Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Sie kannte nicht einmal den Namen ihrer Großmutter Die junge Goldschmiedin Lilo hat ein sehr angespanntes Verhältnis zu ihrer Mutter, von deren familiären Wurzeln sie so gut wie nichts weiß. Als ein Schreiben auftaucht, das mit der Großmutter zu tun hat, stellt Lilo Fragen, und es kommt zum Streit. «Deine Großmutter hat mein Leben zerstört!», schreit die Mutter schließlich. Lilo ist sprachlos – und beginnt Nachforschungen anzustellen. Als ihr Mann aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, hofft Agnes auf das lang entbehrte Eheglück. Aber Walter leidet unter Albträumen, verhält sich autoritär und abweisend. Agnes flüchtet sich in ihre Arbeit bei der französischen Besatzungsverwaltung, wo sie Anerkennung erfährt und ein Gefühl der Freiheit erlebt. Doch nach der Geburt der Tochter soll sie wieder an den heimischen Herd. Ihr Zuhause wird für sie zum Gefängnis. Als Agnes schließlich etwas über Walter erfährt, was große Sprengkraft besitzt, muss sie sich entscheiden: Will sie für ihren Traum von Selbstbestimmung kämpfen oder sich in ihr Schicksal fügen? Ein bewegender Roman über die Geschichte unserer Mütter und Großmütter – und was ihr Schicksal für unser eigenes Glück bedeutet.
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Valerie Jakob
Roman
Sie kannte nicht einmal den Namen ihrer Großmutter.
Die junge Goldschmiedin Lilo hat ein sehr angespanntes Verhältnis zu ihrer Mutter, von deren familiären Wurzeln sie so gut wie nichts weiß. Als ein Schreiben auftaucht, das mit der Großmutter zu tun hat, stellt Lilo Fragen, und es kommt zum Streit. «Deine Großmutter hat mein Leben zerstört!», schreit die Mutter schließlich. Lilo ist sprachlos – und beginnt, Nachforschungen anzustellen.
Als ihr Mann aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, hofft Agnes auf das lang entbehrte Eheglück. Aber Walter leidet unter Albträumen, verhält sich autoritär und abweisend. Agnes flüchtet sich in ihre Arbeit bei der französischen Besatzungsverwaltung, wo sie Anerkennung erfährt und ein Gefühl der Freiheit erlebt. Doch nach der Geburt der Tochter soll sie wieder an den heimischen Herd. Ihr Zuhause wird für sie zum Gefängnis. Als Agnes schließlich etwas über Walter erfährt, was große Sprengkraft besitzt, muss sie sich entscheiden: Will sie für ihren Traum von Selbstbestimmung kämpfen oder sich in ihr Schicksal fügen?
Ein bewegender Roman über die Geschichte unserer Mütter und Großmütter – und was ihr Schicksal für unser eigenes Glück bedeutet.
Unter dem Namen Valerie Jakob schreibt eine der erfolgreichsten Übersetzerinnen von Romanen aus dem angloamerikanischen und französischen Sprachraum. Nach «Hôtel Atlantique» und «Mauersegler» erzählt sie hier von drei Frauen einer Familie, die an weitervererbten Traumata zu zerbrechen droht. Mit ihren Werken eröffnet Valerie Jakob auf kluge und berührende Weise den Blick auf die Verstrickungen einzelner Schicksale in den großen Lauf der Geschichte.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Heike Brillmann-Ede
Covergestaltung Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Coverabbildung Magdalena Russocka/Trevillion Images
ISBN 978-3-644-01907-2
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
www.rowohlt.de
Es würde knapp werden. Lilo räumte ihre Skizzen in den Entwurfsordner, schnappte sich die Handtasche und verließ ihr Büro. «Ich muss weg, Herr Trautmann», rief sie im Flur durch die offene Tür in die Goldschmiedewerkstatt.
Trautmann, tief über ein Werkstück gebeugt, hob zum Gruß nur eine Hand, ohne den Blick von der diffizilen Arbeit zu lösen. Er war der älteste Mitarbeiter bei Juwelier Falkner, abgesehen von Falkner selbst, der den kleinen Traditionsbetrieb in dritter Generation führte. Jetzt gerade bestückte er im Verkaufsraum, den Lilo auf ihrem Weg nach draußen durchquerte, eine Schmuckvitrine. Das war eigentlich die Aufgabe der Verkaufsmitarbeiterin Lea Westheimer, die sich vor ein paar Tagen krankgemeldet hatte.
«Viel Spaß.» Falkner lächelte sie an, wobei sich die Falten in seinem hageren Gesicht weiter vertieften, und Lilo dachte wieder einmal, dass Falkner genau der richtige Name für ihn war. Aber er wirkte auch müde. «Und richten Sie Ihrer Mutter herzliche Glückwünsche aus.»
«Mach ich», sagte Lilo. Viel Spaß, dachte sie dabei, gab es allerdings mit ihrer Mutter eher selten. Sie war einfach kein Mensch, zu dem Spaß haben passte.
Draußen herrschte strahlendes Wetter. Überall im Stadtzentrum saßen schon Leute vor den Cafés in der Sonne, und große, üppig bepflanzte Blumenkübel schmückten die Gehwege vor den Geschäften, an deren Schaufenstern Kurgäste vorbeiflanierten. Die Fassaden waren renoviert, beinahe alle historisch, es gab Brunnen, Rabatten, Parks und natürlich die mondänen Spa-Tempel. Dieses Baden-Baden in all seiner gepflegten Schönheit und Pracht der alten Kurstadt wirkte auf Lilo manchmal fast ein bisschen unheimlich, obwohl sie schon seit zwei Jahren hier wohnte. Die Schulzeit in Ettlingen und die anschließende Ausbildung zur Goldschmiedin mit den darauffolgenden Berufsjahren in Pforzheim schienen eine Ewigkeit her. Und vielleicht war der Grund für diese manchmal beunruhigende Ausstrahlung Baden-Badens auf sie ja, dass sie zuvor in Pforzheim gelebt hatte, einer Stadt, die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg zu achtzig Prozent zerstört hatten, worauf sie oft mehr praktisch als schön wiederaufgebaut worden war. In der Kurstadt dagegen schien man in einigen Stadtbezirken ein geradezu unwirkliches Idyll zu durchstreifen. Aber vielleicht war der Grund für diese widersprüchliche Empfindung auch einfach, dass in diesen beiden Jahren zu viel passiert war.
Auf dem Weg zum Auto besorgte Lilo einen Blumenstrauß. Bevor sie losfuhr, stellte sie mit dem Navi fest, dass es wieder Stau auf der A5 gab, also würde sie über Land fahren. Das tat sie auch ohne Stau öfter, denn es dauerte nur wenig länger, und sie kam direkt bei dem südlichen Bezirk von Ettlingen heraus, in dem ihre Mutter wohnte.
Als sie die Stadt hinter sich hatte, herrschte nur noch wenig Verkehr. Vor ihr lag die Straße mit ihren sanften Kurven, begleitet von Feldern, auf denen die Getreidesaat aufging, und schattigen Waldstücken.
Hier ist es passiert, dachte sie wie jedes Mal seit über einem Jahr, wenn sie an der Autobahn bei Rastatt vorbeikam. Und wie jedes Mal fühlte sie sich an jenen düsteren Abend in ihrer Wohnung zurückversetzt.
Dabei liebte sie diese Wohnung. Zwei Zimmer und ein halbes, wie der Vermieter es genannt hatte, in das nur ihr Bett, ein Schrank und ihr großer Sessel aus dem französischen Antikmarkt passten. Der Verkäufer hatte ihr hoch und heilig versichert, dass dieser fauteuil aus der Epoche von Louis Philippe stammte. Charakter hatte der Sessel jedenfalls mit seinen geschwungenen Armlehnen aus Kirschholz und dem mattgrün gestreiften Polsterbezug. Aber er war nicht das Beste an der Wohnung. Das Beste war der Balkon. In Pforzheim hatte sie im zweiten Stock gewohnt und als Gegenüber eine schmucklose Hausfassade gehabt. Hier aber ging ihr Blick über die Dächer hinweg Richtung Rhein, und auch wenn sie den Fluss nicht sehen konnte, so doch die oft genug spektakulären Farben des Himmels bei Sonnenuntergang. Am Anfang hatte sie Witze darüber gemacht, dass sie die Stelle bei Falkner nur wegen dieser Wohnung angenommen hatte. Das war natürlich nur die halbe Wahrheit, wenn überhaupt. Sie war in der Goldschmiedewerkstatt in Pforzheim an ihre Grenzen gestoßen, hatte sich auch nach ihrer Meisterprüfung nicht entfalten können. Und bei Falkner hatte dann alles gestimmt. Das freundliche Klima und die herzliche Aufnahme in den Familienbetrieb, in dem Falkner seinen älteren Sohn Theo zum Nachfolger ausgebildet hatte, die Freiräume zur Gestaltung eigener Stücke und das Gehalt. Der alte Falkner war nur noch selten da gewesen, hatte nur noch auf den richtigen Moment gewartet, um ganz auszusteigen.
