Delphine, sprang auf und ging in den Garten hinaus.

Eine ausgedehnte Rasenfläche wurde an der Stirnseite von einer stacheligen Hecke begrenzt, hinter der die Weideflächen lagen, die Delphine dem Nachbarsbauern verpachtet hatte. An der linken Seite der Stachelhecke ragte eine gewaltige unbeschnittene Platane empor, die zu ihren Artgenossen vor dem Haus in einem Verhältnis stand wie vom Frondienst verkrüppelte Leibeigene zu ihrem stolzen Lehnsherrn. Unter dem enormen Baum war ein Sitzplatz eingerichtet, von dem man über das weite hügelige Land mit seinen Weiden, Hecken und Wäldchen blicken konnte. Um den Rasen hatte Delphine die Hortensien ihrer Mutter mit ein paar Stauden ergänzt. Der Nutzgarten, der ebenfalls von ihren Eltern angelegt worden war, befand sich rechts etwas zurückversetzt zwischen einem langgesteckten Holzbau mit Steinsockel, dem früheren Stallgebäude, und dem Schuppen. Delphine hatte noch nicht entschieden, wie viel Arbeit sie in den Gemüsegarten investieren wollte. Bestimmt nicht so viel wie ihre Eltern, deren Beete und Gemüse eine Pracht gewesen waren. Allerdings hatten ihre Eltern auch ungezählte Stunden mit Gartenarbeit verbracht. Aber ein paar Tomaten wollte Delphine auf jeden Fall setzen und auch ein paar Kräuter. Sie nahm die Gartenschere, die sie in dem Korb abgelegt hatte, der meistens auf der Sitzbank neben der Küchentür stand. Unter der Bank lagen ein Paar alte Espadrilles, die sie schon längst hatte wegwerfen wollen, und diverse Gartenschuhe. «Willst du Gummistiefel?», fragte sie Karim und löste damit ein empörtes Kopfschütteln aus. «Bon. Wo der Schuppen ist, weißt du ja schon.» Delphine warf einen scharfen Blick in Karims Richtung. «Auf dem Tisch steht eine Holzkiste mit den Pflänzchen. Später kommen sie da hinten an die Mauer, wo die gedrehten Metallstäbe stecken.»

Karim ging hinüber in den Schuppen. Durch mehrere Fenster fiel Licht herein, und er sah sich um. Beim ersten Mal hatte ihn Madame Delphine beinahe sofort erwischt, sodass er keine Zeit gehabt hatte, alles in Augenschein zu nehmen. Da waren Regale mit Blumentöpfen, Drähten, Gartenscheren und flachen Kisten, in denen so etwas wie vertrocknete Kartoffeln lagen. In der Ecke stand eine Tonne, in der Gartengeräte steckten wie ein Blumenstrauß. Ein Regal beherbergte Farbeimer und Pinsel. Und noch mehr Gartengeräte. Außerdem gab es einen Rasenmäher, einen weißen Korbstuhl, an dessen Rahmen das Flechtwerk aufgegangen war und nun spiralförmig um die Beinkonstruktion hing. Und an der Wand links von der Tür lehnte ein uraltes Fahrrad mit platten Reifen, aus dessen Gepäckkorb eine zusammengerollte Strandmatte herabhing wie ein feucht gewordenes Baguette.

Von alldem hätte er nicht das Geringste auf ebay verticken können. «Verkaufe grün-weiß gestreiftes Gartenmöbelpolster, ziemlich durchgesessen …» Wahrscheinlich hätten sich die Kaufinteressenten eine regelrechte Bieterschlacht geliefert.

Seufzend ging er zu einem Tisch unter dem Fenster, auf dem die Keimlinge in einer alten Kiste standen. Das Holz der Kiste war grau verwittert, bestimmt diente sie nicht das erste Mal als Kinderstube für Pflanzen. Vor diesem Grau und der dunklen Erde in der Kiste hoben sich die Keimlinge in leuchtendem Hellgrün ab.