Lilo schüttelte den Kopf, um diese Gedanken loszuwerden, die stets in den gleichen Schleifen verliefen und immer nur in eine Richtung führten. Vor ihr tuckerte ein Trecker, sodass sie herunterschalten musste.
«Die Meisterin aus Pforzheim», hatte Theo bald nach der Einstellung mit einem Grinsen gesagt, «wird noch unser größtes Juwel, das spüre ich in den Knochen.»
«Dann hoffe ich, nicht eines Tages auf einer Auktion zu enden», hatte sie zurückgegeben.
«Was macht die Goldschmiedezunft mit ihren größten Schätzen?», hatte er darauf oberlehrerhaft gefragt, und sie hatten zugleich geantwortet: «Sie behält sie für sich selbst.»
Solche humorvollen, vielsagenden Bemerkungen hatte es von Anfang an zwischen ihnen gegeben. Eine besondere Stimmung oder Schwingung. Weil sie sehr gut miteinander arbeiten konnten, natürlich, und weil sie sich gut verstanden, den gleichen Humor hatten – aber auch, weil sie beide wussten, dass da noch mehr war, ohne dass sie es aussprachen. Äußerlich war es eine rein berufliche Beziehung, und sie hatten sich nicht privat getroffen. Doch es hatte zwischen ihnen geknistert, und es hatte ihnen beiden gefallen, diesen Schwebezustand noch ein bisschen zu verlängern.
An jenem Abend hatte Lilo in einem dicken Pullover auf ihrem Balkon gesessen und in das milchige Rosahimmelblau über der Rheinebene geschaut. Ihr war durch den Kopf gegangen, dass man dieses Farbenspiel vermutlich nie in ein Schmuckstück übersetzen könnte, ohne dass es kitschig würde, als ihr Handy summte. «Möchte die Meisterin aus Pforzheim etwas mit mir trinken?» Er hatte sie noch nie nach Feierabend angerufen. Seine Stimme schien jede ihrer Körperfasern vibrieren zu lassen, durchflutete sie mit Adrenalin. Er hatte den Schritt getan, den Schwebezustand verlassen. Heute würde der Abend sein.
«Ich sitze gerade mitten im Abendrot, das ist genau die richtige Atmosphäre dafür.» Dafür.
«Schätzungsweise bin ich in einer halben Stunde da.» Es klang so selbstverständlich, so folgerichtig.
Lilo war aufgesprungen, hatte den Pullover weggeschleudert, ein blaues Oberteil angezogen, das zu ihrer Augenfarbe passte, und sich im Badezimmerspiegel angegrinst, während sie sich die dunklen Locken bürstete, und hatte dann über sich selbst gelacht, einfach, weil sie sich so leicht fühlte. Wie schwerelos.
Der Trecker bog ab, und Lilo gab Gas. Doch sie konnte den Erinnerungen nicht entkommen. Sie hatte an jenem Abend gewartet, die erste halbe Stunde wie betrunken vor Vorfreude. Sich dann überlegt, was Theo aufgehalten haben könnte oder wo er überhaupt gewesen war, als er sie anrief. Sie schloss die Augen bei dem Gedanken daran, wie die Zeit vergangen war, sie umsonst versucht hatte, ihn zurückzurufen. Dann war es Nacht geworden, und über die Rheinebene hatte sich Schwärze gesenkt.
Ganz früh am nächsten Morgen hatte der alte Falkner angerufen. «Der Laden bleibt heute zu», hatte er mit schwankender Stimme gesagt, «können Sie sich darum kümmern?» Er musste sich räuspern, bevor er hinzufügte: «Theo ist gestern Abend verunglückt. Er ist … tot.»
Lilo wusste nicht, wie sie die folgende Zeit ohne Felix überstanden hätte, ihren besten Freund seit langen Jahren.
Es war nicht mehr weit bis zu ihrer Mutter. Lilo schaltete das Autoradio ein. Gerade lief Sunset von Demi Lovato. Ausgerechnet. Als würde sie nicht schon oft genug darüber nachgrübeln, ob sie Theo mit ihrer Bemerkung bei dem Telefonat dazu gebracht hatte, nach dem Abendrot zu schauen statt auf die Straße.
Sie parkte vor dem Haus.
«Alles Gute zum Geburtstag!», gratulierte Lilo fröhlich, als ihre Mutter an die Tür kam.
«Oh, vielen Dank.» Ihre Mutter nahm den Blumenstrauß und ging damit ins Haus.
Das ist wie in einer schlechten Theaterszene, dachte Lilo, als sie ihr folgte. Nein, auf der Bühne würden sie sich noch Wangenküsse geben, aber das kam bei ihnen selten vor. Dafür war ihre Mutter nicht der Typ. Zu kühl.
Lilo ließ den Blick umherschweifen. Auch weiterhin hatte sich nichts verändert in dem hübschen kleinen Einfamilienhaus in diesem Randbezirk von Ettlingen. Alles war ordentlich wie immer. Alles stand an seinem Platz wie immer. «Hat Paps eigentlich gar nichts mitgenommen?» Lilo folgte ihrer Mutter in die Küche.
«Doch, doch, aber mehr so kleinere Sachen.» Ihre Mutter stellte den Blumenstrauß in eine Vase und lockerte die Blütenstängel auf.
«Hat er sich zu deinem Geburtstag gemeldet?»
«Ja, heute Vormittag», kam es knapp von ihrer Mutter. «Den Strauß stelle ich ins Wohnzimmer, da habe ich am meisten davon», fügte sie hinzu, womit klar war, dass sie nicht über Lilos Vater sprechen wollte.
«Ich mache den Kaffee.» Lilo öffnete den Hängeschrank.
«Hast du dir den Nachmittag extra freigenommen?» Ihre Mutter war mit der Vase in den Händen stehen geblieben.
«So kann man es nicht nennen. Ich habe Tausende von Überstunden.» Lilo füllte Wasser und Kaffeepulver in die Maschine und stellte sie an. Auf dem Tisch stand eine Tüte von der Bäckerei. «Soll der Kuchen auf eine Platte?»
«Ich hab schon welchen ins Wohnzimmer gebracht. Aber vielleicht kommen später noch ein paar Leute aus der Gruppe, deswegen habe ich ein bisschen mehr gekauft.»
Die Gruppe war ein loser Zusammenschluss von Leuten aus dem Ort, mit denen Lilos Eltern immer wieder Fahrten, Wanderungen und Museumsbesuche unternommen und wer weiß wie viele Geburtstage gefeiert hatten. Lilos Mutter war stets für die Abrechnungen der Fahrtkosten und dergleichen zuständig, kein Wunder bei ihrem Beruf als Bankangestellte.
«Wie, vielleicht? Hast du sie denn nicht eingeladen?»
Ihre Mutter drehte sich an der Tür um. «Na ja, nein. Um so was hat sich ja immer Wolfgang gekümmert. Und ich weiß auch nicht, es wird so viel getratscht.» Sie meinte offenkundig ihre Trennung. «Aber es kann sein, dass ein paar einfach so kommen.»
Lilo sah ihre Mutter an. Einfach so kommen, auch unangemeldet, ja, das war in dieser Gegend hier durchaus möglich, wenn man sich schon so lange kannte. Und eigentlich ein sympathischer Zug, wenn es nicht überhandnahm. Aber so etwas würde ihre Mutter selbst nie tun, sie war im Grunde eine Einzelgängerin.
Genau wie ich, dachte Lilo.
Ihre Mutter hatte schon den Kaffeetisch gedeckt. Zwei Gedecke. Der Raum war freundlich, die Fenster gingen auf den Garten hinaus, in der Ecke stand eine Sitzgruppe, eine halbe Wand wurde von einem Bücherregal eingenommen, und an den Wänden hingen vergrößerte Landschaftsfotos von Urlaubsreisen.
«Wer kümmert sich denn jetzt um den Garten?», fragte Lilo. Sie stand an der Terrassentür und musterte die frisch gemähte Rasenfläche und die ordentlich bearbeiteten Staudenbeete.
«Wolfgang war ein paarmal da. Er weiß ja, dass ich nicht gern im Garten arbeite, und wollte nicht, dass die Leute reden.»
Lilo sparte sich einen Kommentar. Was die Leute redeten, hatte ihren Vater noch nie interessiert. Wahrscheinlich hatten ihm die Pflanzen leidgetan. Ihre Eltern hatten sich vor einem halben Jahr getrennt. Geschieden waren sie noch nicht, aber das würde wohl bald kommen. Ihr Vater hatte eine Freundin, das war der Auslöser für die Trennung gewesen, aber über Einzelheiten hatten weder er noch Lilos Mutter mit ihr gesprochen. Es fiel Lilo schwer, sich in die neue Situation einzufinden, auch wenn sie schon lange von zu Hause ausgezogen war. Zu sehr fehlte ihr Vater mit seiner Art, immer noch mal nach dem Rechten zu schauen und danach, ob auch jeder alles hatte. Außerdem belastete sie der Gedanke, wie schwer es ihrer Mutter fallen musste, ihr Leben mit Anfang sechzig noch einmal ganz neu zu denken.
«Ich hole den Kaffee», sagte sie und ging in die Küche.
Beim Kuchen unterhielten sie sich über Lilos Arbeit. Seit Theo nicht mehr da war, wie Lilo es bei sich nannte, war der alte Falkner wieder mit eingestiegen, obwohl es ihn zuweilen überforderte.
«Damit kompensiert er den Tod seines Sohnes», sagte Lilos Mutter.
«Vermutlich.» Lilo hatte ihr nichts darüber erzählt, was sich zwischen ihr und Theo angebahnt hatte oder von ihren Gefühlen nach seinem Tod. Das war ihr irgendwie unpassend erschienen. Anfänglich war es ja nur eine Verliebtheit gewesen, die sie für sich behalten hatte wie ein Geheimnis, während es in der Ehe ihrer Eltern schon heftig kriselte. Und nach dem Unfall war da die Freundin ihres Vaters gewesen samt seinem bevorstehenden Auszug.
Lilo nahm sich noch ein Stück Kuchen. «Falkner hat schon vor einer ganzen Weile eine Stelle ausgeschrieben, damit er jemanden hat, der ihn bei Verwaltung und Absatzförderung entlastet. Auf die Dauer schaffen wir die Arbeit nicht allein.»
«Dann bist du noch ziemlich gefordert, bis es so weit ist», stellte ihre Mutter fest, «aber ich verstehe, dass du dich darauf eingelassen hast. Die Konditionen sind ja wirklich gut. Du musst nur aufpassen, dass du dir keine Fehler leistest, bei dieser Belastung. Das kann sich schlecht auswirken.»
Keine Fehler. Das war eine Maxime ihrer Mutter. Man musste immer hundert Prozent geben, immer ein bisschen besser sein als die anderen, dann konnte man auch nicht kritisiert werden. Lilo sagte nichts dazu.
Nach dem Schock über Theos Tod hatte sie sich eine Auszeit nehmen und sich dann nach einer anderen Stelle umsehen, irgendwo einen neuen Anfang machen wollen. Doch der alte Falkner hatte ihr viel geboten, damit sie blieb. Als Nachfolger hatte er nun seinen jüngeren Sohn Paul bestimmt, der seine Ausbildung im Betrieb absolvierte. Zur Belegschaft gehörten außer Lilo und Trautmann nur noch Lea Westheimer und die Halbtagssekretärin Ruth Gessner. Zurzeit hatte Lilo einige der Aufgaben Theos übernommen. Und weil der alte Falkner Wert auf eine gute Regelung legte, hatte er Lilo zugesagt, ihr mehr Raum zur Entwicklung eigener Ideen zu lassen und ihr dafür, wenn diese sich betriebswirtschaftlich gut entwickelten, nach der Übernahme durch Paul eine eigene Abteilung einzurichten.
Die Neudefinition ihres Arbeitsbereichs verlangte ihr einiges ab, doch das war ihr nur recht. Es war gut, Aufgaben zu haben, die ihre Zeit ausfüllten und ihr ein Ziel gaben.
«Ich habe ein paar Entwürfe bei einem Wettbewerb für Schmuckdesign eingereicht», erklärte Lilo nun. «Und für dich habe ich auch etwas gemacht.» Sie angelte nach ihrer Handtasche und nahm eine kleine Schachtel heraus. «Zum Geburtstag!» Beinahe hätte sie gelacht, als sie das angestrengte Lächeln ihrer Mutter sah. Mit Schmuck hatte sie noch nie viel anfangen können, und es wäre ihr viel lieber gewesen, wenn Lilo «etwas Reelles» wie Betriebswirtschaft studiert hätte.
«Es ist ganz schlicht», versprach Lilo. «Notfalls kannst du es auch einschmelzen lassen und einen Goldbarren daraus machen. Na ja, einen winzig kleinen.»
Ihre Mutter öffnete die kleine Schachtel. «Das ist sehr hübsch. Vielen Dank.» Jetzt wirkte ihr Lächeln echt. Sie nahm die feine Kette heraus, an der ein Tropfen aus Gold hing, und ließ ihn hin und her pendeln. «Ein Tropfen so flüchtig wie Wasser und doch aus beständigem Gold. Unvergänglich ist beides.»
Erstaunt hob Lilo den Blick. Ob das irgendein Zitat war? Bevor sie nachfragen konnte, klingelte es. Ihre Mutter ging an die Tür, und Lilo hörte vom Wohnzimmer aus einen beschwingten Trupp «Happy Birthday, Monika» durcheinanderrufen. «Da kommt Besuch», murmelte Lilo vor sich hin, «einfach so.»
Sie ging in den Flur und wurde von den Leuten, die Lilo zum Teil noch aus der Schulzeit kannte, mit genauso viel Hallo begrüßt wie ihre Mutter, die leicht überfordert, aber doch erfreut zwischen ihnen stand. Zwei der Frauen trugen Kuchen und Schüsseln mit Salat in die Küche. Lilo wechselte ein paar Worte mit allen, während sie mit leicht schlechtem Gewissen überlegte, ob sie sich jetzt früher verabschieden konnte. Nun hatte ihre Mutter ja Gesellschaft und war an ihrem Geburtstag nicht allein.
Als alle um den Wohnzimmertisch saßen und ihre Mutter noch einmal in die Küche ging, lief Lilo ihr nach.
«Sag mal, ist es okay, wenn ich jetzt gehe?», fragte sie. «Ich möchte noch ins Schwimmbad. Ist ziemlich kurz gekommen in letzter Zeit. Ich meine, wenn das mit dem Besuch für dich in Ordnung ist.» Ohne Paps, dachte sie, sprach es aber nicht aus.
«Geh nur», sagte ihre Mutter, «ich muss mich sowieso daran gewöhnen.»
Als Lilo von ihrer Abschiedsrunde aus dem Wohnzimmer zurückkam, wartete ihre Mutter an der Haustür auf sie. Auf dem Garderobentisch lag ein frankierter Brief.
«Soll ich den für dich einwerfen?»
Ihre Mutter zögerte den Bruchteil einer Sekunde. «Das kann ich morgen selbst tun.» Sie machte eine Bewegung in Lilos Richtung.
«Ach wo, den nehme ich gleich mit. Vor dem Schwimmbad ist ein Briefkasten.» Lilo nahm den Umschlag und wollte ihn in die Handtasche stecken. Dabei fiel ihr Blick auf den Namen des Empfängers, und sie verharrte in der Bewegung. «Frank Steiner?» Sie sah ihre Mutter an. «Steiner ist doch dein Geburtsname.»
«Ja.»
«Und wer ist Frank Steiner?»
«Mein Cousin», sagte ihre Mutter knapp.
«Ich dachte, du hast keinen Kontakt mit denen.»
«Habe ich auch nicht.»
«Und was schreibst du ihm dann?»
In das kurze Schweigen mischte sich lebhaftes Geplauder aus dem Wohnzimmer.
«Das ist eine vollkommen unwichtige Sache.» Sie klang übermäßig entschieden. Als Lilo nichts sagte, fügte ihre Mutter hinzu: «Da muss eine bürokratische Angelegenheit geregelt werden. Nichts weiter.»
«Monika, wo bleibst du denn? Wir wollen auf dich anstoßen!» Katja, eine der Frauen, war in den Flur gekommen. «Oh, ich dachte, du bist schon weg, Lilo. Ich wollte nicht stören.» Sie drehte sich zum Wohnzimmer um.
«Schon gut, ich gehe gerade.» Lilo steckte den Brief ein. Dann fügte sie an ihre Mutter gewandt hinzu: «Bis bald, Mama, habt einen schönen Abend.»
1952
Noch zweihundert Meter, dann war sie auf der Anhöhe. Agnes trat in die Pedale. Der Weg stieg in einer lang gezogenen Kurve um den Hügel nur leicht an, und es war überhaupt nicht notwendig, sich zu verausgaben, doch es gefiel ihr, sich zu bewegen, vorwärtszukommen. Aus eigener Kraft.
Oben an der kleinen Kapelle hielt sie an. Vor ihr fielen die Weinberge zu den weit unten gelegenen Gemüsefeldern ab, die bis zum blauen Schimmer des Rheins reichten, während hinter ihr Mähwiesen mit Obstbäumen zum höher gelegenen Wald anstiegen.
Die Kapelle war offenkundig seit Jahren nicht mehr aufgeschlossen worden. In dem altmodischen Schlüsselloch hatten Generationen von Spinnen genistet und eine dichte weißliche Gaze hinterlassen. Agnes warf einen Blick durch das vergitterte Fenster. Wie immer war nur der staubige, leere Altar zu sehen und dahinter ein einfaches Kreuz an der gekalkten Wand. Agnes trat von dem Fenster zurück. In der Außenwand daneben befand sich eine vertiefte Mauernische mit dem einzigen Schmuck der Kapelle, einem farbig gefassten Stuckrelief. Die tränenüberströmte Maria beugte sich über ihren Sohn. Wind und Wetter hatten an ihr genagt, sodass ihr Kleid nur noch in den Falten die ursprüngliche blaue Farbe aufwies und das der Vorderseite zugewandte Auge halb blind wirkte.