Hinter Karim kam jetzt Delphine in den Schuppen. Sie ging zu einem der Regale und nahm kleine Plastikblumentöpfe heraus, die wie Trinkbecher ineinandersteckten.

«Voilà», sagte sie, stellte die Blumentöpfe auf den Tisch und zog eine Sitzbank darunter heraus. «Wir vereinzeln jetzt die Keimlinge, damit sie sich in ihren eigenen Töpfchen weiterentwickeln können. Hol doch mal da drüben den Beutel mit der Erde her.»

Karim brachte den schweren Beutel und stellte ihn neben die Blumentöpfe auf den Tisch. Nachdem sie die Kiste mit den Keimlingen etwas weggerückt hatte, kippte Delphine den Beutel um, sodass die dunkle Erde auf den Tisch rutschte.

«Erst mal füllen wir die kleinen Blumentöpfe mit Erde. Möchtest du Handschuhe?», fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

«Nein.» Karim ließ sich langsam auf die Bank nieder und sah zu, wie Delphine Erde in die einzelnen Blumentöpfe häufte und sie nebeneinanderstellte. Er schob seine Jackenärmel hoch und ahmte ihr Beispiel nach. Die Erde war feucht und körnig und blieb an der Haut kleben.

«Wo wohnt ihr eigentlich?», fragte Delphine.

«Rue maréchal Bertin», sagte Karim und drückte Erde in einem Topf fest. «Das ist hinter dem Sportplatz.»

«Ja, ich weiß», sagte Delphine. Es war keine schlechte Gegend. Allerdings gab es in St. Julien gar keine schlechten Gegenden, wenn man an Paris dachte, aber eine gute Gegend war es auch nicht. «Und wo arbeitet dein Vater?»

«Keine Ahnung.»

Delphine hob den Kopf. «Keine Ahnung?»

«Genau. Keine Ahnung, und es interessiert mich auch nicht», sagte er aggressiv. Er hätte sich gern die Kapuze über den Kopf gezogen, auch damit ihm seine Locken nicht ständig ins Gesicht fielen, aber inzwischen waren seine Hände überall mit der feuchten Erde beschmiert und unter seinen Fingernägeln hatten sich schwarze Halbmonde gebildet.

Delphine schwieg.

«Er hat uns sitzenlassen, als Maman mit Noni schwanger war», sagte Karim schließlich.

«Ist das schon lange her?»

«Ewigkeiten», sagte Karim. «Ich kann mich kaum an ihn erinnern. Und Noni hat ihn noch nie gesehen.» Er tauchte bis zum Ellbogen in den Beutel, um mehr Erde herauszuschieben, und musterte anschließend seinen verdreckten Arm.

«Fließend Wasser ist hier schon eingeführt», sagte Delphine. «Und was hattest du mit der Polizei zu tun?», fragte sie dann.

Karim zuckte mit der Hand von der Erde zurück, aus der sich ein glänzender Regenwurm wand.

«Trag den am besten raus», sagte Delphine.

«Mit der Hand?», fragte Karim, ohne den Blick von dem Wurm zu lösen, der seinen Körper zusammenzog und wieder streckte, um ein neues Versteck zu finden.

«Er wird dich schon nicht auffressen, ist ja schließlich nicht das Ungeheuer von Loch Ness.» Delphine rollte mit den Augen. «Aber du kannst ihn auch auf die Schaufel da kriechen lassen.»

Karim stand auf. Dann schob er den Wurm mitsamt einem Häufchen Erde auf seine Hand und war wie der Blitz an der Schuppentür und wieder zurück.

«Wusste gar nicht, dass du dich so schnell bewegen kannst», sagte Delphine. «Aber der Wurm ist dir bestimmt dankbar. So. Jetzt nehmen wir die Keimlinge und setzen sie einzeln in die Töpfe.»