Obwohl Agnes hier oben nur selten einmal jemanden sah, stand vor dem Relief in der Nische manchmal eine Kerze in einer schlichten Laterne oder, so wie an diesem Tag, ein Glas mit Wildblumen. Zwischen langen Gräsern und beflaumten Lanzettblättern wiegten sich im leichten Wind wie auf einem Wiesenstück blaue Flockenblumen, gelber Hahnenfuß, Margeriten und Schafgarbe. Der Strauß würde mit der Zeit vertrocknen, doch irgendwann würde wieder ein frischer da stehen. Wer die Kerze und die Blumen brachte, wusste Agnes nicht, allerdings gab es in diesen Jahren genügend Witwen und kinderlose Mütter, die dafür infrage kamen. Sie betrachtete die Mariengestalt, die untröstlich über den Tod ihres Sohnes weinte, der für seine Ideale gestorben war und sie allein zurückgelassen hatte.
Agnes lehnte das Rad an die Eiche neben der Kapelle und ließ sich auf der zerfurchten Bank unter dem dichten Blattwerk nieder. Weiter links erstreckte sich das weite Tal von Baden-Baden, wo sie arbeitete, und rechts setzte sich die Hügelkette fort, an der zwischen Weinbergen und Wald Rotweier lag. Terrassenartig senkten sich die unregelmäßigen kleinen, je nach Hanglage angelegten Weinberge vor ihr ab, miteinander verbunden durch kurze Steilpfade oder Treppchen, an denen sich Bäume krümmten, denen man kaum zutraute, Obst oder Walnüsse hervorzubringen. Doch sie taten es jedes Jahr. Jetzt im Frühling standen blühende Schlehen wie duftige Wolken auf den Trockensteinmauern der Rebterrassen, und bald würden dort Wildrosen blühen und Brombeeren reifen. Es frappierte Agnes immer wieder aufs Neue, wie friedlich diese Landschaft wirkte, wie altmodisch-schön. Als könnte es nichts Böses auf der Welt geben. Dabei hatte das Böse sie erst hierhergebracht.
Früher hatte sie mit ihrer Familie in Rastatt gewohnt. Ihre Eltern waren dort nie heimisch geworden. Sie waren in Straßburg geboren, wo ihre Familien seit Jahrzehnten gelebt hatten, doch als das Elsass nach dem Ersten Weltkrieg wieder französisch geworden war, hatten deutschstämmige Beamte wie Agnes’ Vater und auch sein Bruder nicht bleiben dürfen. Der französischen Kultur hatten ihre Eltern dennoch immer näher gestanden als der deutschen. Sie hatten sogar ihre Kinder zweisprachig erzogen und häufig mit ihnen die Großeltern besucht, die weiter in Straßburg gewohnt hatten.
Agnes fragte sich, ob ihr Gefühl, nicht richtig dazuzugehören, das sie unterschwellig schon lange vor den dramatischen Ereignissen der letzten Jahre in sich gehabt hatte, ein Erbe von ihren Eltern war. Den Vertriebenen. Aber sie konnte ihnen keine Fragen mehr stellen. Ihr Vater war schon zu Beginn des Polenfeldzugs gefallen, zwei Tage nach seinem Bruder, und nie würde sie den Tag im September 1943 vergessen, der alles verändert hatte.
«Fliegeralarm!», schrie Buchmann ins Schreibzimmer, Sekunden nachdem die Sirenen losgeheult hatten. Da war Agnes schon von dem halb getippten Brief in ihrer Schreibmaschine aufgesprungen und hastete mit der übrigen Belegschaft aus dem Gebäude. Der nächste Luftschutzraum war zwei Querstraßen entfernt. Eine ältere Kollegin aus Buchmanns Betrieb, in dem Agnes als Schreibkraft arbeitete, schrie anfänglich bei jedem Dröhnen auf, doch dann wurde es still in dem Keller, während die Wände knackten und Sand aus den Mauerfugen rieselte.
Als sie sich nach drei Stunden mit vorsichtigen Schritten hinaustasteten, schlugen Flammen aus dem Verwaltungsbau gegenüber. Agnes rannte nach Hause, sah auf dem Weg, dass auch das Gebäude von Buchmanns Brennstoffe getroffen worden war. Der halb geschriebene Brief blitzte vor ihr auf. Nun würde Buchmanns Geschäftspartner nie erfahren, dass sich ihr Chef über die Qualität der letzten Brennholzlieferung beschweren wollte. Agnes schüttelte den Gedanken ab, rannte weiter, hetzte um die Ecke in ihre Straße und blieb wie erstarrt stehen. Das Mietshaus, in dem sie mit ihrer Mutter und ihren beiden Geschwistern wohnte, war ein lodernder Trümmerberg aus Stein und Gebälk, der eine infernalische Hitze ausströmte.
Es hatte niemand überlebt. Und später hatte man nicht einmal etwas gefunden, das man beerdigen konnte.
Zwei Tage danach war Agnes zu den Steiners eingeteilt worden, die bei der Sammelstelle angemeldet hatten, dass sie jemanden bei sich aufnehmen könnten. Sie wohnten ein ganzes Stück entfernt. In Rotweier, einem kleinen Ort bei Baden-Baden. Aber man konnte von Glück reden, wenn sich überhaupt eine Bleibe fand, und Agnes hatte ohnehin keine Wahl. Ihre einzige Tante war irgendwo in Frankreich, falls sie noch lebte. Mit zwanzig Jahren stand Agnes allein da, besaß nichts und niemanden mehr.
«Hier kannst du fürs Erste bleiben», sagte Frieda Steiner und zog die Tür zum Dachzimmer auf.
Agnes nahm das schlichte Bett, den Tisch und die Kommode kaum wahr. «Danke», sagte sie tonlos. Sie fühlte sich noch tagelang wie betäubt, zog sich in sich zurück, weinte, wenn sie allein war, und blieb still, wenn sie bei den Steiners am Tisch saß. Manchmal, wenn sie im Garten stand und in eine unbestimmte Ferne sah, stellte sich Ernst zu ihr, blickte in dieselbe Richtung wie sie und teilte ihr Schweigen, als würde er, der 1930 geboren war, mit seinen nun dreizehn Jahren verstehen, was in ihr vorging. Der jüngste Sohn der Steiners war genau wie sein Name. Ernst. Viel zu ernst für ein Kind.
Agnes brauchte Wochen, um wieder reagieren zu können. Um wieder zu ihrer Sprache zu finden, selbst wenn es nur um Alltägliches ging. Um festzustellen, dass sie etwas zu tun haben musste, dass sie die Treppe putzen, kochen, mit den Lebensmittelmarken losziehen, kilometerweit zu Fuß gehen musste, um eine Art inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Und um zu überlegen, wie es für sie weitergehen sollte. Auch wenn die Steiners nichts dazu gesagt hatten, konnte sie nicht dauerhaft bei ihnen bleiben. Sie hielten auf subtile Art Abstand. Mit Ausnahme von Ernst.
Agnes lächelte bei dem Gedanken an den Jungen, der sie in sein Herz geschlossen zu haben schien. Manchmal strich sie ihm über die Wange, gerührt von seiner kindlichen Zuneigung, und er ließ es sich verlegen gefallen. Aber ihr war bewusst, dass sie kein willkommener Gast in diesem Haus war, sondern eine Last, die Leute wie die Steiners aus Pflichtgefühl auf sich nahmen. Dennoch schuldete sie ihnen Dankbarkeit.
Du musst dich so nützlich wie möglich machen, sagte sie sich, bis du eine andere Lösung gefunden hast. Doch wie sollte sie eine andere Lösung finden, mitten im Krieg?
Es war November 1943, als ein Soldat in feldgrauer Uniform die Haustür aufschloss und hereinkam, während Agnes das abgeräumte Geschirr vom Mittagessen in die Küche trug.
Sie wusste sofort, wen sie vor sich hatte, obwohl sie diesem Mann noch nie begegnet war. Sein Foto stand auf der Kommode im Wohnzimmer, sein Gesicht wirkte allerdings nicht mehr so glatt, nicht mehr so jugendfrisch wie vor bald vier Jahren, als er sich wenige Monate nach Kriegsbeginn freiwillig gemeldet hatte. Bevor sie etwas sagen konnte, flog Frieda Steiner förmlich aus dem Wohnzimmer.
«Walter!», rief sie und warf sich so heftig in die Arme ihres Sohnes, dass er einen Schritt zurücktaumelte. «Wir wussten ja gar nicht, dass du kommst!»
«Dann wäre es ja auch keine Überraschung mehr gewesen.» Er grinste seine Mutter an. «Ich habe acht Tage Fronturlaub.»
Frieda zog ihn ins Wohnzimmer.
Gleich darauf kam sie zu Agnes in die Küche. «Wärm doch bitte die restliche Suppe auf, und Brot haben wir auch noch.» Dann war sie wieder verschwunden.
Während die Suppe warm wurde, schnitt Agnes ein paar Brotscheiben ab.
«Du bist also Agnes», erklang es hinter ihr.
Sie fuhr herum.
«Oh, leg das Messer weg, das sieht gefährlich aus.»
«Verzeihung, das war keine Absicht.»
Er lachte. «Ich wollte dich nicht erschrecken. Nur begrüßen, dazu bin ich ja vorhin nicht gekommen, als mich meine Mutter beinahe zu Fall gebracht hat.»
Er war jünger, als sie zuerst gedacht hatte. Vielleicht Mitte zwanzig. «Deine Eltern haben mich hier aufgenommen, weil ich …»
«Das weiß ich alles. Es gibt ja die Feldpost.» Er hob den Deckel des Suppentopfs. «Wie das riecht! Aber zuerst muss ich mich umziehen.» Er musterte sie einen Moment lang, bevor er sich umdrehte und die Treppe hinaufging.
Vor dem Krieg hatte er frisch verbeamtet im Vermessungsamt gearbeitet, seine Wohnung aber weiter im ersten Stock bei seinen Eltern gehabt. Das hatte ihr Ernst einmal erzählt, als er ihr sein eigenes Zimmer zeigte, das oben auf der gegenüberliegenden Seite des Flurs lag.
Mit Walters Ankunft erfüllte sofort eine ganz andere Energie das Haus. Er war umtriebig, kannte jeden in der Gegend, organisierte Kartoffeln, wo es eigentlich keine mehr gab, reparierte die beschädigte Dachrinne und hackte Holz.
Er würde in diesen Tagen am liebsten alles tun und für alles Vorsorge treffen, dachte Agnes.
Am Tisch machte er seiner Mutter Komplimente, wenn sie aus einem bräunlichen Büchlein mit dem Titel Erprobte Kriegsrezepte gekocht hatte oder Ersatzkaffee auf den Tisch stellte. Am Sonntag der Urlaubswoche beugte er sich tief über seinen Teller und atmete genießerisch ein. Es gab Rotkohl und Klöße, allerdings mit Wurstscheiben, weil Bratenfleisch nicht zu bekommen war. «Davon, Mutter», er legte kurz seine Hand auf ihre, «habe ich jeden Abend geträumt.»
Agnes sah Frieda Steiner zum ersten Mal richtig lächeln. Ohne diesen verhaltenen Ausdruck und ohne den schmerzlichen Zug, der sonst um ihren Mund lag. Sie erkannte die Frau, die sie einmal gewesen war, konnte sich vorstellen, wie sie als glückliche Familienmutter ausgesehen hatte.
Sie ist viel jünger, als sie wirkt, ging es Agnes durch den Kopf.
Walter war auch der Einzige, mit dem sein Vater richtige Gespräche führte. Karl Steiner war kriegsversehrt, sein linkes Bein war nur noch ein Stumpf. Er konnte sich mit Krücken fortbewegen, hatte jedoch häufig Schmerzen, die er mit unbewegter Miene ertrug. Die meiste Zeit saß er in seinem Lehnstuhl im Wohnzimmer neben dem Radio. Agnes hörte von ihm kaum mehr als die notwendigsten Worte. Nun aber setzte sich Walter abends zu ihm, und sie unterhielten sich mit gesenkten Stimmen.
Während Agnes im Umgang mit den Eltern Steiner gehemmt war, ging Walter so selbstverständlich mit ihr um, als wäre sie schon immer im Haus gewesen und keine Fremde. Keine Belastung.
«Weißt du eigentlich, was du für ein schönes Mädchen bist?», fragte er eines Abends, als sie sich auf der Treppe begegneten. «So dunkle Locken und ein Gesicht wie gemalt.» Agnes fühlte sich überrumpelt von seinen Worten. An ihr Äußeres hatte sie schon lange nicht mehr gedacht, obwohl sie in ihrem früheren Dasein vor dem Krieg, das jetzt sehr lange her zu sein schien, eher eitel gewesen war.
In meinem Dachzimmer gibt es nicht einmal einen Spiegel, kam es ihr in den Sinn. Das war ihr bis eben nicht einmal aufgefallen.
Er legte den Kopf schräg, als würde er ein Bild begutachten. Agnes wich ein wenig zurück, doch er kam nicht näher, sah sie nur durchdringend an. «Der Gedanke, dass du hier bei meinen Eltern bist, erleichtert mich», sagte er. «Ich muss bald wieder los, und man weiß nie, was kommt.» Es war eine Zeit, in der wenige Worte vieles sagten. «Du hast es selbst erlebt», fuhr Walter fort, «und Ernst ist noch zu jung, um sie wirklich zu unterstützen.»
«Ich weiß.» Seine Eltern hatten ihr beigestanden, als sie vor dem Nichts stand, taten es immer noch, und nun – das war es, was ihr Walter eigentlich gerade sagte – war es an ihr, ihnen ebenso beizustehen in all der Ungewissheit, die der Krieg brachte. Niemand konnte voraussehen, wer bei einem Bombenangriff oder bei einem Kriegseinsatz sterben würde. Agnes sah Walter an, wie er so voller Lebenswillen vor ihr stand. Dann legte sie ihm einen Moment lang die Hand auf den Arm. «Du wirst zurückkommen.»
«Das habe ich auch vor.»
Nach seinem Besuch schrieb ihr Walter Feldpostbriefe. Im ersten stand kaum mehr als das, was er ihr schon gesagt hatte – wie sehr es ihn beruhigte, dass sie in dieser schweren Zeit seinen Eltern eine Hilfe war, und dass er hoffte, dies würde so bleiben. Agnes wusste nicht recht, wie sie darauf antworten sollte. Briefe aus der Heimat waren eine Kostbarkeit an der Front, aber es verbot sich von selbst, etwas zu schreiben, das einen Soldaten im Kriegseinsatz beunruhigen könnte. Also schrieb sie nichts von ihren Sorgen über ihre eigene Zukunft oder von der Schwermut, die so oft im Haus herrschte, sondern von dem starken Schneefall, den es gegeben hatte, und als es wieder wärmer geworden war, von dem Hochwasser am Rhein.
Das Papier seiner Briefe war so dünn, dass die Schrift von der Rückseite durchschien, und die Bleistiftbuchstaben waren teilweise so blass, dass man sie kaum entziffern konnte. Wenn sie einen solchen Brief in der Hand hielt, dachte Agnes darüber nach, unter welchen Umständen Walter ihn geschrieben hatte. Ob in einem Unterstand am Einsatzort oder in der Etappe, oder ob er beim Schreiben auf eine leere Pritsche schaute, weil an diesem Tag einer seiner Kameraden gefallen war. Natürlich las sie die Briefe abends im Wohnzimmer Walters Eltern vor, die jede seiner Zeilen hören wollten, ebenso wie sie vorlasen, was er an sie geschrieben hatte. Sie sogen jedes Wort auf, obwohl er selten etwas Eindeutiges zum Kampfgeschehen berichtete, sondern vor allem Alltäglichkeiten, soweit man im Krieg von Alltag sprechen konnte. Stubendienst und Essenfassen, Wetterberichte oder eine Bitte um warme Socken.
«Er darf keine Einzelheiten von seinen Einsätzen mitteilen, das weißt du doch», sagte Karl Steiner, als seine Frau wieder einmal eine Bemerkung dazu machte. «Außerdem wird er bestimmt nichts schreiben, was dir noch mehr Sorgen macht.»
Frieda nickte nur. Dann blickte sie zu der Kommode neben der dunklen Anrichte, auf der die Fotos ihrer drei Söhne standen. Das mittlere mit einem schwarzen Schrägband um eine Ecke. Ihr Ältester. Gernot. 1940 gefallen bei Ypern.
Den nächsten Heimaturlaub hatte Walter im Mai 1944. Er dauerte nicht einmal eine Woche. Am dritten Tag grub er die Beete hinter dem Haus um. Es wirkte wie eine Tätigkeit aus Friedenszeiten, doch vor dem Krieg hatte Frieda Steiner ihre Lebensmittel im Ort gekauft. Inzwischen aber herrschte auch außerhalb der größeren Städte Versorgungsmangel. Deshalb pflanzten die Steiners wie viele andere Familien ihr eigenes Gemüse, pflegten sorgfältig die drei Obstbäume und die Beerensträucher. In der Vorratskammer standen die Einmachgläser mit Zwetschgen, Kirschen, Kürbis und Bohnen aus dem Vorjahr selbst jetzt noch in Zweierreihen.
Agnes lächelte Walter zu, als sie mit dem Wäschekorb vorbeikam. Am hinteren Ende des Gartens standen Pfosten mit Wäscheleinen. «Was kommt da rein?», fragte sie und hob das Kinn zu dem Beet.
«Hier pflanzen wir Rotkohl und Bohnen. Und da vorne versuchen wir es mit Kartoffeln.» Er wuschelte Ernst durchs Haar, der gerade mit einer Kiste Setzlinge aus dem Schuppen gekommen war. «Das übernimmt dieser junge Mann hier. Und er kümmert sich auch ums Gießen, oder?»
«Ja, Walter.» Ernst stellte die Kiste ab und ging wieder zum Schuppen. Nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal um. «Und für dich pflanze ich ein Beet mit Blumensträußen», rief er Agnes zu und lachte, und auch sie musste lächeln bei der Vorstellung von einem Blumenstraußbeet und dem warmen Gefühl, von Ernst gemocht zu werden.
«Er hat mir erzählt, wie gut er sich mit dir versteht.» Walter sah ihm nach. «Du bist für ihn beinahe schon wie eine große Schwester. Und er ist wieder ein bisschen fröhlicher geworden.»