Nachdem er sich wieder auf die Bank gesetzt hatte, betrachtete Karim die winzigen Pflanzen in der Kiste. Sie waren nur ein paar Zentimeter hoch, hatten zwei zarte Blättchen und unheimlich dünne Stängel.

«Das kann ich nicht», sagte er.

«Wieso kannst du das nicht? Eben hast du uns doch noch vor dem Monsterregenwurm gerettet.»

«Die Stängel gehen bestimmt kaputt, wenn ich daran ziehe», sagte Karim.

«Du ziehst ja auch nicht daran. Wir breiten die Erde mit den Keimlingen hier auf dem Tisch aus und nehmen sie ganz vorsichtig einzeln hoch. Ich zeig’s dir mal.»

Auch nachdem es ihm Delphine vorgemacht hatte, hielt Karim bei den ersten Pflänzchen die Luft an. Die Stängel fühlten sich viel zu zart und empfindlich zwischen seinen Fingern an, und an ihrem haarfeinen Wurzelwerk hingen einzelne schwere Erdkrumen und drohten die Wurzeln abzureißen. Wenn er Daumen und Zeigefinger nur einmal zu fest zusammendrückte, wäre das Pflänzchen hinüber.

«Und?», sagte Delphine.

«Was und?»

«Ich hatte dir eine Frage gestellt.»

Hätte er sich denken können, dass sie es nicht vergessen hatte. «Blöde Sachen eben.»

«Zum Beispiel?»

Er stöhnte. «Müssen wir darüber reden?»

«Nein, aber mir wäre es lieber, wenn ich wüsste, mit was ich es hier zu tun habe.»

Unwillkürlich presste Karim Daumen und Zeigefinger zusammen. Sofort verwandelte sich der Stängel des Setzlings in grüne Schmiere. Karim verharrte in der Bewegung, damit Madame Delphine nichts mitbekam, auch wenn der obere Teil des Keimlings verdächtig schräg über seinem Zeigefinger lag. Aber sie hatte ihren Blick nur auffordernd auf sein Gesicht gerichtet.

«Einmal haben sie mich mit Ecstasy-Pillen erwischt», sagte er unwillig. «Bei einer Razzia im Jugendtreff.»

«Hast du damit gedealt?», fragte Delphine.

«Nein!», rief Karim. «Ich hatte am Anfang der Party vier Stück bekommen und eine genommen.»

«Da warst du ja bestimmt unheimlich gut drauf.»

«Ja, war ich auch.» Unauffällig ließ er das ermordete Pflänzchen unter ein wenig Erde verschwinden.

«Machst du so was öfter?», erkundigte sich Delphine.

«Nein», sagte Karim leise und bohrte ein Loch in die Erde eines Blumentöpfchens, um die Wurzel des nächsten Keimlings darin zu versenken. Er hielt ihn so behutsam zwischen den Fingern, als wäre er eine Seifenblase. «Ist auch zu teuer.»

«Aber die vier Pillen hast du bezahlen können, was?»

«Die hab ich geschenkt bekommen.» Das war gelogen, er musste sie noch bezahlen. Aber Karim dachte an Renaud, der gedroht hatte, ihm ein Messer zwischen die Rippen zu stecken, wenn er jemals irgendwem seinen Namen nannte.

Delphine stöhnte. «Auf so eine Masche fällst du rein? Du musst doch wissen, dass es nur das erste oder vielleicht auch zweite Mal ein Geschenk ist. Danach willst du die Dinger so dringend, dass du alles Mögliche dafür tust.»

Karim murmelte etwas Unverständliches hinter seinen Locken.

«Und was war außerdem noch?»

«Müssen Sie das wirklich alles wissen?», fragte Karim genervt.

«War es denn so schlimm?»

«Hab was geklaut», sagte Karim nach einer Pause. «Aber ich will nicht darüber reden.»