«Es ist nicht leicht für ihn.» Agnes rechnete mit einer spöttischen Bemerkung. Leicht hatte es gerade gar niemand, und viele hatten es wahrhaftig schwerer als Ernst. Doch Walter unterbrach sie nicht. «Er versucht, euren Eltern Gernot zu ersetzen und auch dich, wenn du nicht da bist. Aber das ist natürlich unmöglich, und das spürt er.»
Walter stützte sich auf den Spaten. Ließ seinen Blick auf ihr ruhen.
Agnes wurde bewusst, wie schlecht ihr Rock und ihre Bluse saßen, wie stumpf die Farben nach ungezählten Wäschen waren, wie grob die ausgetretenen Halbschuhe. Sie besaß nur wenig zum Anziehen. Und die Sachen, die sie hatte, stammten aus der Kleidersammlung, die ein paar Frauen aus der Kirchengemeinde betrieben. Frieda Steiner hatte sie mit der Bemerkung hingeschickt, sich nicht zu viel auszusuchen, weil es noch andere Ausgebombte gab, die alles verloren hatten. Als hätte sie das vorgehabt. Und ja, sie musste für alles dankbar sein, aber manchmal hatte Agnes in der Sonntagsmesse das unangenehme Gefühl, von der einen oder anderen Frau aus dem Ort ein wenig gönnerhaft angesehen zu werden. Dann dachte sie, dass sie womöglich ein Stück trug, das früher dieser Frau gehört hatte. Aber vielleicht irrte sie sich auch. Vielleicht stammten die Sachen von Menschen, die gestorben waren. Und wenn es so war, wer waren diese Toten dann gewesen, deren Kleidung sie auftrug?
«Ernst ist nicht der Einzige, der sich in deiner Gesellschaft wohlfühlt.» Walter hatte den Spaten in der Erde stecken lassen und ging auf Agnes zu, bis er so nahe vor ihr stand, dass sie seinen Atem auf dem Hals spürte. Die Augen in seinem kantigen Gesicht waren graubraun, und auf seiner Stirn glänzte nach dem Umgraben ein leichter Schweißfilm. Er senkte den Blick kurz auf den Wäschekorb, den sie in den Händen hielt. Das einzige Hindernis zwischen ihnen.
«Agnes», sagte er leise, «ich …»
Doch bevor er weitersprechen konnte, erschien seine Mutter an der Hintertür zum Garten. «Walter», rief sie, «kommst du bitte?» Ihre Stimme erlaubte keinen Aufschub.
Nach dem Wäscheaufhängen stellte Agnes den Korb in dem Verschlag unter der Treppenschräge ab. Sie wollte nach oben in ihr Dachzimmer. Besonders jetzt, wo die Steiners diese wenigen wertvollen Tage mit Walter hatten, fühlte sie sich noch mehr als Fremdkörper und zog sich so viel wie möglich zurück, um das Familienleben nicht zu stören. An der Treppe angekommen, fiel ihr Blick durch die offene Wohnzimmertür. Walters Eltern saßen mit einem anderen Paar am Tisch. Alle vier hatten schweigend den Blick gesenkt. Vor dem Tisch stand Walter mit versteinerter Miene, die Hand auf die Schulter eines etwa zwölfjährigen Mädchens gelegt, das die Arme um ihn geschlungen hatte und in demselben Moment herzzerreißend zu schluchzen begann, in dem Agnes leise die Stufen hinaufging.
«Ich fühle mich nicht ganz wohl, deshalb möchte ich lieber nichts essen», gab Agnes später Frieda Steiner gegenüber vor. Auch abends blieb sie häufig in ihrem Dachzimmer, wenn Walter da war. «Aber ich kann den Tisch decken und später den Abwasch machen.»
Walters Mutter hatte ihr den Rücken zugewandt und reagierte nicht. Sie stand vor der Kommode mit den Fotos. Vollkommen versunken in die Betrachtung ihrer Söhne. Wahrscheinlich hatte sie Agnes gar nicht wahrgenommen.
«Kannst du bitte bei Bekannten Eier für uns abholen?», fragte Frieda Steiner am nächsten Tag.
«Ich wollte eigentlich nach Baden-Baden gehen.» Agnes stellte den Besen weg, mit dem sie die Eingangstreppe gefegt hatte. «Nach einer Stelle für mich suchen.»
«Warum glaubst du, dass du damit heute Erfolg haben könntest?», fragte Frieda Steiner. «Du hast doch die letzten beiden Male auch nichts gefunden.» Sie runzelte die Stirn. «Wir können die Eier nur heute abholen, und es ist nicht weit, nur im nächsten Ort.»
So etwas besprachen die Ansässigen beim Kirchgang, der inoffiziellen Informationsbörse, sodass man Bescheid wusste, wann man zu jemandem kommen konnte, der geschlachtet hatte oder Hühner hielt, genau wie über die jeweilige Tauschware.
«Du gehst einfach rechts aus dem Ort hinaus, bis du in Lengenheim bist. Dort kannst du dich dann zu den Riedlers durchfragen.»
Agnes war noch nie in dieser Richtung aus dem Ort gegangen, und Lengenheim kannte sie nicht. Aber vor allem widerstrebte es ihr, bei fremden Leuten nach dem Weg zu genauso fremden Leuten zu fragen. Sie nickte trotzdem. Was hätte sie auch anderes tun sollen, wenn Frieda Steiner sie um diesen Gefallen bat?
«Ich komme mit.» Walter war hinter seiner Mutter aufgetaucht. «Was habt ihr ausgemacht? Ein Glas Eingemachtes?»
«Das ist nicht nötig», sagte Frieda Steiner.
«Das musst du nicht», kam es gleichzeitig von Agnes.
«Ich weiß, Mutter», sagte Walter, «aber ich möchte die Riedlers sehen. Wissen, was mit Erich ist.» Sie wechselten einen Blick.
«Ist gut.» Frieda Steiner drehte sich zum Haus um. «Aber bleib nicht zu lang. Und Agnes, du kannst ein Glas Kirschen aus der Vorratskammer holen, da steht auch ein Korb.»
Unterwegs blieb Walter eine ganze Weile schweigsam. «Erich ist ein Klassenkamerad von mir», sagte er dann, ohne an das anzuknüpfen, was er am Tag zuvor im Garten hatte sagen wollen. «Er war nach seinem Lazarettaufenthalt bei seinen Eltern.»
«War er schwer verletzt?»
«Er hatte einen bösen Steckschuss im Oberschenkel.»
Das war inzwischen die Normalität. Man wusste ganz andere Dinge als früher. Man wusste, dass ein Steckschuss harmlos, aber auch tödlich sein konnte, genauso wie man wusste, dass der Tiger ein Panzer war oder wo Städte wie Stalino, Charkiw und Tobruk lagen, von denen man vor dem Krieg nie gehört hatte. Und auch manch anderes wusste man, aber darüber sprach man nicht mit jedem.
«Und jetzt?»
«Ist er beim nächsten Fronteinsatz.»
Sie hatten den Ort hinter sich gelassen. Rechts von ihnen stiegen Wiesen zum Wald hin an, während das abfallende Gelände links wie auf der anderen Seite des Hügels bei Rotweier mit Bruchsteinmauern terrassiert und mit Reben bepflanzt war. Ein grüner Hauch zeigte den jungen Blattaustrieb.
«Hat er sich denn wieder ganz erholt?»
«Das will ich ja von seinen Eltern wissen.»
Bald kamen die ersten Häuser von Lengenheim in Sichtweite. «Da oben hat die Familie auch noch ein Grundstück.» Walter deutete zum Waldrand hinauf. «Meine Großmutter hat dort Kartoffeln gezogen, und mein Großvater hatte eine Jagdhütte zum Übernachten.»
Agnes schaute in die Richtung. «Ich sehe nur Wald.»
«Da geht schon lange keiner mehr hin.» Walter zuckte mit den Achseln. «Ist bestimmt ganz zugewachsen.»
Kurz darauf erreichten sie Lengenheim.
«Hör mal …» Agnes blieb stehen. «Kannst du allein zu den Riedlers gehen? Ich kenne sie doch gar nicht, und es ist mir unangenehm, dabei zu sein, wenn du sie nach ihrem Sohn fragst. Und ihnen vielleicht auch.»
Walter runzelte die Stirn. «Ja, vielleicht.»
«Wir können uns hier wieder treffen. Ich warte da vorne auf dich.» Sie deutete nach links auf das Mäuerchen der ersten Weinbergterrasse.
Als Walter weitergegangen war, umrundete Agnes das kleine Rebenfeld, um nicht die ganze Zeit an dem Mäuerchen herumzustehen, nahm dann auf der anderen Straßenseite den Pfad an der Wiese entlang Richtung Wald und folgte ein Stück dem Waldrand. Ein kühler, erdig riechender Hauch wehte auf sie zu. Am Rand der Wiese tanzte ein Zitronenfalter. Als sie ihm mit den Augen folgte, sah sie Maschendraht im Unterholz. War das der Zaun des Grundstücks, von dem Walter gesprochen hatte? Der Maschendraht war an leicht schief stehenden Pfosten befestigt. Nach zwanzig Metern beschrieb der Zaun einen rechtwinkligen Knick in den Wald hinein, und dort folgte nach zehn weiteren Metern eine verzogene Maschendrahttür, die nicht mehr richtig an den Zaun anschloss. Agnes warf einen Blick über die Schulter, dann schob sie sich durch den Spalt. Das Grundstück war gar nicht so zugewachsen. Wahrscheinlich konnten sich im Wald nicht so viele andere Pflanzen entwickeln, jedenfalls noch nicht im Frühjahr. Weiter hinten stand eine Blockhütte aus Baumstämmen. An der Tür hing eine Sperrkette in verrosteten Ösen. Agnes spähte durch eins der trüben Fenster und machte einen groben Balkentisch und an der Wand ein ebenso plump gezimmertes Bettgestell aus.