Delphine sah ihn prüfend an. «Na gut», sagte sie und pflanzte den nächsten Keimling um. Sie hatten inzwischen schon mehr als die Hälfte in einzelne Töpfchen gesetzt.

Eine Zeitlang machten sie schweigend weiter. Vom Garten drang Vogelgezwitscher zu ihnen herein, und die Schuppentür knarrte im Windzug.

«Sind Sie wirklich eine commissaire?», fragte Karim schließlich.

«Das war ich bis letztes Jahr.»

«Aber nicht hier, oder?»

«Nein. In Paris.»

Karim zog sich einen der letzten Blumentöpfe heran. «Und warum haben Sie dann noch eine Waffe, wenn Sie nicht mehr im Dienst sind?»

«Oho! Ein Verhör!», rief Delphine und lachte. «Das hat dich wohl schwer beeindruckt, wie?» Kurz darauf fügte sie hinzu: «Reine Vorsichtsmaßnahme.» Dann stand sie auf und kam mit einem Handbesen an den Tisch zurück. «Und jetzt kehren wir die übrige Erde zusammen, stellen die Töpfe ans Fenster, und du gießt ein bisschen Wasser rein. Aber nur wenig, klar? Das sind keine Sumpfpflanzen.»

Nachdem sie fertig waren, gingen sie ins Haus zurück und wuschen sich in der Küche die Erde von den Händen.

«Das war’s für heute, Karim», sagte Delphine, als sie sich die Hände abtrocknete, und reichte ihm das Handtuch weiter. «Du hast dich gar nicht schlecht angestellt. Sagen wir bis nächsten Mittwoch um dieselbe Zeit?»

Karim hängte das Handtuch an den Haken zurück. «Okay.»

«Hast du ein Handy?»

«Ja.»

«Dann tauschen wir jetzt unsere Nummern aus. Wenn dir was dazwischenkommt, meldest du dich, verstanden? Und denk dran, dass wir ein Abkommen haben. Ich werde meinen Teil auf jeden Fall einhalten – und zwar vor allem, wenn du deinen Teil nicht einhältst.»

Delphine diktierte ihm ihre Telefonnummer. «Was sagt überhaupt deine Mutter zu der Sache?»

«Ist doch egal.» Karim war genervt. «Ich bin schließlich gekommen, wie wir es abgemacht hatten.» Er versenkte das Handy in der Seitentasche seiner Cargo-Hose, und seine Hand tauchte mit einem Schlüsselbund wieder hervor.

Delphine musterte ihn. «Sie weiß überhaupt nichts davon, stimmt’s?» Karim klimperte nur mit dem Schlüsselbund. «Du kannst dir vorstellen, was jetzt kommt, oder?», fragte sie.

Er zuckte wütend mit den Schultern.

«Du musst es ihr sagen», kam es erwartungsgemäß von Delphine. «Ich kann hier nicht deine Komplizin spielen. Was hast du ihr denn erzählt, wo du jetzt bist?»

«Gar nichts.» In Wahrheit hatte Karim seiner Mutter versprochen, am Mittwochnachmittag zu lernen. Aber der Nachmittag war ja noch nicht vorbei. «Ist sowieso arbeiten», fügte er hinzu und starrte auf den Boden.

«Und wenn sie erfährt, was los war, gibt es Riesenstress», sagte Delphine.

Karim nickte.

«Tja, so was nennt man eine Zwickmühle.» Delphine trank den Rest Orangensaft, der noch in ihrem Glas war. «Hast du einen Vorschlag?», fragte sie.

Karim schüttelte niedergeschlagen den Kopf.

«Mir fällt nur eine Möglichkeit ein», sagte Delphine, «und die wird dir genauso wenig gefallen wie alles andere.»

«Madame Gueron?»

Die Miene der beinahe überschlanken, blonden Frau, die an Delphines Tisch getreten war, wirkte angespannt. Sie strich eine feuchte Haarsträhne zurück, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. Auch die Schultern ihrer Jacke waren feucht, anscheinend hatte sie bei dem Regen keinen Schirm dabeigehabt.