Wie war es wohl für Walters Großvater, hier morgens nach der Jagd aufzuwachen?, dachte Agnes. Hatte noch der Tau im Gras gehangen, wenn er das geschossene Tier nach Hause trug? Oder hatte er es erst morgens aus dem Wald geholt?
Sie klopfte sich die Hände ab, mit denen sie sich an dem Fensterbrett abgestützt hatte, dann verließ sie das Grundstück wieder und kehrte zu dem Treffpunkt bei den Rebterrassen zurück. An das Mäuerchen gelehnt, beobachtete sie einen Bussard, der über der offenen Landschaft seine Kreise drehte. Bald würde er eine ahnungslose Maus erspähen und sie nach einem blitzschnellen Sturzflug packen, bevor sie wusste, wie ihr geschah.
«Was ist mit ihm?», fragte Agnes, als sie Walter auf sich zukommen sah.
Walter stellte den Korb ab. Die Eier waren in ein Tuch eingeschlagen. «Er hinkt jetzt.» Mehr sagte er nicht über seinen Schulfreund. Und das war auch nicht notwendig. Wer hinkt, kann im Einsatz nicht mehr so schnell reagieren. Nicht mehr so schnell in Deckung gehen.
Walter schien den Bussard auch gesehen zu haben. Aber vielleicht suchte er den Himmel auch nach Bombern ab. In den kleinen Orten dieser Region war vom konkreten Kriegsgeschehen wenig zu spüren, aber manchmal sah man Anflüge auf größere Städte. Wie auf Rastatt. Agnes begann zu frieren und schob die Bilder in ihrem Kopf sofort weg.
«Gestern …», fing Walter schließlich an. Agnes wartete ab, dachte wieder an ihre Begegnung im Garten. Doch dann sagte er: «Die Leute, die gestern da waren. Das waren die Bergmüllers. Wilhelms Eltern.»
«War das auch ein Freund von dir?» Dass dieser Besuch mit einer Todesnachricht gekommen war, musste ihr niemand erklären.
«Er war nicht irgendein Freund.» Walter klang aggressiv, als müsste sie das wissen. Und genauso aggressiv klang er, als er weitersprach: «Die Russen haben ihn einfach krepieren lassen!» Er bohrte die geballten Fäuste in die Hosentaschen. War pure Anspannung. «Da lagen nur noch Verletzte. Aber sie haben nicht zugelassen, dass die Sanitäter sie holen, haben den Beschuss fortgesetzt. Dabei hätte man ihn retten können.»
Agnes wusste nicht, wie sie auf seine Erschütterung und Wut reagieren sollte. Sie hätte ihn gern gefragt, wie er nach Jahren des Kampfes zu diesem Krieg stand. Zu den «Opfern auf dem Altar des Vaterlandes», wie es genannt wurde. Zu der Verherrlichung der Toten auf dem Schlachtfeld, zu denen auch sein Bruder und einige seiner Freunde zählten. Immer häufiger erschrak sie über ihre eigenen Gedanken und ihre wachsenden Zweifel an der «Sache», für die so viele starben. Fragte sich, was aus Miriam geworden war, einem Nachbarsmädchen aus Rastatt, das man eines Nachts mit seiner gesamten Familie aus der Wohnung geholt hatte. Alle im Haus hatten dazu geschwiegen. Auch sie.
Überall, in Radio, Zeitung und Wochenschau, wurden weiterhin nur deutsche Erfolge hervorgehoben, dennoch sickerten andere Informationen durch, und seit der verlustreichen Schlacht um Stalingrad hatte sich die Stimmung in der Bevölkerung verändert, so als hätte sich unmerklich etwas verschoben. Agnes kannte niemanden, mit dem sie über all das hätte sprechen können. Der leiseste Anschein von Kritik konnte zur Verhaftung führen. In Baden-Baden hatte ein Fünfzehnjähriger aus der Hitlerjugend sogar seine eigenen Eltern angezeigt. Sie sah Walter an, doch er war vollkommen von Wilhelms Tod vereinnahmt. Es war nicht der richtige Moment.
«Wie Pech und Schwefel waren wir», sagte Walter so leise, als spräche er zu sich selbst, «in der Schule, im Jungvolk, in der HJ, beim Einsatz für unser Land und unsere Sache.» Er lachte bitter auf. «Da oben im Wald haben wir uns mit den Fahrtenmessern die Arme aufgeritzt und uns Blutsbrüderschaft geschworen. Und jetzt haben ihn diese Schweine einfach verrecken lassen!»
Agnes überlief ein Schauder, als sie den Hass in seiner Stimme hörte.
«War er der einzige Sohn?», fragte sie sanft.
«Sie haben jetzt nur noch die Kleine. Margit.»
Im Krieg starben Männer. In nahezu jeder Familie wurden Tote beklagt, Träume zerbrochen, Hoffnungen zu Grabe getragen und unheilbare Wunden geschlagen. Agnes dachte an ihre eigene Familie, an das schwere Dasein ihrer Mutter als Kriegswitwe mit drei Kindern, von denen zwei noch zur Schule gegangen waren. Auch ihr Leben war ausgelöscht worden.
«Das wird schwer für sie.»
Walter sah sie an. «Ja, das wird schwer für sie.»
Spät an diesem Abend stand Agnes im Dunklen am Giebelfenster ihrer Dachkammer. Es beruhigte sie, in die Nacht hinauszusehen und hinauf zum Himmel mit den blinkenden Sternen, wenn sie nicht von Wolken verdeckt wurden. In solchen Momenten dachte sie darüber nach, wie es für sie weitergehen sollte, und nicht daran, ob ihre Familie von irgendeinem Himmel aus auf sie blicken könnte. Sie war katholisch erzogen, aber solche Vorstellungen waren ihr suspekt, obwohl sie dennoch in ihr wirksam blieben. Manchmal dachte sie darüber nach, wenn sie mit den Steiners die Sonntagsmesse besuchte. Darauf legten sie großen Wert.
Vielleicht nicht nur, weil sie um mein Seelenheil besorgt sind, dachte Agnes. So können sie auch zeigen, dass sie eine Ausgebombte bei sich aufgenommen haben, obwohl das ohnehin jeder weiß.
Als es an der Tür klopfte, ahnte sie, wer es war. Sie schaltete die Tischlampe an und öffnete die Tür.
«Ich wollte noch mit dir sprechen.» Mit wenigen Schritten durchquerte Walter den kleinen Raum. «Morgen geht es ja früh für mich los.» Er blickte einen Moment lang aus dem Fenster, dann drehte er sich zu Agnes um. Noch immer strahlte er die Energie aus, die sie schon bei seinem ersten Besuch wahrgenommen hatte, doch da war noch etwas anderes, eine Unterströmung aus fester Entschlossenheit, die andere Empfindungen überdeckte.
«Ich habe dir das schon sagen wollen, als du zum Wäscheaufhängen gegangen bist.» Walter lehnte sich ans Fensterbrett. «Aber dann sind die Bergmüllers mit der Nachricht von Wilhelm gekommen.» Sein Gesicht wirkte in der schwachen Beleuchtung der Tischlampe noch kantiger. Er wandte kurz den Blick ab. Dann schüttelte er den Kopf, als wollte er auf klare Gedanken kommen. «Wie sehr ich dich schätze und wie viel es mir bedeutet, dass du hier bist, weißt du ja.»
Seine Stimme klang zugleich sachlich und gehetzt, was merkwürdig unpassend schien bei diesem Kompliment. Agnes betrachtete ihn, seine schlanke Gestalt. War es wirklich unpassend, dass er gehetzt klang, wenn er den nächsten Einsatz vor sich hatte?
«Wirst du bleiben?»
In diesem Licht bildeten die Streben des Holzstuhls ein verzerrtes Schattenmuster auf dem Boden. Es sah aus wie eine groteske Konstruktionszeichnung, aus der niemals ein stabiles Gebäude werden konnte.
«Ich bin schon über ein halbes Jahr hier», gab Agnes zurück. Es hatte keinen Sinn auszuweichen. «Aber ich muss mir eine eigene Lebensgrundlage schaffen. Es geht auf die Dauer nicht, dass ich hier wohne und keine Stelle habe. Ich muss an meine Zukunft denken.» Dass sie kaum Zeit hatte, sich um die Stellensuche zu kümmern, weil sich meist etwas im Haushalt für sie zu tun fand oder sie auf Botengänge oder mit den Lebensmittelkarten zum Anstehen geschickt wurde, sagte sie nicht.
Er stieß sich vom Fensterbrett ab. «Zukunft!»