«Ja, die bin ich», sagte Delphine. «Und Sie sind Sophie Amandier.»

Sie hatte sich mit Karims Mutter in der Bar Balea verabredet. Ein kleines, unprätentiöses Lokal mit braunen Holzmöbeln, das etwas zurückversetzt am zentralen Platz von St. Julien lag. Draußen hatte man einen guten Blick auf das erhöhte Orchester-Rondell, das die Mitte des Platzes bildete, auf dem im Sommer flaniert, gefeiert und getanzt wurde. An diesem verregneten Abend allerdings war dort kein Mensch unterwegs.

Karim hatte ihr die Handynummer seiner Mutter zunächst nicht geben wollen, aber Gegenargumente waren ihm auch nicht eingefallen. Und weil Delphine nichts davon hielt, solche Dinge auf die lange Bank zu schieben, hatte sie Sophie Amandier gleich nach Karims Abfahrt auf der Mailbox um einen Rückruf in einer Arbeitspause gebeten. Keine fünf Minuten später hatte sie angerufen.

«Setzen Sie sich doch», sagte Delphine und rückte ihr Weißweinglas zur Seite. Während Sophie ihre Jacke auszog, fragte sie: «Was möchten Sie trinken?»

Karims Mutter begriff sofort, dass Delphine später nicht mehr von einem Kellner gestört werden wollte, und sagte mechanisch: «Eine Orangina.»

Wenig später stand das Getränk auf dem Tisch. Sophie ließ ihren Zeigefinger über die bauchige kleine Flasche mit dem Orangenhautrelief gleiten. Sie hatte den Blick auf die kleinen Bewegungen ihres Fingers gesenkt, wodurch die Schatten unter ihren Augen und der herbe Zug um ihren geschwungenen Mund noch stärker auffielen.

«Ich habe Ihnen ja schon am Telefon gesagt, weshalb ich mich mit Ihnen treffen wollte», sagte Delphine, um das Gespräch zu beginnen.

Sophie hob den Blick und sah Delphine bekümmert an. «Ja», sagte sie nur.

«Wie mir Karim heute erzählt hat, wussten Sie nichts von der Absprache, die er mit mir getroffen hat. Und ohne Ihre Zustimmung möchte ich das nicht machen», fuhr Delphine fort und trank einen Schluck Wein. «Außerdem fand ich, dass wir uns kennenlernen sollten.»

Sophie schaute zum Tresen hinüber und kehrte dann mit ihrem Blick wieder zu Delphine zurück. «Ich hatte Karim gesagt, dass ich bei der nächsten Sache dieser Art den Roller verkaufe.» Sie seufzte. «Ich muss konsequent bleiben, sonst verliert er den Respekt vor mir.» Sie hielt kurz inne. «Falls er überhaupt noch welchen hat.»

Delphine ahnte, welche Kämpfe die beiden miteinander ausfochten und auch, wie sehr Sophie fürchtete, ihr Sohn könne endgültig in die Kriminalität abrutschen. «Es geht mir nicht darum, auf sein Verhalten keine Konsequenzen folgen zu lassen», sagte sie, «aber ich frage mich, ob diese Konsequenz nicht das Arbeiten für mich sein könnte statt des Rollerverkaufs.» Sie lächelte kurz. «Davon abgesehen, fürchtet er sich davor, dass ich ihn bei der Polizei melde, wenn er es nicht tut.»

«Trotzdem», sagte Sophie. «Ich muss dafür sorgen, dass er mich ernst nimmt.»

Vom Tresen klang Gelächter herüber, aber keine von ihnen achtete darauf. Sophie runzelte die Stirn. «Sie haben mir noch nicht erklärt, warum Sie das eigentlich überhaupt alles machen wollen, Madame Gueron», sagte sie.