«Walter», sie trat einen Schritt auf ihn zu, «wir alle müssen, jeder für sich muss an die Zukunft glauben, sonst … können wir die Gegenwart nicht ertragen.» Sie wusste nicht, woher dieser Satz kam und ob es richtig gewesen war, ihn auszusprechen. Oder ob er für Walter wie Hohn klang, der morgen wieder an die Front zog, wo täglich die Zukunft ungezählter Männer ihr Ende fand. Aber Opfermut und Siegeswille waren Pflicht, in der Heimat und im Kampf. Und dennoch, woran sollte man sich sonst festhalten, wenn nicht an dem Gedanken, dass eine Zukunft, eine bessere Zukunft möglich war?
«Du musst bleiben», sagte er heftig, als hätte er sie nicht gehört.
Wenn wir uns zu Friedenszeiten kennengelernt hätten, hättest du das schöner formuliert, dachte Agnes, aber wenn kein Krieg wäre, würde ich auch nicht bei deinen Eltern wohnen, und wir wären uns wohl nie begegnet.
«Ich weiß nicht, ob ich die Ernte noch erlebe, für die ich die Beete umgegraben habe.» Walter fuhr sich über den Nacken. «Oder ob mich der Tod holt … oder der Teufel.» Den letzten Satz hatte er nur geflüstert.
«Nein! Sag so etwas nicht.»
«Du bist hier wichtig. Für meine Eltern. Und für Ernst.» Fahrig ging er durchs Zimmer. Dann blieb er stehen und bohrte seinen Blick in sie. «Und für mich.»
Agnes streckte die Hand nach ihm aus, und er zog sie mit einer abrupten Bewegung an sich. Wann hatte sie das letzte Mal die Berührung eines Menschen gespürt?
Im Juni lag in seinem Feldpostbrief an sie ein zweites Blatt, sodass sie seinen Eltern vorlesen konnte, was er auf dem einen Blatt berichtet hatte, während sie das andere für sich behielt. Die Schrift war so krakelig, als hätte er nur seine Knie als Schreibunterlage gehabt. Er schrieb von schweren Einsätzen in den letzten Wochen und davon, dass er oft an ihren Abend in der Dachkammer dachte. «Es sind wahrlich keine Zeiten für romantische Gefühle», schloss er, «vielmehr solche, in denen Verantwortung und Pflichterfüllung an erster Stelle stehen. Und auch oder gerade deshalb frage ich dich nun, ob du meine Frau werden willst. Denn wie du gesagt hast, muss man an die Zukunft glauben, um die Gegenwart ertragen zu können.»
Also hatte er doch gehört, was sie gesagt hatte. Sie las den Brief so oft, dass sie ihn schließlich auswendig kannte.
An eine gute Zukunft zu glauben, wurde jedoch immer schwerer. Weil durch den Fronteinsatz überall Männer fehlten, wurden die Stellen mit Frauen besetzt. Agnes war zum Kriegshilfsdienst bei der Straßenbahn verpflichtet worden, die sie mittlerweile sogar schon selbst gefahren hatte.
«Was ist, wenn die Russen kommen?», zischelte Frieda Steiner eines Tages Margits Mutter zu. Agnes saß mit den beiden Frauen am Küchentisch, wo sie Johannisbeeren zum Einkochen vorbereiteten. Margit, die am anderen Ende des Tischs Schularbeiten machte, sah auf. Doch ihre Mutter warf Frieda Steiner einen beschwörenden Blick zu und schüttelte leicht den Kopf. Frieda sagte nichts mehr.
Inzwischen verbreiteten sich hinter vorgehaltener Hand Nachrichten vom Rückzug an fast allen Fronten, obwohl noch viele fanatisch an den Endsieg glaubten, andere nur so taten und wieder andere einfach den Mund hielten. Weitere Gerüchte kursierten über das, was die Deutschen angeblich an Gräueltaten zu verantworten hatten. Selbst unter denjenigen, die solche Gerüchte als Feindpropaganda abtaten, machte sich eine unbehagliche Stimmung breit und Angst vor der Rache, die kommen musste, falls Deutschland diesen Krieg verlor. Was würde geschehen, wenn die Russen, die von der Führung als brutale Untermenschen geschildert wurden, oder eine andere Armee der Alliierten hier einfiel?
«Wenn die Russen kommen», sagte Margit plötzlich, «schneide ich mir die Pulsadern auf.»
Nachdem Agnes dem Heiratsantrag per Feldpost zugestimmt hatte, informierte Walter im nächsten Brief seine Eltern. Sie reagierten verhalten.
Was geht ihnen durch den Kopf?, dachte Agnes, als sie abends am Fenster ihres Dachzimmers stand. Frieda Steiner hatte sie nur ausdruckslos angesehen. Bin ich ihnen nicht gut genug für ihren Sohn? Weil ich nichts habe, nicht einmal eine Familie? Er heiratet mich doch zur Hälfte euretwegen, damit ich euch weiter unterstütze. Sie lehnte einen Moment lang die Stirn an den Fensterrahmen. Vielleicht hätten wir noch warten sollen, dachte sie. Aber Walter wollte, dass sie im Haus blieb, während Agnes selbst es nicht viel länger ausgehalten hätte, von Frieda Steiner nur als bedürftiges Opfer betrachtet zu werden, das ihr ein Dach über dem Kopf zu verdanken hatte. Das von ihr abhängig war.
Ist das der Preis dafür? Agnes sah zu den Sternen empor. Dass ich mich an dieses Haus binde, in dem die Traurigkeit in allen Winkeln haust? Ist sie das wert – diese Art von Sicherheit?
Der Einzige, der vor Freude einen Luftsprung gemacht hatte, war Ernst.
Es wurde eine bescheidene Kriegshochzeit im Dezember 1944. Dafür erhielt man Sonderurlaub vom Kampfeinsatz. Aber Walter wollte ohnehin nicht feiern. Zu schlecht war die Lage, zu viele Freunde waren tot.
Danach hatten sie nichts mehr von ihm gehört.
Die Russen kamen nicht. Es waren die Franzosen, die schon vor dem offiziellen Kriegsende im Mai 1945 die Region um Baden-Baden unter ihre Kontrolle brachten.
In den ersten Wochen übten französische Truppen in der gesamten Gegend Vergeltung für vier Jahre deutscher Naziherrschaft in Frankreich. Es herrschte Willkür, und niemand schien den siegestrunkenen Soldaten Einhalt zu gebieten.
«Kommt hierher!», rief Agnes und riss die Haustür auf.
Sie hatte durchs Wohnzimmerfenster Margit und ihre Mutter auf der Straße gesehen. Sie waren offenbar auf dem Nachhauseweg und begannen unvermittelt zu rennen, als hinter der Kurve Fahrzeuge zu hören waren. Die beiden hetzten ins Haus. Wie ein Lauffeuer hatten sich die Berichte von den vielen Vergewaltigungen verbreitet, von schrecklichen Szenen, die sich in den Häusern, aber auch an öffentlichen Orten abspielten.
«Dort rein.» Agnes schob die beiden in den Verschlag unter der Treppenschräge und drückte die Lattentür zu.
Ich muss Frieda holen, dachte sie.
«Karl, Ernst, bleibt im Wohnzimmer!», rief sie, während Frieda schon aus der Küche kam. Im selben Moment flog die Haustür auf. Einer von zwei Soldaten hatte sie mit einem Fußtritt geöffnet. Beide trugen schmutzige, geflickte Uniformen und hatten sich allem Anschein nach seit Tagen weder rasiert noch gewaschen. Hinter ihnen kamen zwei weitere Soldaten ins Haus, die sofort ins Wohnzimmer stürmten. Aus dem Augenwinkel sah Agnes, wie sie ihre Waffen auf Karl und Ernst richteten, die angesichts der Bedrohung bewegungslos verharrten. Die beiden ersten Soldaten waren noch im Flur, musterten Frieda und Agnes, die bei der Treppe stehen geblieben waren und sie anstarrten. Einer davon war ein Kämpfer aus den afrikanischen Kolonialtruppen Frankreichs, die zur Niederschlagung des deutschen Gegners herangezogen worden waren.
Feixend zog der Weiße ein Heftchen aus der Brusttasche. «Kennen Sie das?», fragte er auf Französisch. «Hab ich einem von euren Wehrmachtsleuten abgenommen, der hat es bei uns in Frankreich benutzt.» Er grinste. «Sehr praktisch, das Heft. Ist zweisprachig.»
Frieda runzelte die Stirn. Sie verstand nicht, was er sagte. Doch da nahm der Mann schon mit gespreizten Beinen Aufstellung und schlug das Heftchen auf. «Sie geben sofort alles heraus», brüllte er mit hartem Akzent auf Deutsch, «oder ich erschieße Sie!» Er lachte wiehernd und packte Frieda am Arm, während der schwarze Soldat sein Gewehr hob und auf Agnes zielte.
Mit einem Mal herrschte vollkommene Stille, dann nahm Agnes das Glitzern in den Augen der zwei Männer wahr. Die Begierde. Das Wissen, dass Frauen zur Kriegsbeute gemacht werden konnten. Grinsend wechselten die beiden einen Blick des Einverständnisses.